Phyto for Future - Tim Kaysers - E-Book

Phyto for Future E-Book

Tim Kaysers

0,0

Beschreibung

Pflanzen sind Regenmacher, stehen an erster Stelle der Artenvielfalt, wachsen in Kreisläufen, sind ein wertvoller Bodenschatz, leben genügsam und nachhaltig, liefern Nahrung, machen uns gesund, nehmen unser Kohlendioxid auf und regulieren das Klima. Wenn wir einen Ausweg aus der Klimakrise finden wollen, bieten Pflanzen uns einen Reichtum von Lösungsmöglichkeiten an: in Landwirtschaft, Städtebau und Architektur, in den Bereichen Ernährung, Energie, Bioökonomie und Artenschutz und nicht zuletzt für den Erhalt unserer Gesundheit und unserer Gesellschaft. Tim Kaysers erklärt aus dem Blickwinkel eines Landschaftsarchitekten, wie Pflanzen leben, was wir von ihnen lernen und wie wir sie mehr in unser Leben integrieren können. Es ist ein ganzheitlicher Ansatz, um im Einklang mit der Natur und unserem Klima zu leben. Unsere Welt richtet sich an den Pflanzen aus. Lassen Sie sich von diesem grünen Leitfaden inspirieren und eine pflanzliche Zukunft entwickeln – eine »Phytofuture«.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 323

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



TIM KAYSERS

PHYTO FOR FUTURE

Mit Pflanzen aus der Klimakrise

Hinweis

Um einen Beitrag zum Klima- und Artenschutz zu leisten, spendet der Autor 50 Prozent des Honorars dieses Buches an den NABU-Waldschutzfonds, PRIMAKLIMA e.V. und die FMNR-Methode von World Vision, wodurch Naturwälder unterstützt und Bäume in einer Agroforstwirtschaft integriert werden.

ISBN (Print) 978-3-96317-291-5

ISBN (ePDF) 978-3-96317-836-8

ISBN (ePUB) 978-3-96317-837-5

Copyright © 2022 Büchner-Verlag eG, Marburg

Bildnachweis Cover und Innenteil: Zeichnungen des Autors

Das Werk, einschließlich all seiner Teile, ist urheberrechtlich durch den Verlag geschützt. Jede Verwertung ist ohne die Zustimmung des Verlags unzulässig. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie, detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

www.buechner-verlag.de

Inhalt

1.VORWORT

2.SAMMELN UND ENTDECKEN – VON PFLANZEN UND MENSCHEN

Die Pflanzen

Von Pflanzen und Menschen

Menschen ohne Pflanzen – die jüngste Vergangenheit und Gegenwart

3.PFLANZLICHE WEGE UND GESTALTUNGSMÖGLICHKEITEN

Landwirtschaft – neue Anbaumethoden, neue Landschaften

Energielandschaften – Pflanzenpower auf dem Feld

Pflanzen für die Bioökonomie – eine runde Sache

Biodiverse Landschaften – Baden in Gesundheit

Urbane Pflanzen – Mehr Grün im, am, auf dem und um das Gebäude

Kreislaufgebäude – pflanzenbasierte Systeme

Wir Menschen – gemeinschaftliche Lebensformen

4.EIN PFLANZLICHES LEBEN – DIE PHYTOFUTURE

Agrarbäume und Naturlandschaften

Blühende Wirtschaft – Pflanzenenergie, Gartenökonomie und Phytonik

Waldwohnen und Baumstädte

Menschen, Tiere und Pflanzen – ein positives Gesellschafts-Klima

5.PFLANZUNG UND UMSETZUNG

Abbildungsteil

Tipps und Empfehlungen – was jeder und jede Einzelne tun kann

Tipps und Empfehlungen – was wir von der Politik einfordern sollten

6.DIE FRÜCHTE

Das Ende der Klimakrise – Beginn eines neuen Zeitalters

Weltweite Betrachtung und Ausblick

Danksagung

Literaturangaben und Quellenverzeichnis

Für Pachamama

Quechua für Mutter Erde

Suchst du das Höchste, das Größte?Die Pflanze kann es dich lehren:Was sie willenlos ist, sei du es wollend – das ists!

Friedrich von Schiller

1. Vorwort

Kaum jemand zweifelt mehr daran. Wenn wir eine Zukunft auf diesem wunderschönen Planeten haben wollen, sollten wir die Klimakrise ernst nehmen und konsequent angehen. Sie ist nicht nur die größte Gefahr für die Artenvielfalt der Tiere und Pflanzen, sondern auch für unser eigenes Leben. Wir alle wissen es. Wir sollten langfristig planen, das Klima positiv beeinflussen und in alle Überlegungen ökologische, soziale und ökonomische Aspekte miteinbeziehen. Das sind die drei Säulen der Nachhaltigkeit – ein Wort, welches mittlerweile keiner Erklärung mehr bedarf. Es wird oft genug gebraucht und leider oftmals auch missbraucht. Letzten Endes ist es nur ein Wort. Entscheidend ist dabei der Inhalt, der auf alle drei Kriterien ganzheitlich eingeht. Es braucht neue Wege.

Das große Ganze planen – die Gestaltung unserer Erde

Dieser Ansatz sollte die Menschen, die Tiere und vor allem die Pflanzen miteinbeziehen. Letztere darum, weil sie Grundlage allen Lebens sind. Es gibt wenige Professionen, welche einen ganzheitlichen Ansatz aller drei Lebensformen betrachten. Eine davon ist mein Beruf der Landschaftsarchitektur – ihr Gegenstand ist die Gestaltung der Natur und der Außenräume für die Menschen. Dabei möchte ich betonen, dass die Natur auch ohne uns leben kann, sie braucht keine menschlichen Gestalter. Wir dagegen können ohne sie nicht leben. Wir brauchen das natürliche Ökosystem zum Überleben. Andererseits gilt auch: Wenn wir die Natur nicht gestalten und nicht mit ihr leben, können wir ebenfalls nicht existieren. Es braucht eine Gestaltung der menschlichen Lebensräume, vor allem in Anbetracht der architektonischen »Verunstaltung«, der wir vielerorts gewahr werden können. Wir Landschaftsarchitekt:innen gestalten dabei nicht nur Gärten, Grünflächen oder Parks. Wir planen und gestalten auch die Außenflächen von Dorfmitten und Innenstädten, von Quartieren und Regionen, von Naturschutzgebieten und Landschaftsparks, von Spiel-, Sport- und Bildungseinrichtungen, von Brücken und Fahrradwegen, von privaten und öffentlichen Bauten, von Regenwasseranlagen, Seen und Flüssen, von Gebäudefassaden und Dächern oder auch – im großen Maßstab und mittels Flächennutzungsplänen – die Vorrangflächen für Natur, Landwirtschaft, Rohstoffabbau und Siedlungserweiterung. Überall dort, wo Menschen mit ihrem Lebensstil in die Natur eingreifen, sind wir Landschaftsarchitekten, zusammen mit anderen Planern, tätig. Im Prinzip in fast allen Bereichen. Die Aufgabe ist dabei, die Balance zwischen Natur und gebauter Umwelt zu finden und geeigneten Lebensraum für Menschen, Tiere und Pflanzen zu schaffen. Dazu braucht es klare Regeln und Vorgaben.

Die Natur lebt auch ohne uns – doch wenn wir sie nicht gestalten, können wir nicht leben.

Landschaftsarchitekten arbeiten schon lange mit dem Thema Nachhaltigkeit. Sie ist Grundlage unseres Schaffens. Ich selbst engagiere mich schon seit über 10 Jahren intensiv zu dem Thema. Ich bringe dies nicht nur bei meiner Arbeit ein, sondern arbeite dafür auch in Verbänden, Organisationen und Kammern. Auf dem Internationalen Kongress für Landschaftsarchitektur IFLA 2013 in Zürich habe ich eine Charta für nachhaltige Landschaftsarchitektur vorgestellt. Ihr Ausgangspunkt sind klare ökologische, ökonomische und soziale Regeln. Mittlerweile gibt es viele weitere Vorschläge und Handlungsempfehlungen. Nur bei der konsequenten Umsetzung besteht noch großer Handlungsbedarf. Doch der Weg ist aufgezeigt.

Aufgabe ist es, eine Balance zwischen Natur und gebauter Umwelt zu finden.

Bei aller Planung ist es wichtig, dass es auch Bereiche gibt, die nicht gestaltet werden – Bereiche, in denen Pflanzen und ihre Prozesse sich selbst überlassen werden. Sie sind letztendlich die größten und besten Gestalter, die zeigen, wie die Lebendigkeit der Erde erhalten bleiben kann. Da Pflanzen das wichtigste Gestaltungselement von Landschaftsarchitekten sind, versucht das Buch sich ihnen zu nähern und sie in alle Aspekte miteinzubeziehen. Doch nicht nur Landschaftsarchitekten und die Pflanzen selbst sind Naturgestalter, wir alle sind es. Und das ist ein zentraler Punkt in meinem Buch: Nicht nur soll es Ihnen ermöglichen, diesen Gedanken nachzuvollziehen, sondern auch aufzeigen, wie Sie selbst die Erde positiv gestalten können.

Wir sind alle Pflanzen- und Naturgestalter.

Die Inspirationsquelle – pflanzliche Lösungen für eine klimaneutrale Erde

Sich auf die Pflanzen einzulassen, sie zu beobachten, von ihnen zu lernen und mit ihnen zu leben verändert die eigene Sichtweise und lässt einen die Welt mit ganz neuen Augen betrachten. Dabei gibt es besondere Kraft- und Inspirationsorte, an denen dieser neue Blickwinkel besonders intensiv zu spüren ist. Diese Orte sind meist dort zu finden, wo sich Pflanzen und die Natur frei entwickeln können. Einer dieser Orte liegt in Südamerika. In Ecuador entdeckte Alexander von Humboldt, dass alles mit allem zusammenhängt. Und ebenfalls in Ecuador beobachtete Darwin die Zusammenhänge in der Natur. Mir selbst erging es ähnlich. Dort gibt es den Yasuni Nationalpark, einen Regenwald mit der höchsten Artenvielfalt der Erde. Auf einem einzigen Quadratkilometer seines Geländes ließen sich über 600 identifizierte Baumarten auffinden. Ebenso leben auf dieser Fläche knapp 600 verschiedene Vogelarten, 80 Fledermausarten, 150 Amphibienarten und viele weitere Lebewesen und Pflanzen. Die Vielfalt des Grüns und der Tiere ist atemberaubend. Dort saß ich an einem Fluss und lauschte in den Wald. Das Konzert der Tiere, das ruhig fließende Wasser, die frische Luft und die angenehme Wärme wirkten auf mich paradiesisch. Wie damals Albert Schweitzer in Lambaréné,1* spürte ich die wohltuende Kraft der Natur. Ich hatte das Verlangen, diese wunderbare Natur zu schützen, zu pflegen und zu erhalten. Mein Weltbild erschien in einem neuen Licht. Man kann dieses Erlebnis auch in jeder anderen natürlichen Landschaft erfahren. Sei es auf einer Bergwanderung, im städtischen Bannwald, auf einer naturbelassenen Wiese oder früh morgens in einem Boot auf einem See. Diese positive Kraft ist dort am stärksten, wo die Artenvielfalt hoch ist und ein natürliches Gleichgewicht herrscht. Dort, wo die Natur noch weitgehend unberührt ist. Dieses Gefühl einmal zu erleben wünsche ich jedem Menschen. Es ist einfach wunderbar.

Von dieser spürbaren Pflanzenkraft gibt es viele Geschichten zu erzählen. Kommen Sie mit auf eine Reise, die zu unseren Wurzeln führt und gleichzeitig in die Zukunft blickt. Friedrich Schiller brachte es auf den Punkt: »Suchst du das Höchste, das Größte? Die Pflanze kann es dich lehren.«2

Dieses Zitat hat mich motiviert, bei den Pflanzen eine Lösung für die aktuellen Fragen der Menschheit zu suchen. Dabei bin ich auf faszinierende Zusammenhänge gestoßen. Pflanzen sind nicht nur Beiwerk und ein Nebenthema für gärtnerisch Interessierte. Sie sind maßgebliche Grundlage in allen lebenswichtigen Bereichen der Menschheit. Sie spielen fast in allen Bereichen eine elementare Bedeutung. Es ist atemberaubend, was Pflanzen alles leisten und für uns tun können. Was wir von ihnen lernen und wie wir mehr Pflanzen in unser Leben integrieren können.

Sie verkörpern Klimaneutralität. Ein weiteres Wort, welches derzeit überall verwendet wird. Es gibt viele verschiedene Definitionen dieses Begriffs. Plötzlich ist jeder, jede, alles klimaneutral. Er wird überall so ausgelegt, wie es am besten passt. Was es wirklich bedeutet, klimaneutral zu sein, verkörpern die Pflanzen. Dort können wir Antworten finden. Pflanzen zeigen uns einen Ausweg aus der Klimakrise, dem Artenschwund und der Naturzerstörung. Mehr noch. Sie regulieren nicht nur das Klima und die Natur, sie beeinflussen diese auch positiv. Ebenso geben sie Impulse für eine gemeinschaftliche Zusammenarbeit auf der Erde – eine fundamentale Grundlage für eine nachhaltige Zukunft. Daher kann bei den Pflanzen der Schlüssel zu den derzeit dringenden Fragen gefunden werden.

Der Klimaplan – den Garten Erde anlegen

Unsere Erde mit ihrem grünen Pflanzenkleid ist unser Garten. Die wichtigsten Akteure dabei sind die Pflanzen. Ihre Entwicklung kann Inspiration für unser Leben sein. Ihr Leben kann der Leitfaden sein, der »grüne« Faden dieses Buches, an dem entlanghangelnd sich eine nachhaltige Zukunft gestalten lässt. Sie sind unser größtes Kapital – und dies nicht nur im ökonomischen Sinne, sondern mit Blick auf den Erhalt unserer Lebensgrundlage.

Unsere Erde mit ihrem grünen Pflanzenkleid ist unser Garten.

Es geht darum, einen neuen pflanzlichen Masterplan zur Neugestaltung unserer Erde zu entwickeln und um der Klimakrise zu begegnen – wir brauchen einen Klima-Landschaftsplan – einen Klimaplan. Diese Aufgabe gehen wir an wie Planer, wie Landschaftsarchitekten. Diese sammeln zuerst Grundlagen, dann werden verschiedene Varianten und Gestaltungsmöglichkeiten betrachtet, anschließend ein Plan entworfen und umgesetzt. Nach der Fertigstellung werden die Früchte geerntet.

So beginnt auch mein Buch mit dem »Sammeln und Jagen«, dem Zusammentragen der wichtigsten Grundlagen. Da sich das Jagen auf das Töten von Tieren bezieht, verwende ich im Sinne einer pflanzlichen Welt allerdings lieber das Wort »Entdecken«. Beim Sammeln und Entdecken widmen wir uns so zunächst den Pflanzen, den vielgestaltigen Hauptdarstellern dieses Buches. Wir nähern uns ihrem Wesen und erfahren, welche Wohlfahrtswirkungen sie auf unser Leben haben. Danach blicken wir zurück in die Geschichte und die Gegenwart. Wir beleuchten die heutige Entfremdung zur Natur und zu den Pflanzen. Um aus dieser Sackgasse herauszukommen, betrachten wir die verschiedenen Gestaltungsmöglichkeiten, die wir haben.

Diese beginnen bei der Landwirtschaft und unserer Ernährung. Wir tauchen in das Leben der Pflanzen ein und lernen, wie wichtig die Bodenorganismen, die natürlichen Kreisläufe und die Biodiversität für ein nachhaltiges Wachstum und das Klima sind. Wir erkennen, dass insbesondere die Biodiversität ein äußerst wichtiges Thema der Zukunft ist, nicht zuletzt in Zusammenhang mit unserer Gesundheit. Danach betrachten wir, welche Gestaltungsmöglichkeiten wir in Stadt und Land mit unserem Lebensstil haben und was jeder Mensch dazu beitragen kann.

Pflanzen bieten Lösungen bei der Gesundheit, der Wirtschaft, der Energiegewinnung, der Ernährung, beim Bauen und für unsere Gesellschaft.

Dann sehen wir, dass eine Bioökonomie, die diesen Namen auch verdient hat, nur unter Begleitung einer naturverträglichen Begrünung der Welt eingeleitet werden kann und dass die Energie dafür pflanzlich ist. Wir erfahren von Strom- und Batteriepflanzen und folgen den Spuren echten »grünen Stroms«. All das will gestaltet werden.

Neben der Ernährung, der Wirtschaft und der Energie ist es wichtig, dass wir einen gesunden Wohnort haben. Wir unternehmen eine Gebäudereise und zeigen auf, wie Bauwerke in allen Bereichen begrünt werden können. Denn es geht nicht nur um Klimaschutz, sondern vor allem auch um Klimaanpassung. So betrachten wir Wasserstädte und kühlende Baumgebäude in Waldstädten.

Danach widmen wir uns dem Thema Gesundheit und Gesellschaft. Wir erfahren, inwiefern Pflanzen das Immunsystem der Erde sind und damit Grundlage unserer eigenen Gesundheit. In diesem Zusammenhang ist ein gesellschaftlicher Wandel von großer Bedeutung. Denn alle Überlegungen zu mehr Nachhaltigkeit lassen sich viel einfacher umsetzen, wenn wir von den Pflanzen lernen, uns zu entschleunigen, genügsamer zu werden und gemeinschaftlich und bewusster zu leben.

Mit den neuen Erkenntnissen wird dann vorausgeblickt in eine ganzheitliche »Phytofuture«. Während »Phyto-« vom griechischen Wort »phyton« für Pflanze entlehnt ist, meine ich mit »-future« keineswegs eine weit entfernte Zukunft: Sie schließt unsere Gegenwart mit ein, all die Momente unseres täglichen Lebens, in denen wir durch unser Verhalten festlegen, in welcher Welt wir später einmal leben werden. Es ist ein Thema, was viele Menschen auf die Straße bringt und sie für eine klimagerechte Zukunft protestieren lässt. Ein Weg, um dies zu erreichen, ist eine ganzheitliche pflanzliche Zukunft. In ihr werden wir alle von Pflanzen »beschenkt« und wenden uns ihnen gleichzeitig auch aktiv zu. Wie diese Vision umgesetzt werden kann, vermittelt anschließend eine ganze Reihe von Tipps.

Am Schluss des Buches werden die Prinzipien einer pflanzlichen Lebensweise auf die gesamte Erde übertragen. Denn was für die Pflanzen gilt, stimmt auch für den Menschen: Wir leben global vernetzt auf einer gemeinsamen Erde. Ihre Früchte sollen allen zugutekommen.

Mein Buch streift einige Themen ganz bewusst nur am Rande. Es möchte die Vielseitigkeit und Wichtigkeit der Pflanzen für uns aufzeigen und wie sie in entscheidenden Lebensbereichen auf uns wirken. Natürlich könnte man jeden dieser Bereiche noch viel mehr vertiefen, doch mein Anliegen ist es hier erst einmal, eine ganzheitliche Blickrichtung einzunehmen. Es geht um Systemzusammenhänge und Vernetzungen und mit Phyto for Future möchte ich Impulse geben, dieses existierende Netzwerk weiterzuentwickeln. Alles hängt miteinander zusammen. Deswegen sollte Architektur immer in Zusammenhang mit der Landschaft betrachtet werden, Landschaft immer zusammen mit den Aspekten von Biodiversität und Gesundheit. Die Gesundheit wiederum steht in einem engen Zusammenhang mit der Ernährung und auch dort hört die Kette von Wechselwirkungen nicht auf. Denn die Ernährung nimmt Einfluss auf Landwirtschaft und die Landwirtschaft ihrerseits auf die Energiegewinnung und die allgemeine Wirtschaft. All diese Themen sind zudem untereinander verbunden. Was an einem Punkt dieses Netzes passiert, hat Auswirkungen für alle anderen Teile.

Alles hängt miteinander zusammen.

Für alle diese Teile sind Pflanzen ein gemeinsames Bindeglied. Bei ihnen können wir Antworten für viele Probleme der Gegenwart finden. Denn nach wie vor reichen alle unsere Versuche nicht aus, um die Klima- und Gesundheitskrise sowie die immer weitergehende Naturzerstörung zu stoppen. Eine pflanzliche Betrachtung könnte einen Ausweg aufzeigen. Immer wieder begegnen wir auf unserer Reise besonderen Pflanzen, die unser Leben verändern können. Ihre Eigenschaften und Wirkungen auf uns möchte ich beschreiben und aufzeigen. Sie sollen herausfinden, wie Sie diese Pflanzen selbst in Ihr Leben integrieren können. Sie erfahren von Exoten, aber auch von Pflanzen, die vor unserer Haustür wachsen. Jede Pflanze leistet ihren positiven Beitrag. Lassen Sie sich durch die Ideen in dem Buch inspirieren, und lassen Sie uns gemeinsam eine grüne Zukunft gestalten.

Ohne Alge und Moos nichts los – der Ursprung unseres Lebens

Irgendwann, vor über zwei Milliarden Jahren, begann irgendwo in den Weltmeeren unseres Planeten ein neues Zeitalter. Eine winzig kleine Alge begann Sauerstoff frei zu setzen.3 Erst eine, dann zwei, dann drei … bis es viele Milliarden kleine Algen waren. Für Lebewesen, welche den Sauerstoff nicht nutzen konnten, bedeutete es ihr Ende. Für alle anderen begann das Leben. Es war der Beginn des Lebens, das wir heute kennen.

Viele hundert Millionen Jahre später lagerten sich erste Grünalgen aus dem Meer am Strand ab und bildeten weiche Moosteppiche – das Leben aus dem Meer wanderte an Land. So begann alles bei einem kleinen Moosblatt, allgemeiner gesprochen: bei den Pflanzen. Über Millionen von Jahren hinweg entwickelten sich viele weitere verschiedene Pflanzenarten. Sie überlebten jede Klimaveränderung, jeden Meteoriteneinschlag, jeden Vulkanausbruch und jedes Massensterben. Es gibt im ganzen Weltall keinen anderen uns bekannten Planeten, auf dem Pflanzen wachsen und der somit voller Leben ist. In Reaktion auf jedes Problem in der Evolutionsgeschichte entwickelten die Pflanzen eine neue Strategie. Sie passten sich dem Ökosystem an und wurden ein Teil davon. Denn ein Ökosystem ist ständig in Bewegung und die Fähigkeit zur Anpassung überlebenswichtig. Pflanzen sind Teil des Kohlenstoff-, Wasser-, Stickstoff-, Phosphor- und Schwefelkreislaufs.4 So erschaffen Pflanzen unsere Nahrung und Energie – ein perfektes System im Einklang mit unserem Planeten. Ein System, das enormes Potenzial hat und von dem wir viel lernen können.

Das Potenzial – jeder und jede kann etwas bewirken

Auch wir Menschen besitzen das Potenzial, dieses System zu erhalten. In Europa sagen 94 Prozent der Bevölkerung, dass Umweltschutz für sie wichtig sei.5 Laut einer Studie des Deutsches Instituts für Urbanistik, die im November 2021 veröffentlicht wurde, wünschen sich die Menschen abfallfreie Städte, mehr Selbstversorgung und mehr urbane Wildnis.6 Wenn Sie auch so denken, dann kann dieses Buch Ihnen Wege aufzeigen, was zu tun ist. Denn: Wir können, wenn wir einen schnellen Wandel wollen, nicht darauf vertrauen, dass die Wirtschaft handelt. Solange die Geschäfte gut laufen, gibt es keinerlei Anreiz, in der Wirtschaft etwas zu ändern. Auch die Politik tut bisher zu wenig. Sie hat zwar erkannt, dass es so nicht weitergehen kann, und hat große Programme wie das Pariser Klimaschutzabkommen oder in Europa den European Green Deal ausgerufen. Dort heißt es ausdrücklich, dass die Natur wieder ins Leben der Menschen zurückgebracht werden soll.7 Der Klimakrise will die EU mit dem Slogan »Fit for 55« begegnen und mit der neuen Taxonomie und ihren neuen Standards für ein ökologisches Wirtschaften das Finanzwesen nachhaltig machen.8 Die Realität allerdings sieht anders aus. Nach wie vor ist der CO2-Preis zu niedrig, es werden noch fossile Energien unterstützt, Milliarden von Subventionen für den Anbau in Monokulturen ausgegeben. Es wird noch viel zu wenig in nachhaltige Projekte investiert. Bisher reichen daher die gutgemeinten Ansätze nicht aus.

Die Behauptung, dass wir als Einzelne nichts bewirken können, ist falsch. Schlimmer noch: Sie hat fatale Folgen. Gerade wenn wir denken, dass unser eigener Beitrag keine Auswirkungen hat, ändert sich nichts, und die Zerstörung der Welt geht weiter.

Veränderung kann insbesondere von jedem und jeder Einzelnen kommen. Es sind gerade die kleinen Dinge, welche die Welt verändern: Prozesse auf molekularer Ebene, die das Erdsystem am Laufen halten. Denken Sie an die ersten Pflanzen. Jede noch so kleine Zelle, jedes Blatt bewirkt etwas. Wir sind 8 Milliarden Menschen auf der Welt und haben zusammen die Kraft und das Können, die Klimakrise noch abzuwenden. Der Weltklimarat hat vielleicht zum letzten mal im April 2022 wieder aufgerufen, das Ruder umzulegen, um das 1,5-Grad-Ziel zu erreichen. Wenn wir jetzt handeln, besteht noch Hoffnung.

Es sind gerade die kleinen Dinge, welche die Welt verändern.

Die Gesamtheit der Algen im Meer bindet mehr Kohlendioxid als alle Wälder auf der Erde zusammen. Es sind kleinste Pflanzenteile, es sind Mikroben und Aerosole, die die Welt bestimmen. »Mikroben stellen mit 70 Prozent den größten Anteil an lebender Materie dar.«9 Die Gesamtheit dieser kleinsten Elemente bildet die Atmosphäre, den Ozean, die Landmassen und die Pflanzen. Was das bedeutet, erleben wir in Zeiten der Coronakrise am eigenen Leib. Ein Virus der Größe von etwa 100 Nanometer beherrscht die Welt. Wenn diese mikroskopisch kleinen Winzlinge die Welt verändern können, dann können wir es mit unseren vielen Möglichkeiten allemal.

Die Veränderungen lassen sich bei sich selbst am einfachsten umsetzen. Sie müssen niemanden überzeugen, ändern oder endlos diskutieren. Sie können es einfach tun, jetzt sofort. Lassen Sie uns mit gutem Beispiel vorangehen. Am einfachsten ist dies mit einer klaren Vision. Es braucht Bilder und konkrete Wege, die man Schritt für Schritt gehen und an denen man wachsen kann. Denn wenn wir wissen, wie dieses Ziel aussieht oder wie wir es ansteuern können, dann können wir lösungsorientiert und mutig denken und handeln, um dorthin zu gelangen.

Wir bilden eine natürliche Einheit mit den Pflanzen, die uns nahestehen. Pflanzen lieben unser ausgeatmetes Kohlendioxid. Sie würden alles dafür tun, mehr angehaucht und beachtet zu werden. Ihr Leben hat sich perfekt entwickelt, ohne der Ökosphäre zu schaden. Aus diesem Grund könnten es die Pflanzen sein, welche uns bei der Neugestaltung der Städte, bei unseren Landschaften und in unserer Gesellschaft helfen. Lassen Sie sich von Pflanzen inspirieren und lassen Sie Pflanzen unsere Lehrmeister sein.

Wir bilden eine natürliche Einheit mit den Pflanzen.

*Die Quellenangaben jedes Oberkapitels sind durchnummeriert. Über die hochgestellten Ziffern im Fließtext kann zusammen mit der Kapitelnummer die entsprechende Quelle zugeordnet werden. Generell wurden für den Zweck dieses Buches leicht zugängliche und leicht verständliche Quellen favorisiert.

2. Sammeln und Entdecken – von Pflanzen und Menschen

Die Pflanzen

Um mit pflanzlichen Lösungen unsere Zukunft zu gestalten, wollen wir versuchen, die Pflanzen mehr zu verstehen und zu begreifen. In den folgenden Kapiteln entdecken wir ihr faszinierendes Leben, was sie dafür benötigen und nähern uns ihrem Wesen.

Das Leben der Pflanzen verstehen

Photosynthese

Fangen wir beim Grundelement des Lebens an, der Sonne. Ohne sie ist kein Leben möglich. Die Hinwendung zu ihrem Licht ist Ziel aller Pflanzen. Durch das Sonnenlicht betreiben Pflanzen Photosynthese. Sie ist einer der wichtigsten chemischen Prozesse auf der Erde und quasi der Herzschlag der Pflanzen. Ohne dieses Phänomen gäbe es keine Energie für das Leben und keinen Sauerstoff in der Atmosphäre.

Die Photosynthese ist einer der wichtigsten chemischen Prozesse auf der Erde.

Um Photosynthese zu betreiben, benötigen Pflanzen Wasser, Licht und Kohlendioxid (CO2). Daraus produzieren sie Glucose und geben Sauerstoff ab. Daher haben Pflanzen ihr Leben ganz nach diesen drei Kriterien ausgerichtet. Sie produzieren damit ihre eigene Wachstumsenergie. Überschüssige Energie wird in den Zellen, im Stängel, im Stamm oder in den Wurzeln eingelagert. So überstehen sie Notzeiten und sind zudem in der Lage, diese gespeicherte Energie am Ende ihres eigenen Lebenszyklus den Nachfahren zur Verfügung stellen. Ein perfekter Kreislauf.

Aufbau von Pflanzen

Alle Pflanzen sind aus Zellen aufgebaut (Abbildung 1). Die meisten Menschen kennen schon das stark verzweigte Netz eines Blattes. Ein Netzwerk, welches sich über Millionen von Jahren bewährt hat. Die wasserundurchlässige Wachsschicht an der Oberseite schützt das Blatt. Darunter befindet sich die Oberhaut, welche dem Blatt Stabilität gibt und das Licht zu dem Palisadengewebe durchlässt. Dieses ist sehr reich an Chloroplasten, die das Chlorophyll enthalten und für die Photosynthese verantwortlich sind. Danach folgt das Schwammgewebe, welches den Gasaustausch reguliert, CO2 aufnimmt und Sauerstoff und Wasserdampf abgibt. Diese kostbaren Elemente entweichen aus den Spaltöffnungen unter dem Blatt. Alles befindet sich im Austausch. Diese vernetzte »Architektur« schafft Großartiges. Man könnte es auch in den Worten des Naturforschers Carl von Linné beschreiben: »In den kleinsten Dingen zeigt die Natur ihre allergrößten Wunder«. Es sind nicht die Superlative, es sind die Mikroprozesse, die unser Leben ausmachen.

Es sind die Mikroprozesse, die unser Leben ausmachen.

Alle Pflanzen haben drei Grundorgane: Wurzeln, Spross und Blätter. Das ist jedoch schon die einzige äußere Gemeinsamkeit, die bei Pflanzen zu finden ist. Mit diesen drei Organen hat sich jede Pflanze auf ihre Weise entwickelt. Bei einigen verdicken sich die Wurzeln zu schmackhaften Trieben, bei anderen verlängert sich der Spross zu Ästen oder wird zum Baumstamm und bei den meisten formen sich aus Blättern die unterschiedlichsten Blüten. Diese Vielfalt an Formen hat mit der enormen Anpassungsfähigkeit der Pflanzen zu tun. In heißen Gegenden wird der Spross zum Kaktus und das Blatt zum Stachel. In Küstengebieten entwickeln Pflanzen Stützwurzeln, die sie über dem Wasser wachsen lassen. Das genaue Betrachten dieser Entwicklungen ist faszinierend. Ich kann nur alle einladen, sich mit dieser Pflanzenwelt zu beschäftigen. Sich auf einer Wanderung oder bei einem Spaziergang mal das Detail einer Blüte oder einer Knospe anzuschauen. Auf die Verzweigungen zu achten, auf die Struktur der Rinde, die Knospen und natürlich die Blüten. Ich selbst verbringe so viel Zeit wie möglich damit und lerne und sehe jeden Tag etwas Neues.

Pflanzliche Vielfalt ist atemberaubend und jedes Blatt, jede Wurzel, jede Zelle einzigartig (Abbildung 2). Es ist eine eigene neue Welt, ein neuer Mikro- und Makrokosmos, der sich eröffnet.

Das Wachstum der Pflanzen

Es gibt Pflanzen, wie das Immergrün (Vinca), die als kriechende Bodendecker wachsen und mit ihren dichten Polstern den Boden abdecken. Dazwischen ragen die Zwiebelpflanzen, wie beispielsweise Narzissen (Narcissus) oder die Schwertlilien (Iris) durch die Bodendecker. Dann kommen die Stauden. Sie wachsen ebenfalls über den Bodendeckern. Auf ihren oft dünnen Stängeln präsentieren sie ihre wundervollen Blüten der Welt. Die Blütenfarben decken die ganze Farbpalette ab. Auch die Formen der Blüten sind reine Kunstwerke. Es gibt Blüten in Doldenform oder in Gestalt von Kelchen oder Trichtern. Die Blütenpflanzen sind die erfolgreichsten unter den Pflanzen. Ihre Strategie der Zusammenarbeit mit Bestäuber-Insekten hat sich bewährt. Diese Blüten tragen nicht nur zur äußeren Schönheit der Welt bei, vielmehr verzaubern sie mit ihren Düften die Welt (Abbildung 3).

Die Blüten der Pflanzen verzaubern mit ihrer Schönheit und ihren Düften die Welt.

Auch Gräser und Farne reihen sich zwischen den Stauden ein und überragen diese oft. Noch höher wachsen kleine und große Sträucher, die mit ihren noch stärker verholzten Ästen das sogenannte Unterholz bilden oder auch die Randbereiche von Wäldern begrünen. Über allem ragen die Kronen der Bäume in den Himmel. Es gibt kleine gedrungene, mehrstämmige, schmale, breite, schirmförmige und runde Bäume. Der größte Unterschied in Form und Farbe besteht zwischen Laub- und Nadelbäumen. Die einen halten Winterruhe und verlieren ihre Blätter und die anderen sind immergrün und produzieren auch im Winter den für uns notwendigen Sauerstoff. Pflanzen, die zwischen dem Boden und den Bäumen vermitteln, sind Kletterpflanzen. Sie können sich mit ihren langen Trieben auf dem Boden ausdehnen, aber auch mit Hilfe der Bäume ans Licht gelangen. Sie nutzen jede Möglichkeit zu ranken, indem sie mit Haftwurzeln (z. B. Efeu) oder Schlingtrieben (z. B. Geißblatt) gen Himmel klettern. Es gibt auch Pflanzen, die kaum eigene Wurzeln schlagen (Moose) oder Pflanzen, die sich von anderen Pflanzen ernähren1 oder sogar Fleisch essen (Karnivoren). Die Vielfalt ist enorm.

Neben den Landpflanzen gibt es auch die Wasserpflanzen. Sie schwimmen auf dem Wasser, leben am Rand oder gar im Wasser. Sie kommen mit Süß,- Brack- oder Salzwasser aus. Sie atmen unter Wasser und betreiben Photosynthese. Ihre Farben und Formen sind vielfältiger und spektakulärer als diejenigen der Landpflanzen. Sie leben in einer noch kaum entdeckten Welt. Da uns die Pflanzen auf dem Land vertrauter und sichtbarer sind, beschäftigen wir uns in diesem Buch hauptsächlich mit Landpflanzen. Ihr Leben birgt die meisten Inspirationsquellen für unser eigenes Leben.

Verortung und Bewegung

Die meisten Pflanzen bleiben über ihre gesamte Lebensdauer an einem Ort. Das Wort Pflanze stammt vom lateinischen Wort planta ab, dies bedeutet Sohle, Fußsohle oder Setzling. Die Benennung geht darauf zurück, dass die Erde um die frisch gesetzte Pflanze mit dem Fuß oder der Sohle festgetreten wurde.2 Durch die Pflanzung werden die Pflanzen an einen Ort gebunden, jedoch sind sie dadurch nicht vollkommen bewegungslos. Sie bauen ihre Reichweite durch ihre Pollen, Samen, Früchte und Wurzeln, mit den Elementen Luft, Erde, Wasser oder mithilfe der Tiere und Menschen aus. Bäume können sich bis zu einen Kilometer pro Jahr von ihrem Standort aus weiterbewegen. So »wandern« sie auf diese Weise durch die Landschaft. Es gibt sogar Bäume, die sich wortwörtlich vom Fleck wegbewegen können. Im Regenwald von Ecuador habe ich Wanderpalmen (Socratea exorrhiza) erlebt, die ihren Standort mithilfe ihrer Wurzeln mehrere Meter pro Jahr ändern.3 Auch wenn dies umstritten ist, es ist ein faszinierender Baum. Die Wurzeln bestehen aus oberirdischen Ständern, die wie ein Kegel geformt den schweren Stamm tragen. Millimeter um Millimeter graben sie sich durch den Boden. So »laufen« sie förmlich durch den Wald.

Pflanzen sind nicht bewegungslos, sie können sogar »wandern«.

Bei Pflanzen sind verschiedene Bewegungsgeschwindigkeiten zu beobachten. Entweder ganz langsame oder ganz schnelle Bewegungen. Ein botanischer »Scharfschütze« ist beispielsweise die Spritzgurke (Ecballium elaterium).* Sie schleudert ihre Samen mit 6 bar bis zu 12 Meter weit. Die schnellste pflanzliche Bewegung jedoch ist bei der weißen Maulbeere (Morus alba) zu beobachten. Sie schleudert ihre Pollen mit einer Geschwindigkeit von etwa 560 Kilometern pro Stunde durch die Luft.4 Damit würde der Pollen jeden Formel-1-Rennwagen überholen.

Doch diese Bewegungen sind die Ausnahme. Das Besondere bei den Pflanzen ist nun mal die Langsamkeit ihres Wachstums. Dies ermöglicht den Pflanzen, ihre Bewegungen genau zu steuern und Nährstoffe aufzunehmen. Doch auch da gibt es Unterschiede. Ein wahrer Senkrechtstarter ist der Bambus. So wächst der Große Holzbambus (Phyllostachys reticulata) über 1,2 Meter pro Tag. Eine der langsamsten Pflanzen ist die Borstenkiefer (Pinus aristata). Sie wächst nur wenige Millimeter pro Jahr, wird dafür aber bis zu 5.000 Jahre alt.5 Ein europäischer Experte der Langsamkeit ist die Eibe (Taxus baccata). Sie ist die älteste und schattenverträglichste Baumart Europas. Durch ihr langsames Wachstum kann sie über tausend Jahre alt werden und wurde daher schon von vielen Kulturen als Baum des Lebens bezeichnet.

Langsamkeit ist ein Schlüssel für ein langes Leben.

Langsamkeit ist ein Schlüssel für ein langes Leben. Es ist auch so, dass Pflanzen, die zu schnell wachsen und zu viele Nährstoffe auf einmal bekommen, nicht genügend Wurzeln ausbilden und so Notzeiten schlechter überstehen. Ein langsameres Wachstum scheint gleichzeitig also auch ein nachhaltigeres Wachstum zu sein.

Ausdehnung und Wurzeln

Zudem gibt es sehr große und sehr kleine Pflanzen. In Brasilien gibt es einen Cashewbaum (Anacardium occidentale), der sich auf einer Fläche von 8.834 Quadratmetern ausgebreitet hat.6 Weitere Rekorde sind über 100 Meter hohe Bäume7 oder dicke Bäume mit einem Stammumfang von 46 Metern.8 Diese Superlative gibt es aber auch am anderen Ende der Größenskala, im mikroskopischen Kosmos. Eine der kleinsten Pflanzen ist die Wasserlinse (Lemna minor). Sie ist lediglich 0,6 Millimeter groß und damit nur 10-mal dicker als ein menschliches Haar9. Diese Vielfalt der Pflanzen birgt eine anhaltende Faszination.9

Neben dem oberirdischen Wachstum gibt es das für uns unsichtbare Wachstum im Boden. Wie bei den Wasserpflanzen ist dies eine für uns kaum sichtbare Welt. Auch dort gibt es riesige Unterschiede. So benötigen Moose keine Wurzeln, sondern ihre Zellfäden dienen lediglich als Bodenhalter. Andere dagegen bilden sehr lange Wurzeln wie beispielsweise der Roggen. Er ist sehr ausdauernd und kann seine Wurzeln über eine Länge von bis zu 80 Meter im Boden ausbreiten und dabei eine Oberfläche von 400 Quadratmetern erreichen.10 Auch was die Wurzelformen angeht, hat jede Pflanze ihre eigene Strategie. So gibt es beispielsweise bei Bäumen Flach-, Pfahl- oder Herzwurzeln. Alles nicht sichtbar für uns, aber erlebbar für diejenigen, welche sich mit dem Boden beschäftigen oder schon mal um die Wurzeln eines Baums herumgraben mussten.

Die Verankerung der Wurzeln im Boden ist das Fundament der Pflanze, gleichzeitig aber auch Ort für die Nahrungsaufnahme. Wichtige Mineralien werden dort von der Pflanze aufgenommen. Zeitgleich ist der Boden der größte Wasserspeicher. Im Wurzelraum können Tausende Liter Wasser aufgenommen werden. Ein Quadratmeter gesunder, durchwurzelter Boden kann bis zu 200 Liter speichern.11 Ganz wie ein Schwamm, der ganze Wassermassen problemlos aufsaugen kann.

Der Boden ist einer der wichtigsten Verbündeten der Pflanzen.

Pflanzen sind nicht nur Wasserspeicher, sie sind wahre Wasserzauberer. Sie können mithilfe winziger Kammern in ihren Blättern sogar Regen in Dampf verwandeln, ohne diesen aufzukochen.12 So werden etwa sechzig bis achzig Prozent der Verdunstung von Bäumen geleistet.13 Dies kühlt die Erde und generiert neuen Regen. Schön zu sehen ist dies beim Morgennebel oder nach einem Regenguss in einem »dampfenden« Wald. Dieser Atem der Pflanzen schafft neues Leben.

Wo Pflanzen gedeihen

Pflanzen gedeihen auf dem ganzen Planeten und auch an Orten, an denen wir keine Pflanzen vermuten würden. So gibt es Pflanzen, die an Extremstandorten leben können. Beispielsweise in der Arktis bei –18 Grad Celsius, in der Atacama-Wüste, in der es so gut wie nie regnet, in 5.000 Metern Höhe oder in Höhlen, in denen es so gut wie kein Licht gibt.14 Eine faszinierende und doch sehr alltägliche Pflanze ist das Ruprechtskraut (Geranium robertianum) mit seiner etwa 1 Zentimeter großen Blüte. Es kommt mit gerade einmal 0,25 Prozent des normalen Tageslichts aus, kann also an Standorten wachsen, an denen Menschen nur mit großem Aufwand überleben würden.15

Pflanzen wachsen nicht nur vor sich hin. Wie wir gleich erfahren, sehen, hören, riechen und schmecken sie. Sie haben einen Gleichgewichtssinn und können kommunizieren, sie können täuschen, reagieren auf Berührung und treiben hungrige Raupen dazu, die eigenen Artgenossen aufzufressen. Es gibt auch Pflanzen, die in der Lage sind zu »zählen«. Manche Biolog:innen sind sogar der Meinung, dass Pflanzen »lernen« oder bewusst Entscheidungen treffen können. Auf einige dieser Pflanzensinne möchte ich gerne eingehen.

Es gibt sogar Pflanzen, die auf Berührung reagieren oder zählen können.

Die Fähigkeiten von Pflanzen

Sehr offensichtlich bei den Pflanzen ist das bereits beschriebene Wachstum zum Licht hin. Man nennt es Phototropismus. Die Pflanze nimmt das Licht mithilfe ihrer Lichtrezeptoren in den Sprossspitzen wahr. Mit diesen kann sie sozusagen »sehen«. In diesen »Augen« ist das Wachstum am intensivsten. Jeder kennt dies von seinen eignen Zimmerpflanzen am Fenster. Die Pflanzen orientieren sich zum Licht hin. Dreht man die Pflanze nach ein paar Tagen vom Licht weg, orientiert sie ihr Wachstum um und wendet sich wieder dem Licht zu. Ob und wie sie wirklich sehen, gilt es noch weiter zu erforschen. Ich bin mir sicher, dass wir noch oft unser Weltbild diesbezüglich korrigieren werden müssen.

Neben den »Augen« haben Pflanzen auch »Ohren«. Davon ist der Pflanzenneurobiologe Professor Stefano Mancuso von der Universität Florenz überzeugt. Er wies nach, dass Wurzeln von Maispflanzen bei tiefen Tönen im rechten Winkel zur Schallquelle hin wachsen, während sie sich bei hohen Tönen davon entfernen. Ebenso konnte nachgewiesen werden, dass die Wurzelspitzen Klicklaute von sich geben.16 Auch wenn Pflanzen keine Ohren haben, können sie zumindest Töne von sich geben. Ich glaube jedoch, das Hörorgan der Pflanzen könnte noch entdeckt werden.

Pflanzen können sogar hören und geben Klicklaute von sich.

Der Geruchssinn von Pflanzen ist ebenfalls erstaunlich. Bekannt ist das Beispiel der Akazien. Machen sich Fressfeinde an ihnen zu schaffen, stoßen diese sofort das Gas Ethylen aus. Die benachbarten Akazien registrieren das Warnsignal sofort und produzieren ebenfalls das Gift, das den Tieren den Appetit verdirbt. Eine ähnliche Strategie verfolgt der Rosenkohl. Er kann scheinbar schmecken. So kleben bestimmte Schmetterlingsarten ihre Eier mit Klebstoff an die Blätter des Kohls. Der Kohl »schmeckt« einen Bestandteil des Klebstoffs und verströmt einen Duftstoff, der wiederum Schlupfwespen anlockt. Diese legen Eier, sodass die Larven der Schlupfwespe die Schmetterlingsbrut fressen. Würde diese schlüpfen, würde sie sich gleich über die Blätter des Kohls hermachen und sie verspeisen. Mit dieser Strategie schützt sich der Kohl also ebenfalls vor Fressfeinden.17

Ein weiterer wichtiger Sinn bei Pflanzen ist der Gleichgewichtssinn. Dieser ermöglicht es den Pflanzen, in den Himmel zu wachsen und sich gleichzeitig im Boden zu verankern. Sie registrieren die Schwerkraft – ein Phänomen, das man als Gravitropismus bezeichnet. Die Pflanze wächst dadurch entweder senkrecht nach unten oder sie wächst senkrecht nach oben. Hat sie Flachwurzeln, wachsen diese horizontal zur Seite. Um die Schwerkraft zu erspüren, helfen kleine Körnchen in den Sprossen und Wurzeln, die aufgrund ihres Gewichts im Zellplasma nach unten sinken. Doch sie bleiben dort nicht liegen wie in einer Sanduhr, sondern sie bewegen sich wie die Blase einer Wasserwaage. So können sie noch den kleinsten Neigungswechsel feststellen und ihr Wachstum demnach anpassen.18

Einsatz von Stoffen

Neben diesen beachtlichen Fähigkeiten wissen sich Pflanzen auch noch auf andere Weise zu helfen. Zum Beispiel gibt es sehr giftige Pflanzen. Bei uns bekannt ist beispielsweise der Eisenhut (Aconitum) – eine der giftigsten Pflanzen Europas. In allen Pflanzenteilen befinden sich hochgiftige Diterpen- und Esteralkaloide, welche bei Berührung den Herzrhythmus beschleunigen und bis zum Ersticken führen können. Ebenso bekannt ist der Riesenbärenklau (Heracleum mantegazzianum), der schon bei Aufenthalt in seiner Umgebung Atemnot auslösen kann. Weniger bekannt ist die Giftigkeit der Samen des Rizinusbaums (Ricinus communis), der auch in unseren Ziergärten gepflanzt wird. Sein Öl wirkt als Abführmittel, doch seine Samen können sogar als Biowaffe eingesetzt werden. Der Verzehr schon von wenigen Samen kann den Tod durch Kreislaufversagen binnen weniger Sekunden auslösen.19

Pflanzen sind alles andere als hilflos.

Gifte sind für Pflanzen überlebenswichtig, denn im Gegensatz zu Menschen oder Tieren können sie bei Gefahr nicht die Flucht ergreifen. Das Gift kann nicht zuletzt auch nützlich für den Menschen sein. Viele giftige Inhaltsstoffe werden in der Medizin eingesetzt. Es ist alles eine Frage der Dosierung.

Neben dem Gift gibt es auch Pflanzen, die ihre Fressfeinde sich selbst auffressen lassen und sozusagen in den Kannibalismus führen. So geben Tomaten bekanntlich flüchtige Signale ab, wenn sie von Raupen angegriffen werden. Dies warnt benachbarte Tomaten und lässt sie Abwehrstoffe produzieren, die ungenießbar für die Feinde sind. Als in einem Experiment alle Tomaten bereits Abwehrstoffe gebildet hatten, fraßen die hungrigen Raupen erst viel weniger Blätter, wurden aber dabei immer hungriger, bis sie dazu übergingen »sich gegenseitig aufzufressen«.20

Symbiose mit Pilzen

Pflanzen kommunizieren nicht nur miteinander, sondern auch mit anderen Lebensformen. Beispielsweise bilden sie eine für beide Seiten nützliche Gemeinschaft mit Pilzen. Rund 90 Prozent aller Pflanzenarten leben mit einer Pilzart zusammen.21 Eine solche Symbiose bezeichnet man als Mykorrhizapilze, die sich Menschen nur durch ihre oberirdischen Fruchtkörper zeigen. Der eigentliche Pilz wächst unter der Erde. Eine typische Symbiose geht beispielsweise der Steinpilz mit der Eiche ein. Wo die Eiche wächst, gedeiht auch diese Pilzart. Unter Kiefern sind dagegen oft Röhrlinge zu finden. So gibt es viele Beispiele. Wer viele Pilze finden möchte, sollte sich daher zunächst an den Bäumen orientieren und dann erst den Boden nach dem »Fleisch des Waldes« absuchen.

Die Pilze umschließen mit ihren Pilzfäden, dem Myzel, die Wurzeln der Pflanze und versorgen diese mit Nährstoffen und Wasser. Im Gegenzug erhalten die Pilze von der Pflanze Kohlenstoffverbindungen wie Zucker und Stärke, die wiederum von ihnen selbst nicht hergestellt werden können.

So entstehen riesengroße Pilzflächen unter der Erde, die nicht nur Nährstoffe, sondern auch Informationen weitergeben. In einem Hektar Waldboden befinden sich bis zu 6 Tonnen Pilzfäden, die eine unglaubliche Länge von 100 Milliarden Metern haben können. Einer der größten gemessenen Pilze, ein Hallimasch, wurde in in den USA in Oregon gefunden. Er ist etwa 900 Hektar groß und damit das größte Lebewesen der Erde.22

Pflanzen können sich dieser natürlichen Pilz-Netzwerke bedienen und frühzeitig auf Schädlingsbefall reagieren. Pflanzen, die auf Pilznetzwerke zurückgreifen, können diese zielgerichteter und effizienter weiter geben.23 Dieser Informationsaustausch funktioniert nicht nur unterirdisch, sondern auch oberirdisch. Die Pflanze gibt flüchtige organische Verbindungen ab, die von anderen Pflanzen aufgenommen und weitergegeben werden. Nach groben Schätzungen schickt die Vegetation pro Jahr weltweit eine Milliarde Tonnen dieser Pflanzenstoffe in die Luft.24 Somit entsteht ein komplexes Netzwerk, das sogenannte »Wood Wide Web«. Ohne es vermessen zu haben, ist es in seiner Ausdehnung wahrscheinlich um ein Vielfaches größer als unser Internet.

Dass Pflanzen sogar ein Gedächtnis haben und lernen können, meint die Biologin Suzanne W. Simard von der University of British Columbia. Für sie ähnelt das Mykorrhiza-Netzwerk der Pflanze dem neuronalen Netzwerk unseres Gehirns. Dabei beobachtet sie bestimmte Muster und Eigenschaften in diesen Strukturen, die auch für Intelligenz wichtig sind. Pflanzen können ihrer Meinung nach Entscheidungen treffen und gezielt Handlungen ausführen.25 Bereits im 19. Jahrhundert beschrieb Darwin, dass die Wurzelspitze wie das Gehirn eines niederen Lebewesens funktioniere. Dies wurde mittlerweile in Versuchen bestätigt. In den Wurzelspitzen befinden sich neuronale Zonen, welche wie ein Gehirn Signale verarbeiten und weiterleiten.26 Grundsätzlich nimmt man an, dass diese Signale vorwiegend mit der Nahrungsaufnahme zusammenhängen. Allerdings haben die Pflanzen dabei Fähigkeiten entwickelt, von denen wir weit entfernt sind. Sie können mit den Wurzelspitzen verschiedene Parameter in der Umgebung messen. Beispielsweise die Feuchtigkeit, die Lichtstärke oder den Sauerstoffgehalt. Diese Informationen der Wurzeln werden dann weitergeleitet, damit die Pflanze reagieren kann. Es wird auch daran geforscht, ob Pflanzen diese Informationen speichern oder sich sogar daran erinnern können.