Piccola Sicilia - Daniel Speck - E-Book
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Piccola Sicilia E-Book

Daniel Speck

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Beschreibung

Nach dem großen Bestseller-Erfolg von »Bella Germania« jetzt endlich der neue Roman von Daniel Speck! Was, wenn deine Familie in Wahrheit eine andere ist? Ein sonniger Herbsttag auf Sizilien. Schatztaucher ziehen ein altes Flugzeug aus dem Meer. Die deutsche Archäologin Nina findet auf der Passagierliste ihren Großvater Moritz, der seit dem Zweiten Weltkrieg als verschollen galt – das große Geheimnis ihrer Familie. Seine Abwesenheit hat eine Wunde hinterlassen, die über drei Generationen reicht. Überraschend begegnet Nina auf Sizilien einer fremden Frau, die behauptet, Moritz' Tochter zu sein. Hatte er eine zweite Familie? Tunis, 1942. Das bunte italienische Einwandererviertel "Piccola Sicilia". Drei Religionen leben in guter Nachbarschaft zusammen,? ?bis der Krieg das Land erreicht. Im Grand Hotel Majestic begegnet der deutsche Soldat Moritz der faszinierenden Jüdin Yasmina und dem Pianisten Victor. Als die Nazis Victor gefangennehmen, riskiert Moritz alles, um ihm zur Flucht zu verhelfen. Doch nicht nur Victor, sondern auch Moritz hat Gefühle für Yasmina. Er verstrickt sich in eine Leidenschaft, die sein Schicksal für immer verändern wird. Drei Frauen aus drei Kulturen und eine Liebe, die alle Grenzen überwindet. Inspiriert von einer wahren Geschichte. »Eine fesselnde Geschichte, brillant erzählt und ein so wichtiger Kommentar zur Gegenwart.« Süddeutsche Zeitung

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Seitenzahl: 812

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Daniel Speck

Piccola Sicilia

Roman

 

 

Über dieses Buch

 

 

»Piccola Sicilia«, das italienische Viertel der farbenfrohen Mittelmeerstadt Tunis, 1942. Drei Religionen leben in guter Nachbarschaft zusammen – bis der Krieg das Land erreicht. Im Grand Hotel Majestic begegnet der deutsche Fotograf Moritz dem jüdischen Zimmermädchen Yasmina. Doch sie hat nur Augen für Victor, den Pianisten.

 

Sizilien, heute: das Mittelmeer, glitzerndes Blau. Schatztaucher ziehen ein altes Flugzeugwrack aus der Tiefe. Die Berliner Archäologin Nina sucht ihren verschollenen Großvater Moritz und trifft Joëlle, eine unbekannte Verwandte aus Haifa, die ihr Leben auf den Kopf stellt. Gemeinsam enthüllen sie ein faszinierendes Familiengeheimnis.

 

Drei Frauen aus drei Ländern und drei Kulturen – verbunden durch eine Liebe, die alle Grenzen überwindet.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Daniel Speck, 1969 in München geboren, baut mit seinen Geschichten Brücken zwischen den Kulturen. Durch seine Reisen und seine Recherchen trifft er Menschen, deren Schicksale ihn zu seinen Romanen inspirieren. Der Autor studierte Filmgeschichte in München und in Rom, wo er mehrere Jahre lebte. Er verfasste Drehbücher, für die er mit dem Grimme-Preis und dem Bayerischen Fernsehpreis ausgezeichnet wurde. Sein Roman ›Bella Germania‹ wurde als Dreiteiler prominent verfilmt.

Mit dem Bestseller ›Piccola Sicilia‹ führt Daniel Speck uns auf eine Reise ins Herz des Mittelmeers. Dieses vielstimmige Panorama der Kulturen erweitert er in seinem neuen Familienroman ›Jaffa Road‹.

 

Mehr erfahren Sie auf www.danielspeck.com

Inhalt

Vorbemerkung

Prolog

1

NINA

2

3

4

5

6

YASMINA

7

8

9

10

MARSALA

11

MORITZ

12

MARSALA

13

14

LATIF

15

16

MARSALA

17

NOËL

18

19

MARSALA

20

KHAMSA

21

MARSALA

22

FARFALLA

23

MARSALA

24

È UN AMICO

25

MARSALA

26

AL ALMANI

27

28

MARSALA

29

VICTOR

30

MARSALA

31

AUGURI!

32

MARSALA

33

FERRAGOSTO

34

MARSALA

35

LÉON

36

JOËLLE

37

38

MARSALA

39

SYLVETTE

40

41

MARSALA

42

SFORTUNA

43

44

45

MARSALA

46

SICILIA

47

48

49

MARSALA

50

YOUKALI

51

52

53

MARSALA

54

MEKTOUB

55

MARSALA

56

AL MARE

FINE

DRAMATIS PERSONAE

Youkali

Grazie

Nachwort

Die Handlung und ihre Figuren sind frei erfunden, beruhen aber auf wahren Begebenheiten. Richard Abel, Khaled Abdelwahab, Renee und Leopold Beretvas haben ihr eigenes Leben riskiert, um ein anderes zu retten. Ohne ihren Mut wäre dieses Buch nie entstanden.

 

 

Prolog

Ich stelle mir vor: ein Mann am Klavier. Er singt um sein Leben. Wenn sie herausfinden, wer er wirklich ist, erschießen sie ihn. Aber er lacht charmant, genießt die Täuschung, zeigt den Offizieren das, was sie in ihm sehen wollen. Er weiß, das beste Versteck sind die Bilder in den Köpfen der anderen. Die Geschichten, die ihnen schmeicheln, halten sie für wahr. Alle Offiziere singen mit. Wie einst Lili Marleen. Von den stuckverzierten Mauern des Grand Hotel Majestic, die schon alle Sprachen der Welt gehört haben, hallen ab jetzt nur noch deutsche Worte. Die Sprache der Eroberer, die am Vortag alle Gäste hinausgeworfen und jedes Zimmer besetzt haben, vom Keller bis unters Dach. Nur die Mauern wissen, dass auch das, wie jedes andere Unglück oder Glück dieser Welt, vorübergeht.

 

Und dann ist da noch ein anderer Mann. Ganz unscheinbar, fast unsichtbar lehnt er an der Wand. Mein Großvater, damals Anfang zwanzig, in Wehrmachtsuniform. Als Einziger singt er nicht mit, summt nur leise vor sich hin. Er hält seine Kamera vors Auge und lässt den Blick durch den Raum schweifen. Seine Aufgabe ist es, Bilder in die Köpfe der Menschen zu bringen, Geschichten zu erzählen, die Geschichte schreiben. Der Mann, der noch nicht weiß, dass er mein Großvater werden wird, ist gerade erst in Nordafrika angekommen. Er kennt niemanden hier. Und obwohl er ein Bild der fröhlichen Kameradschaft zeichnen soll – deutsche Offiziere um den italienischen Pianisten am Flügel –, bleibt sein Blick an der einzigen Frau in der Bar hängen, ihren schwarzen Augen und schwarzen Locken. Niemand weiß, dass sie Jüdin ist. Sie trägt die französische Uniform der Zimmermädchen, sie geht von Tisch zu Tisch, um die Rosen in den Vasen auszutauschen. Für einen winzigen Moment entdeckt sie seine Kamera und blickt gleich wieder weg, als hätte er sie bei etwas Verbotenem ertappt. Und tatsächlich ist es nicht allein Yasminas rätselhafte Schönheit, die seine Aufmerksamkeit fesselt, oder die Frage, warum sie ihr selbst nicht bewusst zu sein scheint. Nein, ihm fällt als Einzigem im Raum auf, dass die Rosen, die sie aus den Vasen zieht, ebenso frisch sind wie die, mit denen sie sie ersetzt. Dass sie die Tische beim Flügel zweimal besucht und ihre Augen nicht von Victor, dem Pianisten, lassen kann. Was er nicht weiß, ist, dass Yasmina in Wahrheit hier ist, um Victor nah zu sein, um sich in den Mantel seiner Stimme zu hüllen. Die Stimme, nach der sie süchtig ist, seit sie ihr in den Nächten der Kindheit die Angst genommen hatte, verloren zu sein. Dass sie ihn beschützen will und bereit wäre, für ihn zu sterben. Was aber weder Yasmina noch der deutsche Soldat wissen, ist, dass sie die Frau seines Lebens, oder besser: seiner drei Leben, werden sollte. Drei Masken eines Chamäleons zwischen den Welten, die noch vor ihm liegen und die ich erst jetzt, fünfundsiebzig Jahre später, Schicht um Schicht freilege, als ungebetener Gast, als Archäologin in verbotenem Terrain.

Wenn Trauma der Verlust eines wesentlichen Teils von uns selbst ist, wie das Gefühl von Geborgenheit, Glück oder Gegenwart, dann sind meine Verwandten, also alle, die in diese Geschichte verstrickt sind – Juden, Christen und Muslime –, auf die eine oder andere Weise traumatisiert, mich selbst eingeschlossen. Und wenn ich nicht die Hoffnung hätte, dass man trotzdem wieder ganz und lebendig werden kann, wer sonst? Sie sind alle gestorben, ohne vorher ins Leben zurückgefunden zu haben. Jetzt liegt es an mir, wie diese Geschichte ausgeht.

1

NINA

In einer Hinsicht haben doch alle ihre Heimat verloren –

wir sind alle Migranten aus dem Land der Kindheit.

 

Georgi Gospodinow

 

Wie ein Traum aus der Tiefe, dunkel schimmernd unter den leicht gekräuselten Wellen, steigt es langsam ans Licht. Dann bricht es durch die Wasseroberfläche. Ein silbernes Flugzeugleitwerk, abgerissen vom Rest des Rumpfes, aber erstaunlich intakt, als hätte es nur darauf gewartet, aus seinem Schlaf am Meeresboden geweckt zu werden. Muschelkrusten wie auf einem alten Wal. Auf der Heckflosse, in verwaschenem Schwarz: ein Hakenkreuz. Schlamm tropft von den Flügeln. Es ächzt und stöhnt aus dem Inneren, während der Kran das Ungetüm vorsichtig an Bord hievt. Ein Taucher bewegt die Landeklappen. Deutsche Wertarbeit. Oft gesehen auf Schwarzweißfotos, die Aluminiumhaut der Ju 52, jetzt plötzlich in Farbe, inmitten von glitzerndem Blau. In der Ferne ein Strand, Felsen und Olivenbäume, man sieht Kinder spielen.

 

Ich starre auf den Bildschirm und kann es nicht fassen. Nicht weit von dort hatten wir am Strand gestanden und aufs Meer geschaut. Die Windmühlen von Marsala, die Weinberge und Tempel, unsere Hochzeitsreise durch Sizilien. Nie wäre mir in den Sinn gekommen, dass unter der Meeresoberfläche jene Maschine lag, die meinen Großvater nach Hause hatte bringen sollen. Kurz vor Trapani, dem Stützpunkt der deutschen Luftwaffe, stürzte sie ins Mittelmeer. Abgeschossen von den Alliierten, Benzinmangel oder Motorschaden, das wird noch herauszufinden sein. Sie sagen, es war am 7. Mai 1943, kurz vor der Geburt meiner Mutter.

Immer wieder schaue ich das Video an und lese die Mail, mit der es angekommen ist. Ich formuliere eine Antwort und lösche sie wieder. Dann schließe ich mein Büro ab, grüße den Nachtwächter und verlasse die Museumsinsel.

Die feuchte Luft riecht nach Laub, der Herbst kam früh in diesem Jahr. Fahle Lichtsplitter auf der Spree. Wenn es wahr sein sollte, dass mein Großvater in dieser Maschine starb, bedeutet das die endgültige Gewissheit, dass ich die letzte Überlebende der Familie bin. Erst starb meine Großmutter, dann meine Mutter. Alles, was übrigblieb, war das Geheimnis seines Verschwindens. Jetzt bin ich allein.

Die S-Bahn gleitet durch die Nacht. Dieselbe Strecke wie jeden Abend. Dinge, die sich nicht verändern, beruhigen mich. Fahrgäste steigen ein und aus, die Mode kommt und geht, aber die S1 bleibt immer die S1. Sie hat die Bombenangriffe überlebt und die Teilung der Stadt. Wahrscheinlich fuhr mein Großvater schon mit ihr. Tiergarten, Savignyplatz, Wannsee. Meine Berufskrankheit: Archäologen sehen die Welt nicht so, wie sie ist, sondern immer auch, wie sie war, Schicht um Schicht. Alles ist für uns zugleich präsent, Unsichtbares hinter dem Sichtbaren, die Spuren des Gestern hinter dem Heute, die Gegenwart als Konsequenz der Vergangenheit.

Mein Blick reist durch die Zeiten, als blätterte er durch ein Buch. Bahnhof Friedrichstraße, Gianni und ich betrunken in der letzten Nacht des alten Jahrtausends. Mein erster Besuch im Osten in den Achtzigern, ein schüchterner Teenager in Jeansjacke und Turnschuhen mit ihrer Mutter, die einen Freund im Osten hatte, der gern Westzigaretten rauchte. Wartende Parkaträger in der Kälte, Passierschein in der Hand, keiner traut sich, laut zu sprechen. Genauso detailliert sehe ich, was vor meiner Zeit war, als wäre ich dabei gewesen – die zerstörten Gleise nach den Bombennächten, meine Großmutter als junge Frau, die meinen Großvater in Uniform zum Bahnhof bringt, sie glaubt noch an den Sieg, er verschweigt ihr seine Zweifel.

 

Kurz nach Mitternacht rufe ich Patrice auf Sizilien zurück. Schon vier Nachrichten auf meiner Mailbox. Und das Video mit dem Hakenkreuz. Du musst sofort kommen, das ist eine Sensation! Wir kennen uns aus Studienzeiten, ein Austauschjahr in Perugia, dann trennten sich unsere Wege. Er hatte immer schon ein Faible für die Unterwasserarchäologie; ich bevorzuge festen Boden unter den Füßen. Was ich an der Wüste liebe, liebt Patrice an der Tiefe – und andersherum: Er hat Angst vor der Leere, ich habe Angst vor der Tiefe. Dort unten kann man schnell sterben oder schnell reich werden – alles dazwischen interessiert ihn nicht. Ich dagegen meide die Extreme, brauche festen Boden unter den Füßen und begnüge mich mit einer Festanstellung bei der Stiftung Preußischer Kulturbesitz.

Patrice war früher mal verliebt in mich gewesen – und ich in ihn, wenn ich ehrlich bin. Vielleicht wäre es ein tolles Abenteuer geworden, aber ich hatte mich schon für Gianni entschieden. Patrice war charmanter, attraktiver, verrückter – aber genau deshalb hätte er jede Frau unglücklich gemacht. Eine genügte ihm nicht. Ich erkenne Patrice’ Stimme sofort, sie klingt jung und hell wie damals. Er ist völlig aus dem Häuschen.

»Du hast doch immer von ihm erzählt, weißt du nicht mehr?«

Ja. Mein Großvater, das Fragezeichen in meiner Familie.

»Die Maschine kam aus Tunis. Er war doch in Nordafrika stationiert, hast du gesagt, nicht wahr?«

»Es gab Millionen Verschollene im Krieg, woher willst du …«

»Ich schick dir ein Foto. Was wir gefunden haben. C’est incroyable! Moritz hieß er doch, non? Und mit Nachnamen wie du?«

»Nein, wir haben verschiedene Namen. Patrice, ich hab gerade ganz andere Probleme.«

Seine Erregung springt nicht auf mich über. Meine Skepsis überwiegt.

Dann kommt das Foto an. Und noch eins. Und noch eins. Ich starre auf mein Handy, und mir läuft ein Schauer über den Rücken. Muschelverkrustet und gelb von Rost, aber doch erstaunlich gut erhalten: eine Kamera. Agfa, der Schriftzug gut erkennbar, vorne klafft ein Loch, dort, wo die alten Apparate ihren Faltbalg hatten. Ein zweites Foto, die Kamera von hinten, und zuletzt das vergrößerte Detail: eine Gravur im verrosteten Metall, von Sedimenten freigelegt: M. R. Oder ist es M. B.?

»Wie hieß er mit Nachnamen?«

»Reincke.«

Ich kenne die Kamera von einem Foto, einem der wenigen: mein Großvater als Zwanzigjähriger am Wannsee, offenes Hemd und Hosenträger, lächelnd, voller Optimismus, und zugleich mit einem scharfen, genauen Blick, in der Hand die Kamera, als warte er nur darauf, das Foto zu erwidern, das sie gerade von ihm machte: meine Großmutter als junges Mädchen, vor der Katastrophe.

»Nach über sechzig Jahren – Nina! Das Leben schreibt die verrücktesten Geschichten!«

Nein, mein Leben ist alles andere als verrückt, alles läuft in geordneten Bahnen, mein Leben ist eine Insel der Stabilität im Chaos dieser Stadt, sagen meine Freundinnen – gut, bis auf die Katastrophe mit Gianni. Wobei das auch nur allzu gewöhnlich war – die jüngere Geliebte und die Ehefrau, die eine verirrte SMS ihres Mannes auf dem eigenen Handy entdeckt. Nein, die Geschichten des Lebens sind allzu banal.

»Freust du dich nicht? Endlich hast du ihn gefunden!«

Ich schweige und weiß nicht, warum. Taubheit im Kopf, Taubheit in den Gliedern. Wenn es stimmt, dass mein Großvater vor der sizilianischen Küste am Grund des Meeres liegt, dann wäre er nicht mehr verschollen. Dann wäre sein Geheimnis, das immer meine Phantasie beflügelt hat, endgültig gelöst.

»Ein Fischer hat mir den Tipp gegeben. Es sind immer die Fischer, die was rausziehen. Dann haben wir das Leitwerk gefunden und ein paar Sachen aus dem Heck. Bordgeschirr, ein Sitzgestell … und die Kamera. Jetzt suchen wir nach dem Rumpf.

Vielleicht finden wir dort noch mehr von ihm.«

Der Gedanke, einen im Meeresschlamm konservierten jungen Soldaten zu sehen, der mein eigener Großvater ist, gruselt mich. Dann setzt mein Verstand ein, der weiß, dass auch bei Unterwasserausgrabungen höchstens Skelette zu finden sind. Seesterne, Fische und Krebse fressen das Fleisch. Und selbst die Knochen werden mit der Zeit demineralisiert. Außer, die Körper liegen im Schlamm, vom Sauerstoff abgeschottet.

Aber die Initialen konnten vieles bedeuten. Martin Richter. Michael Biedermann.

»Der einzige Zweifel, den ich habe«, sagt er, »ist das Fabrikat. Die Wehrmachtsfotografen haben eine moderne Leica IIIc benutzt. Diese Kamera ist eine Agfa Karat aus den dreißiger Jahren.«

Das ist der Grund, warum Archäologen keine Krimis lesen. Wir ermitteln selbst den ganzen Tag. Und ich weiß nicht, ob ich jetzt die Kraft habe, mich in diese Details einzuarbeiten. Ich weiß nur: Er hat mehr gemacht als nur Fotos. Er wurde irgendwann zum Kameramann befördert, für die Wochenschau.

»Hör zu, Nina. Ich hab den Unfallbericht des Generalquartiermeisters von Trapani. Die Baunummer ist dieselbe, die wir am Leitwerk gefunden haben. Die Namen der Besatzung sind vermerkt. Was aber fehlt, ist eine Passagierliste. Damit hätten wir Gewissheit. Und da habe ich … eine Bitte an dich.«

»Was?«

»Die namentlichen Verlustmeldungen liegen bei der WASt. Wehrmachtsauskunftsstelle. Also, wenn es noch eine Passagierliste gibt, dann dort. Aber da komm ich nicht ran, als kleiner französischer Taucher. Du musst Angehöriger sein. Wegen Datenschutz.«

»Wo ist das?«

»In Berlin.«

»Okay, kann ich machen.«

»Nina, du bist ein Schatz! Dafür lad ich dich auf ein Wochenende ein!«

»Wo?«

»Na, hier in Marsala. C’est magnifique! Du musst schnell sein, bevor die Verrückten kommen. Es war schon in der Zeitung, wir konnten es nicht verhindern. Flieg runter, Nina! Wie lange haben wir uns nicht mehr gesehen? Zehn Jahre?«

»Patrice, es tut mir leid. Ich kann nicht.«

»Warum? Was ist los?«

Ich erzähle ihm nichts von dem Erdbeben, das meine Ehe erschüttert hat. Von den Terminen mit den Anwälten und dem absurden Versuch, dreizehn Jahre Leben in Zahlen aufzurechnen und fein säuberlich zu trennen. Meine Existenz ist bereits so aus dem Gleichgewicht geraten, dass jede weitere Veränderung mich völlig aus der Bahn werfen würde. Ich erzähle ihm von einer Konferenz in London und verschweige, dass ich die letzten zehn Jahre in einem verstaubten Museumsarchiv verbracht habe. Ich habe verlernt zu reisen.

 

Die Wehrmachtsauskunftsstelle, am Morgen vor dem Termin beim Scheidungsanwalt. Ein sauber geordnetes Aktengefängnis: Hier haben sie die Lebensläufe weggesperrt, von denen nachher keiner mehr was wissen wollte. Wer wann wo was getan hat. Verwundet, vermisst, gefangen oder auf welche Art gestorben. Millionen von Männern. Ich stelle einen Antrag. Trage die Daten ein, die ein Unglück in Zahlen fassen. Ju 52/3mg6e, Werksnummer 7544, Flugkommando Luftnachrichtenregiment, vermuteter Wehrmachtsangehöriger: Moritz Reincke, geboren am 2. März 1919 in Treblin, Pommern.

»Wir schicken Ihnen eine E-Mail.« Freundlich, effizient und geräuschlos. Diese Behörde ist das Gegenteil der Stadt dort draußen. Warum bin ich noch nie hierhergegangen? Sie liegt an meiner U-Bahn-Linie. Ich kenne sogar einen, der dort arbeitet. Vielleicht hatte ich Angst vor allzu viel Wahrheit. Wen er getötet hat und in welche Schweinereien er verwickelt war. Das Schweigen, in das er gehüllt war, schützte uns vor allzu Schockierendem. Lieber ein Wortlaut, mit dem alle leben konnten: In der Wüste verschollen.

 

Gianni hat die Scheidungspapiere bereits unterzeichnet. Alles, was es noch braucht, um den Termin festzusetzen, der unser Scheitern aktenkundig macht, ist meine Unterschrift. Ich habe mich immer gefragt, warum Frauen auf Männer stehen, die mehr Geld haben als sie. So einer kann sich immer den besseren Scheidungsanwalt leisten. Ich sehe meinen zukünftigen Exmann über den viel zu großen Tisch hinweg an. Sein neuer Anzug sitzt wie immer perfekt, beim Aussehen macht er nie Kompromisse. Sein Anwalt, in dessen Kanzlei er mich gebeten hat, betont die Großzügigkeit des Angebots. Gianni lächelt. Ein Fremdgewordener, dessen Körper, Herz und Seele einmal eins mit mir waren. Wie man sich in einem Menschen täuschen kann. Ich erzähle ihm nichts von dem Anruf aus Sizilien. Ich sage nur, dass ich verreisen muss. Ich stecke die Papiere in meine Tasche, ohne zu unterschreiben, und bitte um Bedenkzeit.

»Du kannst doch jetzt nicht wegfahren!« Gianni steht empört auf. Als wären wir noch ein Paar.

»Nina, es tut mir leid.«

Er will eine Absolution, meinen Segen für seine Zukunft mit Wie-auch-immer-sie-heißt. Ich wünsche ihm eine gute Zeit und verlasse die Kanzlei.

Wo ich auf einmal den Mut hergenommen habe, weiß ich nicht. Die Entscheidung fiel völlig spontan, wie hinter einer Wand aus Nebel, als wäre es nicht ich gewesen, die da sprach. Vielleicht ist es ebenso sehr eine Flucht aus der Gegenwart wie die Sehnsucht nach der Vergangenheit. Oder aber die Ahnung, dass der Schlüssel zu meinem verlorenen Selbst nicht hier zu finden ist, sondern in einer Geschichte vor meiner Geburt, die ein verrücktes Schicksal in einer Zeitkapsel aufbewahrt hat, von Muscheln überwuchert, in der Dunkelheit unter dem Meer. Ich gehe nach Hause und packe meinen Koffer. Es ist Freitagnachmittag.

2

Fast alles, was ich über meinen Großvater weiß, hat meine Mutter mir erzählt. Meine Großmutter sprach nur selten über ihn. In jeder Familie gibt es ein Tabu und einen, der es beschützt. Was unsere Familie besonders machte, war nicht, wie man auf den ersten Blick denken könnte, mein Vater, der in Amerika lebt. Ich telefonierte regelmäßig mit ihm, und meine Mutter verlor – obwohl sie diejenige gewesen war, die sich getrennt hatte – kein schlechtes Wort über ihn. Er existierte. Er war ein abwesendes, aber anerkanntes Mitglied der Familie. Mein Großvater dagegen schien nicht existieren zu dürfen; er war aus dem Familienkreis ausradiert worden, schon vor meiner Geburt. Aber Familien haben ein Gedächtnis, das über die Erinnerung eines Einzelnen hinausreicht. Warum ich schon als Kind neugierig war, etwas über meinen Großvater zu erfahren, weiß ich nicht. Vielleicht war es gerade Großmutters Schweigen, das ein Mysterium erzeugte.

Immer wenn ich nach ihm fragte, legte sich eine bleierne Schwere auf die Runde. Kein behagliches Schweigen, auch kein trauriges, sondern eines, das mit Eiseskälte daherkam, das meinen Atem stocken ließ und in mir die Angst auslöste, etwas Falsches gesagt zu haben, vergleichbar nur mit dem tiefen Unbehagen, das mich einmal befiel, als ich – als Kind mit fünf Jahren vielleicht – fragte, wer denn dieser »Hitler« sei, von dem die Erwachsenen so leise sprachen, als sollte ich es besser nicht hören. Allein die Erwähnung dieses Namens aus dem Munde eines Kindes schien alle am Tisch zu verstören. Ich schämte mich für meine Frage, als hätte ich sie verletzt, ohne zu wissen warum. Hitler und Großvater, irgendwie erzeugten sie die gleiche Art von Scham, gehörten beide in die Kategorie der Dinge, die man als Kind besser nicht erwähnt, um die Erwachsenen zu schonen. Die Antwort auf meine Frage, wo Großpapa denn sei, war immer dieselbe: »Er ist nicht aus dem Krieg zurückgekommen.« Und wenn ich dann nachfragte, ob er denn tot sei, sagte Großmutter weder ja noch nein, sondern nur: »Er ist verschollen.«

»Wo?«

»In der Wüste. Und jetzt iss deinen Apfelkuchen!« Das Wort »verschollen« begleitete mich nach solchen Nachmittagen bei Großmutter bis in meine Träume. Es gab also etwas zwischen tot und lebendig, ein Weder–noch, ein Unentschieden, eine Zwischenwelt, die Legenden gebar, so wie Flugzeuge im Bermuda-Dreieck oder Geisterschiffe, die dazu verdammt sind, ewig über die Ozeane zu kreuzen, ohne je einen Hafen anzulaufen oder unterzugehen. So ein ruheloser Geist war mein Großvater, und die Wüste übte seitdem eine eigenartige Faszination auf mich aus.

Als meine Mutter mir erzählte, dass der Pilot, der den »Kleinen Prinz« geschrieben hatte, auch ein Verschollener war, stellte ich mir vor, Saint-Exupéry und mein Großvater wären sich irgendwo in der Wüste Nordafrikas begegnet, hätten ihr Wasser geteilt und sich die Fotos ihrer Frauen gezeigt, die vergeblich auf sie warteten. Ich verschlang die Abenteuer des Kara Ben Nemsi und reiste in Gedanken nach Ägypten. Der Fluch des Tutanchamun, das Rätsel der Sphinx, die Täuschung der Fata Morgana. Spiegel im Sand. Vielleicht waren es die Verschollenen, die als Geister wiederkehrten? Wer weiß, warum man sich für einen Beruf entscheidet, vielleicht ist es Zufall. Aber sicher ist, dass ich nicht Archäologin werden wollte, um in einem Museumsarchiv zu sitzen, sondern um ungelöste Geheimnisse zu entschlüsseln.

 

Während meine Großmutter ihn am liebsten tot gesehen hätte, vermisste meine Mutter ihren verschollenen Vater. Sie hat ihn nie kennengelernt. Tatsächlich glaubte sie, dass er lebte, noch Jahrzehnte nach dem Krieg, wollte es glauben, gegen jede Wahrscheinlichkeit, während Großmutter das als dummes Hirngespinst abtat. Mir schien es fast absurd, wenn die beiden darüber stritten. Wenn das Wort auf Großvater kam, schossen die Gefühle kurz hoch, nur um kurz darauf von bleiernem Schweigen erstickt zu werden. Es gab einen versteckten Vorwurf meiner Mutter gegen ihre Mutter, eine unausgesprochene Schuld, die sie nicht tragen wollte. Fast schien es mir, als sei die Frage, ob er lebte oder nicht, allein eine Frage des Wollens, als würde diejenige mit der stärkeren Wunschkraft über sein Schicksal entscheiden. Während dieser Momente wurde mir zum ersten Mal bewusst, dass die Wirklichkeit Ansichtssache war, dass Geschichte aus Geschichten besteht und Gedanken aus Gefühlen geboren werden. Erinnerung als Vexierspiel mit dem Verstand, der vergeblich Wunsch und Wahrheit zu trennen versucht.

3

Immer wenn ich in ein Flugzeug steige, denke ich an meine Mutter. Es muss unglaublich viel Anstrengung kosten, schlechtgelaunte Fluggäste freundlich anzulächeln, sich nie die Blöße einer verrutschten Frisur zu geben und die Männerhand zu ignorieren, die in der engen Kabine scheinbar unabsichtlich am Hintern vorbeistreicht. Ich lächle immer besonders freundlich zurück, um den Stewardessen etwas mitzugeben, selbst wenn ihnen das gleichgültig ist. Es sind andere Zeiten; Fliegen hat den Glanz verloren, der sich in den Augen meiner Mutter widerspiegelte, wenn sie mir von Los Angeles erzählte, von Bangkok und Montréal. Sie liebte ihren Beruf über alles, vielleicht sogar über mich, wer weiß.

Ich habe es ihr nicht übelgenommen, dass sie so oft weg war, vielleicht habe ich ihr zu verdanken, dass ich auch heute noch gern alleine vor mich hin arbeite; schon als Kind habe ich mich nie einsam gefühlt, da war immer jemand in meiner Phantasie, mit dem ich mich unterhalten konnte. Tatsächlich habe ich nach dreizehn Jahren Ehe keine Angst vor der Einsamkeit, nur vor der Ungewissheit. Ich mag Rituale, die den Tag strukturieren, die fein abgestimmten Abläufe morgens, Gianni, der sonntags immer zuerst ins Bad ging, während ich Kaffee machte, und die Brötchen, die er holte, während ich unter der Dusche stand. Dass er meine Lieblingscroissants kannte, die mit Marzipan von Butter Lindner, wohin er immer etwas länger gehen musste, aber es gerne tat, aus Liebe zu mir oder weil er dann länger telefonieren konnte. Mit ihr. Es dauerte eine Weile, bis ich es herausgefunden hatte. Aber wenn man einmal angefangen hat, das Handy seines Liebsten zu durchsuchen, während er unter der Dusche steht, ist das längst der Anfang vom Ende.

Der Flug ist ein Katzensprung. Umsteigen in Rom – noch fällt es leicht, die Erinnerung fernzuhalten –, und von dort in einer Stunde nach Trapani. Auf jedem Flug gibt es die Mitte – nicht immer die Hälfte der Zeit, sondern den Punkt, an dem die Gedanken an den Abflugsort von den Gedanken an den Zielort abgelöst werden. Der Übergang zwischen Vergangenheit und Zukunft, eine wunderbare Schwebe in der Gegenwart, losgelöst von allen Koordinaten des Raums und der Zeit. Doch als die Maschine in den Sinkflug geht, bin ich immer noch nicht dort angekommen. Ich bin in Berlin, bei Gianni – er würde gerade in der Wohnung sein, um seine letzten Sachen zu holen, allein vielleicht, aber vielleicht auch mit ihr. Unter dem Kabinenfenster: der Flughafen von Trapani. Damals deutscher Luftwaffenstützpunkt. Man erkennt immer noch die rostigen alten Hangars. Hier sollte Moritz landen, im Mai 1943, nach einem kurzen Flug über die Straße von Sizilien. Hier ist er nie angekommen.

 

Niemand nimmt Notiz von mir. Patrice’ Angebot, mich am Flughafen abzuholen, hatte ich abgelehnt. Nicht einmal meine Ankunftszeit hatte ich ihm mitgeteilt. Ich wollte allein ankommen. Sehen, wie es sich anfühlt, nach dreizehn Jahren wieder hier zu sein. Nicht dabei gesehen werden, wenn es mich auf einmal überschwemmt, das Gefühl von damals. Sizilien. Ausgerechnet Sizilien.

Ich habe einen Tick in Ankunftshallen. Niemand bemerkt ihn außer mir, aber ich werde ihn nie los. Gianni ist der Einzige, dem ich davon erzählt habe. Vor dreizehn Jahren, am Flughafen von Palermo, auf unserer Hochzeitsreise. Hast du dir mal vorgestellt, fragte ich ihn, einfach zu einem der Fahrer zu gehen, die dort mit einem Namensschild warten, einen falschen Namen zu nennen und mitzugehen? Es ist ganz einfach, du musst nur den Namen sagen, der auf dem Schild steht, sie fragen nicht nach dem Ausweis, sie wollen nur schnell wegkommen. Sie nehmen deinen Koffer, bringen dich zu ihrem Kleinbus oder, wenn du Glück hast, einer Limousine mit schwarzen Scheiben und fahren los. Du weißt nicht, wohin es geht, ein Konferenzsaal, ein Hotel, ein Schiff, du plauderst mit dem Fahrer und fragst dich, wie lange du ins Leben eines anderen schlüpfen kannst, wie in ein Kleidungsstück, zu groß, zu teuer, aber es fühlt sich gut an. Bis der erste Mensch dich nach deinem Pass fragt, machst du Urlaub von dir selbst. Das würdest du dich nie trauen, hatte Gianni damals gesagt, und er hatte recht. Wahrscheinlich wäre es auch nur halb so aufregend wie in der Vorstellung, aber darauf kommt es nicht an. Es ist der Moment der Auswahl, der mich fasziniert, wenn du auf fünf, sechs Schilder zugehst, jeder Name eine Tür zu einem anderen Leben. Das berauschende Gefühl, was alles möglich wäre. Wenn du nicht du wärst.

 

Der Parkplatz vor dem Flughafen ist fast leer. Eine Landschaft der Abwesenheit. Graues Meer, Novemberwolken, durch die plötzlich die Sonne bricht und sich auf dem nassen Asphalt spiegelt. Ein Wechselspiel zwischen Schauern, die übers Meer heranziehen, und unerwartet blauem Himmel. Der Regen ist schwer, das Licht unzuverlässig. Man kennt es anders. Man vermisst die betäubende Hitze, die Zikaden, den üppigen Rausch des Sommers.

Die Sonne steht schon tief und bricht durch die Wolken. Mit dem Geruch der Insel ist auf einmal auch der Geruch von Giannis Körper wieder da. Ich wehre mich gegen die Erinnerungen. Alles ist noch zu nah. Ich will ihn noch hassen dürfen. Ich kann ihm nicht vergeben.

Ich nehme ein Taxi nach Marsala. Froh über die Scheibe zwischen mir und der Welt. Ich warte darauf, dass es mich einholt. Der Rausch unserer ersten Reise als verheiratetes Paar, Signore e Signora Scatà, unser Lachen, als ich zum ersten Mal so angesprochen werde, die ungewohnte Selbstverständlichkeit, das Gefühl, endlich angekommen zu sein. Aber das Gefühl bleibt aus. Die gleiche Landschaft, die damals Kulisse unserer Träume war, wirkt jetzt banal. Die Werbeplakate der Mobilfunkanbieter am Straßenrand. Das Geplapper aus dem Autoradio. Die Melancholie ist verschwunden. Am Straßenrand verkauft ein Gestrandeter rosa Plüschtiere, billiger Schund aus China. Damals waren die Städte dunkel, morbide und flüsternd, unsere Verliebtheit gegen die Dekadenz, unser Strahlen vor den zerfallenden Fassaden, unsere Zukunft vor ihrer Vergangenheit. Jetzt sind die Häuser hell, entzaubert. Ich frage mich, ob es nur ein Traum war und wer sich wirklich verändert hat: das Land oder ich.

Sizilien nach dem Sommer ist ein Jahrmarkt ohne Kinder. Leere Straßen durch leere Dörfer, traurige Palmen, Plastiktüten im Stacheldraht. Schilf, Mohn, Kakteen, Oliven, rote Erde, alte Steinmauern. Überall Schilder »Vende«, verschlossene Fenster und Türen. Afrikaner, die auf einem Parkplatz Fußball spielen. Immer wieder halbfertige Häuser, rostige Stahlborsten, die aus dem Beton ragen, für den oberen Stock hat das Geld nicht gereicht. Verlassene Baustellen, auf Eis gelegte Träume. Wer hat das geplant? Wo sind sie jetzt? Vielleicht ein junges Paar, das immer noch bei den Eltern wohnt, vielleicht haben sie sich getrennt. Hausbau, Zusammenziehen und Kinderkriegen, die drei häufigsten Trennungsgründe. Wir haben es auch ohne geschafft.

Vielleicht war es das Fehlen einer Zukunftsperspektive, die Stagnation in einer allzu sicheren Gegenwart, vielleicht braucht man ein gemeinsames Projekt. Ich erinnere mich an einen Satz von Saint-Exupéry, der sinngemäß sagte: Liebe bedeutet nicht, sich anzusehen, sondern gemeinsam in die gleiche Richtung zu schauen. Aber haben wir uns wirklich angeschaut? War das wirklich er, den ich geliebt habe, war es wirklich ich, die er gemeint hat? Nach der Trennung frage ich mich, ob wir uns nicht etwas vorgemacht haben, als ob ich ein besseres Bild von ihm gezeichnet hätte, dem ich eine bessere Version von mir zur Seite stellte, ein Traumpaar nicht nur für die anderen, sondern auch für uns selbst, eine Täuschung, ein Verrat. Vielleicht war sein Betrug nur eine Folge des Selbstbetrugs, in dem wir uns eingenistet hatten.

 

Abenddämmerung über Marsala. Eine Stadt wie Timbuktu oder Jericho: Der Name ist weltbekannt, aber die Realität ist banal. Ich hatte mir eine pittoreske Strandpromenade vorgestellt, belebte Fischrestaurants am Ufer, Kinder mit Eistüten. Stattdessen sehe ich: Hochhäuser aus den Siebzigern, hässliche Kästen, ein leerer Parkplatz, Würstchenbuden. Man sieht kaum das Meer, sondern aufgebockte Fischkutter mit geborstenem Rumpf, leere Hallen, Arbeitslose, die herumstehen und rauchen.

Patrice hat ein Hotel außerhalb der Stadt gewählt, um weniger Aufsehen zu erregen. Kleine Ansammlungen von Häusern entlang der Landstraße; man kann sie kaum Dörfer nennen, ocker und rosa, so hässlich, als lägen sie nicht am Meer. Dann, nach einer Abzweigung auf eine holprige Privatstraße, ein kleines weißes Strandhotel aus den Siebzigern oder Achtzigern, Lido del Sole ***, was für ein abgestandener Name. Aber er passt perfekt zu dem abgeblätterten Putz, den zerzausten Palmen und den verloren herumstehenden Plastikstühlen. Die Tristesse der Nachsaison.

»Die Signora ist nicht da«, sagt das Zimmermädchen. Ihr scheuer, gelangweilter Blick, die verwaiste Lobby, von irgendwoher dudelt ein Radio. Mein Zimmer riecht nach Muff und Putzmittel, es hat ein dunkelbraunes Doppelbett und einen Balkon, von dem aus man das Meer nicht sehen, aber hören kann. Die Sonne geht unter, der Himmel ist fast violett, und das Lido del Sole***-Schild vor dem Haus beginnt zu flackern. Ich packe meine Sachen aus, hänge sie in den Schrank und schreibe Patrice eine Nachricht. Als es schon dunkel ist, höre ich erregte Stimmen von draußen; eine Frau und ein Mann, sie scheinen sich zu streiten. Als ich auf den Balkon trete, erkenne ich ihre Silhouetten im Dunkeln vor dem Eingang.

»Désolé, madame, das Hotel ist komplett ausgebucht!«

»Ah bon? Aber das sieht doch ein Blinder, dass hier nichts los ist!«

Ich erkenne Patrice. Der große Körper, die lebhaften Gesten. Die Französin – eine ältere Dame mit Sommerhut und Pelzstola um den Hals – wendet sich spöttisch lachend ab.

»Ich rufe Ihnen ein Taxi!«

»Ich komm schon allein zurecht!«

»Au revoir, Madame.«

Die Tür fällt ins Schloss. Ich höre die Französin leise vor sich hin fluchen. Dann geht sie mit ihrem Rollkoffer vor meinem Balkon vorbei. In dem Moment, als ich befürchte, sie könnte mich sehen, blickt sie nach oben. Ich erkenne ihr Gesicht nicht, nur den Hut und den Pelz, und irgendetwas gibt mir das eigenartige Gefühl, sie zu kennen. Ich tue so, als hätte ich sie nicht bemerkt, und gehe zurück ins Zimmer. Ich empfinde Mitgefühl mit der fremden Frau. Warum hat Patrice sie vertrieben?

 

Auf den ersten Blick hat Patrice sich kaum verändert. Ein Mann im besten Alter, sonnengebräunt und durchtrainiert. Auf den zweiten Blick erkenne ich die grauen Strähnen in seinen schulterlangen Haaren und dem Dreitagebart, die tiefen Lachfalten um seine blauen Augen. Etwas Abgekämpftes, Rastloses umgibt ihn.

»Ça va, Nina? Du siehst blendend aus!« Er war schon immer ein charmanter Lügner. Aber seine Umarmung tut gut. Unkompliziert, wie früher. Es ist laut in dem kleinen Hotelrestaurant, sie haben die Musik aufgedreht, auch wenn nur ein einziger Tisch besetzt ist. Patrice stellt mich seinen Taucherkumpels vor. Philippe, Benoît, Lamine. Die Überraschung am Tisch sind die Deutschen. Angehörige der Flugzeugbesatzung, auch erst vor kurzem angereist: Frau von Mitzlaff, Herr Bovensiepen, das Ehepaar Triebel. Ältere Herrschaften, freundlich, aufgeregt; eine eingeschworene Gemeinschaft, zu der sie jetzt auch mich zählen.

Fremde, die allzu vertraulich über »unsere Verwandten« reden, und Patrice, der mich fragt, warum mein Mann nicht mit mir gekommen ist. Zu allem Überfluss. Ein Moment der Stille, als das Wort »Trennung« fällt, mitleidige Floskeln, als hätte ich eine ansteckende Krankheit. Patrice überspielt es charmant, dann reihe ich mich möglichst unauffällig in die Gespräche ein, hülle mich in einen Mantel der Beliebigkeit, reiche ihm mein Glas, trinke Wein. Die Blicke der anderen, als hätten meine Kleider Löcher. Dabei ist es mein Inneres, durch dessen Risse der Wind zieht.

Patrice unterhält die Runde mit Schatztauchergeschichten. Er ist im guten Sinne jung geblieben, neugierig, enthusiastisch und ansteckend. Jetzt ist er der Abenteurer geworden, der er immer schon sein wollte. Kein Ring am Finger. Warum auch. Er hatte immer was laufen. Ich hatte damals nicht deshalb nein gesagt, weil ich ihn nicht attraktiv fand, sondern weil jemand wie er immer eine Attraktivere finden würde. Er wirft mir Blicke zu, während er redet. Als würde er seine Geschichten nur mir erzählen. Die Expedition auf den Spuren von Saint-Exupéry. Seine Obsession, das verschollene Flugzeug des Nationalhelden zu finden und damit selbst einer zu werden. Ich weiß noch, wie er damals mitten in der Nacht anrief, einmal kurz vor der Lösung des Rätsels und einmal tief niedergeschlagen. Heute kann er darüber lachen.

»Ist das nicht kurios?«, ruft er in die Runde. »Eine ganze Nation sucht ihren berühmten Schriftsteller, Armeen von Schatztauchern, jahrzehntelang vergeblich, und dann zieht ein kleiner Fischer vor Marseille ein Armband aus seinem Netz. Er reibt die Gravur frei und fragt seinen Chef: St.Exupéry, wer ist das? Der Mann ist Tunesier, er kennt seinen Namen und seine Bücher nicht, aber er stammt aus der Landschaft, die Saint-Ex so geliebt hat! Un drôle de destin!«

Ich erinnere mich an Patrice’ Anruf, Ende der Neunziger, und an die Traurigkeit, die mich erfasste. Die Endgültigkeit seines Todes. Patrice dagegen war Feuer und Flamme, das Wrack zu finden. Es begann ein Wettlauf verschiedener Teams und Streitereien mit der Regierung. Am Ende zog ein anderer Taucher die Wrackteile aus dem Meer. Ich erinnere mich noch gut: Die Presse feierte den Erfolg, aber mich ließ die Geschichte seltsam niedergeschlagen zurück. Vielleicht, weil Saint-Exupérys Ende so banal war: Der Vater des Kleinen Prinzen, abgeschossen von einem deutschen Jagdflieger. Vielleicht aber auch, weil sein Tod mich an den anderen Verschollenen erinnerte, für den sich niemand interessierte.

»Weißt du noch, was ich dir damals versprochen habe?« Patrice zwinkert mir zu. Ich weiß. Wenn ihm der große Saint-Ex durch die Lappen gegangen war, würde er wenigstens meinen unbekannten Großvater finden.

»Et voilà!«

Wir stoßen auf den Erfolg der Expedition an, dann schleiche ich mich unter einem Vorwand aus dem Restaurant. Ich muss Luft schnappen. Wenn ich unter Menschen bin, möchte ich weg. Und wenn ich allein bin, fühle ich mich einsam. Ich gehe ein paar Schritte, bis ich Sand unter den Sohlen spüre. Die Luft auf meiner Haut ist überraschend mild; ich habe zu warme Sachen eingepackt. Es gibt Zeiten, in denen sich die Grenzen zwischen dem Ich und der Welt auflösen. Jetzt umgibt mich eine Mauer aus Stein. Ich gehe weiter bis zum Meer, das tintenschwarz vor mir liegt. Kein Wind, kaum Brandung, als hielte die Welt den Atem an. Ich stehe am Rande Europas, in der Mitte meines Lebens, und habe keine Idee, wie es weitergehen soll.

Schritte im Sand. Es ist Patrice.

»Alles in Ordnung bei dir?«

»Ja.«

»Schön, dass du da bist.«

»Warum hast du die Angehörigen informiert? Ich dachte, du wolltest keinen Rummel.«

»Ja, ich weiß. Und seit es in der Zeitung stand, tauchen lauter Schaulustige und Spinner auf. Aber ich kann’s nicht mehr alleine finanzieren. Wir müssen das Wrack bergen, bevor die Winterstürme beginnen. Keine Sorge, dich werde ich nicht um Geld bitten.«

»Warum hast du mich dann angerufen?«

Meine Frage empört ihn.

»Ich hab’s dir versprochen! Willst du nicht mehr wissen, was mit deinem Großvater passiert ist?«

»Du machst die Expedition doch nicht seinetwegen. Warum interessiert dich dieses Flugzeug?«

Patrice war nie ein Mann für kleine, nostalgische Projekte. Er war immer auf der Suche nach dem großen Coup. Und immer war ein anderer schneller gewesen.

»Es waren vier Besatzungsmitglieder und zwanzig Passagiere. Vierundzwanzig Männer. Vierundzwanzig Familien, die nie Gewissheit hatten. Wie deine Mutter. Ich erinnere mich gut: ihre fixe Idee, dass er noch lebt, irgendwo. Wenn wir die Überreste finden, könnt ihr endlich Abschied nehmen.«

Ein schöner Gedanke. Aber ich nehme ihm den Altruismus nicht ganz ab.

»Dafür ist es zu spät.«

»Warum?«

»Meine Mutter ist gestorben. Vor zwei Jahren.«

»Oh. Das tut mir leid, Nina.«

»Schon gut.«

»Ich mochte sie gerne. Sie war immer jung im Kopf.«

Eine Weile stehen wir einfach nur schweigend da. Dann fragt er in die Stille hinein: »Und du hast keine Kinder?«

Ich schüttle den Kopf. Ich hasse diese Frage. Weil ich die Reaktion auf meine Antwort hasse. Das verständnisvolle Nicken, die gespielte Anerkennung einer emanzipierten Entscheidung, hinter der sich doch nur Mitleid verbirgt.

»Warum?«

Warum. Diese Frage hasse ich noch mehr, denn die gute Antwort, die ich immer hatte, funktioniert nicht mehr. Wir haben das bewusst entschieden, sagten wir immer, und dann führten wir all die Dinge auf, um die uns andere Paare beneideten. Wir liebten beide unseren Beruf und wollten keines dieser Paare sein, die sich verloren, wenn die Kinder kamen. Wir hatten so viele im Freundeskreis, die an der selbstgestellten Herausforderung, alles haben zu müssen – tolle Jobs, tolle Kinder und eine tolle Beziehung –, scheiterten, obwohl beide ihr Bestes gaben. Gianni und ich, wir wollten es besser machen. Wir wollten uns all das bewahren, was die Paare mit Kindern nicht mehr machen konnten, weil ihnen die Zeit fehlte, die Nerven, die Lust: Reisen, Tanzen, Filme, Bücher, und wir zwei, nur wir zwei. Einen Abend pro Woche zelebrierten wir unsere Liebe. Statt vor dem Einschlafen schnell noch Sex zu haben, ließen wir uns etwas einfallen, liebten uns bis spät in die Nacht, an den verrücktesten Orten, auf die verrücktesten Arten. Wenn einer unserer Freunde anmerkte, wie routiniert er unser Leben fand – denn im Alltag war es das tatsächlich –, dann sahen wir uns nur still an, vereint in einem Wissen, das nur wir beide teilten. Umso bitterer der Verrat. Er ging nicht fremd, weil wir keinen Sex mehr hatten oder weil er meinen Körper nicht mehr begehrte. Er floh vor meiner Seele.

Dabei war es am Anfang Giannis Entscheidung gewesen, keine Kinder zu haben. Ich war unentschlossen. Ich hätte nein sagen können. Aber dann wäre er weg gewesen. Ich wusste, ich konnte ihn nicht ändern. Und weil ich ihn liebte, wollte ich ihn nicht ändern. Wir heirateten, und als sich ringsherum unsere Freunde trennten, alle mit Kindern, alle überfordert, hatten wir das Gefühl, es richtig gemacht zu haben. Wir haben es gut. Wir haben uns. Und jetzt ist es zu spät. Ich bin wütend auf ihn. Wütend auf mich, dass ich alles auf eine Karte gesetzt habe. Jetzt stehe ich allein da. Die Letzte aus unserer Familie. Nach mir ist Schluss. Ohne es je gewollt zu haben, stehe ich jetzt dort, wo vor mir schon meine Mutter und meine Großmutter standen: Wir sind Frauen, die ihre Männer verlieren. Was ist nur los mit uns?

»Und du, warum hast du keine Kinder?«, frage ich zurück.

Patrice zuckt mit den Schultern. »Braucht man das, um glücklich zu sein?«

»Bist du glücklich?«

»Ja.«

»Verrätst du mir dein Geheimnis?«

»Ganz einfach. Tu, was du willst. Alles. Außer heiraten.«

Sein ironisches Grinsen, entwaffnend. Ich mag ihn immer noch. Aber wären wir ein Paar geworden, hätten wir nur gestritten.

»Komm, ich zeig dir was.«

 

Patrice führt mich über eine dunkle Straße zwischen den leeren Sommerhäusern entlang. Irgendwo bellt ein Hund. Vor einer kleinen, unscheinbaren Garage bleibt er stehen, sieht sich vorsichtig um und schließt das Eisentor auf. »Du darfst niemandem davon erzählen«, sagt er. »Hier sind zu viele Verrückte unterwegs. Schaulustige, Schatzsucher und Nazi-Sammler.« Wir schlüpfen hinein. Er sucht nach dem Lichtschalter, dann flackert das Neonlicht auf, und wir stehen in einem Museum. Vor mir liegt das abgerissene Leitwerk der Ju52, wie eine groteske Skulptur, voller Muschelablagerungen. Daneben, in ähnlichem Zustand, ein Lederstiefel, ein Stück von einer Landeklappe, ein Benzinkanister, ein völlig verrostetes Maschinengewehr, ein bizarr verbogenes Aluminiumteil … und eine Kamera.

Ich bin nicht vorbereitet auf das Gefühl, das mich überkommt, als ich sie in meinen Händen halte. Es sollte Routine für mich sein, ein Fundstück aus dem Meer, zwanzigstes Jahrhundert, kein Bruch, gut konserviert, kaum Sauerstoffkontakt, wahrscheinlich im Schlamm gelegen. Aber die Gravur ändert alles.

M. R.

Meine Hände auf dem alten Metall. Dort, wo seine Hände lagen. Ich blicke durch den Sucher. An den Rändern ist der Ausschnitt verrostet, aber die Linsen sind erstaunlich intakt. Was haben seine Augen durch diesen Sucher gesehen?

»Mach sie auf«, sagt Patrice.

Ich untersuche das Gehäuse. Patrice hat es bereits gesäubert. Beim ersten Versuch klemmt die Klappe noch. Es knirscht ein wenig, dann springt die Klappe auf. Die Filmdose liegt noch drin. Agfacolor. Das Zelluloid hat sich zersetzt; Reste kleben als braune Masse auf dem Metall. Was war sein letztes Foto? Warum kommt der eine aus dem Krieg zurück, und der andere stürzt ins Meer? Mich überkommt eine Welle von Traurigkeit.

Patrice legt seine Hand auf meine Schulter.

»Warum gerade dieses Flugzeug?«, frage ich ihn. »Wonach suchst du wirklich?«

Ich spüre, dass er mir etwas verheimlicht. Statt einer Antwort sagt er:

»Erzähl mir von deinem Großvater.«

4

Alles, was meine Mutter von ihrem Vater kannte, waren sein Name, Großmutters Geschichten und ein paar alte Fotos. Großmutter hat die Geschichte ihrer Geburt mitten im Krieg nur einmal erzählt, und ich weiß nicht, ob ich alles korrekt wiedergebe. Woran ich mich genau erinnere, sind die Bilder aus ihrem Fotoalbum: ein achtzehnjähriges Mädchen in einer Wäscherei in Treptow, 1942, noch vor den Bombennächten, vor Stalingrad, als viele noch verdrängen konnten, was wirklich geschah. Auf den braunstichigen Fotos mit dem gezackten Rand sieht Großmutter so anders aus, zwar züchtig gekämmt und gekleidet, aber ungleich lebensfroher, trotz des Kriegs keine Spur der späteren Verhärmtheit. Eine treuherzig in die Kamera lächelnde Tochter aus anständigem, bürgerlichem Hause. Und dann der junge Mann auf einem Foto, mein Großvater in Wehrmachtsuniform, mit ausgezehrten Wangen zwar, doch lachend und fast unschuldig, man könnte meinen, sein Geschäft im Ausland, von dem er gerade auf Heimaturlaub war, sei Handel, nicht Töten. Ich frage mich, was er davon erzählt und was er für sich behalten hat, während die beiden in Badehose und Badeanzug auf einem Steg am Wannsee saßen. Es ist einer der letzten schönen Herbsttage, 1942 steht auf der Rückseite des Fotos, also kurz nachdem am Ufer desselben Sees die Vernichtung der europäischen Juden beschlossen worden war. Und die beiden strahlen in die Kamera, als wäre die Welt ein Blumengarten. Was er von den Verbrechen wusste, weiß ich nicht. Ich weiß nur, was Großmutter erzählt hat: dass er ein alter Schulkamerad aus Köpenick war und dass sie sich in diesem Fronturlaub, nachdem sie sich viele Briefe geschrieben hatten, wiedergesehen haben. Vermutlich hatte er kein Menschenleben auf dem Gewissen, noch nicht: Er war Kriegsberichterstatter, Kameramann der Propagandakompanie, sie benutzten Bilder als Waffen. Sie töteten keine Menschen, aber die Wahrheit.

Ob Moritz diese Wahl aus Überzeugung getroffen hatte – er war gläubiger Christ –, aus Feigheit, Ehrgeiz oder reinem Zufall, weiß ich nicht. Meine Großmutter erzählte nur, dass er kein schlechter Mensch gewesen sei, aber der Krieg ihn zerstört habe. Wie kannst du von ihm als Opfer sprechen, fragte ich sie, wenn er einer von denen war, die begeistert an die Front zogen?

»Das verstehst du nicht«, sagte sie, und: »Sei froh, dass du das nicht verstehst.«

Sie hatten sich noch vor dem Krieg kennengelernt. Am Wannsee, als sie mit ihren Freundinnen badete. Er war mit einer Gruppe von Jungs dort, und er fiel ihr gleich auf, weil er der Einzige von ihnen war, der nicht ins Wasser ging. Ein hübscher, drahtiger Junge, der den anderen zusah, während sie johlend vom Steg sprangen. Er hatte eine kleine Kamera in der Hand, eine Agfa Karat, mit der er seine Freunde fotografierte. Und als er Fanny sah, fotografierte er sie. Dieses erste Foto ist nie wieder aufgetaucht. Aber meine Großmutter erzählte mir davon, wie sie auf ihn zuging und frech sagte, wenn er sie schon ungefragt fotografiere, müsse er ihr das Foto auch schenken. Er habe schüchtern reagiert, wie ein Junge, der bei einem Streich ertappt wurde. Und tatsächlich kam er eine Woche später mit dem entwickelten Abzug wieder zum See, um ihn ihr zu schenken. Ein hübsches junges Mädchen im Badeanzug, das in dem Moment, wo der Fotograf abdrückte, die Kamera entdeckte. Ihr koketter, staunender Blick.

 

Sie erfuhr, dass er Schüler im evangelischen Internat am See war. Eine Schule, in die nur die Kinder aus besseren Kreisen gingen. Kreise wie Fannys Familie. Aber Moritz war anders als seine Klassenkameraden. Er stammte nicht aus Berlin, sondern aus Ostpreußen, vom Land. Seine Eltern waren Bauern, einfache Leute, und dass er auf diese Schule gehen durfte, hatte er nur dem Glück zu verdanken, oder dem Unglück, je nachdem, wie man es sah. Seine Mutter war bei der Geburt seiner Schwester gestorben. Sein Vater war überfordert, ein Bauer ohne Frau und Magd mit zwei Kindern. Moritz passte auf seine kleine Schwester auf, aber sie war ein Frühchen mit zerbrechlichen Lungen, und drei Jahre später starb auch sie.

Der Vater begann zu trinken, verlor sich, schlug den Sohn. Moritz vermisste seine Mutter, der er viel ähnlicher war als seinem Vater. Von ihr hatte er seine Sensibilität geerbt, seinen besonderen Blick für die Dinge. Ihm fielen Dinge auf, die andere übersahen. Dinge, die der Vater und die anderen Jungs nie verstanden. Der Dorfpfarrer war Moritz’ einziger Vertrauter in der Schule. Er verstand die Not des Jungen und überredete den Vater, den Sohn in ein Internat zu geben. Er organisierte ein Stipendium der Kirche. Und stieg mit dem Elfjährigen in den Zug nach Berlin.

Das Internat war eine andere Welt, in der Moritz lernte, dass Kunst nichts Wertloses und Empfindsamkeit keine Schwäche war. Er entdeckte die alten Meister, die Gesetze der Perspektive und die Kraft der Bilder. Er lernte Latein und Klavier. Und er lernte Fanny kennen. Da war er sechzehn. Ein schüchterner, aber attraktiver Junge und ein selbstbewusstes Mädchen aus guter Familie. Alteingesessenes Berliner Bürgertum. Er war ein Bauernjunge, sagte Großmutter. Einmal lud sie ihn zum Essen ein. Ihre Eltern mochten ihn. Wir haben ihn unter die Fittiche genommen, sagte Großmutter. Was auch immer das bedeutete. Sie erzählte immer nur in Andeutungen, nie chronologisch und manchmal voller Widersprüche. Mal erinnerte sie sich liebevoll an ihn, meist aber überwog die Verbitterung. Sie sparte vieles aus, erinnerte sich aber an kleine Details, dass er ihren Apfelkuchen liebte und, abgemagert wie er war, futterte wie ein Scheunendrescher, aber das große Bild des Kriegs, dessen Teil er war, verschwimmt in ihrer Erinnerung. Der Krieg war für sie nicht etwas, wofür oder wogegen man sich stellen konnte, sondern etwas, das einfach geschah, wie ein Naturereignis. Sie war noch Kind einer Zeit, in der Krieg und Frieden sich abwechselten wie die Jahreszeiten.

 

Großmutter erzählte, dass Moritz sie auf dem Steg am See zum ersten Mal geküsst hat. An dem Tag, als er seinen Wehrpass bekam. Er hatte sich freiwillig gemeldet. Moritz war weder ein Draufgänger noch besonders kräftig. Aber er hatte ein Talent, mit dem er alle Gleichaltrigen überflügelte: Er konnte gut fotografieren. Als er hörte, dass sie bei der Propagandakompanie Kameraleute suchten, war das seine Chance, sich zu beweisen. Jemand zu werden. Den Makel seiner Herkunft wettzumachen. Kurz nach der Ausbildung wurde er nach Frankreich beordert, zur Luftwaffe, wo er mit den Aufklärungsfliegern Luftaufnahmen machte. Dann wurde seine Staffel nach Sardinien verlegt, später nach Nordafrika, immer weiter südlich, und Moritz ahnte nicht, dass er sein Heimatdorf nie wiedersehen würde. Warum so weit weg?, fragte Fanny. Fürs Zuhausebleiben bekommt man keinen Orden, antwortete er.

 

Im Herbst 1942 hatten Fanny und Moritz nicht viel Zeit, bevor er zurück an die Front musste. Nur zwei Wochen Urlaub, in denen sie sich jeden Tag sahen, jede Sekunde ein Geschenk, das sie auskosteten, ohne zu wissen, wo und wie lange er eingesetzt werden würde. Großmutter erzählte, diese zwei Wochen mit Moritz sei die schönste Zeit ihres Lebens gewesen. Erst als ich nachbohrte, ob es wirklich so idyllisch war – 1942! –, erzählte sie von dem Sonntag, als sie mit Moritz in den »Zoopalast« ging. Fanny wollte unbedingt die Wochenschau sehen. Bilder sehen, die er gedreht hatte. Bilder aus Nordafrika. Sie hatten schon deutsche Soldaten am Atlantik gezeigt, in Paris und vor Moskau. Aber nichts faszinierte die Menschen so sehr wie Afrika. Die Wüste, eine leere Fläche der Imagination, die sich mit Bildern eines »ritterlichen« Kriegs füllte. Rommel, der Wüstenfuchs. Hans-Joachim Marseille, der Stern von Afrika. Hundertvierundfünfzig Luftsiege, und ein abgeschossener Engländer, den er aus der Wüste rettete. Mussolini, der dem jungen Fliegerass die medaglia d’oro ans Revers heftete.

Alle redeten über die Soldaten, die sich auf einem heißen Panzer in der Sonne ein Spiegelei brieten. Die Wochenschau im Zoopalast zeigte deutsche und italienische Kameraden, die nackt in einer Oase plantschen, Freundschaft der Faschisten. Dann siegreiche Stukabomber und englische Spitfires, die wie Fliegen vom Himmel fielen. Ein italienischer Soldat im Zelt bei der Rasur, mit Schaum ums Kinn und einem umgedrehten Helm als Waschbecken, in die Kamera lachend. Heia Safari, der Krieg als Abenteuer, denn heute gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt.

Moritz hatte die Szene bei der morgendlichen Rasur gedreht, kurz vor der mörderischen Schlacht um Tobruk. Er hatte den Italiener nie wiedergesehen.

Fanny war stolz auf Moritz, doch als sie das Kino verließen, war er eigenartig still und bleich. Sie gingen etwas trinken. Noch war der Ku’damm nicht verdunkelt. Später in der Nacht sagte er ihr, wie es »dort unten« wirklich aussah. Die kaputten Motoren und der Mangel an Treibstoff. Die Hitze am Tag und die Kälte in der Nacht. Die Suppenteller voller Fliegen und Wasser, das nach Diesel schmeckte. Gelbfieber und Typhus, die fast so viele Kameraden dahinrafften wie die englische Artillerie. Die Erschöpfung, die Verwirrung, der Durst und der Durchfall. Wir hatten während der ganzen Schlacht die Hosen voll, sagte Moritz.

Er filmte einen Feldwebel, der zwischen den Granateinschlägen orientierungslos durch den Wüstensand taumelte, zerstörte deutsche Panzer und den grotesk verstümmelten Körper von Hans-Joachim Marseille, der aus seiner brennenden Maschine gestürzt war. Nichts davon hatten sie in die Wochenschau geschnitten, natürlich, da sahst du nie den Tod, dort triumphierten die Lebenden, während sie in Wirklichkeit kurz darauf verreckten. Du hörtest auch keine Marschmusik, sondern ein Pfeifen in den Ohren nach den Granateinschlägen, die das Trommelfell zerrissen, und dann, in der gespenstischen Stille, das Wimmern der Sterbenden.

In der Wochenschau wiederholten sie stattdessen den Publikumsrenner, das Spiegelei auf dem Panzer. Was wirklich passiert war in diesem Herbst, gab kein gutes Bild ab. Die verlorene Schlacht im ägyptischen El Alamein, Tausende Tote und Verletzte, der geplatzte Traum von Kairo, dem Suez-Kanal und den Ölquellen des Nahen Ostens. Rommel rettete die überlebenden Männer, Deutsche und Italiener, und vierzig Panzer. Hinter vorgehaltener Hand hieß es, er hätte sich dem Führerbefehl widersetzt, bis zur letzten Patrone die Stellung zu halten. Moritz hatte Glück, die Schlacht zu überleben, die Propagandakompanie wurde früher abgezogen, Rückzug war nicht fotogen. Ein kleines, halb zerschossenes Flugzeug brachte Moritz und seine belichteten Filme aus Tobruk nach Kreta, während der Rest von Rommels Panzerarmee nach Westen floh, durch die libysche Wüste, verfolgt von den britischen Jagdbombern.

Das war die Wahrheit, und die Wochenschau zeigte Wüstenromantik. Alle redeten über das Spiegelei, nicht über die Niederlage. Im Übrigen war die berühmte Aufnahme gestellt – während Moritz das Ei filmte, hielt sein Assistent einen Bunsenbrenner unter den Panzerstahl.

Fanny war verstört, als sie das alles hörte. Aber sie sagte nichts dazu. Es gab Dinge, über die man besser schwieg. Dann zeigte er ihr den Bescheid, den er bekommen hatte: Er musste wieder einrücken, früher als geplant. Die Gerüchteküche munkelte, dass es zurück nach Afrika ging. Aber wohin? Libyen war verloren. Ein enormes Aufgebot an Fahrzeugen und Panzern wurde hastig mit sandfarbener Tarnung gestrichen, Wüstenuniformen wurden im Akkord genäht, ganze Divisionen aus Frankreich und Italien umgeleitet. Hitler wollte Nordafrika um jeden Preis halten. Moritz und Fanny blieb nur noch ein Tag.

 

Auch wenn es meine Großmutter nicht ausdrücklich erwähnt, irgendwann muss sie mit Moritz geschlafen haben. Wovon sie jedoch erzählt, ist sein Versprechen. Daran erinnert sie sich so genau, dass sie jedes Wort einzeln betont: »Fanny, ich verspreche dir, dass ich zurückkomme.« In der Art, wie sie ihn zitiert, schwingt auch heute noch mit, dass ein Versprechen etwas Heiliges ist, etwas, das unter keinen Umständen gebrochen werden darf. Wer das wagt, wird aus der schützenden Umarmung der Liebe ausgeschlossen. Er machte ihr einen Antrag, den sie glücklich annahm, aber sie hatten keine Zeit mehr, ein Aufgebot zu bestellen.

 

Deshalb gingen sie nicht in die Kirche, sondern feierten auf ihrer Wiese am Wannsee, wohin sie in aller Eile ihre Freunde einluden, am Tag vor seiner Abreise. Kurz bevor es zu regnen begann, stellten sie sich auf den Steg und gaben sich das Eheversprechen. Moritz hatte auf dem Schwarzmarkt zwei Ringe gekauft, immerhin echtes Silber, für Gold hatte sein Sold nicht gereicht, zwei Freundinnen waren Trauzeugen, sein bester Freund legte sich ein Leintuch um die Schultern und spielte den Priester. Sie meinten es tatsächlich so, wie sie es sagten: bis dass der Tod euch scheidet, mit dem jugendlichen Ernst, der heiliger und unbedingter ist als der von Erwachsenen, weil er noch an die Erfüllung von Versprechen glaubt, an die Eindeutigkeit, das Ungebrochene und Unbesiegbare. Ihr hastiges Ritual war ein Festhalten am Normalen in einer aus den Fugen geratenen Welt, der aberwitzige Versuch einer Absicherung gegen das Unabsehbare, als gäbe es irgendwo im Herzen einen unzerstörbaren Schrein des Guten. Es war eine Wette gegen das Schicksal, eine Umkehrung von Ursache und Wirkung: Weil sie den Bund fürs Leben eingingen, würde er nicht sterben.

 

In der Nacht vor seiner Abreise schlief Fanny, ohne dass die Eltern davon wussten, in seiner Kammer unterm Dach. Am Morgen begleitete sie Moritz zum Bahnhof – ein ganzer Zug mit jungen Männern, denen man das Ziel noch nicht verriet. Der Abschied am Gleis, wie sie ihn in der Menge verlor und wiederfand, der letzte, hastige Kuss und das flaue Gefühl im Magen, als der Zug sich in Bewegung setzte. Seine lange Fahrt über München, Verona, Rom und Neapel, eine Postkarte vom Hafen, wo eine Armada aus Schiffen und Flugzeugen sich aufmachte, das Mittelmeer zu überqueren. Nichts als Gerüchte über den Einsatzort. Neun Monate später, im August 1943, als auf Berlin schon Bomben fielen, wurde meine Mutter geboren.

5

»Eine Sache haben wir gemeinsam: Wir sind alle verschieden.«

 

Roberto Benigni

 

Kitesurfer fliegen übers Meer.Der Wind hat aufgefrischt. Ein Minibus bringt uns zum Hafen von Marsala, wo Patrice’ kleines Schiff liegt. Frau von Mitzlaff, die Tochter des Bordfunkers. Herr Bovensiepen, der Neffe des Piloten. Herr Triebel, der Enkel des Bordmechanikers, und seine Frau. Wir kennen uns kaum, fühlen uns aber merkwürdig verbunden. Geschichten über die Verstorbenen, jede Familie ist anders, aber alle ähneln sich in einem Punkt: dem Gefühl, das ein Teil von uns fehlt. Ein Teil, der auf dem Meeresgrund liegt. Den wir ans Licht holen wollen, um ihn zu befreien. Um uns davon zu befreien.

Der einzige Unterschied zwischen ihnen und mir ist, dass sie es bereits schriftlich haben. Die Namen der Besatzungsmitglieder stehen auf der Liste des Generalquartiermeisters von Trapani: Die um 7 Uhr morgens zum Einsatz gestartete Ju 52, Flugzeugführer Lt. Bovensiepen (Bz. CD+QM), kehrte vom Transportflug nicht zurück und stürzte auf dem Rückflug, von Tunis kommend, im Raume 64833/05 ins Wasser. Uffz. v. Mitzlaff, Gottfried; Gefr. Bittner, Rudi; Obgfr. Heinze, Theodor; Ofw. Köster, Johannes. Auf die Fragen nach meinem Großvater antworte ich mit Mutmaßungen und bin froh, dass sie nicht nach meinem Leben fragen.

Patrice macht das Schiff klar zum Auslaufen. Ein paar Fischer schauen uns zu, die Herren Triebel und Bovensiepen, beide Segler, fachsimpeln mit den Tauchern, und ich gehe Kaffee holen. Ich überquere die trostlose Straße und finde eine kleine Bar. Davor stehen ein paar Fischer und Arbeitslose herum und rauchen. Sie weichen grußlos zur Seite, als ich hineingehe, nicht aus Unhöflichkeit, sondern aus einem stillen, unaufdringlichen Respekt heraus, für den ich die Sizilianer immer geschätzt habe.

Der Barista nimmt kaum Notiz von mir. Ich bestelle acht caffè an der Kasse und reiche ihm mein scontrino. Ein paar Männer stehen herum und frühstücken, Espresso und Brioche. Im Fernsehen läuft eine Fußballwiederholung, die niemanden interessiert. Ich warte. Plötzlich eine Frauenstimme hinter meinem Rücken, deutsch mit Akzent: »Guten Morgen.«

Ich drehe mich um. Am Tresen steht eine ältere Dame zwischen den Männern.Schicker Hut über weißen Locken, Leinenkleid, etwas zu sommerlich für die Jahreszeit, indischer Schal. Sie ist klein, aber energisch. Erst auf den zweiten Blick erkenne ich sie: die Französin von gestern. Jetzt fallen mir ihre Augen auf: smaragdgrün, leuchtend. Eine Frau, deren Präsenz den Raum erfüllt, während sie zugleich fehl am Platz wirkt. Eine Aura von trotziger Fröhlichkeit umgibt sie. Zu jung im Kopf, um alt zu sein. Zu alt, um sich darum zu scheren, wie sie anderen gefällt. Eine Frau, die in kein Schema passt – jedenfalls in kein mir bekanntes.

Bis ich verstehe, dass diese Französin eine Jüdin aus Israel ist, die in einem arabischen Land geboren wurde –, werden noch Stunden vergehen, Tage, die sich anfühlen wie ein ganzes Leben. Die wichtigsten Begegnungen begreift man erst im Nachhinein als solche. Während sie geschehen, scheinen sie so selbstverständlich, als griffen die Räder des Schicksals geräuschlos ineinander, mit oder ohne unser Zutun, mit oder ohne unser Einverständnis. Sie lächelt mir zu, mit einem ironischen Zug um den Mund. Ich erinnere mich an Patrice’ Warnung vor den Schaulustigen.

»Buongiorno«, antworte ich auf Italienisch, um etwas Distanz zu schaffen.

»Sie kommen aus Deutschland?«

»Ja.«

»Welche Stadt?«

Ihr Italienisch ist besser als meins. Man würde meinen, es wäre ihre Muttersprache.

»Berlin.«

»Sind Sie wegen dem Flugzeug hier?«

Der beiläufige Ton ihrer Frage steht im Widerspruch zu der suchenden Art, mit der sie mich fixiert, zu indiskret und vertraut für eine Fremde. Sie reicht mir die Hand.

»Joëlle.«

Ich erwidere ihren Gruß.

»Nina.«

Ihr Händedruck ist warm und freundlich. Ich kann meinen Blick nicht von ihren Augen lassen. Noch nie habe ich ein so leuchtendes Grün gesehen. Sie ist gerührt, und ich weiß nicht wovon.

»Heißt deine Mutter zufällig Anita? War sie Stewardess bei der Lufthansa?«

Jetzt wird sie mir unheimlich.

»Entschuldigung, kennen wir uns?«, frage ich.

»Noch nicht.« Sie lächelt mich liebevoll an, fast mütterlich.

»Er hat mir von ihr erzählt.«

»Wer?«

»Dein Großvater.«

Ich erschrecke, und das scheint ihr leidzutun. Sie wägt ihre Worte ab, bevor sie sie ausspricht, leise aber bestimmt:

»Ich bin seine Tochter.«

Sie schmunzelt. Ich fühle mich auf den Arm genommen.

»Moritz Reincke?«

»Eh oui. Das ist mein Vater.« In ihrer Stimme schwingt Zärtlichkeit mit, aber auch Wehmut.

»Sie müssen da was verwechseln.«

»Hat er dir nie von uns erzählt?«