Planen oder treiben lassen? - Michael Ebert - E-Book

Planen oder treiben lassen? E-Book

Michael Ebert

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  • Herausgeber: Heyne
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2010
Beschreibung

Die Antwort auf alle Fragen

Alles vorausplanen und die Gegenwart verpassen – oder einfach mal abwarten, was kommt, und sich so vielleicht die Zukunft verbauen? In diesem Dilemma stecken junge Erwachsene, die heute so viele Lebensmodelle zur Auswahl haben wie nie zuvor. „Planen oder treiben lassen??“ ist das Porträt einer ratlosen Generation und zugleich ein handfester Ratgeber auf der Suche nach dem individuell richtigen Weg.

Im Alter zwischen 20 und 35 Jahren treffen Menschen die wichtigsten Entscheidungen ihres Lebens: Mit wem möchte ich zusammen sein? Will ich Kinder? Was soll ich studieren? Womit verdiene ich meinen Lebensunterhalt? Wie wichtig ist mir Karriere? Bin ich ein Planer, der vorausschaut, alle wesentlichen Entscheidungen rational durchdenkt? Oder ein Treibender, der in den Tag hinein lebt und Festlegungen meidet? Michael Ebert und Timm Klotzek, Chefredakteure der Zeitschrift NEON, zeichnen das Bild einer Generation, die ganz neue Wege der Lebensplanung beschreitet, im Privatleben Zweifel und Umwege ebenso zulässt wie sie zielorientiert und ehrgeizig den nächsten Karriereschritt plant. Ihr Buch beschäftigt sich mit allen wesentlichen Fragen des Lebens und zeigt Vorteile und Risiken der einen wie der anderen Entscheidung auf. Die Autoren recherchierten bei Wissenschaftlern, interviewten Prominente und andere Menschen mit außergewöhnlichen Erfahrungen und erstellten übersichtliche Checklisten – um zum Schluss bei der Beantwortung der größten aller Fragen zu enden: Wie schaffe ich es, verdammt noch mal, ein zufriedener Mensch zu
sein?

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Seitenzahl: 316

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Inhaltsverzeichnis
AM ANFANG
01 ELTERN – Soll ich mich gezielt um ein gutes Verhältnis zu meinen Eltern ...
02 WEIT REISEN – Soll ich endlich mal eine Weltreise machen – oder darauf ...
03 LIEBE FINDEN – Soll ich im Internet nach der großen Liebe suchen – oder auf ...
04 GELD – Soll ich mein Geld sorgsam zusammenhalten – oder über vernünftige ...
05 ESSEN – Soll ich mit Hilfe eines Ernährungsplans auf mein Gewicht achten – ...
06 AUSBILDUNG – Soll ich mit meiner Ausbildung von Anfang an einen ...
07 FREUNDSCHAFT – Soll ich zu alten Freunden Kontakt halten – oder darauf ...
08 VORANKOMMEN IM JOB – Soll ich mich im Beruf gezielt fortbilden und viele ...
09 LIEBE RETTEN – Soll ich meinen Lebensplan mit meinem Partner frühzeitig ...
10 VERSICHERUNGEN – Soll ich mich gegen möglichst viele Gefahren im Leben ...
11 NEUSTART IM JOB – Soll ich einen Job, der mich unglücklich macht, möglichst ...
12 FAMILIE GRÜNDEN – Soll ich auf den perfekten Zeitpunkt warten, um ein Kind ...
13 GESUND BLEIBEN – Soll ich mich bei Vorsorgeuntersuchungen durchchecken ...
14 ÄLTER WERDEN – Soll ich an meinem 30. Geburtstag schon mal eine erste ...
Danksagung
Copyright
AM ANFANG
Soll ich mein Leben planen – oder mich vom Leben treiben lassen? Und warum muss ich mich überhaupt entscheiden?
Wie man rausfindet, ob man eher ein Planer oder ein Treibenlasser ist – Was Elfmeterschießen mit Entscheidungsschwierigkeiten zu tun hat – Warum brillante Denker gleichzeitig ziemlich vergessliche Trottel sein können – Wie sehr kann ich meinem Bauchgefühl vertrauen? – Warum die vernünftigste Entscheidung nicht automatisch die beste ist
Ah, verdammt. Unangenehme Post im Briefkasten. Unangenehme Post ist leicht zu erkennen: die längliche Form des Briefumschlags, die maschinengeschriebene Adresszeile. Und diese geheimnisvollen Zahlencodes, die oft im Sichtfenster des Schreibens zu sehen sind, noch über dem Namen des Adressaten. So was wie: C / 380 077 11 / K 131 143 / 009. Man mag sich kaum vorstellen, welche Geheiminformationen dieser Code verbirgt. C / 380 077 könnte das Kürzel für diejenigen Kunden sein, die stets erst nach der zweiten Mahnung zahlen. Die 11 dahinter sortiert uns auf der internen Risikoskala des Unternehmens von 1 („Ausgezeichneter Kunde, gute Zahlungsmoral, keine Sonderwünsche“) bis 12 („Nervt wie verrückt“). K 131 bedeutet wahrscheinlich, dass wir bei telefonischen Nachfragen wenigstens 60 Minuten lang in einer Warteschleife zu halten sind, ehe man uns zu einem Berater durchstellt. 143 / 009 bestimmt das Lied, das in der Warteschleife laufen soll, in diesem Fall steht der Code für irgendetwas besonders grausames, möglicherweise „Lady In Red“von Chris de Burgh.
In jedem Fall: Erhalten wir diese Sorte Brief, kann es sich nur um unangenehme Post handeln. Eine Mahnung oder Rechnung, die Ankündigung einer Miet- oder Beitragserhöhung, ein abschlägiger Bescheid des Finanzamts, ein Strafzettel. Entsprechend unsere übliche Reaktion: O Mist … Ah, verdammt … Ach du heilige Scheiße! Etwas in der Art.
Wenn du das nächste Mal unangenehme Post erhältst, solltest du dich ausnahmsweise freuen. Denn unangenehme Post kann dir Antworten auf die wichtigen Fragen im Leben geben: Sie liefert dir Hinweise dafür, wer du bist. Welche Probleme noch auf dich warten, welche Möglichkeiten sich in der Zukunft bieten. Unangenehme Post kann dir bei den Fragen helfen, ob du deine Eltern öfter anrufen solltest, ob du deinen Partner fair behandelst, ob du ausreichend versichert bist und ob du dich richtig ernährst, ob du dir grundsätzlich mehr Ruhe gönnen oder endlich mal in die Puschen kommen solltest. Und das Tollste: Um all das herauszufinden, musst du die unangenehme Post noch nicht mal öffnen. Gehe stattdessen wie folgt vor:
PUNKT 1
Nimm das Schreiben aus dem Briefkasten.
PUNKT 2
Setz dich allein in einem Zimmer an einen Tisch, leg das Schreiben vor dich hin.
PUNKT 3
Betrachte es ganz genau.Wenn’s nicht ohnehin klar sein sollte: Male dir aus, von wem das Schreiben ist und was darin stehen könnte.
PUNKT 4
Überlege, wie du üblicherweise mit Schreiben solcher Art verfährst.
PUNKT 5
Überlege dir dann, ob deine üblicheVerfahrensweise die richtige ist und ob du im vorliegenden Fall ähnlich oder ganz anders vorgehen willst.
PUNKT 6
Schreibe die Ergebnisse deiner Überlegungen zu Punkt 4 und 5 auf ein Blatt Papier.
Vielleicht steht auf dem Blatt Papier dann etwa so was: „Zu PUNKT 4: Ich lasse unangenehme Post wie üblich verschlossen und lege das Schreiben zu den anderen. Werde mir doch heute nicht den Tag verderben! Zu PUNKT 5: Na klar, wie sonst! Ansonsten: siehe PUNKT 4.“
Vielleicht steht auf dem Blatt Papier aber auch so was: „Zu PUNKT 4: Selbstverständlich öffne ich den Brief, er ist ja an mich adressiert. Auch unangenehme Dinge muss man angehen – hilft ja nichts, die Augen zu verschließen. Ein Problem hat sich noch nie einfach so in Luft aufgelöst, im Zweifel wird es eher größer. Wenn es eine Rechung sein sollte, bezahle ich sie mit sicherem Onlinebanking, versehe sie mit dem Vermerk,Bezahlt am …‘und hefte sie in den entsprechenden Ordner. Zu PUNKT 5: Na klar, wie sonst! Ansonsten: siehe PUNKT 4.“
Vielleicht steht da auch irgendwas zwischen diesen beiden Extremen. Vielleicht erkennst du unter PUNKT 4 so was wie, ähm …, grundsätzliche Mängel bei deinem Umgang mit unangenehmer Post, unter PUNKT 5 nimmst du dir aber für die Zukunft vor, diese Mängel zu beheben. Oder du öffnest Briefe jeder Art immer und sofort, überfliegst sie aber nur oberflächlich und stopfst sie dann in diesen einen Leitz-Ordner, den du mit 16 Jahren mal angelegt und nie mehr ausgemistet hast, und auf dem mit Filzer fett geschrieben steht: „Wichtige Dokumente. “Wie auch immer: Spätestens wenn du deine aufgeschriebenen Ergebnisse jetzt nochmal liest, sollte dir klar sein, ob du eher ein Planer oder ein Treibenlasser bist. Die gute Nachricht: Man kann nicht grundsätzlich sagen, ob es besser ist, eher ein Planer oder eher ein Treibenlasser zu sein.
Genau deshalb ist dieses Buch kein Ratgeber-Buch. Wer auf den folgenden Seiten also die ultimative Checkliste erwartet, die klärt, was man nun in seinem Kopf alles auf den Kopf stellen müsse und wie man sich künftig zu verhalten habe, um ein besserer Mensch zu werden und ein besseres Leben zu führen … tja, Achtung, Achtung, tut uns sehr leid: Wer so was sucht, kann genau hier aufhören zu lesen.
Denn das können wir nicht bieten. Wie auch? Menschen sind zu unterschiedlich, als dass zwei NEON-Chefredakteure auf 271 Seiten verbindliche Ratschläge für das Leben jeder einzelnen Leserin und jedes einzelnen Lesers geben könnten. Ohnehin ist es geradezu lächerlich, welche verwelkten Halbwahrheiten in der Ratgeber-Welt häufig so lumpig dahinkauderwelscht werden, dass sie zwar ein Buch füllen, der Erkenntnisgewinn beim Lesen aber ungefähr dem eines Besuchs bei einer betrunkenen Wahrsagerin gleicht.
Was dieses Buch durchaus kann: Hinweise darauf geben, welche Möglichkeiten sich bieten und welche Gefahren drohen, wenn man mit seiner Lebenseinstellung eher zu der Planer- oder Treibenlasser-Sorte Mensch gehört. Die Schlussfolgerungen muss jeder für sich alleine ziehen.
Also nochmal die gute Nachricht: Egal, ob man die Dinge des Lebens eher an sich vorbeiziehen lässt oder ihren Lauf so genau wie möglich berechnet und kontrolliert – beides kann genau richtig sein. Aber leider im Einzelfall auch grundverkehrt. Ein Beispiel? Na klar. Im Allgemeinen nimmt man an, dass es das Beste sei, ein Problem zu analysieren, um dann schnell und überlegt zu handeln. Das kann die richtige Lösung sein. Manchmal ist es aber auch das Beste, gar nichts zu tun.
Zum Beispiel beim Elfmeter.
Den Elfmeterpunkt gibt es im Fußball seit 1902. Und ebenso alt ist die Annahme, dass der Torhüter in eine Ecke springen sollte, noch ehe er sieht, wohin der Feldspieler den Ball schießt. So spart er die Reaktionszeit von einer Viertelsekunde und nur so hat er normalerweise eine Chance, einen platziert geschossenen Ball zu halten (denn der ist immerhin zwischen 100 und 130 Stundenkilometer schnell). Weil der Schütze wiederum nur in den seltensten Fällen die Zeit hat, darauf zu achten, in welche Ecke der Torwart springt, und so seine eigene Entscheidung nicht vom Verhalten der Gegenseite abhängig machen kann, ist der Elfmeter zu einem Lieblingsuntersuchungsgegenstand von Mathematikern und Spieltheoretikern geworden. Die nennen das Duell zwischen Schütze und Torwart beim Elfmeter ein „Nullsummenspiel mit vollständiger Information und simultanen Zügen“. Die Möglichkeiten der Spieler sind klar und begrenzt, eine eindeutige Gewinnstrategie gibt es nicht.
MANCHMAL IST ES DIE BESTE STRATEGIE, GAR NICHTS ZU TUN. ZUM BEISPIEL BEIM ELFMETER.
Jetzt kommt’s. Nach Untersuchungen des israelischen Wissenschaftlers Ofer H. Azar von der School of Management an der Ben-Gurion University, der 311 Elfmeterschüsse bei internationalen Wettbewerben auswertete, gilt: Die größte Chance für den Torwart, einen Elfmeter zu halten, ist, sich gar nicht zu bewegen. 14,2 Prozent aller Elfmeter werden nach links geschossen, 12,6 Prozent nach rechts, aber 33,3 Prozent aller Schüsse gehen direkt in die Mitte.
Die meisten Torhüter springen trotzdem. Warum? „Der Hauptgrund ist das Gefühl des Torwarts, etwas tun zu müssen“, analysiert Azar. Seine Annahme beruht auf Überlegungen des Nobelpreisträgers Daniel Kahneman über „Idiosyncrasies Of Decision-Making“. Der Job des Torwarts, so Azar, sei schließlich, mit einer Handlung einen Schuss abzuwehren. Aber einfach stehen zu bleiben gilt uns nicht als Handlung – schon gar nicht gegenüber dem Trainer und den Mitspielern. Als Torhüter denken wir also: „Ich bin gefordert! Ich muss handeln!“Und selbst wenn rechnerisch die beste Reaktion auf eine bestimmte Situation wäre, gar nichts zu tun, spüren wir den Druck und die Versuchung, irgendwie zu handeln.
Es gibt zahllose Beispiele, die diese These auch für Nichtfußballer bestätigen. Finanzfachleute raten stets zu langfristigen Anlagen – also dazu, Aktienpakete nach dem Kauf „einfach liegenzulassen“, statt schweißgebadet täglich wechselnde Kurse zu prüfen. Gute Freunde klopfen uns auf die Schulter und raten zu Geduld, wenn wir unglücklich in unserem Job sind und über Kündigung nachdenken. Oft ist es auch besser, die merkwürdigen Launen des Partners einfach auszusitzen, statt jedes Mal großen Rabatz zu machen. Ah, süßes Nichtstun. Der Treibenlasser wird das gerne lesen.
Allerdings nur so lange, bis sich seine Aktienpapiere durch eine weltweite Finanzkrise in Brennmaterial verwandelt haben, das Unglück im Job zu einer handfesten Lebenskrise geführt hat und die Launen des Partners so nerven, dass es wirklich nicht mehr auszuhalten ist – aber auch schon zu spät für Gegenmaßnahmen. In diesen Fällen wird der Planer die Augenbraue anheben und etwas sagen wie: „Wusste ich’s doch.“
Dann wiederum wird vielleicht der Planer seinen Liebeslebensplan feierlich vorstellen und erklären, dass er sich wohlüberlegt an den Partner seines Herzens gebunden hat. Sein einmal und endgültig getroffenes Urteil: „Wir bleiben auf ewig zusammen“- die Heirat. Eine „endgültige Entscheidung“, die allerdings mit einer Wahrscheinlichkeit von etwa 30 Prozent doch nicht endgültig ist. So hoch ist zurzeit das aktuelle Scheidungsrisiko in Deutschland.
Zur richtigen Zeit die richtige Entscheidung zu treffen ist eine der schwersten Aufgaben. Viele Dinge des Lebens können wir zum Glück relativ gefahrlos so lange üben, bis wir sie beherrschen: Rechtschreibung. Fahrrad fahren. Schuhe binden. Schminken. Blöderweise gilt aber ein Naturgesetz, so was wie das „Erste Theorem des Erwachsenwerdens“, und das sagt: Je wichtiger die Entscheidung, desto weniger können wir dafür trainieren.
NEON, das monatlich erscheinende Magazin aus der stern-Familie, nimmt sich genau dieses Problems an. Die ersten Ausgaben erschienen 2003 mit einem Untertitel, der den Leitgedanken des Heftes formulierte: „Eigentlich sollten wir erwachsen werden.“Und auch wenn der Satz irgendwann vom Cover verschwand, definiert er noch immer das Lebensgefühl der Leserinnen und Leser. Es ist eine verflixt komplizierte Situation, in der sich junge Erwachsene heute befinden: Einerseits gibt es jede Menge guter Gründe, im Leben endlich mal voranzukommen. Unabhängigkeit. Freiheit. Auch Geld. Aber andererseits merkt man schnell, dass man für dieses Vorankommen im Leben auch einen Preis bezahlen muss: Stress im Beruf. Verantwortung für alles Mögliche (auch für sich selbst). Abschied von der Unbeschwertheit der Jugend. Plötzlich warten jede Menge großer Fragen auf uns, und wir spüren: Von unseren Antworten auf diese Fragen hängt unser Leben ab.
Die Fragen: Für welches Studium soll ich mich jetzt entscheiden? Will ich überhaupt ein Kind? Und wenn ja – will ich es mit diesem Menschen an meiner Seite zeugen? Bin ich spießig, nur weil ich mir eine Parmesanreibe kaufe? Wie lange kann ich in meinen Lieblingsclub gehen, ohne peinlich zu wirken? Wie viel Geld soll ich fürs Alter sparen? Woher soll ich jetzt schon wissen, ob mir mein Job mit 60 Jahren immer noch Spaß macht? Das sind alles Fragen, für die wir vorab kaum üben können. Um nicht den allergrößten Mist zu bauen, hilft es, sich Ratschläge von Dritten zu holen. Und die ganze Sache dann nochmal zu überdenken. Das Blöde: Gelegentlich führt auch das gründlichste Durchdenken eines Problems zu keiner Lösung. Oft hilft dann: dem Bauchgefühl zu vertrauen.
Es ist ganz erstaunlich, wie schlau und wie bescheuert Menschen gleichzeitig sein können. Albert Einstein hat die Relativitätstheorie entwickelt, sehr gut – aber es ist überhaupt nicht auszuschließen, dass er auch regelmäßig seinen Haustürschlüssel verlegt hat. Zahllose Psychologen und Neurologen haben über die Frage gegrübelt, wie solche seltsamen Widersprüche unserer Hirnfunktionen zu erklären sind. Die verbreitetste Annahme ist heute, dass Menschen auf zwei Arten denken: die eine ist intuitiv und automatisch, die andere reflektiv und rational. Das reflektive System ist das langsamere, es funktioniert mit Bedacht und Sorgfalt. Dieses System benutzen Menschen, wenn ihnen eine Rechenaufgabe gestellt wird oder wenn sie überlegen, ob sie lieber Kulturwissenschaften in Passau oder BWL in Berlin studieren wollen.
Das automatische System ist das schnellere, es beruht auf unseren Instinkten – und es hat wenig mit Denken zu tun: Wenn du der unbeliebteste amerikanische Präsident aller Zeiten bist und jemand auf einer Pressekonferenz einen Schuh nach dir wirft, duckst du dich zur Seite. Du handelst instinktiv. Diese Fähigkeit unseres Gehirns ist vermutlich sehr alt, die Reaktion auf den heranfliegenden Schuh ist dieselbe wie die unserer Vorfahren auf ein heranstürmendes Mammut. Aber auch wenn du sehr rasch reagiert hast und der Schuh dich verfehlt, heißt das noch lange nicht, dass du schlau bist.
Es ist unheimlich, wie viele Entscheidungsprozesse wir täglich erfolgreich absolvieren, ohne sie überhaupt richtig wahrzunehmen. Jeden Tag sind es etwa 100 000. Essen, Auto fahren, telefonieren (oft sogar alles zur gleichen Zeit) bewältigen wir, ohne darüber nachzudenken. Hirnforscher nehmen an, dass uns nur 0,1 Prozent dessen, was unser Hirn an Arbeit leistet, überhaupt bewusst wird. Wie unfallfrei wir mit den restlichen 99,9 Prozent durchs Leben gehen, ist schon großartig. Die echte Sensation ist allerdings, wie viel besser intuitive Urteile häufig ausfallen als sorgfältig abgewogene, vermeindlich vernünftige Entschlüsse. Es gibt jede Menge Sachbücher, die das Unterbewusste im großen Stil feiern und ihre Leser auffordern, grundsätzlich weniger nachzudenken und intuitiver zu handeln. Ausschließlich mit dem Bauch zu denken ist natürlich praktisch. Aber es ist auch Blödsinn. Was richtig ist: Unser Unterbewusstes übersetzt Information in Emotion. Daraus formt es in Sekundenbruchteilen einfache, schnelle, intuitive Entscheidungsempfehlungen. Es ist ein genialer und extrem effektiver Apparat, dessen Ausdrucksweise unsere Gefühle sind. „Unser Gehirn hat es im Lauf der Evolution zu einer Meisterschaft gebracht, aus wenig Information rasch nützliche Schlüsse zu ziehen“, erklärt der Berliner Psychologe Gerd Gigerenzer. Wenn also die Frage ansteht, in welcher Stadt man ein Studium beginnen soll, und gar keine Gründe gegen Berlin findet, aber … irgendwie … ganz seltsam … eine kleine Stimme im Kopf hört, die murmelt: „Bei dem Gedanken an Berlin ist mir einfach nicht so wohl“- dann sollte man vielleicht genau auf diese Stimme hören, auch wenn sie keine logisch begründbaren Argumente liefert.
JEDEN TAG TREFFEN WIR 100 000 ENTSCHEIDUNGEN. DIE MEISTEN DAVON UNBEWUSST.
Allerdings nützt die tollste Intuition nichts, wenn wir auf Probleme mit unbekannten Faktoren treffen. Setzen wir uns an ein Schachbrett, ohne die Spielregeln zu kennen, werden wir wenig Freude an einem Spiel haben. In diesem Fall schaltet unser Gehirn das Bewusstsein wie einen Beraterstab hinzu. Jetzt muss sich unser reflektives System mit den Schachregeln auseinandersetzen, Probleme werden seziert und so lange in ihre Einzelteile zerlegt, bis sie gelöst sind. Ganz nebenbei hat das Nachdenken auch noch einen positiven psychologischen Effekt: Wir fühlen uns anschließend besser. Das Sammeln, Sichten und Abwägen von Argumenten verleiht uns ein Gefühl der Sicherheit, selbst wenn die harten Fakten unsere Entscheidung gar nicht verbessern. Bei der Frage, welche Waschmaschine man sich anschafft, macht schon der Kauf eines teuren Stiftung-Warentest-Heftes ein gutes Gewissen … selbst wenn man es dann vor der Kaufentscheidung nur sehr oberflächlich sichtet.
Die Sache mit der richtigen Entscheidung zur richtigen Zeit ist verdammt kompliziert – und kann schiefgehen, ganz egal, wie man’s anstellt. Es ist wirklich zum Totlachen: Selbst wenn wir alles Mögliche bedenken, jede Entscheidungsvariante sorgfältig abwägen, nächtelang grübeln … es warten trotzdem wenigstens drei Riesenschwierigkeiten. Erstens nützt das gründlichste Durchdenken ganz grundsätzlich oft wenig, weil zahlreiche Studien belegen, dass wir Menschen Weltmeister im Ausblenden wichtiger (für uns aber unangenehmer) Faktoren sind. Um nochmal aufs Schach zurückzukommen: Oft versuchen wir zwar, eine ganze Partie im Kopf zu planen … aber wir ignorieren dabei, dass das Spiel noch gar nicht begonnen hat und unser Gegner vielleicht ganz andere Züge spielt, als wir vorausberechnen.
Zweitens, so erklärt der US-amerikanische Psychologe Barry Schwartz, bedeuten mehrere Wahlmöglichkeiten überhaupt nicht mehr Zufriedenheit – im Gegenteil. „Die Auswahl ist heute in fast jedem Lebensbereich so groß, dass wir nach einer Entscheidung immer das Gefühl haben, wir hätten etwas falsch gemacht. Selbst wenn unsere Wahl gut war: Der Zweifel, ob nicht noch eine bessere möglich gewesen wäre, schmälert schon die Befriedigung.“
Und drittens, erklärt der Harvard-Psychologe Daniel Gilbert in seinem listigen Buch Ins Glück stolpern, „neigen Menschen dazu, sich die Zukunft immer so ähnlich wie die Gegenwart vorzustellen. Daher sieht die Zukunft in unserer Vorstellung zwangsläufig wie eine leicht verzerrte Version von heute aus.“
Leider hält sich die Zukunft nicht an unsere Fantasie – und schlimmer noch: Wir selbst tun es auch nicht. Wer mit 23 davon träumt, mit 40 Jahren ausgesorgt zu haben, und seinen Lebensplan entsprechend brutal auf maximale Karriere und maximalen Profit ausrichtet, bekommt das möglicherweise sogar hin. Übersieht aber dabei, dass sich seine Lebensziele im Lauf der Jahre auch fundamental ändern könnten. Entwickelt der Karrierist mit 30 Jahren plötzlich den dringenden Wunsch, Kinder zu kriegen, und unterdrückt dieses Verlangen, weil Nachwuchs nicht in seinen alten Lebensplan passt, läuft er große Gefahr, unglücklich zu werden. „Was die Treffsicherheit unserer privaten Zukunftsentscheidungen betrifft, gleichen wir Artilleristen, die mit einer einbetonierten Kanone auf höchst bewegliche Ziele feuern – und immer wieder feststellen, wie selten sie einen Volltreffer landen“, folgert der Journalist Harald Willenbrock in der sehr lesenswerten GEO-Titelgeschichte „Die Psychologie der Entscheidung“.
Also, was tun? Allein mit Bauchentscheidungen ist es nicht getan. Allein mit Vernunft auch nicht. Die Lösung liegt nahe … genau … die Mischung macht’s. „Wirklich gute Entscheidungen beruhen auf einer ausgewogenen Mischung von zielgerichtetem Denken und Intuition“, schreibt der Journalist und Schriftsteller Malcolm Gladwell in seinem Buch Blink! Die Macht des Moments. „Und die zweite Lektion ist, dass ein guter Entscheidungsprozess so schlank wie möglich ist.“Das bestätigen die meisten Forscher, so spinnefeind sie sich ansonsten auch sein mögen. Ganz bewusst „Für und Wider“abwägen und dafür ein strikes Zeitlimit setzen (ein paar Tage oder auch ein paar Wochen, je nachdem). Und dann, alte Hausmütterchenregel, am besten eine Nacht drüber schlafen. Denn in dieser Ruhephase sortiert und prüft unser Unterbewusstes die Argumente, die wir gefunden haben, und fällt auch oft schon einen Entschluss. „Sammeln Sie alle wichtigen Informationen, und dann vergessen Sie die Sache für eine Weile“, rät der Amsterdamer Psychologe Ap Dijksterhuis. „Machen Sie was ganz anderes, überlassen Sie dem Unbewussten das Denken. Auf diese Weise treffen Sie nachweislich die beste Entscheidung.“
Die „beste Entscheidung“muss übrigens überhaupt nicht die „vernünftigste Entscheidung“sein. Das Geld ausgeben, statt es zu sparen? Den Mann küssen, obwohl man selbst noch in einer anderen Beziehung steckt? Den Job kündigen, obwohl man noch keinen neuen hat? Die dritte Portion Nachtisch auch noch essen? Das klingt alles wirklich überhaupt nicht vernünftig – und kann unter bestimmten Umständen doch die genau richtige Entscheidung sein. Wir müssen schließlich nicht nur eine gute Wahl treffen, sondern auch eine, mit der wir leben können. Je schwerwiegender die Lebensentscheidung, desto wichtiger ist es, dass nicht nur unser reflektives, sondern auch unser automatisches System damit glücklich wird. Ist unsere Wahl zum Beispiel für unser Unbewusstes untragbar, kann sie auf Dauer auch gesundheitsschädlich wirken. Wer sich jeden Tag in einem Job aufreibt, der keinen Spaß macht; wer in einer Beziehung hängenbleibt, obwohl die Liebe längst erloschen ist; wer sich mit einem knallharten Diätprogramm quält und darüber den Spaß am Essen verliert, der zermürbt Bewusstsein und Unbewusstes in einem unendlichen Grabenkrieg. „Jeder, der ständig rational richtige Entscheidungen trifft, die sein Unbewusstes nicht mittragen kann, wird irgendwann psychisch krank“, erklärt der Hirnforscher Gerhard Roth. Oder: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“Nee, das ist leider nicht von uns. Das schreibt Theodor W. Adorno.
WIR MÜSSEN KEINE VERNÜNFTIGE WAHL TREFFEN – SONDERN EINE, MIT DER WIR GUT LEBEN KÖNNEN.
In den folgenden 14 Kapiteln haben wir die Frage PLANEN ODER TREIBEN LASSEN auf die unterschiedlichsten Lebensbereiche angewendet. Nochmal: Dieses Buch sagt nicht, dass es besser wäre, ein Planer oder ein Treibenlasser zu sein. Es sagt auch nicht am Ende jedes Kapitels, was jetzt genau zu tun ist. Dieses Buch ist eher … hm, erinnert sich hier noch jemand an den Sportunterricht in der Schule? Geräteturnen? Dieser fürchterlich kurze Anlauf, um dann mit einem viel zu kleinen Sprungbrett über diesen gewaltigen Bock zu springen? Und immer stand da einer, der Hilfestellung geben musste? Dieses Buch ist der Versuch, Hilfestellung zu geben bei den Bocksprüngen des Lebens. Das Ziel: Dabei zu helfen, dass wir alle möglichst sauber über den Bock kommen, ohne uns die Knie anzuhauen, ohne den ganzen Bock umzuwerfen. Dieses Buch soll helfen, möglichst viele Entscheidungen so zu treffen, dass wir möglichst zufrieden durchs Leben kommen. Und weil eine ganze Menge davon auch gar nicht von unseren Entscheidungen abhängt, sondern vom Zufall oder vom Schicksal (je nachdem, woran man glaubt), wünschen wir uns allen dafür auch noch: viel Glück.
Ach so, der Briefumschlag vor dir. Die unangenehme Post. Mach sie jetzt doch mal auf.
01 ELTERN
Soll ich mich gezielt um ein gutes Verhältnis zu meinen Eltern bemühen – oder darauf vertrauen, dass ich ihnen schon irgendwie nahe bleibe?
Warum Weihnachten für viele ein anstrengendes Fest ist – Was ein Wissenschaftler genau mit „undifferenzierte Ego-Masse der Familie“meint (und warum das keine Beleidigung ist) – Wie lange wir an der „emotionalen Nabelschnur“unserer Eltern hängen – Was Robbie Williams über das schwierige Verhältnis zwischen Vätern und Söhnen weiß – Wann es das Beste ist, den Kontakt zu den Eltern abzubrechen
In fast jedem Harry-Potter-Buch spielt Harrys Zugreise nach den Sommerferien – weg von seinem schrecklichen Zuhause bei den Pflegeeltern, hin in die Zaubererschule Hogwarts – eine wichtige Rolle. Es ist der Moment einer Verwandlung, für die es so gut wie keine Magie braucht, die aber dennoch eine magische ist: Harry Potter reist weg von seinem Leben als gegängelter, rechteloser und ungeliebter Pflegezögling, der seine Zauberkräfte nicht nutzen darf; hin zu seinem Leben als bewundertes, selbstbewusstes und (mehr oder weniger) selbstbestimmtes Individuum, das seine übernatürlichen Fähigkeiten nicht nur gebrauchen soll, sondern jedes Schuljahr noch vervollkommnen darf. Es ist eine Zugfahrt, während der Harry Potter in jeder Erzählung aufs Neue vom Kind zum Erwachsenen wird. Und am Ende des Schuljahrs, auf der Rückfahrt, wieder zum Kind.
Diese Verwandlung kann man nicht nur in Harry-Potter-Romanen nachlesen, man kann sie auch in der realen Welt beobachten, am besten zur Weihnachtszeit, in einem Zug, der aus einer Studentenstadt abfährt. Da sitzen wir dann. Zauberschüler, in unserem eigenen Hogwarts-Express auf dem Weg nach Hause, zurück in unsere Kindheit. Schon zu sagen, dass wir „nach Hause“fahren, klingt seltsam – schließlich bauen wir uns doch schon seit einiger Zeit ein eigenes, neues Zuhause (zugegeben: wir bauen nur mit Pressspan von Ikea, aber hey, immerhin!). Haben wir jetzt zwei Zuhause? Eben noch verabschiedeten wir uns von den Mitbewohnern in der WG-Küche, jeder nahm sich noch was aus dem alten Kühlschrank („Sonst wird’s schlecht“), der gepackte Rucksack stand schon im Gang („Kannst du auch noch ein paar leere Flaschen mit runternehmen?“). Los jetzt, mal wieder für ein paar Tage weg von unserem selbst gebastelten Leben aus tiefgefrorenen Pizzen, leeren Druckerkartuschen und überfälligen Seminararbeiten, mal wieder für ein paar Tage hin zu unseren Eltern, Lage prüfen, Weihnachten feiern, Vorräte einpacken. Zurück in das Reich unserer Eltern, in unser altes Zimmer, das lustigerweise immer noch bei allen „Kinderzimmer“heißt, selbst bei uns, obwohl wir uns längst nicht mehr wie Kinder fühlen.
SELTSAM: UNSER ALTES ZIMMER BEI UNSEREN ELTERN HEISST IMMER NOCH „KINDERZIMMER“.
Zwei Dinge, die im deutschen Sprachgebrauch immer rattern: Schienen und Gedanken. Vielleicht, weil man sich im Zug wie beim Nachdenken bewegt, ohne sich zu bewegen. Das Geräusch der Waggons auf Gleisen hat was angenehm Melancholisches. Draußen zieht eine weißgraue Landschaft vorbei, das Abteil ist natürlich überhitzt, man fühlt sich wie ein Weihnachtsplätzchen, das gerade gebacken wird. Draußen ist es eiskalt, im Abteil riecht es ein bisschen nach Schweiß, weil alle zu dick angezogen sind. Die Gepäcknetze sind übervoll, viele haben neben ihren Klamotten und Büchern auch noch eine Extratasche mit den Geschenken dabei. Die Juristen erkennt man an ihren Rollkoffern, in denen ausnahmsweise keine Gesetzbücher stecken, die Sportstudenten an ihren schmalen American-Apparel-Taschen (Seltsame Alltagsgr undregel Nr. 1: Immer reisen Sportstudenten mit dem leichtesten Gepäck). Und diejenigen, für die der Besuch zu Hause eher ein Pflichttermin ist als ein Vergnügen, erkennt man daran, dass sie einem anderen gerade recht laut ihre Abneigung gegen das Weihnachtsfest am Telefon erklären:
„… Ja ja, schon klar. Ich hätte nur echt Besseres zu tun, als jetzt wieder drei Tage lang auf heile Welt zu machen. In meiner Familie mag so gut wie niemand den anderen. Meine Eltern sind nicht umsonst geschieden. Meine Schwester verachtet mich und ich sie. Mein Vater hält mich für einen nutzlosen Bummelstudenten, der ihm nur auf der Tasche liegt, meine Mutter interessiert sich nicht erst seit der Scheidung nicht mehr für mich. Aber: Weihnachten verbringen wir zusammen. Wir schenken einander Dinge, die wir nicht brauchen. Wir singen, obwohl keiner singen will. Auf den Tisch kommt immer dasselbe … ja, natürlich gibt’s Gans, du weißt doch, was meine Eltern für Traditionsidioten sind. Doch, natürlich wissen sie, dass Iris und ich Vegetarier sind. Es ist ihnen aber egal. Und dann gibt es jedes Jahr Streit darüber, dass so viel Essen übrig bleibt. Natürlich betrinken wir uns alle. Und kurz bevor Papa anfängt zu heulen, gehen Iris und ich. Zum Glück treffen sich an Heiligabend ab Mitternacht immer noch alle aus der alten Klasse,im Alexini‘… was? Ja, sag ich doch! Hast du mal den Roman Die Korrekturen gelesen? Der Vater dement, die Mutter eine Glucke, die Geschwister bescheuert – tja, im Vergleich zu uns ist das eine vergnügte Musterfamilie … nee … ich weiß auch nicht, was das soll …“O Mann. Das wird ein Spaß bei ihm zu Hause. Frohes Fest.
Das Institut für Demoskopie Allensbach befragte 2004 über 1000 junge Deutsche, wo sie Weihnachten verbringen werden. 79 Prozent der Befragten antworteten: zu Hause. Die Mehrheit backt Plätzchen (über 75 Prozent), schmückt die Wohnung und einen Baum (89 Prozent), fast die Hälfte bastelt eigene Geschenke für andere. Nur vier Prozent der Ostdeutschen und sieben Prozent der Westdeutschen gaben an, vor dem Weihnachtsfest zu flüchten und über die Feiertage zu verreisen. Weihnachten ist das Familienzusammenführungsfest Nummer eins. Und damit die zuverlässigste Prüfungsgelegenheit für das Verhältnis zwischen Eltern und ihren Kindern.
Und natürlich besonders zwischen Eltern und den Kindern, die schon von zu Hause ausgezogen sind – neben Weihnachten gibt es ja kaum weitere verlässliche Besuchstermine. Schon gar nicht solche, bei denen eine „Familientradition“die Rollenverteilung der Beteiligten so festzurrt wie an Weihnachten. Wir kennen alle das Gefühl, in unserer Familie eine bestimmte Rolle einzunehmen: Zum Beispiel kann einer der Chef sein, ein anderer der Versöhner, ein Dritter der Clown und so weiter. Der Familientheoretiker Murray Bowen nennt das die „undifferenzierte Ego-Masse der Familie“. Egal, wie viel Zeit vergeht oder wie lange wir uns nicht mehr gesehen haben – sobald wir wieder an einem Tisch sitzen, fallen wir fast automatisch in unsere vertrauten Rollen. Ungefähr so wie Planeten, die nach einer kurzen Stippvisite in einer anderen Galaxie bei ihrer Rückkehr wieder in ihre alte Umlaufbahn gebracht werden. Bei Familienfesten, die sowieso nach einem festen Muster ablaufen, verstärkt sich dieser Prozess noch; an Heiligabend ist das Kind wieder Kind, das Familienoberhaupt wieder Oberhaupt. Egal, wie die Wirklichkeit aussieht.
Das kann angenehm sein, aber auch schrecklich nerven. Je nachdem. Auf jeden Fall ein eigenartiges Gefühl: Irgendwann hatten wir unser Elternhaus verlassen, um ein anderer, erwachsenerer Mensch zu werden. Kaum sind wir wieder zu Hause zu Besuch, sind wir wieder das kleine Mädchen, der kleine Junge, der Problemfall, der Superstar, wie auch immer. Grundsätzlich sei es sehr schwierig, sich von seinen Eltern oder seiner Erziehung wirklich zu lösen, schreibt der Psychotherapeut Howard M. Halpern in seinem Buch Abschied von den Eltern: „Wir sind wie eine Aktiengesellschaft, in der andere Leute die meisten Anteile und damit das Sagen haben. Und für viele von uns sind die größten Anteilseigner unsere Eltern.“
Bleiben wir mal bei diesem Bild der Aktiengesellschaft. Wenn im Verhältnis zwischen Kind und Eltern alles in Ordnung ist, ist auch die Verteilung der Aktienpakete kein Problem. Alle Aktionäre verfolgen dasselbe Ziel, Mehrheitsverhältnisse und Verantwortlichkeiten sind geklärt, die Rendite misst sich am Lebensglück der Beteiligten und alle sind zufrieden.
Einen plötzlichen Kurssturz der „Aktie Kind“gibt es häufig durch den Prozess der „Individuation“. Eltern müssen damit klarkommen, dass sich die Beziehung zu ihren Kindern im Lauf der Zeit grundlegend umstrukturiert, weg vom Rollenverhalten „Eltern-Kind“hin zu einer Beziehung auf Augenhöhe, auf der sich zwei erwachsene Menschen begegnen. Die Schwierigkeit: ein Gleichgewicht zu halten zwischen der Unabhängigkeit des Kindes und dem Aufrechterhalten der Beziehung zueinander. Im Umgang mit den Eltern gehen Planer ganz anders vor als Treibenlasser – und beide Wege bergen Chancen und Gefahren.
Wenn mir mein Vater jetzt nicht mehr zu sagen hat, was ich tun soll und was nicht …
„… was ist er dann für mich? Mein Kumpel wollte er nie sein, seine Autorität ist ihm immer wichtig gewesen.“Marie schaut uns ratlos an. Hier im Zug fing sie irgendwann an zu kichern, weil wir alle sechs in diesem voll besetzten Abteil so ähnlich aussehen (so viel zum Thema Individualität), weil wir ganz offensichtlich auch alle das gleiche Ziel haben – nach Hause -, weil wir vielleicht sogar gerade auch ähnliche Sachen denken, weil wir fast alle schon mit Freunden am Mobiltelefon über die kommenden Tage gesprochen haben, ohne dass es uns groß kümmerte, dass Fremde mithören können.
„Statt aneinander vorbeizuglotzen, könnten wir uns auch was erzählen“, schlug Marie also vor. Und auch wenn eine Unterhaltung mit Fremden im Zug normalerweise so viel Reiz hat wie samstagmorgens von der GEZ aus dem Bett geklingelt zu werden, schauten wir sie alle irgendwie erleichtert an. Vielleicht weil Weihnachten ist (und Marie ganz gut aussieht, unter ihrer roten Wollmütze trägt sie ihre langen dunklen Haare offen). Jedenfalls erzählte Marie bald von Zuhause, einer Kleinstadt im Schwarzwald, in der der Bäcker dich mit Namen begrüßt und schon weiß, was du bestellst, noch ehe du einen Ton gesagt hast – und alle nickten, weil sie das wohl selbst kennen. Und sie erzählte, wie seltsam der Moment war, in dem sie vor zwei Jahren endgültig ihre Sachen gepackt hat und ausgezogen ist, zum Studieren. Und wie ihre Eltern kaum wissen, wie sie ihr begegnen sollen, obwohl sie früher nie ein Problem im Umgang miteinander hatten.
Egal, ob dabei Freude vorherrscht oder Furcht oder Drang oder Zwang – der Moment des Auszugs eines Kindes aus dem Elternhaus zählt zu den entscheidenden Augenblicken im Leben aller Beteiligten. Die einen lassen diejenigen zurück, von denen sie großgezogen, geprägt, umsorgt und gepflegt wurden – die anderen müssen ziehen lassen, was ihnen oft genug das Wichtigste im Leben ist. „Die Leere nach dem Sturm“betitelte der stern eine Geschichte über die schwierige Zeit für Lebenspartner, wenn die eigenen Kinder aus dem Haus sind. „Die eheliche Zufriedenheit sinkt in dieser Phase häufig auf einen bedenklichen Nullpunkt“, sagt der Hamburger Paartherapeut Wolfgang Hantel-Quitmann. „Empty Nest Syndrome“nennen Soziologen eine Form von Depression, unter der vor allem Mütter leiden. Es ist eine relativ junge Krankheit: Früher wurden Eltern selten alt genug, um den Auszug des Jüngsten noch zu erleben. Heute steht vielen bei guter Gesundheit mindestens nochmal so viel Zeit in Aussicht, wie sie mit der Erziehung ihrer Kinder zugebracht haben. Den Vater erwischt der Auszug der Kinder oft ähnlich hart: Gerade wollte er weniger arbeiten, sich endlich mehr um die Kinder kümmern … jetzt gehen sie fort. Psychologen nennen diesen Lebensabschnitt „Time-Shift“. Bis gerade eben ging es bergauf. Jetzt, auf dem Gipfel, übersieht der Vater seine Zukunft: Beruflich wird nicht mehr viel passieren, die Verhältnisse sind geordnet, das Kind ist aus dem Haus. Jetzt geht’s wohl bergab. Die Statistiker haben ermittelt, dass genau in dieser Zeit die Scheidungsrate noch einmal deutlich ansteigt.
MIT DEM AUSZUG DER KINDER STEIGT DIE SCHEIDUNGSRATE DER ELTERN DEUTLICH AN.
„Aber muss mein Papa mich deshalb behandeln, als wäre ich eine Außerirdische?“, fragt Marie. Und schließt an: „Na ja, komisch, dass mir das überhaupt so wichtig ist …“
Niemand im Abteil hat auf ihre Frage eine Antwort.
Was Marie betrifft, formuliert der Psychotherapeut Howard M. Halpern in seinem Buch einen interessanten Gedanken: „Je größer wir werden, desto weniger hängt unser physisches Überleben von unseren Eltern ab. In zunehmendem Maße lernen wir, uns selbst zu versorgen; unsere Abhängigkeit vom Wohlwollen unserer Eltern nimmt jedoch wesentlich langsamer ab.“Halpern nennt das die „emotionale Nabelschnur“.
Halperns Buch Abschied von den Eltern trägt die Unterzeile „Eine Anleitung für Erwachsene, die Beziehung zu den Eltern zu normalisieren“. Paul sollte es vielleicht mal lesen, er ist derjenige im Abteil, der vorhin so deutlich am Telefon erklärt hat, dass er auf Weihnachten mit seinen geschiedenen Eltern eigentlich überhaupt keine Lust hat. Als Marie anfing zu erzählen, verdrehte er die Augen, und in die Stille des Augenblicks sagt er jetzt nur: „Hängt da draußen an der Abteiltür ein Schild, das ich nicht gesehen hab? Therapiestunde, oder was?“Später fängt er doch an zu reden, ein bisschen zumindest.
Paul ist 24, seine Eltern haben sich scheiden lassen, als er 13 war. Irgendein Liebesbetrug, dem ein großes Drama folgte. Und die Frage an Paul, bei wem er bleiben wolle. Er habe seinen Eltern auf diese Frage bis heute keine Antwort gegeben, sagt er. Er wisse aber sicher, dass er nie heiraten werde und keine Kinder will.
„Ach Scheiße“, sagt er dann, mitten in einem Satz. Dann sagt er nichts mehr.
Sich gegen seine Eltern aufzulehnen oder mit Bitterkeit über ihre Fehler herzuziehen sei nur ein Anzeichen dafür, dass sie immer noch im Mittelpunkt sehr mächtiger Gefühle stünden, schreibt Halpern. „Dabei spielt es keine große Rolle, ob wir Tausende von Kilometern von unseren Eltern getrennt leben oder mit ihnen unter demselben Dach wohnen, ob wir sie sehr selten sehen oder jeden Tag. Im Grunde spielt es nicht einmal eine Rolle, ob sie tot oder lebendig sind. Der springende Punkt ist, dass wir in einer Wechselbeziehung mit ihnen verstrickt sind, die unsere Entfaltung behindert und unsere Selbstständigkeit einschränkt.“Und weiter: „Wir sind nicht frei und können nicht frei sein, solange wir mehr Rücksicht auf die Gefühle unserer Eltern als auf unsere eigenen Gefühle nehmen.“
Die Frage ist, ob Heiligabend der richtige Zeitpunkt ist, um große Streitfragen zu klären. Andererseits: Gibt es überhaupt einen idealen Zeitpunkt, um sich bei großen Konflikten mit seinen Eltern auseinanderzusetzen? Sollte man nicht einfach sein
VOM LEBEN GELERNT
ELTERN
„Eine traumatische Erfahrung wie der frühe Verlust meines Vaters ist wie ein Sprung in eisiges Wasser, ohne schwimmen zu können. Man hält sich über Wasser oder geht unter. Ich habe sehr schnell schwimmen gelernt.“
CHARLIZE THERONSchauspielerin
„Manchmal ist es gut, sich von den schweren Dingen zu trennen, die deine Eltern dir in den Koffer gelegt haben. Brauchst du ihre Vorsicht, ihre Angst?“
ROBBIE WILLIAMSMusiker
„Du bist ein Leben lang mit deinem Vater auf einer einsamen Insel. Je mehr du kämpfst, desto kleiner wird die Insel. Und zu weit hinausschwimmen macht auch keinen Sinn. Je früher du das einsiehst, desto glücklicher kannst du werden. “
ROBBIE WILLIAMSMusiker
„Dinge, die einen selbst erschrecken, sollte man seinen Eltern erst erzählen, wenn sie überstanden sind.“
SANDRA MAISCHBERGERModeratorin
Leben leben? „Mon dieu!“, sagt dazu die französische Psychotherapeutin Isabelle Filliozat, „Mein Gott! Eine Trennung von den Eltern ist psychologisch kaum möglich.“Sie rät allen „Treibenlassern“, die sich nicht weiter darum kümmern wollen, ungeklärte Probleme zu besprechen, unbedingt dazu, das Verhältnis mit den Eltern zu klären. Schon allein, um sich nicht in den „Fallstricken des Unbewussten“zu verheddern und irgendwann die gleichen Fehler bei den eigenen Kindern zu begehen. Und: „Diese Prägung durch die Eltern verschwindet auch nicht mit deren Tod. Wenn Frustrationen unsere Beziehung belastet haben, haben Vater und Mutter noch aus dem Grab heraus Macht über uns. Solange die Differenzen nicht ausgeräumt wurden, verfolgen uns ihre Gespenster.“Auch wenn’s leicht esoterisch klingt – das ist sinnvoll.
Also Klartext reden mit den Eltern? Aber wann? Das kommt natürlich erstmal auf das Problem an, auf die Eltern, auf die Lust, die man auf dieses Gespräch hat, auf die Dringlichkeit, mit der man reden muss. Isabelle Filliozat empfiehlt, erstmal ein paar Gefühle aufzuarbeiten und einige Grundregeln zu beachten. Zum Beispiel folgende:
1. WUT IST GUT. „Wut ist eine Emotion, sie ist eine physiologische Reaktion des menschlichen Organismus auf eine Verletzung, Frustration und Ungerechtigkeit. Sie ist keine Reaktion, die man um jeden Preis abschütteln müsste. Sie ist keine „Bosheit“. Die (gesunde) Wut regeneriert das Individuum und hilft dabei, wieder Harmonie in die Beziehung zu bringen. Gewalt zerstört, Wut heilt.“
2. IDEALISIERUNG BEENDEN. „Wir überwinden die Idealisierung unserer Eltern in dem Maß, in dem wir uns die Realität unserer Erlebnisse in der Kindheit bewusst machen. Oft verläuft dieser Prozess aber umgekehrt, das heißt, wir stürzen Vater und Mutter vom Sockel und erlauben so unseren Emotionen, sich zu äußern. Die Idealisierung ist ein unbewusster Abwehrmechanismus, der uns ein Überleben in unserer Familie ohne übergroße Leiden ermöglicht hat. Je mehr die Idealisierung schwindet, desto näher kommen wir in Kontakt mit unseren Emotionen als Kinder.“
3. WEG MIT DER PFLICHT ZUR DANKBARKEIT!