Pinguinwetter - Britta Sabbag - E-Book

Pinguinwetter E-Book

Britta Sabbag

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Beschreibung

Charlotte wird auf dem Höhepunkt ihrer Karriere gefeuert. Außerdem erhält sie von ihrer Mutter äußerst fragwürdige SMS aus der U-Haft in Grönland. Dann entscheidet sich ihr Immer-mal-wieder-Mann Marc auch noch, endlich in den Hafen der Ehe einzuschiffen - allerdings nicht mit ihr. Und nun? Rein in die rosa Babyelefantenhose und rauf aufs Sofa! Um Charlotte auf andere Gedanken zu bringen, drückt Freundin Trine ihr Sohnemann Finn aufs Auge. Als es bei einem Zoobesuch zu einem Beinahe-Unfall kommt, steht Charlotte der alleinerziehende Eric als Retter in der Not zur Seite. Weil der jedoch glaubt, Charlotte sei Finns Mutter, geht der Schlamassel erst richtig los ...

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Seitenzahl: 278

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Inhalt

CoverInhaltTitelImpressumZitatVorspannWidmung1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. KapitelEpilogCharlottexikonDanke an …Nachspann

Britta Sabbag

Pinguinwetter

Roman

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München.

Copyright © 2012 by Britta Sabbag

Copyright Deutsche Originalausgabe © 2014/2015 by Bastei Lübbe AG, Köln

Lektorat: Daniela Jarzynka

Titelillustration: © corbis/DLILLC

Umschlaggestaltung: Christina Seitz, Berkheim

Datenkonvertierung E-Book:

hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-8387-1539-1

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Es ist nicht wichtig, was uns passiert,

sondern welche Entscheidungen wir treffen.

Alle Namen und Figuren sind erstunken und erlogen,

bis auf eine – und da kommt garantiert niemand drauf.

Für Matti.

Du wirst auch mal so.

Und für mich.

1. Kapitel

Viele Grüße aus Scoresbysund. Es ist schön hier. Ich kehre nicht zurück. Renate

Ich tippte auf SMS löschen und legte das Handy zurück auf den Nachttisch neben meinem Bett. Wie viel Uhr ist es eigentlich? Ich kniff die Augen zusammen. Das noch leuchtende Display des Handys zeigte 5:32 Uhr an. Eine halbe Stunde konnte ich also noch liegen bleiben, bis der Wecker klingelte. Ich drehte mich um und zog mir die warme Bettdecke über den Kopf.

Also Scoresbysund. Diesmal. Ich wunderte mich kein bisschen über die Nachricht meiner Mutter. Lag Scoresbysund nicht in Grönland? Oder war es Norwegen? Ich nahm mir vor, es später im Büro zu googeln, während ich meinen Kopf noch einmal in Upptäcka, meinem rosafarbenen Nackenkissen, vergrub. Derartige Nachrichten – besonders in Form von unerwarteten SMS mitten in der Nacht – schockten mich spätestens seit dem Vorfall vor knapp zwei Jahren nicht mehr.

Damals verkündete meine Mutter, dass sie in Irland bleiben und eine Pension für die wandernden Schafhirten aufmachen wolle. Sie hatte auf einem ihrer Selbstfindungstrips Aonghus kennengelernt, einen Schafhirten, der ihr von den beschwerlichen Wanderwegen und den wenigen Übernachtungsmöglichkeiten auf den langen Märschen mit den Schafen berichtet hatte. Aonghus bedeutete irischer Gott der Liebe und der Jugend. Anscheinend aber hielt die irisch-irdische Liebe nur wenige Wochen, denn Aonghus schien auch untreuer Penner, der gleichzeitig vier Touristinnen pimpert zu bedeuten. Meine Mutter war nach diesem Erlebnis – zumindest was die Iren betraf – geläutert.

Vielleicht waren die Grönländer oder Norweger in Liebesangelegenheiten ja verlässlicher. Spätestens in ein paar Wochen würde ich es wissen. So etwas wie Intimsphäre existierte in Renates Universum nämlich nicht.

Aber bis dahin wird sich kein Kopf gemacht, Charlotte Sander, dachte ich noch, bevor ich wieder eindöste.

*

»Guten Morgen!« Mit einem kraftvollen Schwung warf ich meine Handtasche auf den großen Schreibtisch, der von Papierstapeln nur so übersät war.

»Hmm«, murmelte etwas vom Schreibtisch gegenüber. Frau Zänker war anscheinend schwer beschäftigt. Das war sie immer. Sie erschien jeden Morgen demonstrativ als Erste und ging abends als Letzte. Keiner wusste so genau, was sie zwischen ihren zahllosen Ordnern und Schütten den ganzen Tag eigentlich so machte, aber es fragte auch niemand nach. Schließlich arbeitete sie seit zwölf Jahren für den Verlag und war der festen Überzeugung, ihn damals eigenhändig aus dem Boden gestampft zu haben. Ein »Guten Morgen« konnte sie sich nur an besonders guten Tagen abringen. Heute war wohl keiner davon.

Auf einem der turmhohen Stapel auf meinem Schreibtisch lag ein Zettel: Nix wische, erst räume, stand da in handgekritzelter Schrift, die ich gerade noch entziffern konnte.

»Oh, wie ich sehe, war Frau Schneller mal wieder da. Sie hat sich offensichtlich nicht die Mühe gemacht, mal eben den Schreibtisch abzustauben.« Ich ging mit einem Finger zwischen die Papierstapel und zog ihn einige Zentimeter auf der Tischoberfläche entlang. Ein dicker Staubfilm sammelte sich auf der Fingerkuppe, den ich Frau Zänker demonstrativ hinhielt.

»Kein Wunder«, antwortete sie, »bei dem Durcheinander, das auf Ihrem Schreibtisch herrscht, würde ich das Putzen auch verweigern.«

Statt mich – wie sonst – über Frau Zänker zu ärgern, ging ich gut gelaunt in die Büroküche. Ein starker Kaffee würde helfen.

Außerdem war heute ein besonderer Tag. Denn es sollte die neue Cheflektorin für das Unterhaltungssegment Freche Frauen bekannt gegeben werden. Ich musste den Job einfach kriegen! Drei lange Jahre hatte ich auf diesen Tag hingearbeitet und zahllose Überstunden geschoben – jetzt würde sich die harte Arbeit bestimmt auszahlen!

Es war kurz nach neun. In der Kaffeeküche herrschte um diese Zeit immer Hochbetrieb.

»Morgen Charlotte!«, grüßte mich der Sachbuch-Kollege Rainer.

»Morgen! Und was für einer!« Ich grinste ihn breit an und fragte mich, ob mir das Wort Cheflektorin möglicherweise schon in großen Lettern auf der Stirn geschrieben stand.

»Na, da ist aber eine ganz schön gut drauf. Gibt’s was zu feiern?«

»Noch nicht, Rainer. Aber später vielleicht. So in ein, zwei Stunden.« Ich zwinkerte ihm geheimnisvoll zu.

»Na, dann bin ich ja mal gespannt!«, antwortete er und füllte seinen übergroßen Kaffeebecher, auf dem Ich würde mich ja gerne geistig mit dir duellieren, aber ich sehe, du bist unbewaffnet stand.

»Was gibt’s zu feiern?« Neugierig hüpfte Nicki um mich herum. Sie war im Verlag so was wie das Mädchen für alles und gleichzeitig die größte Klatschtante weit und breit. Sie kam wortetechnisch sicher auf fünftausend Anschläge pro Minute und konnte kein Geheimnis für sich behalten.

»Ach …« Ich winkte ausdruckslos ab. Ihr würde ich ganz sicher nichts verraten. Heute Nachmittag würden es sowieso alle wissen.

Zurück an meinem Schreibtisch stellte ich meine Tasse ab und fuhr den PC hoch. Mal sehen, was heute so alles ansteht.

Frau Zänker hatte unterdessen mehrere gelbe Post-its an meinen Bildschirm geheftet, auf denen Dinge standen wie Hr. W. hat angerufen oder Frau Keller braucht Rückruf. Ich unterdrückte ein wütendes Schnauben. Ich hatte sie sicher schon tausendmal gebeten, Namen vollständig aufzuschreiben und Rückrufnummern zu notieren. Mittlerweile war ich fest davon überzeugt, dass die olle Kräuterhexe das aus reiner Schikane verweigerte. Jedes Mal, wenn ich sie darauf ansprach, tat sie so, als höre sie es zum allerersten Mal.

»Schädler war hier«, brummte sie.

»Und, was wollte er?«, fragte ich und konnte dabei ein Grinsen nicht vermeiden. Schädler war der stellvertretende Personalleiter der Firma. Wenn es um Beförderungen ging, war er der richtige Mann.

»Sie sollen in sein Büro kommen«, grummelte Frau Zänker weiter.

Dass man ihr auch jede noch so klitzekleine Information aus der Nase ziehen muss!

»Wann denn?«, fragte ich geduldig nach.

»Er hat’s eingestellt.«

»Was?«

»Er hat den Ter-min in Out-look ein-ge-stellt.« Frau Zänker artikulierte jede Silbe einzeln, als ob ich zu blöd sei, sie sonst zu verstehen.

Drei Kreuze, wenn ich nach der Beförderung das Büro wechsle und sie endlich los bin.

»Aha.«

Ich öffnete den Outlook-Kalender und siehe da – ein Termin poppte auf: Personalgespräch. 10 Uhr. Büro Schädler.

Vor lauter Freude klatschte ich unwillkürlich in die Hände. Ha! Habe ich es doch gewusst. Heute ist mein Tag! Und selbst die muffige Trockenpflaume Zänker kann daran nichts ändern!

*

Pünktlich um zehn Uhr klopfte ich an der Tür des Personalbüros.

»Herein!«

Schwungvoll öffnete ich die Tür. An dem kleinen Besprechungstisch des Büros waren bereits Schädler, seine Assistentin und Herr Dr. Wellenbrink – der Oberboss himself – versammelt.

Ganz schön viel Prominenz heute hier, dachte ich und lächelte in die Runde.

»Frau Sander, wie schön. Setzen Sie sich doch bitte!«

Ich schüttelte jedem die Hand, bevor ich mich auf dem einzigen noch leeren Stuhl niederließ.

»Kaffee?«, fragte Schädler.

»Nein, danke. Ich hatte gerade eben erst einen«, erwiderte ich hastig.

Ich war so aufgeregt wie zuletzt vor vielen Jahren, als ich am Weihnachtsabend nicht mehr abwarten konnte, bis die Bescherung endlich begann, und mir heimlich den Schlüssel für die Wohnzimmertür aus Renates Schrank geklaut hatte, um alle Geschenke schon vorher zu begutachten. Später hatte ich dann bitter bereut, dass ich bereits wusste, was ich geschenkt bekam, und die Überraschung dahin war.

Vor lauter Nervosität schob ich jetzt meine eiskalten Handflächen zwischen meine Knie. Es musste ja nicht jeder gleich merken, dass ich leicht zittrig war.

»Wasser?«, fragte Schädler weiter.

Ich schüttelte den Kopf.

Warum legt er nicht einfach los? Das ganze Drumherum kann er sich gerne sparen, ich weiß doch sowieso, warum wir jetzt hier sitzen.

»Gut«, resümierte Schädler und kraulte sein rotfleckiges Doppelkinn, »dann kommen wir mal zur Sache.«

Unwillkürlich fragte ich mich, ob Schädler als Kind wohl auch schon so einen großen Kopf gehabt hatte. Wie das wohl ausgesehen haben mag? Ich zwang mich, den Gedanken nicht zu vertiefen. Immerhin sollte man solche großen Momente genießen.

Cheflektorin … Eine Assistentin, eigene Entscheidungen treffen, endlich mehr deutsche Jungautoren fördern … Ein Traum!

»Frau Sander, Sie wissen ja sicherlich, wie sehr Sie hier im Hause geschätzt werden«, begann Schädler, während er sich jetzt in Sekundenabständen in sein fettiges Doppelkinn kniff, als müsse er sich immer wieder selber wecken.

»Ja, natürlich.« Ich nickte zustimmend.

»Und dass wir Ihre Arbeit und Ihren Einsatz im Sinne des Verlages auch besonders hochachten«, fuhr er fort.

»Immer im Sinne des Verlages«, wiederholte ich mit einem Lächeln und schämte mich im gleichen Moment für so viel Schleimscheißerei.

»Na ja, und Sie wissen sicher auch, dass gerade in Zeiten wie diesen, gewisse … na ja, ich sage mal … Umstrukturierungen notwendig sind.«

»Aber natürlich, da bin ich ganz Ihrer Meinung.«

Jetzt ergriff Herr Dr. Wellenbrink das Wort: »Sehen Sie, Frau Sander, und deswegen können wir uns manchen Veränderungen eben auch nicht gänzlich entziehen.«

Natürlich können sie das nicht, wer will das denn auch? Bei der hervorragenden Arbeit, die ich seit Jahren im Sinne des Verlages abliefere!

Ich nickte schon wieder und kam mir langsam vor wie einer dieser Wackeldackel, die, außer zu nicken, wirklich gar nichts taten.

»Ich weiß, es wird Sie wahrscheinlich unvorbereitet treffen«, ergriff Schädler wieder das Wort, »aber wir wollten es Ihnen so schnell wie möglich mitteilen. Erst heute Morgen haben wir uns zu der endgültigen Entscheidung durchringen können.«

Durchringen? Na, das ist aber ein wenig negativ formuliert. Ich muss ja nicht direkt in den Himmel gelobt werden, aber so schlecht ist meine Arbeit sicher nicht, dass man sich dazu durchringen …

»Daher müssen wir Ihnen leider betriebsbedingt kündigen.«

Ich sah zwar, wie sich Schädlers Lippen synchron zu seinen Worten bewegten, aber sein lächelnder Gesichtsausdruck und das, was er soeben gesagt hatte, passten nicht zusammen.

»Waaas?«

Ich hatte das Gefühl, als schnürte mir eine eiskalte Hand die Kehle zu. Mein Körper saß regungslos und steif, bereits leicht eingesunken, auf dem weichen Nappalederstuhl. Ich konnte mich nur verhört haben!

»Wir müssen Sie leider gehen lassen, Frau Sander. Die Krise, Sie wissen ja … Dem Verlag ging es letztes Jahr sehr schlecht. Wir haben uns entschlossen, das Segment Freche Frauen komplett einzustellen. Sie sind ungebunden und jung … Sie finden sicher schnell etwas Neues.«

Das kann doch nur ein Scherz sein! Ist denn heute der erste April? Charlotte, denk nach!

Es war Mai. Ein Aprilscherz konnte es also nicht sein. Spätestens jetzt wünschte ich mir, dass sich vor mir ein Loch im Boden auftat. Ein ziemlich großes, mindestens in Größe L.

»Frau Sander? Haben Sie noch etwas zu sagen?«, holte der Schädler mich zurück in die Realität.

»Ähm … ja … also … Danke schön.«

Danke schön? Das ist alles, was mir in so einem Moment einfällt? Anstatt weltbewegende, historische Worte zu finden und mindestens einen Abgang wie Scarlett O’Hara hinzulegen? Die wäre jetzt nicht stolz gewesen. Das hätten ja sogar die Teletubbies besser hingekriegt! Und die habe ich bei diversen Babysitternachmittagen in meiner Vergangenheit derart zu hassen begonnen, dass ich sie eigenhändig erschlagen hätte, wenn ich nur gewusst hätte, wo sie wohnen. Niemals hätte ich gedacht, dass mir so was passieren könnte. Mir doch nicht, Charlotte Sander, studierte, berufserfahrene und weltgewandte Frau Anfang dreißig!

»Ja, na dann, alles Gute, Frau Sander. Ihr Zeugnis lassen wir Ihnen postalisch zukommen. Den Rest des Tages haben Sie selbstverständlich frei.«

*

So fühlte sich das also an. Ich hatte oft in Hollywood-Filmen gesehen, wie Leute, die gerade gefeuert worden waren, ihren Karton packten und mit der Pflanze unterm Arm aus dem Büro trotteten.

Mein Blick fiel auf die leicht vertrocknete Phalaenopsis auf der Fensterbank meines Büros, die ich an meinem ersten Arbeitstag vom Verlag bekommen hatte. Ich hatte mich gefreut, damals, und war zuversichtlich gewesen, dass ich diese Pflanze durchbekommen würde. Immerhin musste man Orchideen ja praktisch nie gießen.

Aber es sollte noch besser kommen als im Film.

»Ach ja, Frau Sander, die Phala…eh…nupsi … also die Pflanze … Na ja, sie war eher symbolisch als Willkommensgeschenk gemeint. Sie bleibt selbstverständlich dem Büro erhalten. Sie wissen ja, Ausstattung und so«, sagte Frau Zänker. Noch nicht mal ein Wimpernzucken war bei ihr zu erkennen.

Ausstattung und so. Nicht mal die mickrige Pflanze, oder besser gesagt, was davon übrig war, durfte ich mitnehmen. Also auch hier kein Hollywood-Abgang mehr. Noch nicht mal ein kleiner.

»Gut, dann …«, verabschiedete sich Frau Zänker und schüttelte meine mittlerweile eiskalte Hand.

»Ja, dann … Bis bald?!«

Zehn Minuten. Und schon war mein Leben anders.

2. Kapitel

Auf dem Heimweg fühlte ich mich wie ferngesteuert. Die Fußgängerzone Kölns war voller Menschen. Immer wieder rempelte mich jemand achtlos von der Seite an, und ich nahm Sprüche wie »Pass doch auf, blöde Kuh!« nur dumpf wahr, so, als steckten dicke Wattebäusche in meinen Ohren.

Am Kiosk an der Ecke, der direkt vor meiner schönen Stadtwohnung lag, kaufte ich mir noch die Gala. Bezeichnenderweise lautete der Titel Prominent und arbeitslos: VIPs, die von Arbeitslosengeld leben mussten.

Na fein, dachte ich, immerhin bin ich nicht die Einzige, selbst die VIPs dieser Welt ereilt dieses Schicksal.

Als ich die Treppe zu meiner Wohnung im zweiten Stock hochging, kam mir Mona, meine Nachbarin und gleichzeitig beste Freundin, entgegen.

»Charly! Was machst du denn um diese Zeit hier?«, begrüßte Mona mich. »Hast du heute frei? Toll!« Bevor ich antworten konnte, sprudelte es schon weiter aus Mona heraus: »Du siehst aber schlecht aus. Krank irgendwie! So blass! Hast du was?«

Ich lehnte mich, schnaufend vom Aufstieg, an das Treppengeländer. Mona hatte die Situation richtig erkannt. Ich fühlte mich tatsächlich krank und matt. Es war, als habe mein Körper nur darauf gewartet, in den Ruhemodus schalten zu können, und das nach dem Gespräch vorhin sofort getan.

»Ach, Mona, es ist nichts. Ich brauch wohl nur ein bisschen Ruhe.«

Ich zog mich die letzten Stufen zu meiner Wohnung hoch und kramte meinen Schlüssel aus der Tasche.

Mona wohnte Tür an Tür mit mir. Spätestens morgen würde sie feststellen, dass etwas nicht stimmte. Im Grunde hatte es also keinen Sinn, ihr etwas vorzumachen.

Das sah Mona wohl genauso. »Charlotte, kannst du mir mal bitte sagen, was los ist?«, fragte sie und sah mich eindringlich an.

»Ich bin im Arsch«, antwortete eine fremde Stimme aus meinem Mund, »und zwar richtig.«

*

Mona konnte es nicht glauben.

Sie hatte mich mit in ihre Wohnung gezerrt und war der Meinung, ich dürfe jetzt auf keinen Fall allein sein. Mit den Worten »Ich mach dir erst mal einen Tee« schob sie mich in das Wohnzimmer, das über und über mit riesigen Filzbergen übersät war, und verschwand in ihrer kleinen Küche.

Mona hatte sich vor einigen Monaten mit Filzarbeiten selbstständig gemacht und verkaufte diese seit Neuestem im Internet. Anscheinend erfolgreich, wie ich jetzt feststellen musste.

»Fenchel oder Kamille?«, rief sie mir aus der Küche zu.

»Ich bin nicht krank, Mona«, antwortete ich gereizt, »ich bin nur arbeitslos.«

»Ach was, das ist fast dasselbe«, gab Mona unbeeindruckt zurück. »Dann mach ich dir eben einen schönen Grünen!«

Ich sah mich um. Die Filzberge hatten sicher eine Höhe von über einem Meter und waren nicht nur im Wohnzimmer, sondern in der ganzen Wohnung verteilt. Blaue, grüne, rote und sämtliche weiteren Mitglieder der großen Farbpalette sammelten sich unsortiert auf dem Boden, sodass dieser kaum noch zu sehen war.

»Du hast ja mächtig Zeug hier«, kommentierte ich das Chaos und wollte mich gerade auf einen Sessel fallen lassen, auf dem nur ein einziges seltsames, ockerfarbenes Filzgebilde lag.

»Pass auf!« Mona zog mir das Filzteil gerade noch unter meinem Allerwertesten hervor. Eine Sekunde später, und ich hätte darauf gesessen. »Das ist mein neuester Renner!«, verkündete Mona stolz und stellte meinen Tee auf der Sessellehne ab. »Die Filzhülle für die Milchpumpe!«

Ich fragte erst gar nicht, wofür so etwas überhaupt gut war. Mona würde mich sowieso von ganz alleine und in aller Ausführlichkeit darüber informieren. Sie war immer ganz euphorisch, wenn es um ihre Passion ging.

»Mutterpass-Schutzhüllen und Milchpumpen-Umhänge. Davon kriegen die Leute nie genug. Wusstest du, dass Mütter so was noch vor der Wickelkommode anschaffen?«

Ich nahm einen Schluck von dem noch heißen Tee und verbrannte mir die Zunge. »Autsch! Nein, wusste ich nicht.«

»Eben! Ich habe gerade einen Großauftrag von einer Firma bekommen, die das mit den Schutzhüllen im ganz großen Stil aufziehen will …« Mona schlug sich die Hand auf den Mund. »Sorry. Ich fasele hier was von meinen Aufträgen, dabei bist du gerade eben gefeuert worden.«

Gefeuert. Es fühlte sich an wie angeschossen werden, wenn das Wort fiel.

»Schon gut«, beruhigte ich sie, »du kannst ja nichts dafür. Immerhin lenkst du mich ab …«

»Haste dir mal überlegt, was du jetzt machen willst?«

»Mona?«

»Ja?«

»Es ist vor einer Stunde passiert.«

»Zucker?«

»Gerne.«

Während Mona sich durch die Filzberge zurück in die Küche kämpfte, blätterte ich in der Klatschzeitung herum. Der größte Teil bestand aus wilden VIP-Gerüchten mit Einstufungen nach wahrscheinlichem Wahrheitsgehalt von eins bis neunundneunzig Prozent und Werbung.

Werbung für Tönungen, Lipgloss und … Urea-Creme. Woher und von wem genau stammen eigentlich die fünf Prozent Urea? Diese Frage konnte mir bis jetzt niemand beantworten, und ich nahm mir vor, endlich einen Brief an die Herstellerfirma zu schreiben. Schließlich hatte ich ja jetzt Zeit.

Aber Mona hatte schon recht mit der Frage, was ich jetzt machen wollte. Ich wusste es nicht. Immerhin war ich noch nie arbeitslos gewesen. Studium, Praktikum, erster Job – alles war bis jetzt reibungslos verlaufen. Musste man beim Arbeitsamt einen Termin machen? Hingehen? Anrufen? Oder zuerst Stellenbörsen durchforsten?

»Was meinst du, sandfarben oder beige?«, fragte Mona, die mittlerweile mit dem Zucker in der Hand aus der Küche zurückgekommen war. Sie hielt mir zwei identische Filzteile vor die Nase.

»Das ist doch dasselbe!«, kommentierte ich die seltsam anmutende Frage. Die beiden Filzteile sahen für mich wirklich exakt gleich aus.

»Das-sel-be?«, echauffierte sich Mona. »Es ist doch ein himmelweiter Unterschied, ob du deine Milchpumpe in ein warmes Sand hüllst oder in ein cooles Beige!«

»Oh.«

Ich betrachtete Mona, wie sie aufgeregt beide Teile immer wieder begutachtend ins Licht hielt. Sie selbst trug seit ihrer Selbstständigkeit immer eigenwillige Kombinationen in grellen Farben mit auffälligen Filzapplikationen. Mit ihrem frechen Kurzhaarschnitt und der knabenhaften Figur sah sie viel jünger aus, als sie war. Sie könnte glatt als fünfundzwanzig durchgehen.

»Ich bin ganz durch den Wind. Ich weiß gar nicht, wie ich in der kurzen Zeit die ganzen Bestellungen abarbeiten soll.«

Mona sah mich nachdenklich an, schmunzelte und zog daraufhin die linke Augenbraue hoch, wie immer, wenn sie eine ihrer verrückten Ideen hatte.

»Auf GAR KEINEN FALL!«, nahm ich ihr ihre Frage vorweg. »Bevor ich anfange zu filzen, singe ich lieber auf der Straße!«

»Das will ich sehen!«, sagte Mona lachend.

*

Zurück in meiner Wohnung überkam mich ein seltsames Gefühl von Leere. Sollte man nicht vielleicht weinen – oder zumindest traurig sein –, wenn man gekündigt wurde? Oder wütend? Ich fühlte nichts von alledem.

Morgen würde ich zum Arbeitsamt gehen und alles Weitere klären. Heute war schon genug passiert. Ein wenig Ablenkung würde mir guttun, dachte ich gerade, als wie auf Bestellung das Telefon klingelte.

»Du bist also gefeuert worden?« Trine war nicht der Typ für komplizierte Ausschweifungen. Wenn sie was zu sagen hatte – was fast immer der Fall war –, dann tat sie das.

»Woher weißt du das denn jetzt schon wieder?«, fragte ich überrascht, obwohl ich mir die Antwort denken konnte.

»Na, Mona hat mich angerufen.«

Ich wunderte mich immer wieder, wie schnell der Buschfunk zwischen meinen Freundinnen funktionierte. In der Zeit, in der ich von Monas Wohnung in meine gegangen war, war wahrscheinlich bereits das ganze Viertel über meine neue Situation informiert worden.

Aber es war gut, dass Trine anrief. Ein wenig wollte ich mich noch trösten lassen.

Trine hieß eigentlich Tine, wurde aber von allen nur Trine genannt, weil sie oft etwas trantütig war. Wenn jemand irgendwo Witze erzählte, war es meist Trine, die zuletzt lachte und dabei immer ein bisschen erleichtert darüber war, die Pointe verstanden zu haben.

»Ja«, antwortete ich zerknirscht, »es stimmt.«

»Das ist doch super, Süße! Dann kannst du ja jetzt endlich auch mal schwanger werden.«

Typisch Trine. Sie betonte schon seit der Grundschule, dass es nie zu früh für ein Kind sei und junge Mütter auch gleichzeitig die beste Freundin der Kinder sein könnten, da sie eben agiler seien.

Trine selbst hatte ihr erstes Kind mit sechsundzwanzig bekommen. Genau richtig, meinte sie damals, immerhin war sie schon fast zwei Jahre mit Paul zusammen, und es lief richtig gut. Außerdem hatte sie nach ihrer Ausbildung zur Bürokauffrau schon mehrere Jahre gearbeitet, genug eingezahlt in die Staatskasse. Da war es Zeit.

»Trine?«

»Ja?«

»Ist dir vielleicht entgangen, dass man in der Regel einen Mann braucht, um ein Kind zu bekommen? Ich meine, zumindest, um es zu produzieren?«

»Ach, Charlotte. Da lässt sich doch sicher schnell jemand finden.«

Ich wusste nicht, woher Trine ihre unerschütterlich positive Einstellung zum Leben hernahm. Es war und blieb mir wirklich ein Rätsel.

»Zum Beispiel dein Marc. Der wär doch was!«

Wie kommt Trine denn jetzt auf Marc? Sie wusste doch genau, dass er mein Immer-mal-wieder-Mann oder Übergangsmann war – und jeder weiß doch, worauf eine solche Beziehung basiert.

»Trine, nur zur Erinnerung: Ich bin Single. Und mich vom erstbesten Kerl schwängern zu lassen, nur weil ich jetzt gerade arbeitslos bin, sehe ich nicht unbedingt als optimale Lösung an. Und von Marc schon gar nicht!«

»Aber wieso? Er sieht doch gut aus. Hast du zumindest gesagt.«

Marc sah tatsächlich sehr gut aus. Allerdings hatte ich ihn als Übergangsmann nie einer meiner Freundinnen vorgestellt. Marc und ich trafen uns sowieso immer nur bei mir zu Hause. Apropos … Marc zu treffen wäre die perfekte Möglichkeit, heute Abend nicht in Depressionen zu versinken. Ich würde ihn gleich anrufen, nachdem Trine aufgelegt hatte.

»Fi-hiiiiiiinn!« Trine brüllte ins Telefon. »Hör sofort auf damit! Eins, zwei … bei dra-hei …!«

Ich hielt den Hörer vom Ohr weg. Es waren sicher hundertfünfzig Dezibel bei dra-hei.

»Weswegen ich eigentlich anrufe, Liebelein«, warf Trine emotionslos ein, »ich bin wieder schwanger.«

Oh Gott, dachte ich, nicht noch so ein Terrorist!

Trine und Pauls erstes Kind, Finn, der gleichzeitig auch mein Patenkind war, raubte mir bei den wöchentlichen Treffen den letzten Nerv. Er wirkte auf mich seit Jahren wie eine Art kostenloses Verhütungsmittel. Und jetzt wollte Trine noch einen davon in die Welt setzen? Ich konnte es kaum glauben.

»Wie schön!«, antwortete ich erwartungsgemäß. »Ich freue mich! Paul ist sicher aus dem Häuschen.«

»Ja«, sagte Trine, »er ist total stolz. Wir diskutieren gerade über den Namen des neuen Babys. Vielleicht kannst du uns helfen?«

»Weißt du denn schon, was es wird?«, horchte ich vorsichtig nach und betete in Gedanken: Hoffentlich kein Junge!

»Ein Junge!«, informierte mich Trine.

»Oh! Wie … schön!«

»Ja, oder?«

Anscheinend konnte Paul nur Jungs.

»Verdammt!!!« Trine brüllte schon wieder. »Ich glaube, die Waschmaschine läuft gerade aus, Charlotte, warte mal eben …«

Es knackte in der Leitung, und auf einmal war nichts mehr zu hören.

»Trine?!«

Ich nahm dunkel einige Hintergrundstimmen wahr. Das am häufigsten gebrauchte Wort dabei war: »Fi-hiiiiiiiiiiiiiiiiinn!«, gleich danach kam: »Verdammt!« Ab und zu hörte ich auch ein etwas leiser gefauchtes »Sitz!«. Was war denn da bloß schon wieder los?

Nach ein paar Minuten war Trine wieder am Hörer.

»Entschuldige, Charlotte, Finnilein hat die ganze Katzenstreu in der Küche verteilt, und jetzt ist auch noch die Waschmaschine ausgelaufen. Der Boden ist quasi katzenstreubetoniert. Na ja, Paul wird das schon wieder hinkriegen.« Trine schnaufte tief durch.

An ihrer Stelle hätte ich Finn wahrscheinlich dreizehn Wochen auf die Stille Treppe gesetzt. Aber Trine war die Ruhe selbst. Ein Phänomen.

»Nenn den Neuen doch Heino«, witzelte ich.

»Nein, Heino ist kein schöner Name. Aber Hein vielleicht …«, antwortete Trine.

Hein war sicher viel besser.

»Oder Jason-Rolf«, schlug ich weiter witzelnd vor.

»Das ist gut!« Trine freute sich über mein Engagement.

»Das sollte ein Witz sein, Trine. Nenn ihn bloß nicht so! Das kannst du später nie wieder gutmachen. Auf gar keinen Fall!«

Ab und zu sprang ich dann doch für die Rechte der Kinder in die Bresche, und das erste Recht eines Kindes ist ja wohl das auf einen guten Namen.

»Du musst wirklich zum Arbeitsamt gehen, solange du noch nicht schwanger bist, Charlotte«, wechselte Trine wie immer übergangslos das Thema.

Hatte ich das mit dem nicht vorhandenen Mann nicht eben schon geklärt?

»Ich glaube, ich muss bald auflegen. Paul ist auf der Couch eingeschlafen, und Finn steckt ihm gerade meine Selleriesticks in die Nase. Wie lange, meinst du, wird er ohne Luft auskommen?«

*

Als wir aufgelegt hatten, fühlte ich mich noch schlechter. Mona hatte ihre Leidenschaft zum Beruf gemacht und erhielt einen Großauftrag nach dem anderen. Trine hatte den schmerzfreien und immer frohen Paul an ihrer Seite und vervollständigte ihre Terroristenfamilie jetzt womöglich noch mit einem Hein-Jason-Rolf.

Und ich?

Ich war gefeuert.

Und Single.

Ich ließ mich auf den gemütlichen Sessel im Wohnzimmer fallen und wählte Marcs Nummer.

3. Kapitel

»Na, meine Schöne …«, begrüßte Marc mich an der Haustür.

Er kam direkt aus dem Büro; das konnte ich sofort an dem tiefschwarzen, unfassbar gut sitzenden Boss-Anzug erkennen, den er gerade trug. Seine blauen Augen strahlten, als stünde ich gerade in einem roten Bomb Playsuit von Agent Provocateur vor ihm.

Allerdings hatte ich mir nicht im Entferntesten Mühe gegeben, mich für ihn rauszuputzen, sondern trug einen Nicki-Anzug, der bereits so ausgeleiert war, dass ich ihn sicher Trine zur Heingeburt mit ins Krankenhaus geben könnte.

»Du siehst absolut fabelhaft aus«, bestätigte Marc meine Einschätzung, dass die Verpackung gerade keine Rolle spielte. Binnen weniger Minuten würde sie doch sowieso neben, unter oder auf dem Bett liegen.

Marc war die beste Therapie – egal, ob ich Liebeskummer wegen eines anderen hatte, es im Job mal nicht lief oder ich einfach nur Entspannung brauchte. Er war das Allheilmittel für alles und immer da für die schönen Stunden. Seit über zehn Jahren trafen wir uns in unregelmäßigen Abständen. Ich wusste zwar, dass ab und an eine Frau in Marcs Leben trat, fragte aber nie weiter nach. Marc hielt es mit mir genauso. Er war der beständige männliche Part in meinem Leben, der, wann immer ich es wollte, wieder aktiviert wurde.

»Ach was …« Ich winkte ab und bat ihn zur Tür herein.

Ich hatte ihn vermisst. Das merkte ich erst jetzt, in diesem Augenblick, in dem er vor mir stand. Er war groß und dunkelhaarig, hatte immer eine leicht sonnengebräunte, unglaublich weiche Babyhaut und roch wirklich fantastisch.

»Weinchen?«, fragte ich.

Es war unsere Standardfrage. Die Treffen liefen immer nach demselben Muster ab: Nach dem ersten oder zweiten Schluck Rotwein würden wir übereinander herfallen und ab da kein Wort mehr miteinander wechseln.

Marc hatte nie Lust auf tiefgründige Gespräche.

Einmal waren wir zusammen essen und danach im Kino gewesen, weil ich Marcs Überzeugung, dass wir uns nichts zu sagen hätten, widerlegen wollte.

Das war wohl der längste, stillste und traurigste Abend, den ich – neben der Live-Übertragung von Dianas Beerdigung alleine vorm Fernseher – je erlebt hatte. Somit blieb es bei gelegentlichen Treffen von kurzer Dauer ohne wechselseitige Beteuerungen unserer gegenseitigen Zuneigung.

Es war schon eine Weile her, seitdem wir uns das letzte Mal getroffen hatten. Damals war ich frisch getrennt gewesen, und Marc und ich hatten uns für unsere Verhältnisse sehr oft gesehen. Schließlich brauchte ich damals Trost; von Marc allerdings eher in physischer statt in psychischer Form. Aber es half, und darauf kam es an. Bei ihm wusste ich, was mich erwartete und was ich an ihm hatte.

Und auch diesmal hielt Marc, was sein Blick versprach. Nach dem zweiten Schluck zog er mich ohne Worte in mein Bett.

*

»Du bist die Beste!«, rühmte Marc später meine Aktivitäten der vergangenen zwei Stunden.

So, wie er mich gerade anlächelte, meinte er es tatsächlich ernst, das wusste ich. Bei jedem anderen hätte ich wahrscheinlich den Ignore-Button angeklickt, aber bei Marc ging das nicht. Es war eben Marc.

»Meinst du?«, fragte ich mit gespieltem Bambiblick. Ich wusste, dass der Blick bei Marc immer und unter allen Umständen funktionierte.

Heute war ein mieser Tag gewesen, sicher einer der miesesten in meinem bisherigen Leben. Und wenn das Leben einem einen Sprühsahne-Nachschlag auf den fast leergegessenen Eisbecher in Aussicht stellt, dann soll man zugreifen, dachte ich. Und zwar richtig.

»Du solltest noch mal überprüfen, ob ich wirklich die Beste bin«, flüsterte ich ihm ins Ohr. »Schließlich brauchst du handfeste Beweise.«

»Na dann!« Marc ließ sich nicht lange bitten. »Machen wir doch gleich noch mal den Gegentest. Nicht, dass mir am Ende einer vorwirft, das Ergebnis sei nicht wasserdicht.«

Lächelnd zog er mich an sich und küsste mich sanft mit seinen perfekten, weichen, fast herzförmig geformten Lippen auf den Mund.

Er ist der Beste, überlegte ich noch, bevor ich gar nichts mehr denken konnte.

*

Ein paar Stunden später saßen wir auf dem Bett, und ich begann, mich langsam wieder anzuziehen.

»Hör mal, Hase, ich muss dir was sagen.«

Marc druckste herum. Das war für ihn mehr als ungewöhnlich.

»Dass es dreimal toll war?« Ich grinste ihn an.

»Nein … Ich meine, das schon … Aber es ist was anderes.«

»Dass es superdupamegatoll war, erste Sahne, unverwechselbar und das Beste, was du je erlebt hast?«

Ich lächelte, streckte beide Arme aus, wuschelte mit den Händen durch meine wilden Locken und legte mich auf den Rücken. Ich fühlte mich seit gestern Morgen zum ersten Mal wieder wohl und entspannt.

»Nein, Süße, eher dass … dass wir beide … dass wir uns nicht mehr sehen können. Na ja, vorerst nicht. Oder gar nicht. Ich weiß es auch nicht.«

Marc schien erleichtert und ein wenig schuldbewusst zugleich zu sein. Er kräuselte die Stirn, zog beide Augenbrauen hoch und sah mich mit großen Augen an.

»Wie? Nicht mehr sehen? Warum denn? Ziehst du etwa weg?«

Ich war überrascht, aber auch gleichzeitig ein bisschen besorgt. Schließlich war Marc eine feste Instanz in meinem Leben, solange ich denken konnte, und ich wollte keinesfalls auf ihn verzichten.

»Nein, nein, ich ziehe nicht weg«, antwortete er langsam und nahm meine Hände in seine. »Es ist eher … na ja … ich habe da jemanden.«

»Was soll das heißen, du hast da jemanden? Du hast doch immer mal wieder eine gehabt! Du weißt doch, dass mich das nicht stört! Wir kennen uns doch schon so lange … Mir macht es nichts aus, echt nicht!«, versicherte ich mit zittriger Stimme.

Ich verstand gar nichts mehr. Was sollte das Ganze denn auf einmal?

»Dir nicht, aber ihr, denke ich. Ihr macht es etwas aus. Wir wollen … na ja … wir wollen es festmachen.«

»Ihr wollt es festmachen?!?« Ich echote schrill in mein eigenes Ohr.

Dabei kam ich mir vor, wie in einer dieser amerikanischen Psycho-Satiren, in denen die Psychologen bei der Patientenbefragung immer nur die vorangegangenen Sätze wiederholten.

»Meine Mutter hat mich geschlagen.«

»Ihre Mutter hat Sie geschlagen?«

»Meine Mutter war alkoholabhängig.«

»Ihre Mutter war also alkoholabhängig?«

Ich setzte erneut an. Diesmal konzentrierte ich mich, um nicht ganz so schrill zu klingen.

»Was soll das heißen, ›festmachen‹? Inwiefern? Zusammenziehen oder was?«

»Also eigentlich wohnen wir schon zusammen. Sarah-Nadine ist zu mir gezogen. Vor ein paar Monaten …«

Sarah-Nadine? Was ist das denn für ein Name? Ich musste meine Gedanken sortieren. Zusammenziehen? Er, Marc? Der große Beziehungshasser und größte Gegner der festen Zweier-Lebensgemeinschaft, seit es diese überhaupt gibt?

»Das ist ja mal eine Neuigkeit. Ich meine, du warst doch immer dagegen. Dieses ganze Wofür-gibt-es-so-viele-schöne Frauen-auf-der-Welt-Gerede und das Anti-Beziehungs-Gequassel – das war doch von dir! Ich versteh das nicht. Wieso jetzt auf einmal?«

Ich hatte das Gefühl, als rinne mir mein Leben wie Sand durch die Hände. Marc war mein letztes Sandkorn gewesen, eines, von dem ich dachte, dass es mir immer bleiben würde, egal wie viele Windhosen in meinem Leben wüteten. Und jetzt sollte mir eine bescheuerte Sarah-Nadine das auch noch mit ihrem swarovskisteinbestückten Handstaubsauger wegsaugen?

»Mit Sarah-Nadine ist es anders, Baby. So was habe ich überhaupt noch nie erlebt. Kein Einzwängen in spießige Normen, einfach nur … Es ist Liebe, denke ich. Sie hat sogar selbst vorgeschlagen, dass ich zu dir fahre und mit dir spreche. Sie sagte sogar, es wäre okay, wenn wir sozusagen Abschiedssex hätten. Sie ist wirklich anders als alle Frauen, die ich kenne.«

Ja, das kann man wohl sagen. Lass ihn frei, und er kommt von alleine, hatte schon Demi Moore gesagt. Na toll. Die Frau hatte Marc ganz klar eingewickelt und das auch noch mit einer brillanten Strategie. Sie wusste sicher, dass sie mit Verboten oder nervigem Kontrollieren bei einem Typen wie Marc nichts ausrichten konnte. Also machte sie das Gegenteil und fing ihn so ein. Sie musste ihn schon gut kennen.

»Sie sagte also, es sei in Ordnung für sie, dass wir Abschiedssex hätten?«, fragte ich ungläubig.