Piet Roggenkamp und der heiß-kalte März - Heike Donner - E-Book

Piet Roggenkamp und der heiß-kalte März E-Book

Heike Donner

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Beschreibung

Im März 2050 hat der Klimawandel die Welt verändert: Die Sonne brennt bei 45 Grad Celsius, viele Tierarten sind ausgestorben, der örtliche Baggersee fast ausgetrocknet. Für Piet Roggenkamp ist das Normalität, eine andere Welt kennt er nur aus Filmen. Er ist fast zwölf Jahre alt, schüchtern und von zu viel Eiskonfekt ein wenig in die Breite gegangen. Von seinen Eltern vernachlässigt und von Mitschülern gehänselt, weiß er nur seinen Freund Bodo, seine geliebte Großmutter und ihre Hündin Lieselotte auf seiner Seite. Sie sind auch die einzigen, die er ins Vertrauen ziehen kann, als ihn eine Nachricht von Ferdinand aus dem Jahr 1830 erreicht. Piet glaubt, ihre Kommunikation müsse einen tieferen Sinn haben; aber er ahnt nicht, dass sich nicht nur sein eigenes Leben für immer verändern könnte …

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Seitenzahl: 214

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Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2023 novum publishing

ISBN Printausgabe: 978-3-99146-266-8

ISBN e-book: 978-3-99146-267-5

Lektorat: Erika Möstl

Umschlagabbildungen: Jan Martin Will, Nathanael Agung | Dreamstime.com

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

Innenabbildung: Heike Donner

www.novumverlag.com

Widmung

Für Margarete.

Danke, dass Du Teil meines Lebens warst.

Ich denke jeden Tag an Dich …

Kapitel Eins: Hitze im März 2050

Piet saß, wie jeden Morgen, seitdem vor ein paar Tagen die ersten von zwei jeweils sechswöchigen Sommerferien in diesem Jahr begonnen hatten, im Keller auf den kühlen Fliesen vor dem geöffneten Kühlschrank und genoss die kalte Luft auf seinem Gesicht. Es war Anfang März, und es war sieben Uhr fünfzehn früh am Morgen.

Die Klimaanlage im Haus war seit einigen Tagen ausgefallen, und an einen Monteurtermin war wegen der hohen Auftragslage zurzeit überhaupt nicht zu denken. Die Außentemperatur maß bereits achtunddreißig Grad Celsius und würde an diesem Tag laut Wettervorhersage noch auf fünfundvierzig Grad steigen, ohne die Aussicht auf ein paar schattenspendende Wolken, geschweige denn ein paar Tropfen Regen. Selbst der hohe Berg, den Piet durch das Fenster seines Kinderzimmers emporragen sah und der das Haus für einige Stunden am Tag in Schatten tauchte, konnte keine Linderung bieten.

Piet sehnte sich nach einer früheren Zeit und stellte sich vor, dass die Kämme dieses Berges, die ihn stark an Kamelhöcker erinnerten, mit puderig hohem Schnee bedeckt wären und er sich mit seinem einzigen Freund Bodo Schneeballschlachten liefern und Snowboard fahren würde. In seiner Fantasie war der örtliche Baggersee randvoll mit Wasser gefüllt und zugefroren, sodass er darauf Schlittschuh fahren konnte, seine Uferböschungen waren von dichtem Schilf umsäumt und rings um den See wuchsen hohe Bäume und Büsche aller Art. Oft dachte Piet auch an den Weihnachtsfilm, den er sich im vergangenen, viel zu warmen Dezember mit seiner Großmutter angesehen hatte. Wie herrlich wäre es, einer dieser Jungen zu sein, die mit vor Kälte erröteten Wangen im Pulverschnee Schlitten fuhren und Schneemänner bauten. Piet hatte noch nie in seinem Leben eine Schneeflocke zu Gesicht bekommen; tatsächlich hatte es in seiner Stadt seit über zwanzig Jahren nicht mehr geschneit.

An ihn gelehnt lag seine beste Freundin Lieselotte, ein vierjähriges Boxermädchen, schlummernd mit halb offenen Augen. Sie genoss, ebenso wie Piet, die angenehme Kühle des Kellerraums. Ein tiefes, entspanntes Schnaufen entfuhr ihr, als sie sich kurz reckte und ihren schweren Kopf auf Piets linkes Bein legte.

Das monotone Surren des Wäschetrockners, den seine Mutter eine halbe Stunde zuvor mit einer Unmenge Unterwäsche beladen hatte, da ihr das Wäscheaufhängen im Garten zu mühselig war, ließ auch Piets Augenlider schwer werden, und so lehnte er sich zurück, legte seinen nackten Rücken auf die Fliesen und schloss die Augen.

Heute war der siebte März 2050, der Geburtstag seines leiblichen Vaters Heribert. Piet dachte angestrengt nach, wann er ihn zum letzten Mal gesehen hatte. Überlegt hatte er schon oft, konnte sich jedoch beim besten Willen nicht daran erinnern. Tatsächlich hatte er an seinen Vater wenige schöne Erinnerungen. Seine Mutter und seine Großmutter hatten ihm oft erzählt, dass Piet von seinem Vater schon im Babyalter gehänselt und geärgert wurde; aber daran erinnerte er sich auch nicht, weil er damals halt noch zu klein war. Wohl aber an den unangenehmen Geruch von Alkohol, den sein Vater regelmäßig mit sich nach Hause brachte, nachdem er seine Lieblingskneipe frequentiert hatte; dasHimmelreich, das scheinbar mehr zu seinem Zuhause geworden war als seine eigene junge Familie.

„Dem hab’ ich vielleicht den Marsch geblasen!“, sagte einst die Großmutter, völlig außer sich, „als dein Vater betrunken nach Hause kam und euch Kindern den letzten Liter frische Milch weggesoffen hat!“

Ebenso war Piet eine Nacht in Erinnerung geblieben, in der er längst friedlich schlummerte, als Heriberts Gesicht, stark wesensverändert durch zu viel Bier und Wacholderschnaps, plötzlich über seinem Bettchen auftauchte. Vater nahm einen großen Schluck aus einer Mineralwasserflasche, spuckte die gesamte Ladung in Piets Gesichtchen und brach anschließend in ein lautes, dröhnendes Lachen aus.

Piet wusste nicht, wie alt er genau gewesen war, als das passierte, und ob Heribert jemals Ärger von seiner Frau bekommen hatte oder Großmutter dem Vater wiederden Marsch geblasenhatte, wie immer das auch ausgesehen haben mochte …

Selbst an die wenigen gemeinsamen Mahlzeiten hatte Piet nur schwache Erinnerungen. Dennoch war es fest in seinem Gedächtnis verankert, dass sein Vater seine Brote immer mit fingerdicken Käsestücken und Schinkenscheiben belegte und ein äußerst böses Gesicht zog, wenn Piet auch nur in die Nähe des Tellers kam.

Es jagte Piet jedes Mal einen Schauer über den Rücken, wenn er an die wenigen gemeinsamen Ausflüge zurückdachte, zum Beispiel auf den Jahrmarkt, und wie ihn Panik überkam, aus dem Karussell herausgeschleudert zu werden. Er flehte seinen Vater an, ihn festzuhalten und weinte und schrie bitterlich. Heribert jedoch machte keine Anstalten seinen Sohn zu schützen, sondern starrte ihn lediglich mit hartem Blick von der Seite an, bis die Fahrt vorbei war …

Da Piet als Junge noch nicht verstanden hatte, dass sein scheinbar belangloses Leben schützenswert gewesen wäre, versuchte er sich daran zurück zu erinnern, wie lange er wohl nach dieser Karussellfahrt unter Schock gestanden hatte. Sein eigenes Kind, das er vielleicht einmal haben würde, würde er in den Arm nehmen, wenn es Angst hätte und ihm vermitteln, dass schon alles wieder gut werden würde … und nicht noch eins oben drauf hauen, so wie sein eigener Vater es bei ihm gemacht hatte.

Piet zwang sich, nicht mehr an seinen Vater zu denken, geschweige denn ihm überhaupt gratulieren zu wollen. Mit Ausnahme einiger weniger Anrufe zu Weihnachten und zum Geburtstag hatte er nie etwas von seinem Vater bekommen: keinen Gligx1Taschengeld, kein Geburtstagsgeschenk und auch keines zu Weihnachten; nicht einmal eine Erklärung, warum das Verhältnis zwischen ihnen so anders war als bei anderen Vätern und ihren Kindern und was um alles in der Welt Piet als Baby Schlimmes angestellt haben musste, dass sein Vater so gemein zu ihm war.

Eine kurze Erinnerung jedoch gab es, die Piet jedes Mal einen heftigen Stich versetzte: Es musste wohl schon lange dunkel gewesen sein, als Mutter ihn und seine zwei Jahre ältere Schwester Caroline in ihr Auto verfrachtete und mit ihnen in die Nacht hineinfuhr. Am Straßenrand, die linken Räder des Autos halb im Graben versunken, fanden sie seinen betrunkenen Vater Heribert, schluchzend und verzweifelt hinter dem Steuer sitzend. „Ich kann nicht mehr Autofahren!“, weinte er …

Vater hatte die Trennung von seiner Familie offensichtlich nicht so gut verkraftet, und er schien doch eine gut versteckte Seite in sich zu haben, die um seine verlorene Familie trauerte.

Piets Eltern trennten sich, als er in den Kindergarten ging. Der Hauptgrund für die Trennung, so sagte ihm seine Mutter des Öfteren, war Piet, der von seinem Vater nicht gut behandelt wurde.

So richtig verstanden hatte er die Begründung seiner Mutter nicht, zumal das sonderbare Verhalten seines Vaters ihm gegenüber Normalität für ihn war und er rein gar nichts über ein gesundes Vater-Sohn-Verhältnis wusste. Warum also sollte er der Grund gewesen sein, dass seine Eltern sich trennten? Piet hatte nie etwas Schlimmes getan, was seinen Vater zu derart gemeinem Verhalten veranlasst haben könnte, und insgeheim gab er sich die Schuld dafür, dass die Ehe seiner Eltern in die Brüche ging.

Kleine Jungen müssen nun mal alles hinnehmen, was Erwachsene ihnen auferlegen,das war Piets einzige Erklärung für seine Lage;Kinder haben keine Bedürfnisse anzumelden, die die Erwachsenen sowieso nicht sehen.

Bis auf seine Großmutter …

„Pieti“, flüsterte die Stimme seiner Großmutter den Kelleraufgang zu ihm hinunter. „Bist du hier unten? Ist die Liese bei dir? Ich hab’ ihr Futter fertig.“

Die Stimme ihres Frauchens und das WortFutterholten die Hündin sofort aus dem Tiefschlaf. Sie stand auf, reckte ihre Glieder und schaute auf Piet herab. In dieser Körperhaltung hatte die Schwerkraft auf das Gesicht eines Boxers, mit seinem faltigen Kopf, seinen schweren Unterlidern und den langen weichen Lefzen, einen sagenhaften Effekt, der dem am Boden liegenden Piet den Blick auf ein Untier freigab, das man einfach lieben musste.

Piet öffnete die Augen einen Spalt weit und fing bei diesem Anblick an zu lachen, was Lieselotte prompt dazu veranlasste, ihm mit ihrer langen rosa Zunge übers Gesicht zu schlecken und dann gleich mit großen Schritten die Treppe hinauf Richtung Futternapf zu verschwinden.

Er liebte diesen Hund. Sie war nicht nur unfassbar schön mit ihren sanften braunen Augen, der schmalen weißen Blesse auf der Nase, dem glänzenden gold-schwarz gestromten Fell und ihrem starken, muskulösen Körper, sie war auch verschmust, anhänglich und das treueste Tier, das einen außerdem mit seiner rauflustigen und witzigen Art immer wieder zum Kichern brachte. Piets Großmutter sagte immer, die Liebe zu einem Hund wäre die reinste ihrer Form, und er ist der perfekte Weggefährte; diese Erkenntnis teilte Piet ganz und gar mit ihr.

Lieselotte schlief bei Großmutter im Flur, und merkwürdigerweise war es Piet nur möglich, friedlich einzuschlafen, wenn seine Tür offen stand, damit er ihr nächtliches Schnarchen aus ihrem Körbchen hören konnte. Jeder andere Laut in der Nacht ließ ihn aufschrecken; doch Lieselottes Geräusche brachten ihm letztendlich den nötigen erholsamen Schlaf.

„Ja“, rief Piet seiner Großmutter entgegen, „ich bleibe noch ein bisschen hier unten, es ist einfach zu warm im Haus.“

„Ist in Ordnung, mein Schatz. Wenn ich das Mittagessen vorbereitet habe, kühle ich mich auch ein wenig im Keller ab. Worauf hättest du Appetit?“, fragte Großmutter.

Piet überlegte einen Augenblick. Er hatte die Kochkünste seiner Großmutter immer sehr gemocht. Seine Leibgerichte waren ihre berühmten Kohlrouladen, Eierpfannkuchen und ihr grüner Salat, den sie seit vielen Jahrzehnten mit Dosenmilch, Zitrone und Zucker anmachte.

„Pfannkuchen!“, rief er ihr begeistert entgegen, und ihm lief bereits bei dem Gedanken daran das Wasser im Mund zusammen.

„Darauf hab’ ich auch Lust“, sagte Großmutter. „Caroline hat sicher auch nichts dagegen einzuwenden. Bis nachher dann.“

Piet holte ein Album aus dem Regal, in das er seit einigen Tagen nach und nach Fotos aus seiner Kindheit klebte. Es sah leider nicht so professionell aus wie andere Alben, die er bisher gesehen hatte. Aus irgendwelchen Gründen schien Mutter wohl keine Zeit gehabt zu haben, auch Piet ein Kinderalbum zu fertigen. Und so versuchte er, seine Fotos chronologisch zu sortieren und schrieb mit seiner kindlichen Handschrift Datum und Ereignisse darunter; zumindest soweit er sich noch erinnern konnte.

Wegen der großen Hitze hatte Piet nichts weiter an als ausgeblichene, rosa-weiß gestreifte Shorts, die ein Loch auf der rechten Pobacke hatten und an den Hosenbeinen mittlerweile stark ausgefranst waren.

Seine Mutter hatte ihn oft gescholten, er könne doch so eine zerschlissene Hose nicht mehr anziehen! „Stell dir vor“, hatte sie erst letzte Woche gemeckert, „du hast einen Unfall und musst ins Krankenhaus; was sollen die Leute, die dich untersuchen, dann von uns denken, wenn du so was anhast?“ Und schwupps …, war die Hose im Mülleimer verschwunden.

Der Eindruck, dendie Leutevon ihnen hatten, war Piets Mutter äußerst wichtig, was sich zum Beispiel in ihrem wie verwandelt glücklichen Verhalten spiegelte, sobald sie das Haus verließ oder jemand zu Besuch kam. Oder darin, dass Piet in frühen Kindheitstagen bereits perfekt mit Messer und Gabel hantierte, obwohl er noch gar nicht richtig laufen konnte.

Piet war jedoch noch nicht bereit, sich kampflos von seiner Lieblingshose zu trennen und fischte sie sogleich, nachdem seine Mutter die Küche verlassen hatte, wieder aus dem Mülleimer heraus.

Er würde sie weiterhin tragen; auch wenn er langsam merkte, dass der Bund ihm zunehmend in den Bauch kniff, der, von zu vielen Süßigkeiten, bereits weit darüber hinweg lugte.

Der Wäschetrockner surrte in die letzte Runde, und Piet drehte sich auf den Bauch, um auch der Vorderseite seines Körpers etwas von der Kühle der Bodenfliesen zu spenden. In dieser Position sah er aus wie ein übergroßes, pummeliges Baby, das man nach dem Wickeln auf dem Tisch vergessen hatte.

Piet war bald zwölf Jahre alt und wohnte mit seiner Mutter, seiner Großmutter und seiner vierzehn Jahre alten Schwester Caroline in einem Reihenhaus, in dem seine Großmutter die zweite Etage bewohnte. Dies war schon sein viertes Zuhause, und zwei Umzüge waren auch mit einem Schulwechsel für ihn verbunden gewesen.

Beim zweiten Umzug musste seine Mutter das Haus verkaufen, das sein Vater für die Familie gebaut hatte, da Vater von einem auf den anderen Tag keinen Unterhalt mehr zahlen konnte. Vor dem dritten Umzug in das jetzige Haus, vor etwa einem Jahr, hatte sich Piets Mutter von ihrem Freund getrennt, was Piet und seine Schwester Caroline jedoch nicht als allzu schlimm empfanden, zumal sie Mutters Freund Gustav nicht sonderlich mochten, was wohl aber auf Gegenseitigkeit zu beruhen schien. Er war ein Professor-Doktor für Irgendwas und lehrte an einer Universität. Regelmäßig beschimpfte er die Kinder, sie würden absichtlich das Licht brennen lassen, nicht genügend im Haushalt mithelfen und ohnehin wohl zu viel Geld kosten. Ebenso unterstellte er ihnen andauernd, sie würden das Klopapier essen, weil er regelmäßig für Nachschub sorgen musste. In seinem hochstudierten Kopf mit offensichtlich wenig menschlichem Verstand konnte er wohl nicht kalkulieren, dass eine vierköpfige Familie mehr an Lebensmitteln verbrauchte als ein alleinstehender Single.

Scheinbar hatte er auch in puncto Beziehung keine Ahnung, was man unter anderem an seiner merkwürdigen Einstellung zur Rollenverteilung zwischen Frau und Mann sah: Als eines Frühlingstages der Garten so verwachsen und verwuchert war, dass eigentlich nur noch ein Gärtner ihn hätte retten können, arbeitete Mutter unermüdlich mit der Sense gegen das meterhohe Gras an, während Gustav, in dünne Gartenhandschuhe gekleidet, jede Rose einzeln mit der Nagelschere in Form schnitt.

An einem Morgen, als Piet von Gustav ausnahmsweise einmal zur Schule gefahren wurde, bat Piet ihn recht kleinlaut um zwei Gligxe, damit er sich in der großen Pause einen Kakao kaufen konnte.

„Dass das aber nicht zur Gewohnheit wird!“, raunzte Gustav damals kurz angebunden.

Piet schluckte das einfach, ohne irgendetwas darauf zu erwidern, und erzählte seiner Mutter nichts davon. Er wollte nicht, dass sie und Gustav Streit hatten und noch weniger, dass wieder eine Beziehung seiner Mutter wegen ihm in die Brüche ging.

Mehr und mehr allerdings beobachtete er schwermütig seine Mitschüler um ihn herum und bewunderte sie für ihre meist unbeschwerte Art und Weise.

Ihrem selbstbewussten Verhalten und dem gepflegten, immer modernen Kleidungsstil nach zu urteilen waren sie behütet und geliebt aufgewachsen; als wären sie einfach immer an erster Stelle gekommen.

Es versetzte Piet jedes Mal einen leichten Stich, wenn Mütter oder Väter ihre Kinder zur Schule brachten oder abholten, und er beneidete sie um die täglich wiederkehrende Freude, die sich auf ihren Gesichtern zeigte, wenn sie sich wiedersahen und möglicherweise, nachdem sie die Autotüren zugemacht hatten und abgefahren waren, gemeinsam überlegten, was sie an diesem Tag wohl zusammen unternehmen könnten.

Was Piet ebenfalls stark zugesetzt hatte, war der Wechsel in die aktuelle Schule in Rullingen, dem Geburtsort seiner Großmutter, deren Elternhaus vor vielen Jahren abgerissen und durch ein Einkaufszentrum ersetzt wurde. Er ging nicht zur Kirche, niemand aus seiner Familie; und alsso jemandeine neue Schule zu besuchen, die einer sehr gläubigen Gemeinde angehörte, machte ihn bei vielen Mitschülern schnell zu einer Art Antichristen und Außenseiter und leider auch ziemlich einsam.

Piet hätte sich niemals getraut, seine Mutter zu fragen: „Warum musste ich umgeschult werden? Und warum mussten wir überhaupt von einem Ort in den nächsten ziehen, der nur wenige Kilometer entfernt ist?“ Gab es denn innerhalb seines letzten Heimatortes keine leeren Wohnungen, in die sie hätten umziehen können, um eine Umschulung für Piet zu verhindern und ihn nicht aus seinem gewohnten Umfeld mit einigen Freunden und einer viel freundlicheren Schule zu reißen?

Als Mutter damals angekündigt hatte, sie müsse das Haus verkaufen und sie umziehen würden, hatte Piet tagelang geweint. Er sollte seine Freunde und seine vertraute Umgebung verlassen; das war ein Alptraum für ihn.

Mutter versprach ihm aber, ihn so oft wie möglich zu seinen Freunden zu fahren. Dieses Versprechen nahm er allerdings nur ein einziges Mal in Anspruch: Während er stumm auf dem Rücksitz des Autos saß und Mutter aus den Augenwinkeln betrachtete, wie sie genervt, schlecht gelaunt und Selbstgespräche führend den Wagen steuerte, wusste er, dass er sie nicht um eine weitere Fahrt in seine alte Heimat bitten durfte. Auch verwarf er schnell den Gedanken an seinen leiblichen Vater, der ihm nicht helfen konnte, da er sich hunderte Kilometer von Piet entfernt ein neues Leben mit einer Zwanzigjährigen aufgebaut hatte. Piet besaß keine hippe Kleidung wie seine Mitschüler, deren Mütter nur darauf zu warten schienen, das Mittagessen nach der Schule zu servieren und später dann das Abendessen für einen Vater zuzubereiten, der möglicherweise Ingenieur, Arzt oder vielleicht Rechtsanwalt war und viel Geld mit nach Hause brachte.

Piet hatte nur zwei Hosen, die er mochte, was ihm oft gehässige Bemerkungen einbrachte, er zöge ständig die gleichen Klamotten an.

Als er seine Mutter zu seinem letzten Geburtstag darum bat, ihm auch ein Paar der teuren Turnschuhe mit drei Streifen an der Seite zu kaufen, bekam er ein Paar billige mit zwei Streifen, was ihn zum Gespött der ganzen Klasse machte. Merkwürdigerweise hätten diese Schuhe ihn nicht sonderlich gestört, zumal sie ganz bequem waren. Aber die gehässigen Hänseleien seiner Mitschüler veranlassten Piet, die Schuhe in einem Karton im Keller verschwinden zu lassen und sie nie wieder zur Schule oder sonst wohin anzuziehen.

Mehr und mehr schwand auch Piets Zuversicht und sein ohnehin nicht stark ausgeprägtes Selbstwertgefühl, um seine Mitschüler davon überzeugen zu können, dass er auch ohne teure Markenkleidung dazugehören könnte. Und schon allein seine in sich gekehrte Art und schüchterne Zurückhaltung machten ihn zur Zielscheibe, auf welche die fiesen Schüler mit Vorliebe ihre Pfeile abschossen.

Obendrein war seine Statur recht klein und untersetzt, was ihm vor allem im Sportunterricht zusätzliches Gelächter auf seine Kosten einbrachte, wenn sein Schwabbelbauch unter seinem im Trockner eingelaufenen T-Shirt bei jedem Schritt zum Vorschein kam. Oder wenn er beim Staffellauf schon nach hundert Metern in Schweiß gebadet und viel zu langsam seinen ersten Laufpartner erreichte und ihm stolpernd den Stab in die Hand drückte, bevor der dann fluchend einiges an Zeit durch Piets Verschulden wieder einzuholen versuchte.

Ein ganz besonderer Dorn im Auge war Piet auch diese fiese Steffi aus seiner Klasse. Aus irgendeinem egoistischen Grund hatte sie den siebten Haken von links zur Aufhängung der Turnbeutel vor dem Sportunterricht zu ihrem Eigentum erklärt. Und als er einmal irrtümlicher- und unerlaubterweise seine Sporttasche an besagtem siebten Haken aufhing, hatte sie ihn von einem auf den anderen Tag mit Nichtachtung bestraft.

Piet zählte nun einmal nicht zu den schnellen, sportlichen, coolen Kids. Er gehörte auch keiner der Cliquen an, die aus Idioten bestanden, welche sich nicht trauten, ihre Klappe aufzureißen, wenn sie allein und ohne ihre Kumpel auftraten.

Auch der Unterricht bereitete ihm von Anfang an Schwierigkeiten, da er meist unkonzentriert war und düstere Gedanken sein Gemüt belagerten.

Als in der ersten Klasse das Lesen und Schreiben gelehrt und alle Buchstaben des Alphabetes einzeln in langen Zeilen wiederholt wurden, erschrak Piet aus seinem Tagtraum, als er feststellte, dass sein Tischnachbar bereits eine ZeileEs in Schönschrift zu Ende geschrieben, während er noch keinen einzigen Buchstaben zu Papier gebracht hatte.

Furchtbare Panikattacken hatte er besonders vor dem Mathe-Unterricht. Wenn sein Lehrer ihm vor versammelter Mannschaft eine Rechenaufgabe stellte, stammelte er völlig verunsichert und mit puterrotem Gesicht nur ein zittriges „Ähm …“, das den Rest der Klasse in einen Lachanfall versetzte.

Piet erinnerte sich noch schmerzhaft, dass ihm am Ende einer Mathestunde ein Mitschüler im Vorbeigehen tröstend den Rücken getätschelt hatte. Wie sich dann allerdings herausstellte, hatte er dies nicht aus Mitgefühl getan. Denn als Piet anschließend den Klassenraum verließ und durch die Schulkorridore ging, drehten sich die Schüler zu ihm um und brachen in schallendes Gelächter aus. Der Grund dafür war der Klebezettel, der an Piets T-Shirt haftete und auf dem das WortDumpfbackegeschrieben stand.

Piet verließ noch vor Unterrichtsende die Schule und lief weinend nach Hause. So eine Gemeinheit! Wie konnten sie nur! Schluchzend erzählte er seiner Mutter davon, die sich wunderte, dass er so früh schon zuhause war. Sie lachte ihn aus und sagte: „Wenn du dich entschuldigst für das, was du getan hast, beruhigen sich deine Schulfreunde wieder! Und nun hör auf zu heulen!“

Piets Traurigkeit war damit natürlich keineswegs verschwunden, und er verstand nicht, wie seine eigene Mutter nur so wenig Verständnis für ihn aufbringen konnte!

Einige Jahre später einmal hatte er sich gefragt, wie es möglich war, dass das Blut seiner Großmutter auch durch die Adern seiner Mutter floss, die so wenig Empathie für ihre Kinder empfand, wohingegen Großmutter anscheinend jede Gefühlsregung ihrer Enkel an deren Augen zu erkennen vermochte …

Großmutter andererseits hatte nach Piets Erzählung selbst wässrige Augen und regte sich furchtbar auf: „Dem Bengel werde ich morgen aber den Marsch blasen, sodass er eine Woche lang nicht auf seinem Hintern sitzen kann!“

Piet wollte aber nicht, dass Großmutter sich so sehr aufregte oder gar einmischte; er hätte sonst noch mehr Ärger in der Schule gehabt. Aber er war ihr so dankbar, dass sie ihn ernst nahm. Sie war für ihn der allerwichtigste Mensch in seinem Leben, der immer genau wusste, was er brauchte. Piet liebte sie sehr und betete oft, dass sie mindestens hundert Jahre alt werden würde, damit sie ihm noch viele, viele Jahre mit ihrer Güte und ihrem Verständnis zur Seite stehen konnte …

Was vielen Leuten aber an Piet gefiel, war sein nettes, verschmitztes Gesicht, die hellblauen Augen, seine hellbraunen Sommersprossen und das dichte mittelblonde Haar, das ihm bis auf die Schultern fiel. Außerdem hatte er einen witzigen Charakter, wenn er sich erst einmal zurechtgefunden hatte und etwas aufgetaut war. Das musste wohl die Erklärung für sein unfassbares Glück gewesen sein, als im zweiten Schulhalbjahr ein Junge in die Klasse kam, der Piets mickrige, pummelige Statur mit ihm gemein hatte und schnell dessen humorvolle Seite wahrnahm. Sein Name war Bodo.

Piet und Bodo freundeten sich schnell an. Er hatte kurze dunkelrote Haare, hellgrüne Augen, eine breite Nase, die Piet ein wenig an Lieselottes erinnerte, und ein freundliches, mit Sommersprossen übersätes Gesicht. Bodo war nett und unvoreingenommen, hatte ebenso wie Piet keine teuren Markenklamotten vorzuweisen und scherte sich nicht im Geringsten darum, was andere davon hielten. Mit seiner witzigen, schlagfertigen und unterhaltsamen Art hatte er regelmäßig die Lacher der Schüler und sogar einiger Lehrer auf seiner Seite und brachte auch etwas von Piets sonst so versteckten, lustigen Charakterzügen um Vorschein, indem sich beide Jungs über die versnobten Mitschüler lustig machten; allerdings so, dass sie niemanden absichtlich verletzten. Denn was das für ein schreckliches Gefühl war, wusste Piet nur allzu gut, und er wollte niemand sein, der so etwas einem anderen antat; selbst nicht, wenn derjenige es verdient hatte. Er hackte nie auf Schwächeren herum, kam ihnen aber auch nicht zu Hilfe, wohl aus Angst, sich noch größeren Zorn der coolen Kids zuzuziehen. Warum taten sie so etwas? Im Grunde war es Piet klar: Sie hatten nie erfahren müssen, wie es war, als Außenseiter dazustehen.

Piet und Bodo unternahmen zusammen viele Dinge in ihrer Freizeit, das heißt, wenn Bodo nach draußen zum Spielen durfte. Er litt seit frühester Kindheit unter Asthma und war oft auf seinen Aspirator angewiesen, der ihm Erleichterung spendete, wenn er keine Luft bekam. Bodos Mutter hatte große Angst, dass ihrem Sohn etwas passieren könnte, wenn sie nicht in der Nähe war. Aber an den Tagen, an denen er Ausgang bekam und versprach, immer sein Telefon angeschaltet zu lassen, hatten die Jungen ausgelassenen Spaß. Sie spielten, wie jedes Kind, manchmal am Computer, machten zusammen Hausaufgaben oder zogen einfach nur über ihre Mitschüler her. Meistens gingen sie aber an die frische Luft und unternahmen lange Spaziergänge mit Lieselotte oder schwammen mit ihren Luftmatratzen auf dem nahegelegenen Baggersee.

Die Uferböschungen des Sees waren vor Jahrzehnten noch mit dichtem Schilf überwuchert, auf dem Wasser schwammen unzählige rosafarbene Seerosen und rings um den See wuchsen schattenspendende Bäume vielfältiger Art. Doch durch den starken Wassermangel hatte sich der Bewuchs auf einige wenige blattlose, skelettartige Gehölze minimiert. Lediglich ein einziger Baum trug grüne Blätter in den heißen Monaten des Jahres. Er war riesig groß, und einige wenige violette Blüten, die stark an Schmetterlinge erinnerten, zierten seine Krone. Dieser Baum war mindestens zweihundertfünfzig Jahre alt, so hatte Piet es im Geschichtsunterricht gelernt.

Durch die unerträgliche Wärme in den letzten zwanzig Jahren war der Wasserspiegel des Sees um zweieinhalb Meter gesunken, was den Einstieg auf die Wasseroberfläche für Piet und Bodo zu einer so rutschigen und nicht ungefährlichen Angelegenheit machte, dass der Hund es lieber vorzog, am schattigen Ufer zu dösen und Piet und Bodo zu beobachten, wenn sie lachend versuchten, sich gegenseitig auf ihren Luftmatratzen zum Kentern zu bringen.

Bodo hatte in letzter Zeit selten Asthmaanfälle, was wohl der Grund dafür war, dass er an einem besonders heißen Tag vor zwei Wochen seinen Aspirator zuhause gelassen hatte. Auf dem Weg nach Hause brach er plötzlich in starkes Husten und Röcheln aus und bekam schlecht Luft. Piet schnappte sich sogleich ohne Umschweife Bodos Hausschlüssel und rannte, so schnell ihn seine dicken Beine tragen konnten, den letzten Kilometer zu Bodos Haus, um den lebensrettenden Aspirator aus dessen Zimmer zu holen.

Auch den Rückweg zu dem im Gras hockenden Bodo hatte er in einer Rekordgeschwindigkeit zurückgelegt, die ihn selbst überraschte.Wie schnell man rennen kann, wenn man ein wichtiges Ziel vor Augen hat, dachte Piet bei sich. Er wettete, sein Sportlehrer wäre tief beeindruckt gewesen und seine Staffellaufpartner hätten mit ihm an diesem Tag die Goldmedaille gewonnen.