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Dieses Buch aus dem Fachbereich Musikergesundheit und Musikphysiologie präsentiert mein Ganzheitliches Konzept Physio- und Mentalcoaching für Musiker*innen. Entstanden aus "Physiotherapie für Musiker" vereint es Elemente aus der Physiotherapie, Körper- und Energiearbeit mit Mentaltechniken, Qi Gong und spirituellen Ansätzen. Herzkapitel des Buches ist "Zen in der Kunst des Instrumentalspiels", das die Verschmelzung mit dem Instrument besonders deutlich werden lässt. Physio- und Mentalcoaching hat sich während meiner langjährigen Therapie- und Lehrtätigkeit (u.a. an der Akademie des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks und der Universität Mozarteum Salzburg) bewährt und etliche junge Musiker darin unterstützt, ihre Ziele zu erreichen. In "Personalunion" vereine ich meine Expertise als Dipl. Orchestermusikerin mit meinen Ausbildungen zur Staatlich geprüften Physiotherapeutin und Heilpraktikerin für Psychotherapie. Zweitgenannter Beruf war einst mein "Plan B". Der Prozess von der Idee bis hin zur Umsetzung dient als "Fallstudie" für mein "Plan B-Coaching & Mentoring für Musiker", welches ich in diesem Buch ebenfalls vorstelle. Eine besondere Entdeckung, rund um meine Forschungen zu meinem berühmten Urgroßonkel, dem Bariton Heinrich Schlusnus (1888-1952), legitimiert mich, meine Verbindung zu ihm in dieses Buch aufzunehmen: Es zeigen sich erstaunliche Parallelen zwischen der Gesangstechnik "Dynamic Singing" seines Gesangslehrers Louis Bachner und ihm selbst sowie meinen Konzepten.
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Seitenzahl: 392
Veröffentlichungsjahr: 2021
Über die Autorin:
Susanne Schlusnus, geboren 1974 in Wiesbaden, ist Diplom-Orchestermusikerin (Oboe), Staatlich geprüfte Physiotherapeutin und Heilpraktikerin für Psychotherapie. Zuletzt war sie u. a. tätig für die Akademie des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks, für die Hochschule für Musik und Theater Rostock und für die Universität Mozarteum Salzburg. Ihr Fachbuch Physioboe - Physiologisches Oboenspiel (Ganzheitliches Konzept für Oboe) wird in Kürze bei AULOS erscheinen. Weitere Infos zu Erfolgen, Tätigkeiten und Angeboten unter: www.susanneschlusnus.de
Für meine Eltern
Susanne Schlusnus
Physio- und Mentalcoaching
Ganzheitliches Konzept für Musiker*innen
© 2021Susanne Schlusnus
Verlag und Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
ISBN
Paperback:
978-3-347-37203-0
Hardcover:
978-3-347-37204-7
e-Book:
978-3-347-37205-4
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Physio- und Mentalcoaching für Musiker*innen
Der Beginn: Physiotherapie für Musiker
Allgemeiner Teil
1. Lücken in der musikalischen Ausbildung
2. „Coach the coaches“
3. Ganzheitliche Musikpädagogik
4. Ziele einer innovativen Musikpädagogik
5. Innovationen und neue Denkansätze
Spezifischer Teil
1. Funktionelle Anatomie
2. Körpergefühl und -bewusstsein
3. Ausbalancierung und Positionierung
4. Klangbewegungen und Rhythmus
5. Kinästhetik in der Fingertechnik
6. Angewandte Musikphysiologie
7. Energetischfeinstoffliche Ebene
8. Holistisches Mentales Coaching
9. Persönliche Entwicklung
10. Innigkeit und Tiefe im Ausdruck
11. Auftrittscoaching & Probespieltraining
Herzenskapitel
Heinrich Schlusnus und Dynamic Singing
Zen in der Kunst des Instrumentalspiels
Perfektion und Menschlichkeit?
SPECIAL:
Coaching & Mentoring
„Plan B“
Plan B-Coaching
EXTRA:
Mein Weg mit der Oboe
Q & A im Sommer 2017
HINWEIS zur Schreibweise:
Ich tue mir schwer damit genderkonform zu schreiben, da es dem Lesen dadurch in meinen Augen die Flüssigkeit nimmt. Zudem fehlt mir die Eleganz, mit -en und -innen zu jonglieren. Ich bitte deshalb um Nachsicht, wenn ich den gewohnten, antiquierten Standard des männlichen Plurals beibehalte.
Einleitung
Mit dem Wissen, welches ich als diplomierte Orchestermusikerin in den Ausbildungen zur Physiotherapeutin und zur Heilpraktikerin für Psychotherapie erwarb, konnte ich zunächst mir selbst helfen, mein Oboespiel einfacher, besser und bequemer zu machen, bevor schließlich das Bedürfnis entstand, mein Wissen und meine Erfahrungen zu teilen. Ziele dieses Buches sind, die Zusammenhänge von Körper, Geist & Seele und ihre Auswirkungen auf Klangqualität, Instrumentaltechnik und Spielgefühl bewusst zu machen, sowie Möglichkeiten für eine bestmögliche Vereinigung mit dem Instrument aufzuzeigen. Im Gegensatz zu meinem Fachbuch Physioboe – Physiologisches Oboenspiel, das beispielhaft für ein Ganzheitliches Konzept im Instrumentalspiel steht, ist Physio- und Mentalcoaching unspezifisch und richtet sich an alle Musiker, die an neuen Sichtweisen innerhalb der Instrumentalpädagogik interessiert sind. Besonderheiten in meinen Konzepten sind zum Beispiel die Berücksichtigung und Integration der feinstofflichenergetischen Ebene, sowie eine Unterscheidung von Unter- und Überbewusstsein im Rahmen eines Holistischen Mentalcoachings.
In Form eines ganzheitlichen Dispositionstrainings geht es darum, sich die Wirksamkeit von Synergie-Effekten, die sich durch anatomisch-physiologisches Verständnis, optimiertes Körpergefühl, mentale Einflussnahme und feinstofflichenergetisches Bewustsein zeigen, zunutze machen zu können. Eine große Rolle spielt in diesem Rahmen die Prävention, um Spielproblematiken, die eventuell auch schwerwiegendere medizinische Beschwerden auslösen können, bereits im Vorfeld ihrer Entstehung zu erkennen. Ursächlich hierfür sind oftmals schlechte bzw. selbstschädigende Angewohnheiten und generell Unbewusstheit im eigenen Tun. Neben meiner empirische Forschung, durch Erfahrungswissen und Intuition für die richtige Intervention zur richtigen Zeit, ist mir selbstverständlich die Einbindung zahlreicher wissenschaftlicher Studien wichtig.
Umfang und Komplexität meines Gesamt-Materials (inclusive Fotos, Grafiken, Übungsbeschreibungen und Notentext) würde die Dimension dieses Buches sprengen und der Übersichtlichkeit im Wege stehen. Aus diesem Grund habe mich nach längerer Überlegung dazu entschlossen, diesem sehr schlicht gehaltenen Buch ein aufwändiger gestaltetes PRAXISBUCH folgen zu lassen. Dennoch beinhaltet dieses vorliegende bereits einige Übungen (in Kastenform sichtbar gemacht) und ist daher kein ausschließliches „Theoriebuch“. Es soll zunächst vor allem der Verständnis und somit auch der Prävention dienen. Die Umsetzung mit dem Instrument wird, anhand von Beispielen und Übungen, zunächst auch ohne oben aufgeführtes Material möglich sein und fördert auch Eigeninitiative in der Erarbeitung. Im PRAXISBUCH wird dieses Erarbeitete dann grafisch veranschaulicht und vertieft und konkrete Möglichkeiten zur Selbstbehandlung aufgezeigt. Beide zusammen sollen schlußendlich auch als „Selbsthilfebücher“ fungieren.
Meine persönliche Geschichte, die ich in einem weiteren Buch ( „Ich, die Oboe … oder: Plan B!“) erzählen werde, ist die Dokumentation meiner Laufbahn als klassische Musikerin – eine Biografie, die geradlinig begann, um schließlich immer kurvenreicher zu werden. Im gewissen Sinne dient sie auch als „Fallstudie“ für mein Konzept Plan B – Coaching für Musiker, das ich in einem SPECIAL ab S. 247 vorstellen werde. Ein Tätigkeitsfeld mit mehreren Standbeinen scheint für hochspezialisierte Musiker wichtiger und speziell in Corona-Krisenzeiten immer dringlicher zu werden als jemals zuvor.
Als Oboistin, deren Karriere einst vielversprechend begann, war ich drauf und dran, in die großen Fußstapfen meines Urgroßonkels, dem einst weltberühmten Bariton Heinrich Schlusnus (1888-1952), zu treten. Eine besondere Entdeckung, rund um meine Forschungen zu ihm, legitimiert mich, einen besonderen Berührungspunkt bereits in dieses Buch aufzunehmen. Es zeigen sich erstaunliche Parallelen zwischen der Gesangsmethode Dynamic Singing, seines Lehrers Louis Bachner und ihm selbst, und meinen Konzepten. In der Familiennachfolge bin ich seither der/die einzige professionelle MusikerIn, und wurde dementsprechend oft von klein auf sowohl mit ihm in Verbindung gebracht als auch auf ihn angesprochen. Das war auch kein Wunder: Wirkte ich doch seit meinem achten Lebensjahr im Kinderchor des Hessischen Staatstheaters Wiesbaden, meiner Heimatstadt, und war dort auch in „seine“ Welt eingetaucht – einer Welt, in der mit höchsten Respekt und mit glänzenden Augen über ihn gesprochen wurde.
Was mich besonders beeindruckt, und gar ehrfürchtig werden lässt, ist die Zusammenarbeit von ihm mit Richard Strauss. Mein Urgroßonkel bekam quasi den „Ritterschlag“ von Richard Strauss, der ihn für Plattenaufnahmen von sechs Liedern im Dezember 1919 höchstpersönlich am Flügel begleitete und zu ihm sagte:
"Singen's nur meine Lieder wie's wollen, Herr Schluusnuus, 's is eh richtig!"1
Besondere Erinnerungen an Strauss beschreibt Heinrich Schlusnus‘ Witwe Annemay:
„Mitten im ersten Konzert in Stellenbosch (Südafrika) kommt am 8. September 1949 eine Nachricht über den Äther, die den Atem der musikalischen Welt stocken lässt. Richard Strauss ist tot, einer der großen Zauberer der Musik hat die Erde verlassen. Schlusnus unterbricht das Konzert. Und ein paar Augenblicke lang steigt überwältigend das Bild des Toten in ihm auf, wie er bei der ,Parsifal‘-Aufführung in Bayreuth mit seinem leichten Gang, lang und schmal das Pult besteigt, das flächige Gesicht mit den Stirnwülsten wird von den Lampen des Orchesters in Licht und Schatten getaucht, Strauss erhebt, herrscherhaft ruhig, den Stab, und die Augen bekommen den magischen Glanz, der den Instrumenten befiehlt. Das Bild versinkt, ein anderes wird nahezu schmerzhaft deutlich: Richard Strauss am Flügel begleitet den Sänger Schlusnus im Konzert. Zwei kongeniale Meister der Musik finden sich im Lied und vollenden es. Jetzt in Afrika sagt Schlusnus mit einigen bewegten Worten, was zu sagen ist. Etwas Überraschendes geschieht. Das Publikum erhebt sich in einem einzigen Impuls. Schweigend verharrt es. Ehrfürchtig und voller Trauer. In tiefer Ergriffenheit lauschen die Zuhörer einem der Liedvermächtnisse, die Strauss ihnen und dem Sänger hinterlassen hat: der ,Zuneigung‘, die Schlusnus in das Programm einwirft. Sie wird aus den Noten begleitet, die der Komponist noch im Frühjahr 1949 meinem Mann mit den Worten ,Heinrich Schlusnus, dem treuen Sänger, Richard Strauss‘ gewidmet hat. Niemand wird das ,Habe Dank‘ (das Lied von Strauss für Strauss) dieses Abends vergessen.“2
1 Joachim Krieger und Lutz Neitzert: Der Sänger Heinrich Schlusnus - oder - Die Entdeckung der Schlichtheit - SWR2 /2010, pdf, S. 9
2 Eckart von Naso: Biographie Heinrich Schlusnus, Mensch und Sänger , 1957, in gemeinsamer Arbeit mit Annemay Schlusnus, Krüger-Verlag Hamburg 1957, S. 196/197
Physio- und Mentalcoaching
Der Beginn: Physiotherapie für Musiker
Die Idee zu Physiotherapie für Musiker entstand während meines zweijährigen Orchester-Engagements 2000/2001 beim Real Orquesta Sinfónica de Sevilla in Spanien. In „Ich, die Oboe … oder: Plan B!“ beschreibe ich die Gründe, sowie den sich anschließenden Prozess von der Idee bis zur Umsetzung, ausführlich. Entstanden ist das Anfangskonzept Physiotherapie für Musiker drei Jahre nach meinem Staatsexamen zur Statlich geprüften Physiotherapeutin, im Jahre 2010, mit der Vision, etwas zu kreieren, was im Spitzensport schon längst etabliert ist. Glücklicherweise konnte ich später tatsächlich Einblicke in die Welt des Profisports, als Physiotherapeutin des Südkoreanischen Skisprungnationalteams, gewinnen und Erfahrungen sammeln. Neben Einsätzen im Skisprungweltcup (u.a. der Vierschanzentournee) in der Saison 2013/14 konnte ich als Stipendiatin von Skisprungolympiasieger Toni Innauer mein Wissen weiter vertiefen.
In meiner Broschüre Physiotherapie für Musiker schrieb ich 2012 über mein Konzept:
„Jeder zweite Orchestermusiker (55 %) hat körperliche Beschwerden, alarmierend ist nicht nur, dass zwei Drittel der über 50-Jährigen darunter leiden, sondern bereits 30 % der unter 35-Jährigen. Gleichzeitig wünschen sich viele Musiker (77 %) ein Angebot an gesundheitsfördernden Maßnahmen wie z.B. Physiotherapie“ so Gerald Mertens (Geschäftsführer der DOV). Dr. Christoff Zalpour, Professor für Physiotherapie an der Hochschule Osnabrück und Organisator des 1. Internationalen musikphysiotherapeutischen Fachkongresses ,Musik-Physio‘ im März 2012 an der Hochschule Osnabrück, äußert sich wie folgt: „Musiker sind Leistungssportler, deren andauernde einseitige wie auch repetitive Fehlbelastung zu Problemen der Muskulatur, des Nervensystems und der Knochen führen kann.“3Und weiter äußert er: „Musiker könnten von Sportlern unter Umständen lernen, einen neuen und besseren Bezug zu ihrem Körper zu entwickeln. Die Bewegungen beim Musiker seien zwar andere, weil die Bewegungsamplitude kleiner, dafür aber dieBewegungshäufigkeit weitaus höher sei. Der Musiker vollzieht feinmotorische, immer wiederkehrende Bewegungen. Man weiß, dass Musiker ihren Körper eher intelektuell empfinden. Manche haben über Jahre gelernt, Schmerzen zu unterdrücken oder mit ihnen auszukommen, anstatt darauf mit Ausgleichsbewegungen zu reagieren. Jemand, der professionell musiziert, bräuchte eine ähnliche physiotherapeutische Unterstützung wie ein Spitzensportler.“4
Mein Konzept Physiotherapie für Musiker entspricht folglich dem Wunsch vieler Musiker und ist, ähnlich wie die Sportphysiotherapie, eine spezielle Form der Physiotherapie, die konkret auf die Bedürfnisse von Musikern eingeht. Einerseits ist die Unterstützung zum vollständigen Ausschöpfen des vorhandenen Potenzials das Ziel, andererseits die (Wieder-)herstellung einer Basis für gesundes Musizieren. Oftmals ist bei vielen Musikern eine Diskrepanz zwischen dem Anspruch der perfekten musikalischen Leistung an sich selbst und dem Verständnis für eine dafür entsprechend optimale Körperfunktion zu beobachten. Das Bewusstsein dafür, dass der Körper das eigentliche „Instrument“ darstellt, dessen Funktionstüchtigkeit für musikalische Spitzenleistung keine Selbstverständlichkeit ist, scheint in vielen Fällen noch nicht vorhanden zu sein. Jedoch sollte dem Körper genauso viel Beachtung geschenkt werden, wie der Arbeit mit dem eigentlichen Instrument, denn oftmals ist die Verunsicherung groß, wenn eine Funktionsstörung das Spielen einschränkt oder gar unmöglich macht.
Um Funktionsstörungen vorzubeugen, absolvieren Sportler gezieltes Konditionstraining (mit den Komponenten Ausdauer, Kraft bzw. Stabilität, Schnelligkeit, Flexibilität und Koordination) als Grundlage für die spezifischen Techniken der jeweiligen Sportart. Bei Musikern findet dieses Training meist nicht einmal im Ansatz statt, da allein das Wort oft abschreckend wirkt. Obwohl „Üben“ und „Trainieren“ absolut vergleichbare Tätigkeiten darstellen, sind Musiker es in den meisten Fällen nicht gewohnt, sich nach einem Übe- oder Trainingsplan zu richten. Daher sind sie physisch und auch mental-psychisch oft unzureichend für die Belastung einer Spitzenleistung gerüstet. Die hohen Anfoderungen während des Musizierens an den Bewegungsapparat werden erst dann wahrgenommen, wenn Beschwerden in Form von Verspannungen, Überlastungen oder Schmerzen auftreten.
Ein gutes Körpergefühl, ein gewisses Maß an Fitness und eine mühelose Aufrichtung gegen die Schwerkraft sind absolute Voraussetzungen. Allerdings richtensich Fokus und Konzentration eines Musikers vor allem auf die technischen Abläufe am Instrument, bzw. auf die Interpretation, anstatt auf die körperliche Leistung. Alle Bewegungen des Körpers beim Spielen bedeuten jedoch mechanische Belastungen für das Muskel-Skelett-System und der neuralen Strukturen. Die Haltearbeit des Instrumentes (und auch Stress) sind mit Minderdurchblutung der Muskulatur verbunden, die nur durch eine gute körperliche und mentale Verfassung kompensiert werden kann. Fehlhaltungen entstehen als Folge nicht vorhandener körperlicher Voraussetzungen und können oftmals nur noch durch reine Willensanstrengung korrigiert werden. Ebenso Schmerz- und Überlastungssyndrome, deren Schmerzursache oftmals Unausgewogenheiten (Dysbalancen) in der Muskulatur und ein Ungleichgewicht im sensomotorischen System sind. Ein Grund dafür ist allerdings auch unsere heutige „moderne“ Lebensweise, die hauptsächlich im Sitzen stattfindet, bewegungsarm ist und nicht unserem Naturell entspricht. Schmerzen sind dabei als Warnmelder einer drohenden Strukturschädigung aufgrund Fehlbelastung oder Überlastung (overuse) zu verstehen.
Strategien, um Fehlhaltungen und unphysiologische Bewegungsmechanismen aufzuspüren, und durch qualitativ gut koordinierte Bewegungen zu ersetzen, sind die Wiederherstellung des Gleichgewichtzustandes im Körpergewebe, durch Optimierung des sensomotorischen Systems, und somit Vermeidung von Muskeldysbalancen. Dies hat sich für ein gutes Spielgefühl als unerlässlich erwiesen. In diesem Zusammenhang ist ebenfalls die Unterscheidungsfähigkeit von Entspannung, Spannung und Verspannung zu erwähnen. Durch eine gute Entspannungsfähigkeit bleibt der „Spannungs-Entspannungs-Rhythmus“ des Organismus im Gleichgewicht. Da Ver- bzw. Überspannung zusätzlich oft mit Auftrittsangst oder übertriebenem Ehrgeiz einhergeht, kann dies zu zusätzlichen Verkrampfungen führen. Das Spiel ist dann nicht mehr mühelos und ökonomisch, eine Verfeinerung der Instrumentaltechnik somit nicht realisierbar. Nach Optimierung des Körpergefühls aufgrund der Wiederherstellung des „Flußes“ im Körpergewebe (und den darin befindlichen Energiebahnen, den Meridianen) führt dies wiederum auch zu einer Stärkung des Selbstbewusstseins und einer Stressresistenz. Daraus folgend kann eine Steigerung der Ausdauerleistung am Instrument durch ökonomischeres, freieres Spiel erzielt werden und der sogenannte „Flow“ entstehen.
Die Hauptmotivation meines Konzeptes ist das Verständnis von Musikern für ihren Körper und die Integration aller oben genannter Aspekte in die tägliche Beschäftigung mit dem Instrument bevor der Leidensdruck zu hoch oder die Schmerzgrenze erreicht wird. Die Bekämpfung des „Inneren Schweinehundes“ ist dann ebenfalls Thema – die Stimme, die zu Bequemlichkeit verleitet und guteVorsätze zunichte macht. Daher gilt es, die Notwendigkeit einer bestimmten persönlichen Veränderung zu erkennen, rechtzeitig die Komfortzone zu verlassen und entsprechende geeignete Maßnahmen einzuleiten.
Nach intensiver Arbeit, mit bereits mehreren hundert Musikerpatienten, wurde mir jedoch bald klar, dass mein Konzept noch unvollständig war: Oftmals machte ich während meiner Behandlungen die Erfahrungen, dass körperliche Beschwerden, wie z.B. Muskelverspannungen, nicht immer nur körperliche Thematiken oder Spielüberlastungen als Ursache hatten. Die vielen „Muskelpanzer“, die ich unter meinen Händen hatte, sprachen da eine ganz eindeutige Sprache: „Verkörperte Emotionen“ und psychisch-seelische Themen suchten sich (laut Dr. Rüdiger Dahlke und seinem Buch Krankheit als Symbol) eine „Körperbühne“, um gesehen und wahrgenommen zu werden. Erst mit der Prüfung als Heilpraktikerin für Psychotherapie, beim Gesundheitsamt München 2015 und der Erweiterung zu einem Ganzheitlichen Konzept, wurde es zu „meinem“ Konzept und die Sache rund.
Mit dem Nachfolgekonzept von Physiotherapie für Musiker, Physio- und Mentalcoaching, arbeite ich seit 2015. Hier ein Ausschnitt des Einführungstextes aus dem Skript meiner Lehrveranstaltung Körperarbeit, Physio- und Mentalcoaching (2016-2019) an der Universität Mozarteum Salzburg und die Antwort auf die Frage, warum ich die Kombination aus Physio- und Mentalcoaching als sinnvoll erachte:
„Physio- und Mentalcoaching hat sich in Kombination, nach zahlreich gesammelten Erfahrungen und Erkenntnissen während meiner langjährigen Therapie- und Lehrtätigkeit, aufgrund der Ganzheitlichkeit gegenüber der Aufsplittung in beide Einzelteile sehr bewährt, und etliche junge Musiker darin unterstützt, ihre Ziele zu erreichen. Zu sehr beeinflussen sich Körper, Geist und Seele gegenseitig, sodass diese ganzheitliche Herangehensweise leichter zu erfassen ist und Zusammenhänge verständlicher erkennbar werden. In meinem speziellen Fall vereine ich mit meinen Ausbildungen als Dipl. Orchestermusikerin, Staatlich geprüfte Physiotherapeutin und Heilpraktikerin für Psychotherapie (Mentalcoach) alles in einem – quasi in Personalunion.“
Die Bestandteile des Konzeptes waren folgende:
Physiocoaching: Funktionelle Anatomie, Schulung des Körperbewusstseins, MusikerIn und Instrument, Instrumentenspezifisches, Übungen für ein besseres Körpergefühl am Instrument, Atmung
Mentalcoaching: Ganzheitliches Coaching, Üben, Mentales Üben (Mentales Sicherheitstraining), Mentales Training (Mentales Emotionstraining), Mindset, Energetische Selbstregulation, Sport und Adrenalinabbau
… sowie Probespielcoaching & Auftrittstraining.
Flötistin Carina Samitz, die meine Lehrveranstaltung besuchte, und für ihre Masterarbeit mit dem Titel Körperarbeit im Instrumentalunterricht – Eine Feldstudie (Wirkungen der von Susanne Schlusnus im Rahmen der Lehrveranstaltung ‚Körperarbeit, Physio- und Mentalcoaching’ eingesetzten Übungen – mit Fokus auf die Querflöte) 2018 mit dem „Preis der Universität Mozarteum Salzburg für eine exzellente Masterarbeit“ ausgezeichnet wurde, schreibt:
Methodenvielfalt
„Man kann die Arbeit von Susanne Schlusnus nicht als eine in sich geschlossene Methode beschreiben, vielmehr verbindet sie verschiedenste Einflüsse. Nicht nur Erfahrungen aus ihrer Ausbildung zur Physiotherapeutin, sondern auch Einsichten aus ihrer Beschäftigung mit den verschiedensten Methoden der Körperarbeit fließen in ihren Unterricht mit ein. Diese Methoden werden oft als eigene ‚Schulen‘ präsentiert: Alexandertechnik, Feldenkrais, Spiraldynamik oder die Franklin-Methode haben alle ihre eigenen Ansätze, ähneln sich allerdings im Grunde durch ihre Beschäftigung mit einer natürlichen Haltung des Körpers. Weitere Einflussquellen sind die Arbeit mit Energiepunkten, den sogenannten Chakren, aber auch das Feld des mentalen Trainings – Einflussfaktoren, die sicherlich auch ihrer Tätigkeit im Sportsektor und als Marathonläuferin entstammen. Susanne Schlusnus selbst sagt dazu:
,Es sind tatsächlich alles meine eigenen Erfahrungen. Eigentlich alles meine eigenen Problemzonen, die ich dann auf verschiedenste Weise angegangen bin. Ich habe mich ganz viel am Sport orientiert. An Trainingswissenschaften, an Trainingsplänen, auch das ganze ‚Mental-Zeug’ aus dem Sport. Ich habe im Prinzip eigentlich nur meine beiden Berufe miteinander verknüpft‘.“ 5
3 Pressemitteilung der Deutschen Orchestervereinigung im DOV-magazin vom 24.04. 2012 zu den Ergebnissen der weltweit größten Studie zum Thema Altern im Orchester
4 Sven Scherz-Schade: Was Musiker vom Sport lernen können in Das Orchester 9/2012
5 Carina Samitz: „Körperarbeit im Instrumentalunterricht – Eine Feldstudie (Wirkungen der von Susanne Schlusnus im Rahmen der Lehrveranstaltung ‚Körperarbeit, Physio- und Mentalcoaching’ eingesetzten Übungen – mit Fokus auf die Querflöte“), Masterarbeit, Universität Mozarteum Salzburg, 2017, S. 38/39
Allgemeiner Teil
1. Lücken in der musikalischen Ausbildung
Zunächst möchte ich eine Bestandaufnahme in Bezug auf generelle Problemfelder in der musikalischen Berufsausbildung sowie eventuelle Lücken in den dazugehörenden Studienplänen vornehmen. Sehr aufschlußreich ist zunächst jedoch der Blick auf die so wichtige prägende Entwicklungsphase in Kindheit und Jugend eines potenziellen Berufsmusikers. Das Üben geschieht meist aus Intrinsischer Motivation – sprich aus eigenem Antrieb und reiner Freude am Musizieren. In meinem Fall musste man mich eher bremsen denn zum Üben auffordern. In der Schule dagegen handelte ich fast nur extrinsisch motiviert, lernte vorrangig, um Sanktionen wie schlechten Noten zu entgehen und nicht um des Lernens Willen – es sei denn es handelte sich um Fächer, die mich wirklich interessierten. Auch in der Musik ist oftmals extrinsische Motivation, geprägt durch Eltern, die weder Zeit noch Geld scheuen, um ihr Kind bestmöglich zu fördern und zu unterstützen, anzutreffen. Dies ist zwar generell löblich, dennoch ist unbedingt zu vermeiden, dass sich das Selbstwertgefühl der Kinder hauptsächlich durch musische Erfolge definiert, anderen Fertigkeiten oder Begabungen hingegen kaum Beachtung geschenkt werden. Die Gefahr, an Gefühlen von Unzulänglichkeit zu leiden, kann sich erst viele Jahre später zeigen. Zudem ist die moralische Verpflichtung den Eltern gegenüber, entstehend durch die intensive Unterstützung, nicht von der Hand zu weisen. Diese Verpflichtung kann zu einer inneren Verantwortung des Kindes führen, den zeitlichen und finanziellen Entbehrungen der Eltern seinerseits mit (noch mehr) Anstrengung, Fleiß und auch Erfolg einen Ausgleich bieten zu wollen. Hans Günther Bastian spricht von einem „psychischen Druck, der viel subtiler angelegt ist und wirksamer sein kann.“6
Anmerkung: Die in meinen Augen entscheidenden Aussagen in den Zitaten der nachfolgenden Seiten sind fett hervorgehoben.
„Das Spezifische an den Musikern ist, dass sie in einer ganz entscheidenden Phase der Persönlichkeitsentwicklung die Berufswahl treffen, also viel, viel früher als andere Berufsgruppen. Viele Musiker entscheiden bereits in der Jugend oder in der frühen Kindheit, dass sie Musiker werden wollen. Und dann vertrauen sie sich einer Lehrer-Entität an oder einem Professor an, und darüber entwickelt sich ein sehr sozial erwünschtes Loyalitätsverhalten. Dazu kommt eine ganz, ganz wettbewerbszentrierte Ausbildung. Da geht es los mit ,Jugend musiziert‘, dann geht es weiter mit Aufnahmeprüfungen, und dann geht es bis hin zu dem sehr eigenwilligen Bewerbungsprozedere der Musiker: dem Probespiel. Da stellen sich viele, viele Musiker vor, bewerben sich um eine Orchesterstelle. Es wird ein Wettbewerb veranstaltet, und einer gewinnt die Stelle. Das heißt, ich bin eigentlich die ganze Zeit konfrontiert mit Stress, mit Höchstleistung, meine persönlichen Belange dürfen nicht offenkundig werden, weil sonst eine Inkompetenz zu Tage tritt und die anderen denken, ich bin nicht so zuverlässig.“7
Prof. Ulrich Rademacher: „Erkenntnisse der Begabtenforschung und empirische Studien zu Biographien von Musikern zeigen immer wieder, dass es zwar einerseits wichtig ist, jungen Talenten möglichst früh eine handwerklich optimale Förderung am Instrument zugutekommen zu lassen und sie von einem künstlerisch musikalisch anregenden Umfeld profitieren zu lassen, anderseits aber auch, dass es aufgrund von Frühförderung und Wettbewerbsteilnahmen mittlerweile eine große Zahl von bestausgebildeten jungen Musikerinnen und Musikern gibt, die in ihrer allgemeinen, menschlichen und künstlerischen Entwicklung weit hinter ihren handwerklichen Fähigkeiten zurückgeblieben sind.Diese müssen meist nach Beginn oder während ihres Hochschulstudiums feststellen, dass sie in ihrem Leben außer Disziplin und Konkurrenzstress nichts erlebt haben, was sich lohnen würde, mit den Mitteln von Musik zu erzählen. Sie erleben, dass Familienleben, Spaß und Auseinandersetzung mit Freundinnen und Freunden, schulisches Umfeld, Liebesleben, ein zweites Instrument, Chorsingen, Kammermusik, Orchester und prägende menschliche Begegnungen auf der Strecke geblieben sind. Familien, Musikschulen, Musikhochschulen, Wettbewerbsveranstalter und Förderer müssen darauf achten,dass sie nicht ein handwerklich hochgezüchtetes Mittelmaß produzieren, das weder zum charismatisch interessanten Künstler auf demPodium taugt, noch ansteckende, erfolgreiche, zufriedene und verantwortungsvolle Musikpädagogen ins Leben entlässt.“8
Edmund Wächter spricht von „Uniformität und der Vernachlässigung der Individualität in der Ausbildung“ – dazu führt er weiter aus: „In der klassischen Musikausbildung wie auch in der kritischen Beurteilung scheinen die Vermeidung von Fehlern und die Perfektion der Ausführung im Vordergrund zu stehen, während originär künstlerische Kategorien wie Spontaneität, Individualität, Kreativität oder Phantasie zu kurz kommen. Temperament, Ausdrucksbedürfnis, Ausdrucksfähigkeit, Inspiration, Gestaltungswille, Bühnenpräsenz, Ausstrahlung, Charisma und so weiter sind weitere entscheidende Soft Skills für eine Karriere als Musikerin oder Musiker, doch so ungreifbar, dass es schwierig ist, Kriterien dafür festzulegen und sie zum Gegenstand der Ausbildung zu machen.“9
Angelika Stockmann ewähnt die „sozial erwünschten Loyalität zum Lehrer bzw. Professor“ und das „Konzept der Meisterlehre“: „Aufgebrochen werden müsse die starke Fixierung auf den Hauptfachlehrer, so dass unterschiedliche Lehrpersönlichkeiten im Team miteinander, statt konkurrierend gegeneinander arbeiten.“10
Ulrich Mahlert: „Trotz ihrer allseits betonten hohen Bedeutung besitzen der Anfangs- und Unterstufenunterricht im Allgemeinen allerdings nach wie vor kein angemessenes pädagogisches Prestige. Öffentlichkeitswirksame Erfolge erzielen Instrumentallehrer nicht hier, sondern im Unterricht mit fortgeschrittenen Schülern. Seit Jahrhunderten hat sich an dieser oft beklagten Tatsache nichts geändert. Heftige Kritik ernteten auf der Fachtagung 1992 ,Medizinische Probleme bei Instrumentalisten – Ursachen und Prävention‘ immer wieder die Kenntnisse,Fähigkeiten, Sichtweisen und der Mangel an Kooperationsbereitschaft seitens der Lehrenden.“
Einige Beispiele:
• Gerhard Mantel (Violoncello): „Die extrem konservative und wissenschaftliche Haltung einer großen Anzahl von Musikern ist eine Ursache vieler physiologischer und psychosomatischer Störungen. Die Häufigkeit der berufsbedingten Erkrankungen bei Musikern kommt nur durch eine vorsintflutliche rigide Unterrichtsweise zustande. Physiologische Grundkenntnisse müssten für alle Fachbereiche an den Hochschulen zwingend gelehrt werden, wobei die Lehrer sich solches Wissen in erster Linie aneignen müssten. Alle Ausbildungsinstitute bräuchten dringend eine Professur zur Koordination und Organisation von allgemeinen und fachspezifischen physiologischen Informationen und Übungen.“
• Erich Penzel (Horn) sieht eine Unkenntnis von Koordination und Bewegungsabläufen und deren Training bei dem größten Teil der Lehrenden.
• Rainer Moog (Viola): „Den Hochschulen bzw. Hochschullehrern wäre zu empfehlen, den künftigen Berufsmusiker schon während seines Studiums durch obligatorische Teilnahme an gymnastischen Übungen, Muskelaufbautraining und etwa Ausgleichssport in die Lage zu versetzen, später auftretender physischer Überbelastung im Beruf weitgehend vorzubeugen. Dabei sollte ihm auch Wissen vermittelt werden, wie er später (im Beruf) übermäßigen physischen und psychischen Anforderungen entgegenwirken kann.“
• Burghard Schaeffer (Flöte): „Lehrmethoden sind erneut auf ihre Richtigkeit zu prüfen; Lehrer und Schüler müssen für individuell angepasste Wege aufgeschlossen sein. das oft beherrschende Vorbild des Lehrers muss nicht zwangsläufig für den Schüler den instrumentaltechnisch richtigen Weg aufzeigen. Ich empfehle einen Physio- oder anderen Therapeuten regulär an die Hochschule zu holen, dies müsse allerdings ein speziell ausgebildeter Physiotherapeut für Musiker sein, und das ist nicht so einfach.“
„Mittlerweile gibt es an etlichen Instituten diverse musikphysiologische Lehrangebote theoretischer und praktischer Art, dennoch befindet sich die Musikphysiologie als Lehrgebiet an den Hochschulen weiterhin im Experimentierstadium;sie ist insgesamt noch kein etabliertes, weder inhaltlich noch strukturell klar und konsensfähig konzipiertes Fach.“11
Mit der Hochschulausbildung beschäftigt sich Wendelin Bitzan ausführlich und deckt Defizite, die ich genauso erlebte, schonungslos auf:
I. Hauptfach Tunnelblick – Musik studieren, BerufsmusikerIn werden
„In einem Musikstudium mit künstlerischem Schwerpunkt scheint es üblich zu sein, den größten Teil der Freizeit im Übezimmer und mit der Perfektionierung des Hauptfachs zu verbringen. Es soll hier nicht bezweifelt werden, dass das Üben, wie alle Trainingsprozesse, einen hohen Zeitaufwand erfordert. Aber: Hängt die Qualifikation von Musikern nur von deren Musizierleistungen ab? Virtuosität ist nicht alles, und Höchstleistungen am Instrument gibt es bereits zur Genüge. Die Studienzeit dient vielmehr dazu, ein differenziertes künstlerisches Selbstbild zu entwickeln.“
„Die Vorstellung, dass die Orchesterstelle bzw. der Solo- oder Ensemblevertrag das allein seligmachende Berufsziel sei, ist eine Fehleinschätzung. Die Jagd nach solchen Positionen hat längst absurde und demütigende Züge angenommen. Nicht wenige angestellte Berufsmusiker, die dieses Ziel erreicht haben, wünschen sich schon nach wenigen Jahren ein abwechslungsreicheres und künstlerisch selbstbestimmteres Arbeitsumfeld. Und dieser Anspruch ist essentiell: Das Musikertum ist kein klar abgegrenzter Tätigkeitsbereich, in dem man in erster Linie nachschaffend agiert. Sich in einem hoch differenzierten und komplexen Arbeitsmarkt zu behaupten bedeutet, dass die Protagonisten zugleich als rezipierende, interpretierende und produzierende Musiker gefordert sind. Sie sollten darauf bedacht sein, sich nicht zu sehr steuern zu lassen und jederzeit die künstlerische Autonomie zu pflegen und zu bewahren – sie ist es, die eine Musikerbiographie erst interessant und wertvoll macht. Und dazu ist es erforderlich, sich bereits während der Ausbildung zu einer vielseitigen und mündigen Künstlerpersönlichkeit zu entwickeln, die den Gegenstand ihres Wirkens nach außen trägt, die eigene Profession in möglichst vielen Bereichen des Lebens repräsentiert sowie ihre Kenntnisse und Fertigkeiten nach besten Kräften weiterzugeben trachtet.
II. Der hohe Tellerrand – Musikhochschulen intern
„Zu einem intensiven musikalischen Ausbildungsverhältnis gehört auf Seiten der Lehrperson nicht nur die Weitergabe musikalisch-nachschaffender Kompetenzen, sondern auch psychologisches Einfühlungsvermögen, Beratung in Bereichen wie Selbstdarstellung und Bühnenpräsenz, sowie eine nahezu alle Bereiche des künstlerischen Wirkens umfassendes Mentorentum. Das bedeutet, dass die Hauptfachlehrer als Pädagogen mindestens ebenso gefragt und gefordert sind wie als Künstler; auch das Unterrichten stellt eine künstlerisch erfüllende Herausforderung dar. Das althergebrachte Konzept der Meisterlehre, wie es nach wie vor in den Hauptfachklassen fortlebt, ist ein autoritäres und überkommenes Modell – der künstlerische Einzelunterricht sollte nicht den Charakter einer lehrerzentrierten Meisterklasse annehmen.“ 12
Dazu Friedrich Uecker: „Durch die Beibehaltung des Meisterschülersystems und der damit in Zusammenhang stehenden etablierten Hierarchien wird eine Musikhochschule zur schlichten Reproduktionsanstalt, welche das Wesen und das Werden von Kunst verkennt. … Es ist nicht zielführend, sich mit den Erfolgen der eigenen Schüler zu schmücken. Das Bestreben, Studierende möglichst von Einflüssen anderer Lehrpersönlichkeiten und Schulen fernzuhalten, ist äußerst fragwürdig.“13
Und weiter Wendelin Bitzan: „Musikstudierende dürfen von ihren Hauptfachlehren erwarten, adäquat auf ihre künftige Berufslaufbahn vorbereitet zu werden. Dies schließt ein, über aktuelle Perspektiven, Chancen und Schwierigkeiten informiert zu sein. Freiberufliche Tätigkeit und künstlerisches Entrepreneurship sollte von den Musikhochschulen viel mehr gefördert werden, als es derzeit der Fall ist. Ein künstlerischer Abschluss ist in vielen Fällen nicht mehr ausreichend; um das Profil zu schärfen, sollten den Studierenden Zweit- und Drittqualifikationen in Studiengängen wie Musikpädagogik, Schulmusik, Kirchenmusik, elementare Musikerziehung und Musikvermittlung nahegelegt werden. Wenn Studierende durch ihre Professoren ermutigt werden, selbst zu unterrichten und die erworbenen Fertigkeiten weiterzugeben, bewirkt die eigene pädagogische Tätigkeit eine nachhaltige Reflexion des angeeigneten Könnens und Wissens, weil siezum Verbalisieren und Konkretisieren der zu vermittelnden Inhalte veranlasst. Auf diese Weise nehmen Lehrende der künstlerischen Hauptfächer für ihre Studierenden nicht nur in fachlicher Hinsicht und mit Blick auf eine Kultur des lebenslangen Lernens eine Vorbildfunktion ein, sondern werden darüber hinaus zu Mentoren und unterstützenden künstlerischen Partnern – jenseits aller Hierarchien und sozialen Gefüge.“ Dazu zitiert Wendelin Bitzan Cellist Alban Gerhardt („Du musst für die Studenten gleichzeitig Vater, Lehrer, Psychologe und Karriereberater sein“) bevor er weiter fortführt:
„Eine angemessene Reduzierung der Studierendenzahlen in den künstlerischen Hauptfächern würde aber nicht nur auf dem Arbeitsmarkt für Entspannung sorgen, sondern auch ungesundem Konkurrenzdruck entgegenwirken. Zwar haben die Musikhochschulen damit begonnen, körperlichen und seelischen Schäden, die im Zusammenhang mit den Anforderungen des Berufsmusikertums entstehen können, vorzubeugen. Allein: Lehrveranstaltungen in den Bereichen Marketing und Selbstmanagement, Musikphysiologie oder Bewegungslehren wie Alexander-Technik und die Feldenkrais-Methode werden oft nur fakultativ oder gar kostenpflichtig angeboten und bieten keinen Schutz vor den fatalen Folgen übermäßigen, einseitig belastenden Übens oder womöglich einer frühen Berufsunfähigkeit. Derartige Lehrangebote bekämpfen nur Symptome, rühren aber nicht an der Wurzel des Problems, dem immensen Leistungs- und Erfolgsdruck, dem die Absolventen ausgesetzt sind.“14
Dorothea Krassnitzer schreibt über ihre Forschungen mit ihren Kommilitonen, die über viel Ungeduld und Frustration über eigene musikalische Entwicklungen sowie Unsicherheit über die berufliche Zukunftsperspektive berichten. So wurde des Öfteren angegeben, „dass das Instrumentalstudium zu einseitig ist und es kaum eine Alternative zum Orchesterjob bietet. Der Wunsch nach individuellen Lösungsansätzen, Zusatzausbildung im Bereich Management, Selbstvermarktung, anderen Stilrichtungen, Schwerpunkt Kammermusik und Ensemblespiel wurden vielfach genannt. Das Instrumentalstudium sollte nicht nur auf ,Probespiele‘ ausgerichtet werden, sondern auch auf alternative Arbeitsmöglichkeiten vorbereiten, welche institutionell integriert werden sollten.“
Zudem sei das Lehrangebot ist nicht ausreichend für die berufliche Karriere. Interessant ist bei ihren Beobachtungen, dass auch 59 % der Probespielgewinner diese Ansicht teilen:
„Im Hinblick auf Orchesterstudien wurde am häufigsten die Forderung nach mentalem Training in Form von Autogenem Training, Entspannungsübungen, körperliche und geistige Lehrangebote als Unterstützung, spezielles Training gegen Lampenfieber, Auftrittscoaching, Atem-, Technik- und Probespieltraining gestellt. Für diese Aufgabenbereiche wären sowohl Mentaltrainer, Psychologen, Coaches und Therapeuten am Ausbildungsinstitut erwünscht - vergleichbar mit dem Spitzensport wo diese Forderung eine Selbstverständlichkeit ist. Das Körpergefühl der Einzelnen müsste mit Hilfe verschiedener Lehrer gestärkt werden. Wo hört der Wirkungsbereich eines Lehrers auf (sollte er den Studierenden managen, coachen, therapieren)? Klar ersichtlich ist, dass das Probespiel nicht nur eine leistungsbezogene Momentaufnahme ist, sondern neben dem instrumentalen Können auch mentale und körperliche Vorbereitung erfordert.“15
„Wirklich wünschenswert wäre, dass die Aneignung solcher Strategien bereits präventiv an musikalischen Ausbildungsinstitutionen erfolgt und dass ein adäquates Feedback über die musikalischen Leistungen und Begabungen bereits sehr früh in der musikalischen Laufbahn einsetzt, sodass unnötige Ängste und Selbstzweifel erst gar nicht aufkommen oder im Laufe der Zeit nicht Fuß fassen können. Dazu würde auch gehören, dass unter Musikerinnen und Musikern Belastungen wie Ängste, Selbstzweifel und ähnliche Themen enttabuisiert und bereits in Ausbildungsinstitutionen stärker thematisiert werden. Nur ein Bewusstsein bzw. eine Sensibilisierung dafür kann helfen, die Risiken, die davon ausgehen, zu minimieren.“16
„Eine optimale Vorbereitung auf die in der Regel sehr schwierige Berufsbiografie, wie sie sich in künstlerischen Berufen ergibt, stellt alle Ausbildungsinstitute in eine große Verantwortung. Diese lässt sich am besten im Sinne einer bedarfsorientierten und praxisbezogenen Ausbildung und somit als individuelle Austarierung von künstlerischer Exzellenz, Fähigkeit zur Selbstorganisation, Selbstverantwortung und Eigeninitiative umreißen.“17
„Nur die wenigsten Musikstudenten lernen während ihres Studiums, wie man sich im Vorfeld und während des ,Bewerbungsgesprächs‘ erfolgversprechend präsentiert. Dies liegt an der mangelnden Vorbereitung der Hochschulprofessoren auf das ,Haifischbecken Jobsuche‘, aber auch an der Gleichgültigkeit der Studenten selbst.“18
Heiner Gembris erwähnt die Absolventenstudie von Magdalena Bork aus dem Jahr 2010, die feststellt: „In Hinblick auf die Frage, was die Absolventen im Studium vermisst haben, zählen Diplomatie, Konfliktfähigkeit, Umgang mit Druck, Stress und auch Mobbing zu den gefragten sozialen Kompetenzen. Sehr wichtig für die Absolventen ist auch die Fähigkeit, sich selbst zu motivieren. Doch darauf scheint das Studium am allerwenigsten vorbereitet zu haben. Der Umgang mit Motivation, mit Motivationsverlust und mit Strategien des Motivationsaufbaus wurde im Studium, wenn als Thema, dann am ehesten als Tabuthema behandelt.“ Desweiteren schildert Gembris: „Ein Problem besteht darin, dass viele Studierende kein Bewusstsein für die berufliche Relevanz dieser Themen (wie z.B. Selbstmanagement, Mentales Training etc.) haben und solche Veranstaltungen nicht wahrnehmen. Aus persönlichen Gesprächen mit Kollegen von Musikhochschulen weiß ich, dass solche Veranstaltungen zumindest anfangs nur sehr spärlich oder gar nicht besucht wurden. Es kam auch vor, dass die Studierenden durch Rundschreiben des Rektorats zum Besuch dieser Veranstaltungen motiviert werden mussten. Der Druck zu üben ist offenbar höher als der, solche Veranstaltungen zu besuchen. … Aus weiteren Gesprächen mit Kollegen von Musikhochschulen weiß ich, dass sehr konträre Einstellungen der Professoren zur Praxisorientierung von Ausbildung und Unterricht existieren. Es geht ein Riss durch das Kollegium, wie eine Musikhochschul-Kollegin formulierte. Während die einen die Praxisorientierung für zwingend erforderlich halten, lehnen andere dies strikt ab und fühlen sich ausschließlich für die künstlerische Ausbildung zuständig.“19
Ein neues Curriculum
Als Vorsitzende der Curricularkommission Instrumentastudium war es meine Aufgabe, ein neues Curriculum ab dem Wintersemester 2019/2020, für alle Instrumentalstudiengänge im Konzertfach an der Universität Mozarteum Salzburg, einzuführen. Hier ein Einblick in mein neu geschaffenes Modul Körper und Selbst:
„Ziel der Modulgruppe Körper/Selbst ist die Vermittlung von praxisrelevantem Wissen und Erfahrungen über die physischen und psycho-mentalen Möglichkeiten, um das gesamte künstlerische Potenzial auf dem Instrument abrufen zu können. Der Unterricht unterstützt die körperliche und geistige Gesundheit, die Leistungsfähigkeit und die künstlerische Entwicklung der Studierenden und bereitet sie auf das Berufsleben vor. Zudem werden die Studierenden im Selbstmanagement, im Umgang mit fordernden Situationen, in der Anwendung neuer Medien und in Methoden der Selbstpräsentation geschult.“
Bachelor:
Physio- und Mentalcoaching, Umgang mit fordernden Situationen, Auftritts-, Probespiel- und Wettbewerbscoaching, Selbstmanagement (Ringvorlesung), Audio- und Videoaufnahmen für Wettbewerbe und Präsentationen
Master:
Selbstmanagement, Multimediale Selbstpräsentation, Umgang mit fordernden Situationen, Auftritts-, Probespiel- und Wettbewerbscoaching
Weitere Felder offenbaren großen Handlungsbedarf: „Als größtes Versäumnis des Studiums nennen die Absolventen den Mangel an Aufklärung der Studenten über die Realität am Arbeitsmarkt. Würde diese notwendige Aufklärung tatsächlich geleistet, läge es in der Eigenverantwortung der Studenten, dieses Wissen, diese Orientierung in Bezug zu ihrer Persönlichkeit, ihren eigenen Interessen, ihren beruflichen Vorstellungen und ihren musikalischen Idealen zu setzten. Diesen Prozess zu initiieren und zu begleiten wäre eine weitere Aufgabe einer verantwortungsvollen Ausbildungsinstitution. … Die Musikhochschulen müssen der Tatsache gerecht werden, dass zwei Drittel der Studierenden oder mehr als freiberufliche Musiker tätig sein werden. D.h., es ist dringend erforderlich, Studiengänge, Curricula und Leitbilder für freiberufliche Musiker einzurichten. Um einenmöglichst engen Praxisbezug herzustellen, ist es erforderlich, externe Personen ausder beruflichen Praxis in die Entwicklung dieser Studiengänge und Curricula einzubinden. … Notwendig in diesem Kontext ist eine vermehrte Anerkennung und Wertschätzung der Tätigkeit freiberuflicher Musiker auch in den Hochschulen. Sie bilden einen wesentlichen Teil des kulturellen Kapitals unserer Gesellschaft. Aus der Perspektive der zumeist einseitig auf die Solistenkarriere ausgerichteten Hochschulausbildung werden sie häufig als gescheiterte Solisten betrachtet. Sie selbst fühlen sich oft auch so, weil die Ausbildung keine anderen Perspektiven vermittelt hat.“20
„Was ist denn nun mit dem Übergang zwischen Studium und Berufsleben?“, fragte Toni Ming Geiger, einer der anwesenden jungen Musiker (Anm.: während einer Podiumsdiskussion Ende März 2019 im Berliner Radialsystem). Er finde, die Musikhochschulen müssten ihre Studierenden in diesem Punkt noch mehr unterstützen, „weil viele auch einfach zu jung und zu unerfahren sind, um zu bewältigen, was auf sie zukommt.“ Ein heikler Punkt…21
Außerdem gilt es, den Studiengang Instrumentalpädagogik aufzuwerten:
„Gefühlter Konsens an Musikhochschulen und auch über ihre Grenzen hinaus ist unausgesprochen, dass man KA studiert haben muss, um sich zum Berufsstand zählen zu dürfen. Absolvent*innen der Künstlerischen Ausbildung erhalten in diesem Zusammenhang einen Bachelor bzw. Master of Music, während Pädagog*innen mit einem Bachelor bzw. Master of Arts abschließen. Erwähnenswert ist an dieser Stelle vielleicht, dass es auch einen Bachelor of Education gibt – allerdings nicht im Musikhochschulbereich. Wer keine Stelle im Orchester erhält und aus der Not heraus Musikschullehrer*in wird, bekommt den Stempel gescheiterte*r Musiker*in, als studierte*r Musikpädagog*in hat man diesen immerhin mit akademischer Legitimation. … Der Wunsch nach Musiker*innen, die pädagogisch fundiert und reflektiert handeln können, darf hier gern lauter werden. Er muss es sogar. Die eigentliche ,Schieflage‘ besteht letztlich darin, dass an überholten Strukturen und vor allem Denkmustern festgehalten wird, die kompetitives Verhalten in einem Feld fördern, dessen zeitgemäßer Auftrag in einer leistungsorientierten Gesellschaft die Förderung eines gemeinsamen und wechselseitigen Miteinanders sein sollte. Es bedarf unbedingt grundlegender Reformen innerhalb der Musikausbildung in Deutschland – und zwar in allen Bereichen. Der Anstoßhierfür könnte eine gegenseitige Begegnung auf Augenhöhe sein.“22 Edmund Wächter: „Da müssen die Hochschulen sich umorientieren und die pädagogische Ausbildung aufwerten. Das könnte schon damit beginnen, dass auf den Websites und in den Jahresberichten nicht nur Wettbewerbserfolge und bestandene Probespiele der Studierenden gefeiert werden, sondern gleichwertig auch der Erhalt einer Musikschulstelle. (Sarkastisch könnte man sagen, es ist heute leichter, einen Preis bei einem der zahlreichen Wettbewerbe als eine feste Musikschulstelle zu erhalten.)“23
Andrew Manze, Chefdirigent der NDR – Radiophilharmonie, will die jungen Musiker ermutigen, ihren eigenen Instinkten zu folgen, „denn das lernt man im Studium nicht“: „Wir müssen lernen, frei zu denken, wenn wir Musik spielen, die scheinbar festgeschrieben ist. An den Musikhochschulen wird viel Zeit darauf verwendet, eine gute Technik und ein grundlegendes musikalisches Verständnis zu bekommen. Es wird wenig Zeit für die Freiheit eingeplant.“24
6 Hans Günther Bastian: Zur Alltags- und Lebenswelt musikalischer Begabung Mit Bundes- und Landessiegern „Jugend musiziert” im narrativen Gespräch (Hermann J. Kaiser (Hg.): Unterrichtsforschung. Laaber: Laaber 1986. Musikpädagogische Forschung. Band 7
7Angst im Orchestergraben „Musiker wünschen eine Führung auf Augenhöhe“, Deutschlandfunk, 26.2.2019
8 Vortrag Fördern und Fordern bei „Jugend musiziert“ auf der Tagung Konzertiert fördern. Kontexte und Strukturen musikalischerHochbegabungsförderung (Rostock, 11. - 12. Oktober 2013) in Beiträge zur Hochschulpolitik 1/2017: Musikalische Hochbegabtenförderung in Deutschland, Dokumentation
9 Vortrag Hindernisse und Hürden einer musikalischen (Hoch-) Begabtenförderung im musikpädagogischen Alltag auf der Tagung Konzertiert fördern. Kontexte und Strukturen musikalischer Hochbegabungsförderung (Rostock, 11. - 12. Oktober 2013) in Beiträge zur Hochschulpolitik 1/2017: Musikalische Hochbegabtenförderung in Deutschland, Dokumentation
10 Pat Christ: Woher der Schmerz kommt in nmz campus 05/2013
11 Ulrich Mahlert: Auf der Suche nach einer „gesunden Musikerausbildung“ in Das Orchester 12/1999
12 Wendelin Bitzan: Für ein Musizieren jenseits des Tellerrandes - Zur Schieflage der professionellen Ausbildung klassischer Musikern in Deutschland im Hochschulmagazin 6/2015 der nmz
13 Friedrich Uecker: Hochschulinfarkt in Musikforum 1/2014
14 Wendelin Bitzan: Für ein Musizieren jenseits des Tellerrandes - Zur Schieflage der professionellen Ausbildung klassischer Musikern in Deutschland im Hochschulmagazin 6/2015 der nmz
15 Dorothea Krassnitzer: Stolpersteine am Weg zum erfolgreichen Probespiel, Wissenschaftliche Hausarbeit, Universität für Musik und darstellende Kunst Wien, 9/2011
16Die Auswirkung von Leistungsdruck auf das Musizieren in musicaustria.at, 23.12.2015, S. 367
17 Ortwin Nimczik/Hans Bäßler/Detlef Altenburg: Ausbildung für Musikerberufe, Deutsches Musikinformationszentrum, 11.1.2011
18 Sara Täuber: Über die Kunst der gewinnbringenden Selbstdarstellung (Kleiner Leitfaden für angehende Orchestermusiker) in Das Orchester 1/09
19 Heiner Gembris: Vortrag zur Zukunftskonferenz Musikhochschulen B-W, Berufsaussichten und Anforderungen an die Ausbildung, Mannheim, 15.2. 2014, pdf
20 Heiner Gembris: Vortrag zur Zukunftskonferenz Musikhochschulen B-W, Berufsaussichten und Anforderungen an die Ausbildung, Mannheim, 15.2. 2014, pdf
21 Hannah Schmidt: Ein erster kleiner Schritt in nmz.de, 5/2019 68. Jahrgang
22 Judith Gerhardt: Und was wird man dann damit? Gedanken zum Musikstudium aus der ‚zweiten Reihe‘ (Wie Pädagogik-Studierende an Musikhochschulen unter den Tisch fallen) in VAN-Magazin, 17.10.2018
23Hindernisse und Hürden einer musikalischen (Hoch-)Begabtenförderung im musikpädagogischen Alltag auf der der Tagung Konzertiert fördern. Kontexte und Strukturen musikalischer Hochbegabungsförderung (Rostock, 11.- 12. Oktober 2013) dokumentiert in Beiträge zur Hochschulpolitik 1/2017 Musikalische Hochbegabtenförderung in Deutschland
24Saitenwechsel, junge Musiker in der Ausbildung in detektor.fm, 30.03.2016
2. „Coach the Coaches“
2.1. Lehrende und Coaches
Wie im vorherigen Kapitel deutlich wurde, spielen bei der Berücksichtigung und Vermittlung neuer Lehrinhalte nicht nur die Studierenden eine Rolle, sondern primär auch die Lehrenden – folgende Aussagen unterstreichen dies:
• Laut Ulrich Mahlert herrsche ein „Mangel an Kooperationsbereitschaft seitens der Lehrenden.“
• Gerhard Mantel findet, dass „physiologische Grundkenntnisse für alle Fachbereiche an den Hochschulen zwingend gelehrt werden müssten, wobei die Lehrer sich solches Wissen in erster Linie aneignen müssten.“
• Erich Penzel sieht eine „Unkenntnis von Koordination und Bewegungsabläufen und deren Training bei dem größten Teil der Lehrenden.“
• Heiner Gembris weiß, „dass sehr konträre Einstellungen der Professoren zur Praxisorientierung von Ausbildung und Unterrichtexistieren.“ Diese Aussage spiegelt tatsächlich auch meine eigenen Erfahrungen im Hochschulbetrieb wider …
Wendelin Bitzan macht ein Vorschlag wie Lehrende „zu Mentoren und unterstützenden künstlerischen Partnern – jenseits aller Hierarchien und sozialen Gefüge“ werden könnten:
„Wenn Studierende durch ihre Professoren ermutigt werden, selbst zu unterrichten und die erworbenen Fertigkeiten weiterzugeben, bewirkt die eigene pädagogische Tätigkeit eine nachhaltige Reflexion des angeeigneten Könnens und Wissens, weil sie zum Verbalisieren und Konkretisieren der zu vermittelnden Inhalte veranlasst.“
Generell ist es für Lehrende empfehlenswert, sich auch mit dem Rollenbild eines Coaches vertraut zu machen, speziell wenn es um Selbstverantwortung, auf die ich gleich zu sprechen komme, und auch um die Selbstorganisation von Lernprozessen geht: „Das Unterrichten von Selbstorganisation verlangt vom Lehrenden eine besondere Haltung, die am besten mit der Haltung eines Coaches verglichen werden kann: Ein Coach tritt nicht als Experte auf, der ,weiß, wie’s geht und sagt, wo’s lang geht‘, sondern er begreift sich als Anreger und Unterstützer von Such- und Entdeckungsprozessen. Technisch bedeutet diese Haltung einen weitgehenden Verzicht auf ,mach dies, lass das!‘-Anweisungen. Die Ziele, die Lehrende beschreiben, sind eher erwünschte, sinnlich erfahrbare Gefühlseindrücke, die klar genug sind, Begeisterung auszulösen, aber offen genug, um Spielraum für eigenes Entdecken, persönlichen Stil und kreative Problemlösung zu erlauben. Der Lehrende muss zudem eine gewisse ,narzisstische Enthaltsamkeit‘ wahren. Er gewinnt seine Befriedigung nicht dadurch, dass er seine Lösungen durchsetzt, sondern in erster Linie aus der Unterstützung und Beobachtung eines äußerst individuellen, sich eigengesetzlich entfaltenden Lernprozess.“25
In meinen beiden Tätigkeiten, als Musikerin und Therapeutin, kommt es aus meinen Sicht auf zwei Dinge ganz besonders an: Intuition für die richtige Intervention zur richtigen Zeit und Empathie. Das Unterrichten habe ich hauptsächlich durch das Therapieren gelernt, für welches das schnelle Erkennen und Lösen der Problematik eines Patienten -sowie das „Hineinfühlen“- entscheidende Kriterien sind. In meinen Augen schafft es ein guter Lehrer, den Schüler so zu unterrichten, dass sich der Schüler selbst zunehmend für sein Lernen verantwortlich fühlt. Eine Hauptfähigkeit des Lehrers sollte dabei immer auch die kritische Reflexion und Kontrolle seines selbstverständlich gewordenen Könnens und Wissens sein.
Ideengeber zu „Coach the coaches“ ist Sportpsychologe Christian Uhl, an dessem nachfolgendem Konzept ich mich orientiere. Dieses wurde innerhalb der österreichischen Skisprungnationalmannschaft praktiziert, um Skisprungtrainer sportpsychologisch zu schulen:
„Sowohl die fachliche (,state of the art‘) als auch die persönliche Kompetenz der teilnehmenden Trainer sollte vor allem auch im gegenseitigen gedanklichenAustausch und Diskurs vertieft werden (,Coach the Coach Prinzip‘). Als Projektbeauftragter übernahm ich die Rolle des Ausbilders, der zum einen anwendungsorientierte Coachinginstrumente vorstellte, zum anderen auf supervidierende Weise den Austausch und die Diskussion in der Gruppe leitete.“
Ziele
• Theoretische Ausbildung und Sensibilisierung der Trainer in den wesentlichen Kernbereichen des modernen, sportpsychologischen Trainings(= grundlegenden Überblick verschaffen);
• Die Verantwortungs- und Ausführungskompetenz bleibt immer in der Person des Trainers;
• Kritische Eigenreflexion und aktive Auseinandersetzung durch theoretische Arbeitsaufgaben;
• Stärkung des „WIR-Gefühls“ und Erhöhung der Verantwortungskompetenz des einzelnen Trainers;
• Bereitstellung eines Arbeitsskriptums und Nachschlagewerkes(= kollektive Wissensdatenbank / Workshop-Protokolle).26
Natürlich muß dieses beispielhafte Konzept stark adaptiert werden, und neben dem psychologischen vor allem der (musik-)physiologische Aspekt verstärkt Berücksichtigung finden. Im Musikschul- und teilweise im Hochschulbereich habe ich mit dieser Art der Konzeption bereits gute Erfahrungen sammeln können. Generell sind Kooperationen aufgrund der Parallelen in Sport und Musik sinnvoll, so wie es das Landeskonservatorium und der Olympiastützpunkt Vorarlberg in ihrem gemeinsamen workshop „Exzellenz in Sport & Musik“ erarbeitet haben. 27 Ein wichtiger Punkt im Verhältnis Sportler-Trainer bzw. Schüler-Lehrer ist das Thema Selbstbewusstsein – Psychologin und Mentaltrainerin Ulrike Klees: „Im Sport ist es so, dass ein Trainer, der einen neuen Athleten bekommt, sich genau dessen Stärken und Schwächen anschaut. Er arbeitet massiv an den Stärken weiter und baut ganz gemütlich die Schwächen ab. In der Musik habe ich oft dasGefühl, wenn jemand zu einem neuen Lehrer kommt, schaut der sich zwar auch die Stärken und Schwächen an, arbeitet dann aber häufig nur an den Schwächen, weil er die Stärken für selbstverständlich hält. Und das macht er über ein, zwei Jahre ausschließlich. Bis dahin hat der Schüler seine Stärken vergessen. Wenn aber Stärken nicht regelmäßig geübt und gefestigt werden, wie soll dann ein Musiker selbstbewusst auf der Bühne stehen können?“28
2.2. Selbstverantwortung
Eines der Hauptziele während des Studiums, und hin auf dem Weg zum professionellen Musiker, sollte in meinen Augen die Unabhängigkeit vom Lehrer und, mit sich führend, die Eigenverantwortung sein – speziell in Hinsicht auf das Üben. Doch gerade in der frühen Phase des Studiums kann dies zu einer Diskrepanz führen: Von Lehrenden verlangt diese Phase der Erarbeitung des „instrumentalen Handwerks“, mit allen Aspekten, eine konsequente Unterrichtsmethode. Diese kann jedoch dazu führen, dass Studierende beim Üben, ohne Kontrolle von außen, sich selbst überlassen fühlen. Demnach sollte es in dieser Phase auch Aufgabe der Lehrenden sein, Studierenden das „Üben zu lehren“ und Lösungsansätze zu diskutieren. In der mittleren und späten Phase des Studiums sollten Studierende bereits in der Lage sein, ihre eigenen Schwächen zu erkennen und selbst Lösungen für auftretende Probleme zu finden.
„Spiele immer, als höre dir ein Meister zu.“ – Robert Schumann
Der Lehrer sollte in den Stunden des Übens in der Vorstellung des Schülers immer präsent sein und der Schüler sich vorstellen, wie der Lehrer auf bestimmte Probleme oder gelungene Passagen reagieren würde. Dementsprechend sollte er das Üben gestalten. Dies setzt allerdings voraus, dass vom Lehrer bereits ein Grundlagenwissen über die Strukturierung des Übens vermittelt wurde. Ausgehend von der Intrinsischen Motivation, sollte das Ziel des Schülers ein selbständiges, professionelles und reflektiertes Arbeiten mit Eigenverantwortung sein – frei nach dem Motto: „Du selbst bist dein bester Lehrer und Coach. Behandle dich also wie dein eigener Schüler.“ Und dabei spielt an einem bestimmten Punkt auch Bewusstheit eine entscheidende Rolle – Flötistin Tatjana Ruhland:
„Man hat oft begabte Studenten, die vieles unbewusst machen. Aber ich denke, es ist ein ganz wesentlicher Prozess des Lebens und des Lernens überhaupt, dass wir uns irgendwann einmal mit Dingen bewusst auseinandersetzen müssen. Wir werden dann mit anderen Gedanken verpflegt. Und das ist das Feld, wo wir als Lehrer aktiv werden müssen, um diesen Prozess des Bewusstmachens und dann aber Wieder-Ablegens und Abrufen-Könnens zu begleiten. Wie die berühmte Geschichte vom Tausendfüßler, der gefragt wurde, wie er eigentlich geht. Da bricht natürlich erst einmal alles zusammen. Aber dann, nach dem Prozess des Bewusstmachens, können wir die Vorgänge verinnerlichen. Da muss aber jeder kraft seiner Veranlagung und seiner Persönlichkeit ein Feingefühl entwickeln, wie er das in Balance bringt. Man übt alles! Wenn ich schon im Überaum einen Druck und eine Verspannung bei einer Stelle übe – das typische ,Augen zu und durch‘ – dann habe ich genau das verinnerlicht.“29
2.3. Selbstmanagement
Anstelle von sinnlosem „try and error“ bzw. „Augen zu und durch“ ist bewusstes Üben zielgerichtet, problemlösend und lösungsorientiert. Die Bewusstwerdung, eines der Hauptanliegen meiner Arbeit in der gesamten künstlerischpersönlichen Entwicklung eines Muskers, geschieht in der Reflexion des eigenen Tuns. Auf dem Weg zur reifen Persönlichkeit enstehen als Merkmale auch Selbstverantwortung und dadurch ein Selbstmangement. Letzteres umfasst Strategien, die dem künstlerischen und persönlichen Entwicklungsweg dienen:
• Eigenverantwortlichkeit und Selbstevaluierung
• Zielsetzung und Karriereplanung
• Zeitmanagement und Organisation
• Energiemanagement und Motivation
• Durchhaltevermögen und (lebenslange) Lernfähigkeit
„Wir brauchen ein Ziel anstatt nur eines Wunsches (bei welchem die Verantwortung abgegeben wird) mithilfe eines Planes der Orientierung, Motivation, Struktur und Verbindlichkeit gibt.“ – Günter Bresnik (Tennistrainer)
Ich selbst hatte mir als Jugendliche das Buch des tschechischen Tennistrainers Boris Breskvar „Wie Steffi und Boris es bei mir lernten“ gekauft. Gemeint waren Steffi Graf und Boris Becker, die in ihrer Jugend beide Schützlinge von Boris Breskvar gewesen waren, Becker übrigens auch von obigem Zitatgeber Günter Bresnik. Als glühender Fan von Steffi und Boris nahm ich deren darin erhaltenen Trainingspläne als Vorlage zur Erstellung meiner eigenen Übepläne, indem ich versuchte, die Inhalte so gut wie es ging für Oboe „umzuschreiben“ bzw. zu übertragen. Das heißt, ich „trainierte“ in meiner Jugend quasi wie ein Sportler, bis zu acht Stunden am Tag (oboistischer Rohrbau inclusive).
2.4. „Innerer Schweinehund“