Pinguin Talk - Mike Nebel - E-Book

Pinguin Talk E-Book

Mike Nebel

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Beschreibung

Antiheld Ronny Luschke stolpert ins nächste Abenteuer. Dieses Mal in Dänemark. Ob in der Sprachschule, als Pate eines Elefanten, unterwegs mit sprechenden Pinguinen, oder bei einem skurrilen Vermittlungsversuch mit einer algerischen Schönheit, Ronny Luschke zeigt erneut sein ganzes Talent für allerlei Missgeschicke und so wurschtelt er sich mit eher mäßigem Erfolg durch die Tücken der dänischen Sprache.

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Seitenzahl: 200

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhalt
Fritten gefällig?
Luke
Wikingerbrot
Landung
Let’s salute you!
Sprechen Sie bitte jetzt!
Ronnys Kochstudio
Lars ist da!
Wo ist der Booster?
Elefantenpatenschaft
Der Pinguin Talk
In freier Wildbahn
Abgang

Mike Nebel

Pinguin Talk

Erzählung

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek (»ImprintHead«)

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar.

Mike Nebel

Pinguin Talk

Dieses Buch wurde mit viel Liebe zum Detail betreut durch: Melanie Jungierek, Lektorat Jungierek: Lektorat, Korrektorat, Coverdesign sowie Satz & Layout

Druck: epubli

 

Alle Rechte vorbehalten

© Mike Nebel

c/o AutorenServices.de

© Mike Nebel

Birkenallee 24

36037 Fulda

Das vorliegende Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der Übersetzung, des Vortrags, der Reproduktion und der Vervielfältigung.

 

Fritten gefällig?

»Faxen dicke, komm Ronny, wir schließen für heute!« Offizielle Information vom Sigi an alle, etwas müde und ohne jeglichen Nachdruck vorgetragen. Der Sigi konnte das sinnlose Hin und Her seiner Stammkunden nicht mehr hören. Wie so oft an »Sigis Imbissbude« blökten alle durcheinander und keiner wusste wirklich was. Nur, worum ging es an diesem Abend tatsächlich? Soweit ich mich erinnern kann, waren es zwei Fragen, die uns in eine zunehmend hitzige Debatte im kleinen Pulk der Anwesenden trieben. Die erste war, wann Sigi seinen Imbiss aufgemacht hatte, und die zweite, wer auf die glorreiche Idee gekommen war, mich dort in »Sigis Imbiss« unterzubringen, und wenn ich von unterbringen rede, dann meine ich eine mehr oder weniger seriösen Festanstellung beim Sigi im Imbiss, eben fürs Geschäft mit Bier, Pommes und Bratwurst.

Klaus war der Meinung, der Sigi macht’s schon vierzig Jahre – eher doch fünfundvierzig Jahre – und nur er, der Klaus, hatte Sigi vorgeschlagen, mich im Imbiss mit aufzunehmen.

Theo warf ein, dass dies vor zwei Jahren passierte, und was Sigi anging, er legte noch einmal zehn Jahre drauf. Wo waren wir jetzt angelangt?

»Theo, red’ doch keinen Scheiß, ich weiß es doch, ich weiß es doch besser«, alles mit seinem berühmt-berüchtigten Fingerzeig vom Klaus in Richtung Theo. Der Klaus war schon sehr aggro an diesem Abend. Nüchtern konnte er handzahm sein, betrunken dagegen auf Angriff gepolt.

»Mensch Klaus, wenn Theo das anders im Gedächtnis hat, bitte schön, sei es drum, lass ihn doch sagen, was er denkt, kritikfähig bist du nun überhaupt nicht.« So versuchte Sigi auf Klaus positiv einzuwirken.

Nur, bei Klaus wirkte nichts mehr positiv ein. Jetzt biss er in seine leere Bierdose. Vielleicht war dieses In-Bierdosen-Beißen eine Verhaltensweise, die Klaus zur Aggressionsunterdrückung in seiner Therapiegruppe gelernt hatte. Besser sich in die eigene Bierdose verbeißen, als zuzuschlagen, funktionierte doch ganz gut.

»Wer will ’ne Wurst?«, fragte ich in die Runde, auch wenn die Erfahrung zeigte, dass eine Bratwurst selten in der Lage war, Klaus’ Gemütszustand herunterzubringen. Trotzdem hielt ich ihm oft genug eine schöne Braune unter die Nase, besser war es. Wer sich in Bierdosen und Bratwürsten verbeißt, ist ausreichend abgelenkt und beschäftigt.

»Hau ab mit deiner beschissenen Bratwurst, für das Geld krieg’ ich zwei Dosen Bier. Was soll das denn für ein Angebot sein? Und nur so ganz nebenbei, Bier beruhigt, nicht deine scheiß verkohlte Wurst.« Normalzustand bei Klaus.

Das mit der »scheiß verkohlten Bratwurst« wollte Sigi so nicht stehen lassen: »Pass auf, was du sagst, pass auf, du … Klaus, du!«

Theo wollte eine schwarze Wurst, die schwarzen mussten immer zuerst weg, die frisch gebratenen gab es bei uns selten für unsere Stammkunden. Erst musste das alte Zeug weg, und dafür musste unsere harte Stammkundschaft herhalten. Alle hatten sich längst daran gewöhnt, auch Klaus, der zwar hin und wieder aufmuckte und sowieso nur selten eine nahm. Das Geld war knapp, und besser, knappes Geld für Bier als für Essen auszugeben.

Theo hatte mehr auf Tasche und Roswitha konnte nicht gleichzeitig Sauerstoff inhalieren und antworten. Sie schüttelte nur kurz, aber heftig, ihren Kopf. Roswitha hatte ein echtes Problem. Sie hatte das, was man COPD nennt. Ein paar Mal hatte Roswitha uns erklärt, was COPD heißt, doch das konnte sich nun wirklich niemand merken, also nannten wir es COP-D, wie der amerikanische COP mit einem D nach einer kleinen Pause zwischen COP und dem D. Das kannte zwar anfangs ihr Lungenarzt wiederum nicht, aber ging mit der Zeit auch. Sie trug ein Sauerstoffgerät auf dem Rücken und hatte Schläuche in der Nase, in beiden Nasenflügeln. Das sah nicht gut aus, sah nach schwerstem Problem aus. Für Klaus war es eine Art Lungenmaschine. Für Klaus war auch der dritte Weltkrieg schon ausgemachte Sache, und er rechnete tagtäglich mit dessen Ausbruch. Nur deshalb trank er, faselte er oft vor sich hin.

Irgendwer von uns fragte Roswitha bei jedem ihrer Imbissbesuche, wie lange sie noch hätte, und ihre krächzenden Antworten spielten uns nichts vor. Mit einer gewissen Logik nahm ihre Restlaufzeit von Woche zu Woche ab. Wir zählten und hofften, dass wir alle entweder falsch rechneten oder der Arzt mit seiner Prognose vollkommen falsch lag. An diesem Abend schätzten wir ihre verbleibende Zeit auf zwei, maximal drei Monate. Der Lungenarzt war anderer Meinung. Der sagte, es wären nur noch ein bis zwei Wochen, Roswithas letzte Züge sozusagen.

»Wer ist denn jetzt der Arzt, wir oder der?«, schrie Sigi uns entnervt an. Sigi hatte recht, der wird schon wissen, was er sagt. Wir machten in Bratwürsten, er in Lungen, basta.

Egal, wie die Einschätzung auch war und egal von wem, jedes Mal, wenn wir auf COP-D zu sprechen kamen, schauten wir uns verstohlen und unsicher in der Gegend herum, kaum in der Lage, in irgendeiner Form halbwegs erwachsen mit dem, was der Arzt ihr sagte, umgehen zu können. Verlegen wie kleine Kinder starrten wir in unsere Bierdosen, bis einer, meistens war es Klaus, lauthals verkündete, die letzten Tage oder Wochen gemeinsam trinkend am Imbiss zu verbringen.

»Auf uns kannst du dich verlassen, Roswitha!«, schrie er sie fast an, und drückte Roswitha dabei zusammen wie eine leere Bierdose. Zuerst Roswitha, dann seine Büchse Bier. Roswitha reduzierte ihre Kommunikation auf ein Minimum. Entweder beantwortete sie unsere Fragen mit einem Kopfschütteln oder mit einem zustimmenden Nicken. Ansonsten inhalierte sie ihren Sauerstoff, und wenn sie dies nicht tat, rauchte sie. Nur einmal noch bäumte sie sich auf und röchelte uns resigniert zu: »Jetzt ist es doch sowieso egal, aufhören bringt nix mehr, ich mach’ so weiter, so fühle ich mich wohl, werde doch bald krepieren, machen wir uns doch nichts vor.« Sie wusste längst, wann es keinen Sinn mehr machte, einen Kampf zu führen, der bereits verloren war.

Anfangs wollte ich sie noch dazu bringen, Aufgeben durch Kämpfen zu ersetzen, der sprichwörtliche Kampf bis zum letzten Atemzug, doch sie raunzte mich nur mit einem »Leck mich, Ronny, gib mir ’ne Dose rüber!« an.

Wo waren wir stehen geblieben?

Sigi würgte jedwedes weiteres Rätselraten, wer was wann, im schlimmsten Fall sogar warum überhaupt jemand irgendwas für den Imbiss entschieden hatte, ab und verkündete in hochoffiziellem Ton: Dreiundvierzig Jahre wären es nun mit ihm als Imbissbetreiber, davon zwanzig Jahre an diesem Platz. »Und was Ronny angeht, bitte schön Klaus, war halt deine Idee ihn einzustellen, des Friedens wegen, und jetzt ist er zwei Jahre im Imbisswagen, er wendet die Würste, macht die Fritten, verkauft das Bier. Nicht der Herrgott hat ihn entsandt, sondern eben du, Klaus, hast ihn geschickt, zufrieden?«

»Hab’ ich es nicht gesagt, habe ich es nicht gesagt – wer war es, na, wer war es, also sag’ ich doch«, so in etwa ereiferte sich Klaus.

Es kam dann doch schneller, als jeder von uns denken konnte. Nur vier Tage später standen nur noch Klaus und Theo allabendlich am Imbiss. Roswitha war nicht mehr unter uns. An ihren letzten Abenden raubte ihr schon allein das Stehen vor dem Imbisswagen den letzten Atem. Meist hockte sie auf dem Bürgersteig direkt vor unserem Wagen, sodass ich sie nicht mehr sah und nur noch ihre beschwerlichen Versuche zu inhalieren von ihr wahrnahm. Klaus und Theos Blicke waren oft nach unten gerichtet, dorthin, wo sie hockte, und ich blickte in stumme, versteinerte alte Männergesichter.

In den letzten Tagen vor ihrem Tod wechselten Sigi und ich uns stündlich ab, den Wagen zu verlassen, um nach Roswitha zu schauen. Auf Theo konnte man sich noch einigermaßen verlassen, bei Klaus waren wir uns da nicht so sicher. Alarm melden, was sagen, wenn es so weit ist, was sagen, wenn Hilfe ranmusste.

Immer seltener sahen wir Roswitha den Kopf gen Himmel gereckt in biertrinkender Haltung. Die meiste Zeit saß sie zusammengekauert auf dem Bürgersteig und hielt sich krampfhaft an einer Bierdose fest, so als würde die Dose ihr ein letztes Fünkchen Halt geben. Bezahlen durfte sie später oder irgendwann. Doch es gab kein später und schon gar kein irgendwann. Roswitha, bekannt für größte Schlucke – in drei, höchstens vier Zügen waren die Dosen trockengelegt – nippte nur noch ab und zu schwächlich an der Dose, oft schlief sie währenddessen ein, bis einer von uns sie mit leichtem oder, wenn nötig, mit heftigerem Anstoßen zurückholte. Sigi beauftragte nachdrücklich und immer wieder auch Klaus und Theo, Roswitha stets genau im Blick zu behalten. Bei den geringsten Auffälligkeiten sollten beide oder einer von beiden Alarm schlagen. Da es schon seit geraumer Zeit geringste Auffälligkeiten bei ihr gab, war es für Klaus und Theo gar nicht so einfach, im richtigen Moment Alarm zu schlagen.

»Lieber hin und wieder einen Fehlalarm als zu spät zu sein«, ermahnte Sigi seine Trinker mit erhobener Hand.

»Jetzt kannst du auch mal Verantwortung übernehmen, Klaus. Roswitha hockt neben dir, pass auf sie auf«, legte Theo in Richtung seines Kumpanen nach.

Sigi und ich bezweifelten Klaus’ Fähigkeit und Willen, eine derartige Verantwortung ständig übernehmen zu können. Die einzige Verantwortung, die er kannte und wahrnahm, war seine Stütze zu versaufen.

»Ronny, mach Kontrollgänge, ist besser so. Ich will nicht, dass Roswitha mir am Imbiss wegstirbt, guck gleich mal nach ihr.« Mit einer leichten Kopfbewegung in Richtung Imbisstür machte mir Sigi unmissverständlich klar, wer hier zur Überprüfung ihrer Lebensgeister infrage kam.

»Guck sie dir genau an, wenn nötig, mach Erste-Hilfe oder Letzte-Hilfe, sag mir Bescheid, ich ruf den Rettungswagen, wenn’s so weit ist«, rief er mir hinterher.

An diesem Abend machte ich gegen halb elf meine letzte Runde zu Roswitha, die zwischenzeitlich zur Seite weggekippt war und mit dem Oberkörper auf dem Bordstein lag. Da lag sie nun vor dem Imbiss, mit zerzaustem Haar und dem Sauerstoffgerät auf ihren Rücken geschnallt, so als wäre sie eine Rucksacktouristin, die am Ende ihrer Kräfte nur ein Nickerchen machte.

Klaus und Theo waren im verbalen Clinch in Sachen Bundesliga, Hartz IV, Bierpreise und was vom Leben noch so blieb. Und irgendeiner war sowieso immer schuld an ihrer Misere. Ihre eigentliche Misere war, dass sie nicht mehr mitbekamen, was am Imbiss passierte. Ich zog Roswitha von den Pflastersteinen weg zu der hinterm Imbiss beginnenden Wiese, setzte mich zu ihr, legte ihren Kopf auf meine Oberschenkel, tastete nach Herzschlag und Puls. Sie lebte, und ich sprach erst beruhigend, dann aufmunternd zu ihr, in der Hoffnung, sie könne mich hören. Ihre linke Hand setzte sich langsam in Bewegung und fand Zugang zu ihrer Parkatasche. Sie kramte einen Moment und zog einen Zettel heraus, den sie, ohne mich anzuschauen, zitterig in die Luft hielt. Ich ergriff ihn und las, was dort krickelig von ihr geschrieben stand: Lasst mich am Imbiss sterben, hier gehöre ich hin, bringt mich nicht weg, kann nicht mehr, Roswitha.

Ich legte Ihren Kopf ins Gras und ging zu Sigi in den Wagen.

»Sigi, das hat sie geschrieben, lies! Ruf den verdammten Rettungswagen an!«

»Ronny, kannst du nicht lesen? Sie will hier und nicht im Krankenhaus oder sonst wo sterben. Mensch, das ist ihr letzter Wille!«

»Mensch Sigi, vielleicht kann man Roswitha noch retten! Mensch Sigi, ruf an! Du hast selbst gesagt: ›Der Rettungswagen muss her!‹«

Und Sigi rief an.

Fünfzehn Minuten später konnten die Rettungssanitäter nur noch ihren Tod feststellen. Sie hatte es geschafft: Sie wollte am Imbiss sterben, und genau so tat sie es auch. Sigi, Klaus, Theo und ich bildeten einen Kreis um die von uns gegangene Roswitha, und wir schwiegen mit gefalteten Händen. Dann schwiegen wir und weinten, dann schwiegen wir, weinten und umarmten uns und dann klopften wir uns gegenseitig auf die Schultern.

 

Der Imbiss lag an einer Stelle, die von Sigi als optimal, von mir jedoch allerhöchstens als suboptimal beurteilt wurde. Mittendrin, irgendwo im Nirgendwo. Endhaltestelle für Bus und Bahn. Durch eine urinverseuchte Unterführung hindurch, dann hundert Meter weiter an einem halbhohen Unkrautfeld vorbei. Ödland, durchzogen von Schuttbergen, welches sich kilometerweit bis zur Betonwüste hinzog, dort, wo auch Klaus und Theo ihr überraschungsarmes Dasein fristeten.

Hundert Meter hinter der Unterführung stand Sigis Imbissbude. Allein und verlassen auf weiter Flur. Keine Konkurrenz weit und breit, das war ein wesentlicher Vorteil, den Sigi niemals außer Acht ließ, sobald wir auf sein Geschäft zu sprechen kamen.

»Konkurrenz belebt das Geschäft? Nein, Ronny, Konkurrenz ist der größte Scheißdreck. Schau doch, wir sind der Platzhirsch hier, niemand außer uns macht hier Geschäft!« So in der Art plusterte sich Sigi nur allzu gern auf. Er hatte nicht ganz unrecht: Wir waren eine geradezu verlässliche Instanz von schnellen Bieren, Würsten und Pommes für all diejenigen, die morgens zur Linie 304 und zum Regionalzug hasteten und nachmittags mit deutlich besserer Laune wieder in ihr Viertel der Zehnstöckigen zurücktrotteten. Alles bei uns war reines Stoßgeschäft. Die 305 aus der Stadt landete um sechzehn Uhr fünfzehn. Auf einer kleinen Anhöhe hinter dem Imbiss stand ich nur zu oft, sah die 305 auf die Endhalte-Wendestelle zufahren und brüllte das abgesprochene Kennwort in Richtung Sigi: »Kommando! Kommando!« Einmal Kommando würde auch reichen, sagte mir einmal der Sigi, doch wie schnell wird ein einmaliges Kommando überhört oder von mir verschluckt. »Gut so Ronny, lass uns auf Nummer sicher gehen, mach’s halt doppelt.«

Die 305 spuckte so dreißig Leute aus, und das war unser Geschäft – nur darum ging’s. Danach kam genau diese 305 eine Stunde später ein letztes Mal zur Endhalte und ließ die Nachhut aus dem Businneren nach draußen purzeln – mal ein Dutzend Überstundler, mal eine Handvoll derer, die schon in der Stadt ein Schnelles in sich hineingedrückt hatten, weil sie es einfach nicht abwarten konnten. Wir verstanden dies nur zu gut. Nach einer Stunde abgestandener, muffiger Busfahrt gab es bei uns das nächste hinterher.

Der Regionalzug spuckte längst keine Insassen mehr aus. Alle drei Stunden raus in die Provinz war das Äußerste, was die Bahn neuerdings anbot. Bis zum Frühjahr waren es noch sechs Fahrten am Tag, dann kamen die Proteste, eine Petition, ein großer Artikel in der Zeitung, Verhandlungen, kein Zugeständnis. Die Leute von der Bahn sagten, nicht wirtschaftlich, macht doch, was ihr wollt, bleibt uns weg. Jetzt wollten sie die Linie sogar ganz dicht machen. Sollen die doch machen, wer hat schon Lust, sein halbes Leben auf einem Bahnsteig zu verbringen, wartend und dösend, dösend und wartend.

»Kommando, Kommando!«, geschrien mit ausgestrecktem Arm, dorthin, wo die Bustür sich jeden Moment öffnen würde. Ein Mann hoch im Ausguck auf einem Piratenschiff: Beute Kapitän, Beute in Sicht!

Jeder Handgriff saß. Ich sprang vom Hügel, riss die Imbisstür auf, was das Signal für Sigi war, die Würste zu drehen – eine zeitliche Perfektion bis in die allerletzte Zehntelsekunde. Sigi machte Bratwurst und Knacker; er war ein Meister seines Fachs, während ich mich in den zwei Jahren bei ihm zu einem Frittenguru entwickelt hatte.

»Ronny, du musst sie spüren, du musst die Fritten spüren, werde eins mit der Fritte, verschmelze mit ihr, Herrgott!«

Ich verschmolz, und wie ich verschmolz. Ein Vorgang, der anfangs allerdings mit einigen Verbrennungen einherging.

»Ronny, nie weniger als vier Minuten und nie länger als fünf Minuten. Du musst es im Urin haben, wann der richtige Moment im Leben einer Fritte ist, sie aus dem Bad rauszunehmen, und immer auf hundertsechzig bis maximal hundertfünfundsiebzig Grad, immer so!«, brüllte er mir in den ersten Wochen aus nächster Nähe direkt ins Gehirn. Egal ob hundertsechzig oder hundertfünfundsiebzig Grad, es reichte dafür, dass ich aufjaulte wie ein Hund, dem man auf den Schwanz tritt. Für Sigi mochte die Temperatur des Fetts von überlebenswichtiger Bedeutung gewesen sein. Mir war es anfangs noch Schnuppe, und ich ging davon aus, eine Fritte dachte ähnlich. Doch diese Zeiten waren längst vorbei, die Verschmelzung mit der Fritte war erfolgreich abgeschlossen. Wie ein Jongleur im Zirkus, der unter tosendem Applaus ein halbes Dutzend Keulen, Bälle oder Teller in der Luft halten konnte, ließ ich meine Fritten bis hoch zur Decke tanzen.

»Schau nur Sigi, schau doch nur Sigi!«, brüllte ich, warf die goldenen Stäbchen gekonnt von der Fritteuse in die Schale, salzte aus einer Entfernung von einem halben Meter zielgenau in die Schüssel hinein und schleuderte alles unbändig, fast bis zur Besinnungslosigkeit.

Die Linie 305 wurde in einer halben Stunde abgefertigt. So schnell wie dieser Stoßtrupp kam, so schnell war er auch wieder verschwunden. Stumm und mit etwas Wehmut schauten wir den Letzten hinterher, die sich in Richtung Betonwüste aufmachten. Danach wurde es still am Imbiss. Warten auf die Nachhut, Zigaretten rauchen und Bier trinken. Sigi zählte Geld. Sigi zählte immer Geld – in letzter Zeit mehrmals am Tag, auch wenn es tagsüber oft nichts oder wenig zu zählen gab, und auch wenn er oft nur das Wechselgeld immer wieder abzählte. Wir öffneten morgens um elf und schlossen abends mal um zehn, mal um elf den Imbiss zu. Jeden gottverdammten Tag. Viele Jahre war bei Sigi sonntags der Imbiss geschlossen gewesen, doch Sigi änderte das mit meiner Ankunft. Sigis Leben war eine einzige Imbissbude.

»Ronny, was soll ich sonntags denn schon machen? Meinen alten Polo waschen? Eine Partie Minigolf mit meinem erwachsenen Sohn – oder an einem anderen Imbiss was trinken? Was soll das für ein Leben sein? Was sollen das für Sonntage sein? Nicht mit mir. Ich hocke lieber hier drin, mit dir, Ronny. Wir können braten, frittieren, trinken, über das Leben sinnieren, den Imbiss putzen, … die Zukunft, wir müssen auch über die Zukunft reden.«

Sigi war zweiundsiebzig, knappe zwei Meter groß und hatte die Figur eines ehemaligen Schwergewichtsboxers. Sigi war nur schwer aus der Bahn zu kippen. Seitdem er Korn und Kräuterschnäpse mit ins Programm genommen hatte, trank er häufig die hochprozentigen Sachen zum Bier, jedoch vollkommen ohne Wirkung in seinem Kopf, so schien es mir zumindest. Dazu jeden Tag eine Schachtel von den Filterlosen – alles kein Problem, nichts konnte ihm etwas anhaben, nie verkatert, immer seine Schnitten dabei, Leberwurst und Blutwurst am liebsten. Was wir verkauften, aß er nicht, schon lange nicht mehr.

»Du kannst den Mist gerne essen, Ronny, aber komme nicht auf die Idee, mir deine Fritten oder eine Wurst anzubieten, … macht nur Krebs«, sagte er und zog kräftig an seiner Filterlosen, um daraufhin einen Kurzen hinunterzukippen.

Der Sommer kam, und dieser Sommer meinte es nur zu gut mit uns, rein geschäftlich betrachtet. Drei Monate brütende Hitze, eine Hitze, die dem Sigi jedoch arg zusetzte. Er schwitzte schon bei angenehmer Wärme, tränkte seine Waschlappen in kaltem Wasser und wusch sich regelmäßig in halbstündigem Takt den Kopf. Sein optimaler Aktionsradius lag irgendwo zwischen dem Gefrierpunkt und kaum mehr als zwanzig Grad. Bei höheren Temperaturen verbrachte der nasse Lappen seine meiste Zeit auf Sigis Stirn.

Dieser Sommer allerdings, der kaum einen Tag unter dreißig Grad anbot, ließ ihn fast vollständig den ganzen Tag auf seinem klapprigen Campingstuhl im Imbiss hocken. Sitzend, triefend, stöhnend, Kopf wässernd. Ob im Radio, im TV oder in den Tageszeitungen, überall wurde die Bevölkerung aufgefordert, ausreichend zu trinken. Wer überleben wollte, musste dem Körper ausreichend Flüssigkeit zuführen, egal welche. Sigi nahm es mit seiner Fürsorgepflicht für unsere Kunden nur allzu ernst und orderte von seinem Getränkelieferanten aus meiner Sicht übertrieben viel Mineralwasser. Mir soll keiner an meinem Imbiss umkippen, sagte er, sofern er tatsächlich mal sprach. Erst Wasser, dann Bier war seine Devise für unsere Kundschaft. Bei uns selbst waren wir nicht ganz so streng, erst Bier, dann Korn, bis Sigi wegdöste.

Doch die Leute am Imbiss waren keine Idioten, und sie scherten sich nicht sonderlich um das, was ihnen im Radio gesagt wurde. Sie tranken, was sie immer tranken, nur noch mehr und noch schneller. Puterrote Köpfe drehten sich von der Sonne weg, und Biere ergossen sich wie unerschöpfliche Bäche in ihre Kehlen. So wurden auch Herzschwächen, Bluthochdrücke und Magengeschwüre unter Wettkampfbedingungen nur allzu arg beansprucht. Nur die allerwenigsten fielen tatsächlich mal um, einige wankten ins anliegende Feld, andere krochen auf allen Vieren wieder zurück. Ein Sommer kann so schön sein. So ging es bis zu genau dem Zeitpunkt, als Sigis Kräfte merklich zu schwinden begannen. Er gab mir seinen Wohnungsschlüssel, und ich holte einen Standventilator und sein Kofferradio. Der Ventilator wirkte wie ein afrikanischer Wind, der das Feuer erst so richtig entfachte. Aus dem Kofferradio hörten wir eine Eilmeldung, dass ausreichendes Trinken das Wichtigste für die Bevölkerung wäre, um ohne weitere Schäden durch die Hitze kommen zu können. Und Ruhe! Die Bevölkerung möge jedoch nicht nur Ruhe bewahren, sondern sollte sich unbedingt nur wenig außerhalb der eigenen vier Wände bewegen, keine körperliche Betätigung im Freien. Die Gesundheitsämter warnten insbesondere vor übermäßigem Alkoholkonsum bei direkter Sonneneinstrahlung. Es war an der Zeit, den Sender zu wechseln.

Hätten wir einen Eiswagen gehabt, wären unsere Köpfe stundenlang in den Eistruhen verschwunden. Wir hätten hundertfach Wassereis an Kinder verkaufen können, doch für uns gesellte sich zur Hitze von oben auch noch das heiße Frittenfett und zusätzlich das, was der Grill an Hitze abfeuerte. Alle gaben ihr Bestes. Die Mineralwasserbestände kippte ich über Sigi aus, alles auf seinen brodelnden Kopf. Ich hatte die Faxen dicke, irgendwie musste ich ihm wieder mehr Leben einhauchen. Ich besorgte mir aus einem Ein-Euro-Laden einen Sonnenschirm für sage und schreibe fünf Euro, zerrte Sigi aus dem Imbiss, setzte ihn in seinen Campingstuhl, gut geschützt unter seinem neuen Sonnenschirm. Gemäß eines ausgearbeiteten Bewässerungsplans goss ich unsere Wasserbestände auf seinen Schädel. Nach fünf Tagen waren diese Duschen abgeschlossen. Wasser musste ich von der Getränkeliste streichen. Sigi schien etwas erholt und lechzte nach einem Bier und einem Korn.

»Wie lang habe ich geschlafen, Ronny?«, fragte er mich.

»Ich weiß es nicht … ich weiß nur, fünf Tage lang habe ich dich hier auf dem Stuhl getränkt und mit Wasser überschüttet. Ich ließ dich ab und zu in Brote beißen, stützte dich für deine Geschäfte im Gebüsch und jetzt bist du ja anscheinend wieder da.«

»Gib mir einen Stift und Papier, Ronny.«

»Willst du mit dem Schreiben anfangen?«

»Rede keinen Quatsch! Los, hol mir was zu schreiben.«

Und so holte ich aus dem Imbiss einen Kuli, ein paar Blatt DIN-A-Papier, unser Klemmbrett und legte ihm alles in den Schoß.

Das Erste, was er schrieb, war das Wort »Testament«, dann ließ ich ihn allein zurück und begann Fritten zu machen. Er saß außerhalb meines Sichtfelds, und alle paar Minuten rief ich ihm »Alles gut, Sigi?« zu. Anfangs hörte ich noch ein leises Brummen, dann gab es keinerlei vernehmbare Reaktionen mehr.

Sein Kopf war zur Seite gekippt, die Arme hingen bewegungslos am Rumpf herunter. Das Klemmbrett hatte er fallen lassen und es lag vor ihm auf dem Gehweg. Später erschienen Klaus und Theo, weiteres Imbissvolk kam hinzu, und Passanten standen in Grüppchen um uns, sahen verstört bei den Wiederbelebungsversuchen des Rettungssanitäters zu und beim Verladen und Abtransport vom Sigi durch den Bestatter. Sein Testament bestand nur aus einem Wort: »Testament«. Mehr hatte Sigi nicht geschafft.

In nur zwei Monaten hatte es Roswitha und den Sigi dahingerafft. Auf braunem Pappkarton schrieb ich in großen Lettern: Vorübergehend geschlossen!

Es war Zeit für mich zu gehen, nur wohin?

Luke