Pjotr - Geschichte eines Zaren (Historischer Roman) - Alfred Henschke - E-Book

Pjotr - Geschichte eines Zaren (Historischer Roman) E-Book

Alfred Henschke

0,0
1,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

In 'Pjotr - Geschichte eines Zaren', einer Sammlung historischer Romane von Alfred Henschke, bekannt unter seinem Pseudonym Klabund, wird der Leser in die turbulente Epoche des russischen Zarenreichs entführt. Diese Werke zeichnen sich durch eine bemerkenswerte literarische Vielfalt aus, die von intensiven Dialogen, tiefgreifenden Charakterstudien bis hin zu lebhaften, historisch fundierten Erzählungen reicht. Klabunds Fähigkeit, historische Genauigkeit mit literarischer Erfindung zu verbinden, macht jede Geschichte zu einem unvergesslichen Erlebnis, das sowohl bildet als auch unterhält. Seine Werke sind ein lebendiges Zeitzeugnis, das den Wandel und die Komplexität des russischen Imperiums beleuchtet. Henschke, welcher sich Klabund nannte, war ein bedeutender Vertreter der literarischen Moderne in Deutschland. Sein umfangreiches Werk umfasst Lyrik, Dramen und Romane, die durch eine tiefe menschliche und soziale Empfindung sowie durch seine besondere Faszination für Russland und dessen Geschichte gekennzeichnet sind. 'Pjotr - Geschichte eines Zaren' spiegelt Klabunds lebenslange Beschäftigung mit der russischen Kultur und Geschichte wider und bietet Lesern einen Einblick in das Seelenleben einer vergangenen Ära, wie sie nur wenige Autoren zu vermitteln vermögen. Diese Sammlung ist für Leserinnen und Leser empfehlenswert, die sich für historische Romane mit Tiefgang und literarischem Anspruch interessieren. Klabunds meisterhafte Erzählkunst und sein einzigartiges Verständnis für die Dynamik der Macht und menschlichen Emotionen machen 'Pjotr - Geschichte eines Zaren' zu einer unverzichtbaren Lektüre für alle, die einen differenzierten Einblick in die Geschichte Russlands und eine Bereicherung ihres literarischen Horizonts suchen. Hier wird eine fesselnde Brücke zwischen Geschichte und Literatur geschlagen, die den Dialog zwischen damals und heute auf erhellende Weise fördert.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Klabund / Alfred Henschke

Pjotr - Geschichte eines Zaren (Historischer Roman)

Peter der Große - Der Man und der Herrscher
 
EAN 8596547739951
DigiCat, 2023 Contact: [email protected]

Inhaltsverzeichnis

Cover
Titelblatt
Text

Pjotr ist geboren.

Don, Dnjepr, Wolga, Oka treten über ihre Ufer.

Schlamm wälzt sich über die Weizenfelder, und viele Menschen ertrinken.

Winterblumen neigen gebrochen ihre Häupter.

Die Haselmäuse pfeifen vor Angst. Der Wind nimmt ihre Pfiffe und bläst sie mit dicken Backen zu Posaunentönen auf, bis sie kreischend zerplatzen.

Die Bäume weinen Harz.

Auf tanzenden Eisschollen segeln erfrorene Schwäne. Ihre grünen Augen glänzen wie Smaragde.

Frösche treiben, die bläulichen Bäuche nach oben. Ihre Leiber sind durchbohrt von Wasserkäfern, die vollgefressen tot in den Löchern nisten: die braunen Rückenschalen weiß glasiert.

Es hat roten Schnee geschneit.

Auf der Waldai blüht mitten im Winter der Fingerhut.

Feuer fiel vom Himmel aus den Händen Gottes. Tausend Dörfer flammten. Die jungen Störche auf den Strohdächern wurden in ihren Nestern lebendig geröstet. In den Rauch-und Rußwolken strichen die alten Störche und klapperten grell und verzweifelt mit ihren langen Schnäbeln, als klirrten Schwerter aneinander.

Sie suchten ihren Feind und fanden ihn nicht.

Im Himmel saß der und schlief auf seinem Thron aus Lapislazuli. Er selber war anzusehen wie ein Diamant: klar und durchsichtig glänzend. Seine Augen helle Saphire, sein Herz ein dunkelroter Rubin. Um seine fröstelnde Schulter lag wie ein seidener Schal ein Regenbogen.

Sieben Fackeln brannten um seinen Thron.

Im Schlaf hatte er mit steinernem Arm eine Fackel, einen Stern vom siebenarmigen goldenen Leuchter herabgefegt. Prasselnd und funkenstiebend sauste der Meteor durch den ewigen Raum und schlug mit seiner roten blinden Stirn donnernd im Erdboden ein, eine ganze Landschaft entzündend und verwüstend.

Die Popen predigten:

»Wehe denen, die auf Erden wohnen! Die Sonne ist schwanger geworden und hat ein goldenes Kind geboren! Das wird uns peitschen mit feuriger Knute!«

Ein Rudel Wölfe heult nachts vor den Fenstern des Palastes Preobraschensk. Die Diener bekreuzen sich.

Sie wispern:

»Ein Wolfskind ist geboren, ein Wolfssohn. Die Brüder eilen, ihn zu begrüßen.«

Eine alte Wölfin gelangt bis in den Hof und jault hungrig nach den Fenstern des ersten Stockes hinauf. Natalia Naryschkina, die Zarenmutter, erwacht davon aus dem Schlaf. Sie hält den Atem an und lauscht.

Niemand wagt, die alte Wölfin zu töten.

»Es ist ihr Kind,« versichert der alte Kutscher Potapoff, der manches denkt und vieles weiß.

»Wenn man sie umbringt, sind wir alle verloren.«

Die Wölfin wird am nächsten Tag von dem siebenjährigen närrischen Iwan, dem derzeitigen Zaren, halb tot in einem leeren Schilderhaus gefunden. Iwan kriecht auf allen Vieren und bellt die Wölfin böse an, die ihn mit müden, traurigen Augen nachsichtig beglotzt. Sie leckt einen eben geborenen jungen Wolf, der noch nicht aus den Augen sehen kann, aber um sich beißt, als der Kutscher Potapoff ihn an sich nimmt. Potapoff legt ihn einer Hündin bei und zieht ihn sorgsam auf.

Die Sonne tritt aus den Wolken, besieht sich ihr neues Söhnchen, besieht sich Pjotr.

Die Glieder verkrüppelt, die Augen verschmiert, die kleinen Fäuste vor dem zerknitterten Greisengesicht geballt, liegt Pjotr in der Wiege und winselt wie ein junger Wolf.

Er winselt, er weint, weil er geboren ist.

Wie warm und gut war es in jener feuchten, dunklen Höhle, die ihn nun wider seinen Willen ans Licht gespien. Er zittert in der rauhen Luft. Er wehrte sich mit Händen und Füßen gegen das Geborenwerden. Das Licht blendete ihn. Er war eine Schale, die rotes, heißes Blut trank, neun Monate lang. Sein ganzer Leib war ein Pokal gewesen.

Er schnappt mit dem Mund wie ein Fisch.

Er hat Durst.

Er weint.

Die Hebamme reicht Pjotr seiner Mutter, der Fürstin Natalia Naryschkina, die blaß in blauweiß karierten, wie Gebirge über sie getürmten Kissen liegt.

Die Hebamme hebt ihr die Brust aus dem Hemd. Pjotr krallt sich mit seinen kleinen Fingern darein. Dann beginnt er mit geschlossenen Augen zu schlucken, zu schnaufen, zu grunzen, wie der junge Wolf an den Zitzen der Wölfin.

Die Hebamme wiegt sich in den Hüften.

Natalia Naryschkina lächelt.

Pjotr ist so klein und Rußland ist so groß – was wird aus Pjotr werden?

Je je.

Was wird aus Rußland werden?

Fürst Galizyn kommt zu Besuch, zugeknöpft, in einem schwarzen Rock, als ginge es zum Begräbnis.

»Nun, Natalia Naryschkina, wie geht’s?«

Sie muß lächeln.

Seine Brille sitzt ihm vorn auf der Nase. Sie droht jeden Augenblick herabzufallen. Er ist der einzige Mensch in Rußland, der eine Brille trägt. Wenn sie ihn sehr liebt, nennt sie ihn: Uhu.

Seine blauen, wässerigen Augen funkeln trübe und unbestimmt.

Sie denkt: Der große Liebhaber Galizyn. So sieht mein Liebhaber aus. Der Liebhaber der schönen Natalia Naryschkina. Er gilt als der gebildetste Mensch in Rußland. Deshalb habe ich mich in ihn verliebt. Er hat Shakespeare und Dante in ihren Sprachen gelesen. Ich beherrsche nicht einmal die russische Sprache. Aber ich beherrsche – ihn. In Hemd und Brille sieht er übrigens zum Schreien komisch aus. Wie ein Vogel. Wie ein bestimmter Vogel. Wie heißt doch dieser sonderbare Vogel gleich?

Fürst Galizyn, der sich scharf beobachtet fühlt, rückt auf dem Korbstuhl, den die Sträflinge sibirischer Zuchthäuser haben flechten müssen, unruhig hin und her:

»Was haben Sie an mir auszusetzen, Natalia Naryschkina?«

»Nichts, mein Lieber, nichts … Gehn Sie einmal an die Wiege – wie gefällt sie Ihnen? Ich habe sie mit lauter hübschen Tieren bemalen lassen: Störchen und Schwänen und Wölfen. – Schauen Sie sich den kleinen Barbaren an. Wem ähnelt er wohl?«

Fürst Galizyn schreitet gravitätisch an die Wiege.

Jetzt weiß sie, wie der Vogel heißt: wie ein Marabu.

Pjotr schläft.

Der Fürst nimmt seine Brille ab und setzt sie Pjotr auf die weiche Nase, die sich einbiegt unter dem Stahl.

Pjotr verzieht im Schlaf weinerlich das Gesicht.

»Ganz der Vater, ganz der Vater.«

Des Fürsten wässerige Augen funkeln vergnügt wie trübe Teiche in der Sonne.

Sie seufzte.

»Daß Zar Alexej Michailowitsch seinen Sohn nicht mehr erlebt hat –wie traurig. Er war ein guter Mensch.«

»Gewiß,« der Fürst stimmte höflich zu, »gewiß. Aber ein guter Mensch: das besagt noch nicht viel. Wir in Rußland sind über gute Menschen ja immer unendlich leicht gerührt und führen das Wort ›gut‹ im Munde wie die Preußen das Wort ›Pflicht‹ und die Franzosen das Wort ›Liebe‹. Die Dämonie des Schicksals wird durch Güte nicht begriffen oder bewältigt.«

»Und Gott – ist Gott nicht gut?«

Sie richtete sich in den Kissen auf. Erwartungsvoll gespannt sah sie auf seine schmalen Lippen.

»Gott ist allgütig, allweise, allmächtig. Und das bedeutet wohl mehr.«

Sie sank in die Kissen zurück.

»Laß mich schlafen …« Sie drehte den Kopf nach der Wand: »Du machst mich müde, wenn du so gescheit bist.«

Sie drehte den Kopf noch einmal zurück:

»Fürst – vielleicht lebe ich nicht mehr lange. Die Geburt dieses kleinen wilden Menschen, er wog fünfzehn Pfund und hat mir vorher schon schwer zu schaffen gemacht, hat mich arg mitgenommen. Ich habe ihm all mein Blut gegeben. Er hat mich ausgetrunken wie ein kleiner Vampir. Ich habe Sie in meinem Testament als Reichsverweser bestimmt, Fürst. Nehmen Sie sich meiner drei Kinder an. Iwan, der Zar, ist närrisch. Spielen Sie mit ihm Hoppereiter, und verwechselt das Bäumchen, verwechselt das Seelchen. Von Pjotr weiß ich noch gar nichts, als daß er sehr ungestüm sein wird, aber da er der Jüngste ist und mir schon jetzt die meisten Schmerzen verursacht hat, liebe ich ihn mehr als Iwan und Sofija zusammen. Vor allem Sofija lege ich Ihnen ans Herz. Sie ist sechzehn Jahre alt und schon ein Weib. Sie werden sie lieben, wehren Sie nicht ab. Ich kenne Sie. Und Sofija wird gescheit und eitel genug sein, Sie wiederzulieben. Aber sie braucht eine feste Hand.«

Sie griff nach der zarten, eleganten Hand des Fürsten.

»Ich weiß, diese Hand ist klein und schmal. Aber was sie einmal ergriffen hat, das hält sie fest. Halten Sie Sofija, halten Sie Rußland fest mit dieser winzigen Hand.«

Der Fürst neigte sich über das Bett und küßte Natalia Naryschkina leicht die Stirn.

Natalia Naryschkina schwebte auf einer weißen Abendwolke zum Himmel. Die Wolke schien ein Schwan, wie er auf Pjotrs Wiege abgebildet war. Er regte majestätisch seine sanften Schwingen. Seine Augen glänzten wie grüne Smaragde.

Weit aufgetan war das kupferne Tor des Himmels. An der Pforte stand ein Engel in einem Zobelpelz, eine weiße Lammfellmütze auf dem Kopf. Er neigte sich, die Arme über der Brust gekreuzt wie ein Leibeigener. Schon stand ein mit zwei geflügelten Schimmeln bespannter Schlitten bereit, Natalia Naryschkina über die Schneefelder des Himmels zu IHM zu führen, der wie ein Eisberg kristallisch und kühn auf dem Polarstern thront. Sein Stuhl ist aus Lapislazuli. Seine Augen sind helle Saphire, sein Herz ist ein dunkelroter Rubin, der durch seine diamantne Brust leuchtet. Im kühlen roten Licht seines Herzens vergeht und schmilzt alles dahin wie Schnee im Frühlingswind: Gut und Böse, Haß und Liebe, Glück und Schmerz.

Natalia Naryschkina wollte die Lippen öffnen. Er aber wußte schon alles, was sie getan, gedacht, gewollt. Er nahm ihren Willen für Vollendung und ihre Untaten für nicht getan. Daß sie Alexej Michailowitsch betrogen – er rechnete es ihr nicht an. Daß sie den Fürsten Galizyn geliebt: er war darüber froh und beglückt. Väterlich zog er sie an seine Brust. Wie wohl das tat: diese Kühle nach all dem Fieber. Diese Ruhe nach all der Unrast.

Da fielen ihr die Kinder ein.

Er schob mit seiner steinernen Hand die Wolken auseinander: da sah sie unten auf der Erde ihre drei Kinder. Pjotr schlief in der Wiege und verzog im Traum sein Gesicht. Iwan lag in einer Hundehütte und bellte. Sofija blickte dem Fürsten Galizyn über die Schulter, der nachdenklich an einer lateinischen Trauerode auf den Tod der unvergleichlichen Natalia Naryschkina feilte. Er markierte mit dem Gänsekiel den Takt der Verse:

–́⌣⌣–́⌣⌣–́⌣⌣–́⌣⌣–́⌣⌣–́⌣⌣–́⌣⌣

»Das sind Daktylen. Oder sollte man lieber den Anapäst wählen: was meinen Sie, Sofija?«