Planet hinter dem Nichts Band eins - Frida Seidel - E-Book

Planet hinter dem Nichts Band eins E-Book

Frida Seidel

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Beschreibung

Ein Raumschiff am Rande des Nichts. Ein Wesen, das Quantenstrukturen beeinflussen kann. Die Menschheit in 35000 Jahren? "Sie näherten sich langsam der Siedlung. Es regnete immer noch leicht, aber der Morgen dämmerte bereits und hüllte alles in ein fades, graues Licht. Die Umrisse der riesigen Urwaldbäume wurden deutlicher, auch die Stämme voller Lianen, die kreuz und quer wucherten und den Weg versperrten, waren jetzt früher zu erkennen, und so kamen sie besser voran. Lyra ging als Erste, ein Kurzschwert in der Hand, mit dem sie sich den Weg bahnte, nach ihr kam Ben, die Waffe gezückt. Hinter ihm Devin, dann Eiisa und Luwin. Beim Näherkommen erkannte Lyra die Umrisse der Gebäude: es war keine Wohnsiedlung, sondern ein militärisches Camp! Sie hob die linke Hand – ihr rechter Arm schmerzte zu sehr für unnötige Bewegungen -, alle hielten an. Eine kleine Handbewegung und alle stellten sich in einem engen Kreis um sie herum. "Das ist keine Siedlung, das ist ein Militärcamp!" flüsterte sie. "

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Seitenzahl: 371

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Planet hinter dem Nichts

Eine Geschichte zwischen den Zeiten

Von Frida Seidel

Buch eins: Hooi

Gefechte

Sie näherten sich langsam der Siedlung. Es regnete immer noch leicht, aber der Morgen dämmerte bereits und hüllte alles in ein fades, graues Licht. Die Umrisse der riesigen Urwaldbäume wurden deutlicher, auch die Stämme voller Lianen, die kreuz und quer wucherten und den Weg versperrten, waren jetzt früher zu erkennen, und so kamen sie besser voran. Lyra ging als Erste, ein Kurzschwert in der Hand, mit dem sie sich den Weg bahnte, nach ihr kam Ben, die Waffe gezückt. Hinter ihm Devin, dann Eiisa und Luwin. Beim Näherkommen erkannte Lyra die Umrisse der Gebäude: es war keine Wohnsiedlung, sondern ein militärisches Camp! Sie hob die linke Hand – ihr rechter Arm schmerzte zu sehr für unnötige Bewegungen -, alle hielten an. Eine kleine Handbewegung und alle stellten sich in einem engen Kreis um sie herum. „Das ist keine Siedlung, das ist ein Militärcamp!“ flüsterte sie. „Das bedeutet, wir nähern uns dem Flughafen!“

„Was machen wir?“ fragte Ben.

„Es gibt zwei Möglichkeiten“ antwortete sie. „Entweder wir umgehen es weiträumig oder wir versuchen dort unser Glück und finden Waffen und Ausrüst…“ weiter kam sie nicht, denn aus dem Nichts schoss ein Licht heran und traf Luwin ins Bein. Er sackte mit einem Schrei zu Boden.

„Verteilen, drei rechts, zwei links!“ rief Lyra halblaut, gerade noch rechtzeitig, bevor ihnen weitere Schüsse um die Ohren blitzen. Devin packte Luwin unter dem Arm und zog ihn hoch, schleppte ihn dann weiter hinter in ein naheliegendes Gebüsch, Eiisa folgte ihnen. Lyra schlich gebückt in einem Bogen nach links auf eine Gruppe von drei größeren Steinen zu, die ihr Deckung gaben. Ben lief ein paar Schritte dahinter. Auf der anderen Seite blitzen Schüsse auf; die anderen lieferten sich offenbar schon ein Feuergefecht mit den Angreifern. Lyra ließ sich hinter den Steinen nieder und winkte Ben, es ihr gleichzutun. Ein Knacksen im Wald lies Ben herumfahren, doch es war bereits zu spät. Ein Schuss traf ihn mitten in die Brust und er sackte wortlos in sich zusammen.

„Scheiße!“, fluchte Lyra leise vor sich hin. Sie sah nach oben, als das Licht plötzlich wechselte. Eine dunkle Regenwolke zog am Himmel vorbei, es hatte schlagartig aufgehört zu regnen. Sie wartete einen Moment, bis die Wolke genau vor dem kleinen, helleren Mond stand, der an Himmel bereits verblasste gegen das Licht der aufgehenden Sonne, dann hechtete sie mit einem langen Sprung zu Ben, griff sich seine Waffe und zog die Ersatzmunition von seinem Gürtel ab, prüfte kurz seinen Puls. Nichts. Sie holte kurz Luft, zielte auf die Stelle, aus der der tödliche Schuss gekommen war und schoss einmal. Stille. Mit ihren Sinnen tastete sie die Umgebung ab und spürte ein Lauern, jemand wartete auf sein Ziel, auf einen Fehler. Auf der anderen Seite der Gebäude war das Gefecht eingeschlafen.

Sie schloss die Augen und versuchte Eiisa zu erreichen.

„Schiess!!!“, flüsterte Lyra und lies das Bild eines bewaffneten Mannes in Eiisas Gedanken fallen. Eiisa, eine zierliche, blonde Frau mit langen Haaren und Armen voller Tätowierungen mit mystischen Kreaturen, hob ihre Waffe und feuerte sie in Richtung Wald.

„Was machst Du?“, zischte Luwin, als die Gegenseite prompt wieder mit Schüssen konterte.

„Ich… ich weiß nicht…ich dachte, da war etwas...“

„Weiber!“, brummte Devin. Luwin grinste schief und nickte Eiisa mit einer schmerzverzerrten Grimasse zu.

In dem Moment, als Eiisas Schuss fiel, hatte Lyra sich mit einer Abrollbewegung wieder hinter den Stein geworfen, gerade noch rechtzeitig. Sie spürte die Hitze, als ein Schuss knapp an ihr im Fallen vorbeiflirrte, ein zweiter traf ihr Bein und verursachte einen beißenden Streifschuss an der rechten Wade. Sie lehnte sich an den Stein, zog das rechte Knie an und kontrollierte die Waffe kurz mit beiden Händen. Ihre rechte Schulter schmerzte bis zur fast Hüfte hinab, der Aufprall über die Wunde hinweg war nicht besonders angenehm gewesen. Sie überprüfte den Streifschuss kurz; die Verletzung war nicht der Rede wert.

Und jetzt? Einer tot, zwei Verletzte – naja, sie hatte eher einen Kratzer – innerhalb von fünf Minuten. Sie fluchte leise. In Gedanken zählte sie die Gegner durch. Geschätzte zwölf, davon dürften zwei getroffen sein, einer war schwerverletzt oder tot.

Sie bewegte sich vorsichtig zum rechten Rand der Steingruppe und blickte um die Ecke. In der Morgendämmerung verblasste das fahle Licht der zwei Monde langsam. Aus einer Wolke direkt über ihnen hatte es wieder begonnen, leicht zu regnen. Lyra versuchte sich das Gelände einzuprägen. Direkt vor ihr war eine kleine Lichtung, dahinter waren mehrere Gruppen von Sträuchern und niedrigen Bäumen, vor dem Waldrand lag ein Stapel Holz exakt aufgeschichtet, hinter dem sie die anderen aus ihrer Gruppe vermutete. Links von ihr lag ein kleines Gebäude aus dunklem, verwitterten Stein, vermutlich die Stützpunktbasis. Knapp dahinter konnte sie die Umrisse eines kleinen nograv-Gleiters erkennen, der auf einer geebneten Fläche unter einem Tarnnetz abgestellt worden war.

Mehrere Schüsse blitzen fast gleichzeitig auf. Lyra zählte mit – eins, zwei, drei, fünf, dann vier Konter aus Positionen auf der anderen Seite. Das war gut, in ihrem Team lebten also noch alle, und vier Gegner waren weniger als sie erhofft hatte. Sie nahm die Waffe in die linke Hand, denn ihre Rechte war nach wie vor unbrauchbar für jede Art von feinmotorischer Bewegung. Sie drehte sich nach rechts herum, nahm den rechten Unterarm als Stütze für die linke Hand und schoss auf die Lichtpunkte. Fünfmal, dann rollte sie sich sofort wieder in die Deckung hinter den Stein.

Stille.

Ein Schuss blitzte vorbei, noch einer. Gleiche Waffe, gleicher Schütze. Lyra wartete, zählte die Sekunden, die zäh wie der feine Regen tropften. Nichts. Also vier Treffer, macht achtzig Prozent Trefferquote. Naja. Für die linke Hand nicht schlecht, aber sie war auch schon mal besser gewesen. Ihre Wunde brannte wie Feuer, der Schmerz schien sich regelrecht von der rechten Schulter bis mitten durch ihr Gehirn zu fräsen. Schweiß ran ihr über die Stirn. Sie wischte ihn ab, schüttelte den Kopf, versuchte sich zu konzentrieren. Sie spürte eine Bewegung im Raum und blickte vorsichtig um die Kurve des Steins, gerade noch rechtzeitig, um sieben Soldaten gebückt zu den Verletzten rennen zu sehen. Es waren eindeutig kaiserliche Regierungstruppen, das konnte sie jetzt gut erkennen, aber sie hatte eigentlich auch nichts anderes erwartet. Lyra holte kurz Luft, atmete aus und feuerte in der Drehung ihr Magazin leer, dann versteckte sie sich wieder hinter ihrer Deckung.

Sechs der Soldaten lagen am Boden, der siebte hinkte dem Gebüsch entgegen, während er hektisch in ihre Richtung feuerte. Als er gerade am Gebüsch angekommen war und sich dahinter versteckte, wagte sie einen Stellungswechsel und rannte mit ein paar Schritten nach links auf das Gebäude zu. Dort stand ein großer, alter Föördbaum mit mehreren Stämmen, der hervorragenden Schutz bot. Lyra hielt an, warf sich dahinter, lauschte. Stille, aus der Ferne das leise Stöhnen der Verletzten. Sie setzte sich mühsam ächzend mit dem Rücken an den Baum und streckte das rechte Bein vorsichtig wieder aus. Ein Streifschuss direkt in den Wadenmuskel, aus der Wunde lief helles Blut herab. Lyra betrachtete die Wunde kurz, die jetzt doch mehr schmerzte als vorhin, nahm ihre Waffe in beide Hände. Sie zog das Magazin heraus, leer. Ein Schweißtropfen rann über ihre linke Wange herab, sie wischte ihn mit dem Handrücken weg. Dann griff sie mit der rechten Hand an ihre Hüfte, wo das Ersatzmagazin hing. Sie erstarrte in der Bewegung. Wie aus dem Nichts war vor ihr ein Soldat aufgetaucht, ganz in Schwarz gekleidet mit schwarzem Helm und geschlossenem Visier, eine Handfeuerwaffe vor sich im Anschlag. Er war groß und schlank, durchtrainiert. Regungslos stand er vor ihr, seine Haltung eine einzige, stumme Geste.

So also sieht das Ende aus, durchzuckte es ihre Gedanken. Alles Blut wich ihr aus dem Gesicht, sie hob den Kopf leicht an und blickte zu ihm hoch, wartete auf den Moment, den Schuss, der allem ein Ende setzen würde. Ihr Gesicht verriet nichts, keine Bitte um Gnade, kein Betteln, kein Flehen, vielleicht einen Hauch von Unschlüssigkeit, ob danach endlich Stille war, Ruhe nach all dem Schmerz der letzten Monate, ein kurzes Zögern, Lebenswille gegen Lebensüberdruss. Die Zeit schien sich endlos zu dehnen und zu strecken, in alle Richtungen, sie hörte das Tropfen des Regens, der von den Blättern niederfiel, die Seufzer der Verwundeten, das Knacksen eines Zweiges, den ein Tier im Wald zertrat, irgendwo entfaltete sich eine Blume, sprengte ein Insekt seinen Kokon. Die Luft flackerte, die Konturen verschwammen vor ihr. Sie sah die Soldaten sich anschleichen, vermied den Streifschuss am Bein, der sie am Gehen hinderte, noch weiter zurück erkannte sie die Falle, bevor sie gestellt wurde. In einer anderen, flirrenden Realität hinderte ein umgestürzter Baum die Gruppe am Weitergehen, der Umweg rettete allen das Leben. In einer sehr schwach sichtbaren, sehr unwahrscheinlichen, Realität sah sie sich selbst tot am Boden liegen vor der Hütte, Ben kniete neben ihr in einer Blutlache und rief „Lyra!! Wach auf!“, und weinte. Ihr Geist materialisierte wieder in der Gegenwart, die Verschränkungen zerfielen in einen einzigen, realen Zeitfluss, dem Jetzt. Zwei, drei weitere Sekunden später stellte sie verwundert fest, dass sie immer noch lebte, dann nahm sie ganz langsam, wie in Zeitlupe, die Hände hoch, die rechte hielt noch das Magazin, die linke die Waffe. Der Soldat schoss immer noch nicht, sagte nichts, bewegte sich nicht. Als ihre Hände auf Schulterhöhe angekommen waren, machte er eine kleine Geste mit der Waffe zur Seite. Ohne seinen Blick zu verlieren legte Lyra langsam Magazin und Waffe neben sich auf den Boden.

Er rührte sich immer noch nicht. Was will er von mir, weshalb schießt er nicht?, dachte sie verwundert.

„Aufstehen, Hände hoch, umdrehen!“ sagte er endlich mit dunkler Stimme, etwas gedämpft vom Visier, wie aus einer anderen Realität klang seine Stimme in der zähen Stille. Langsam erhob sie sich, während sie versuchte zu begreifen, weshalb sie sein Anschleichen nicht gespürt hatte, nicht im Mindesten geahnt hatte. Da war nichts gewesen, kein Flirren in der Zeit, kein Hinweis auf eine Gefahr, einfach gar nichts. Seltsam. Als sie auf den Beinen stand und immer noch lebte – offenbar hatte er wirklich nicht vor zu schießen – fing ihr Gehirn langsam wieder an zu arbeiten.

„Auf die Knie und die Hände auf den Kopf!“ befahl er. Sie kniete sich vorsichtig ab, die linke Hand auf den Kopf gelegt, die rechte bis auf Schulterhöhe erhoben.

„Beide Hände!“ raunzte er sie an.

„Kann ich nicht, der Arm ist verletzt…“, erwiderte sie, aber das war ihm wohl zu langsam, sie spürte noch einen Schlag am Kopf und alles wurde schwarz.

Chrispen

Sie sackte zu Boden. Chrispen kickte die Waffe aus ihrer Reichweite und kniete sich neben sie. Mit der Hand strich er ihr die Haare aus dem Gesicht und drehte sie leicht auf die Seite, so dass er sie ansehen konnte.

„Lyra“ murmelte er, „was machst Du denn hier?“ Er zog ein Fesselband heraus, legte es auf ihre Handgelenke und lies es zuschnurren. Das gleiche machte er mit ihren Knöcheln, wobei er mit einem prüfenden Blick den Streifschuss an ihrer Wade taxierte. Dann fiel ihm ihre Antwort ein und er zog ihr Shirt an der rechten Schulter zur Seite, bis er den blutigen Verband über dem Schlüsselbein sah. Er sah sich um. Von seinen Leuten waren genau noch zwei am Leben. Dabei hatte der Tag zwei Stunden vorher so friedlich begonnen:

Morgenstern wachte früh auf, wie immer, wenn er Dienst hatte. Sein Kopf brummte noch etwas von den reichlichen Mengen kaltischen Bieres, das er gestern nach Dienstende mit seinen Männern verzecht hatte. Ab und zu musste das sein, um die Truppe bei Laune zu halten, obwohl er selbst nur noch selten trank und gar nicht mehr spielte, seit er bei der kaiserlichen Armee war. Aber die Mannschaft brauchte das, und er durfte sich nicht immer ausklinken; ein Offizier muss auch immer Teil des Teams sein, das hatte ihm der Militärpsychologe während der Ausbildung auf Karousza immer wieder eingebläut. Er setzte sich auf und sah sich um. Wo waren die Kopfschmerztabletten? Das Zimmer war nüchtern und sparsam möbliert. Neben einer Liege, die als Bett und als Sofa diente und mit dem üblichen Armeegrau bezogen war, gab es einen Kleiderschrank und einen kleinen Tisch mit zwei Stühlen, alles auf circa fünfzehn Quadratmetern. Daneben hatte er noch den Luxus der Offiziere: ein eigenes Duschklobad, geschätzte drei Quadratmeter groß, und einen Extraschreibtisch mit Kommandozentrale und Computer- bzw. Kommunikatorterminal, damit er ständig Kontakt zum Hauptquartier halten konnte.

Immerhin, dachte er sich, muss ich mir nicht täglich Dusche und Klo mit neununddreißig anderen teilen.

Das hatte er am Anfang am meisten gehasst, deswegen hatte er sich am Riemen gerissen, um so schnell wie möglich Offizier zu werden, auch wenn die anderen über seinen Ehrgeiz gelacht hatten.

Aber sie mussten ja auch nicht zehn Jahre wegen Spielschulden zwangsweise abbrummen, dachte er. Dann wenigstens zehn komfortablere Jahre.

Er streckte sich und stand auf, dann nahm er ein Glas Wasser und eine Kopfschmerztablette. Ein Blick auf das Display am Schreibtisch verriet ihm, dass heute nichts Besonderes anstand, ein ganz normaler, mieser Regentag auf Hooi mit seinem anstrengenden Klima. Zum Glück waren keine Stürme oder dergleichen angekündigt, denn er wollte heute von seinen Leuten die drei Gleiter, die zu ihrer Basis gehörten, sowie den Mannschaftstransporter checken lassen und den üblichen Service durchführen, der schon ein paar Tage überfällig war. Bei Sturm war das zu gefährlich, aber wie das Wetter heute aussah, konnten sie gleich anfangen.

Er zog sich an, wie immer ganz in schwarz, ein weiteres Privileg der Offiziere, die zwischen grau und schwarz wählen durften, außer natürlich bei der Paradeuniform. Schwarze Hose, schwarzes Hemd, er zögerte kurz, dann nahm er das Hemd mit den Rangabzeichen und schlüpfte hinein. Schwarze Socken, schwarze Stiefel, schwarze Seele, dachte er und grinste.

Wie Lyra immer gewitzelt hatte… warum muss ich jetzt plötzlich an Lyra denken? dachte er, das ist mir ewig nicht passiert.

Er runzelte die Stirn und verscheuchte die trüben Gedanken. Dann ging er in die Kantine und nahm sich ein belegtes Dauerbrot mit dem gesundem Vonallemetwasnurnichtlecker-Aufstrich, wie sie es nannten, und eine Tasse Tee. Der Kaffeeersatz hier war ungenießbar, Chrispen war da immer noch empfindlich. Er hatte viele gute Jahre damit verbracht, sehr viel Geld für noch besseres Essen und Trinken auszugeben, als dass er jetzt dieses Getränk auf leeren Magen ertragen konnte.

Außer ihm war nur der Stift, Rekrut Sonnleitn, und ein anderer Soldat schon wach, dessen Name ihm gerade nicht einfiel, einer der Neuen. Sonnleitn war gerade dabei, das Frühstück für die anderen Soldaten herzurichten. Am Display der Spülmaschine konnte Morgenstern sehen, dass er mindestens schon seit vierzig Minuten hier arbeiten musste; er nickte ihm lobend zu. Der Rekrut freute sich sichtlich darüber und werkelte emsig weiter. Gerade als er wieder hinausging kamen vier andere Soldaten herein, die ihn sofort militärisch grüßten. Er nickte ihnen kauend zu und verschwand wieder in seinem Zimmer. Zum einen war die Kantine der lieblosteste Raum, den man sich vorstellen konnte: triste graue, unbequeme Möbel in einem würfelförmigen Anbau aus dünnen Holzplatten, der innen mit Desinfektionsfarbe gestrichen war, natürlich in hellgrau. Dazu eine jämmerliche Deckenbeleuchtung und der stetig strenge Geruch nach Desinfektionsmitteln aus der Küche, um das gesammelte Ungeziefer von Hooi von den Lebensmittelvorräten fernzuhalten. Kam man nach Thekenschluss, so kam noch der penetrante Geruch von Chlor hinzu, alles zusammen eine sehr appetitliche Mischung, fand Chrispen.

Außerdem sollten die Soldaten in der Kantine unter sich bleiben können und einen Ort zum Lästern über die Vorgesetzten haben; das war jedenfalls seine Ansicht.

Wieder im Zimmer packte er seine Sachen ein; er wollte mit einer kleinen Truppe einen Streifzug machen, während die Techniker und der Rest sich um die Fahrzeuge kümmern sollten. Sie hatten vor kurzem Spuren eines Banta-Bären gesehen, der konnte ihnen im Winter Ärger machen, wenn sie ihn nicht vertreiben konnten. Einen Satz Wurfmesser, Munition, Pistole, Minikommunikator; er zögerte kurz, dann nahm er ein kleines schwarzes, achteckiges Kästchen aus dem Schrank und betrachtete es nachdenklich. Es war vollkommen symmetrisch gebaut und ebenmäßig schwarz, ohne Maserung, Struktur oder Tasten; es gab keinerlei Hinweis auf seine Funktion oder seinen Sinn.

Vvyyrrhische Technik, dachte er, makellos und unfassbar leistungsfähig. Er steckte es sich in eine Tasche am rechten Oberschenkel ein, ans linke Bein kam ein langes Messer mit dunkelgrauer, makelloser Klinge in die passende Scheide hinein; das Messer war vollkommen schlicht außer einem schmalen, goldenen Band, das sich am Griff nach oben wand und bei näherem Hinsehen wie eine Schlange aussah. So ausgestattet fühlte er sich vollständig, er hatte seine wertvollsten Dinge dabei.

Er nahm noch das Gewehr, eine Box Zusatzmunition und eine wetterfeste Jacke und legte sich alles zu Recht auf dem Stuhl. Dann machte er eine Durchsage: „Guten Morgen, meine Frühaufsteher und Langschläfer, heute ist ein schöner, neuer Tag auf unserem Lieblingsplaneten, der Strafkolonie Hooi. Wir alle werden heute einen Ausflug nach draußen machen, das Wetter ist als stabil angekündigt, soweit man der Vorhersage trauen kann.“ In der Kantine lachten einige, da sie wussten, wie unzuverlässig die Prognosen waren.

Und dass sie bei Kommandant Morgenstern auch mal lachen durften.

„Sanders, Burn, Prim und das M9 Team gehen mit mir, die anderen kümmern sich um die Fahrzeuge, und zwar um alle. Große Inspektion, alle hydraulischen Flüssigkeiten erneuern, alles prüfen und alle gefunden Schäden melden und sofort beheben, ist das klar? Bis heute Abend sind die Fahrzeuge fertig! Wer technisch nichts drauf hat, darf putzen und wienern und Teile schleppen. Das Kommando über die Techniktruppe hat wie immer Troussard. Abmarsch für alle in fünf Minuten! Ich wünsche einen schönen Tag auf Hooi, unser Lieblingsstrafkolonie!“

Er hörte förmlich die Flüche, als alle aufstanden und gleichzeitig losrannten, vor allem die, die in Richtung Toilette liefen, und grinste in sich hinein. Ein weiterer, schöner Tag auf Hooi! Er nahm das Gewehr und seine Jacke und ging hinaus. Es war fünf Uhr morgens, um sechs ging die Sonne auf, die Dämmerung war hier, so weit oben im Norden, noch nicht angebrochen, das würde noch etwa fünfzehn Minuten dauern. Die Basis befand sich im äußersten Sicherheitsring um die Flughäfen von Hooi, die beide, der zivile und der militärische, direkt neben der Hauptstadt Hooituine angelegt waren.

Hooituine war die einzige Stadt auf Hooi überhaupt; als der Kaiser beschlossen hatte, hier die größte Strafkolonie der bekannten Welten einzurichten, wurden alle anderen Siedlungen aufgelassen und die meisten Anwohner zwangsweise umgesiedelt auf andere Welten.

Hooituine ist die einzige Abwechslung überhaupt auf diesem Planeten, wenn man von Begegnungen mit exotischen Raubtieren und unangenehmen Krankheitserregern einmal absieht, die einem im Tropendschungel begegnen, dachte Chrispen.

Er selbst ging nur selten in die Stadt; die meisten dort angebotenen Vergnügungen interessierten ihn überhaupt nicht. Gelegentlich kam eines der Mädchen aus einem der Freudenhäuser auf der Basis vorbei, um Werbung zu machen; dann ließ er sich manchmal überreden und ging mit. Am nächsten Tag hatte er einen abgestanden Geschmack und ein schales Gefühl, das war alles, was übrigblieb, obwohl die Frauen sich größte Mühe gaben, ihm zu gefallen.

„Wir könnten heiraten.“ hatte Katarina, seine Lieblingsnutte, eine schöne Brünette mit großem Busen, einmal zu ihm gesagt. „Ich bin eine Hure, Du ein Soldat, das passt doch gut zusammen. Wir tun beide für Geld, was wir am besten können!“ Er hatte sie angelächelt, aber nicht geheiratet; sein Herz war nicht mehr wirklich bereit für eine feste Bindung.

Als alle beieinander standen und die Ausrüstung nochmals geprüft worden war, verteilte er zusätzlich einen Satz schwerer Sturmgewehre. Mit Banta-Bären war nicht zu spaßen, und so nahm jeder noch einen extra Satz Munition mit. Er sah auf sein Display. Ausbrüche waren heute keine gemeldet worden; vor zehn Tagen waren ein paar Steinbrüchler am Äquator als fehlend gemeldet, aber danach war nichts mehr. Die waren bestimmt längst tot und aufgefressen. In den zwölf Jahren, in denen er hier stationiert war, hatte es noch kein einziger Strafgefangener bis nach Hooituine geschafft; das Klima war einfach zu extrem und die Gefahren zu groß, als dass man ohne Ausrüstung irgend eine Chance hatte. Geschweige denn, zum Flughafen zu gelangen.

Er fand die Spur des Bären schnell wieder, als er mit Prim vorausging und das kleine Wäldchen umrundete, das an die Basis angrenzte. Sanders und Burn waren anders herumgegangen und gerade wieder in Sichtweite, als Burn plötzlich auf etwas zeigte; Sanders nahm das Gewehr hoch und feuerte in die angegebene Richtung, dann noch einmal, dann hatte auch Burn das Gewehr erhoben und schoss ebenfalls. Im schwachen Dämmerlicht des einsetzenden Tages konnte Morgenstern eine Gruppe von fünf unbekannten Personen erkennen, die sich jetzt hinter den Büschen versteckten. Einer war offensichtlich getroffen worden, denn ein anderer half ihm noch hinkend in Deckung zu gelangen. Zwei rannten in Richtung einer Gruppe von größeren Steinen, da hob Morgenstern die Waffe und schoss ebenfalls. Der erste sank getroffen zu Boden, doch der andere Schuss verfehlte sein Ziel. Mist, dachte Morgenstern, der sonst nie danebenzielte, und ärgerte sich.

Dann überlegte er.

Die Dreiergruppe lieferte sich jetzt ein Gefecht mit Burn und Sanders. Ein Licht verschwand auf seinem Display. Er gab Prim leise Anweisung, zurück zu gehen und die M9er hierher zu holen; Prim rannte geduckt nach hinten weg, in einem Bogen um das Gefechtsfeld herum.

Dann war wieder Stille, als er den einzelnen Gegner bemerkte, der offenbar die Stellung wechseln wollte, so wie er um die Steine spähte. Chrispen wartete reglos, das Gewehr im Anschlag, als aus dem Gebüsch hinten ein Schuss kam, daraufhin erwiderten seine Leute sofort das Feuer wieder, der Schütze zog sich zurück. Er ließ frustriert das Gewehr sinken, dann war Stille.

Der einzelne Schütze, der hinter der Steingruppe Deckung gesucht hatte, rannte unvermittelte zu einem alten, großen Baum, der etwas weiter weg stand und von dem aus man den ganzen Platz überblicken konnte. Chrispen riss das Gewehr hoch und feuerte zweimal, er erwischte ihn, wenn überhaupt, nur als Streifschuss, denn der Gegner rannte weiter und warf sich mit einer Rolle hinter dem Baum in Deckung.

Was für ein Scheißtag, dachte Chrispen, ich muss dringend auf den Schießstand, das gibt´s doch nicht! Ich hab dich doch erwischt, warte nur, ich krieg dich noch ganz, Du Mistkerl!

Dann war alles wieder leise, bis plötzlich Prim und die M9 um die Ecke des Holzstapels bogen. Doch der Einzelschütze nutzte die neue Situation und gab nun eine Reihe von Schüssen ab; dabei nutzte er den Baum geschickt als Deckung – und erzeugte Stille.

Morgenstern sah auf sein Armband und schluckte – zehn von seinen Leuten waren tot, zwei blinkten noch grün, also verletzt, aber am Leben. Was zur Hölle war das? Er musste sofort diesen Schützen eliminieren, sonst hatten seine Leute keine Chance! Er setzte seinen Helm auf und schloss das Visier, schaltete den Restlichtverstärker ein. Ehe er sich dessen bewusst war, hatte er auch das kleine Kästchen in die Hand genommen. Er aktivierte es mittels Fingerscan und verschwand in einer Raumzeitfalte, um Femtosekundenbruchteile später wieder aufzutauchen, diesmal direkt hinter der Steingruppe, wo der Schütze sich versteckt hielt.

Er trat keine zwei Meter von dem Schützen entfernt in diese Realität zurück. Und hielt erstaunt inne, die Pistole nach vorne gerichtet: der Schütze war eine Frau. Und zwar eine Frau, die er sehr gut kannte: es war Alyreia Shannon.

Sie saß am Boden angelehnt an den großen Stein, ein Bein ausgestreckt, aus einem Streifschuss an der Wade lief Blut; sie war gerade dabei, die Munition zu wechseln. Im schwachen Morgenlicht schimmerte ihr Haar golden, ihr Gesicht glänzte schweißbedeckt. Aber sie sah aus wie immer, wie damals – sie sieht kein bisschen älter aus, dachte er, seltsam… in diesem Moment hob sie den Kopf, erblickte ihn und erstarrte, kreidebleich sah sie ihn an, wie ein Verurteilter dem Henker ein letztes Mal ins maskierte Gesicht blickt und auf den Fall des Beiles wartet. Ihre Mimik war eine Mischung aus Fassungslosigkeit, wo der Feind so plötzlich herkam, sich so lautlos, so völlig unbemerkt sich hatte anschleichen können, und aus der unbedingten Erkenntnis, dass sie verloren hatte, ein beinahe erleichtertes Lächeln, eine fast freudige Resignation im Angesicht des Endgültigen.

Dann merkte er, dass er zögerte zu schießen, er starrte sie schon zu lange an. Er wollte es, er sollte es, aber er schaffte es nicht, den Abzug zu betätigen, obwohl er wusste, dass er es tun musste. Ihr fiel sein Zögern jetzt ebenfalls auf, er sah die Erkenntnis in ihren Augen gespiegelt. Sie blickte ihn an, suchte vergeblich die Augen hinter dem Visier, Verblüffung, Verwunderung mischte sich in ihre Mimik. Er entdeckte feine Linien des Schmerzes um ihre Augenwinkel, deren Quelle er nicht deuten konnte, und dann einen blutigen Verband an der rechten Schulter. Sie hob langsam die Hände hoch, die rechte hielt noch das Magazin, die linke die Waffe; als wüsste sie nicht, was sie sonst tun sollte, hob sie die Hände weiter an; zugleich schien sie selbst verwundert über ihr Handeln. Als ihre Hände auf Schulterhöhe angekommen waren, machte Morgenstern eine kleine Geste mit der Waffe zur Seite. Sie legte vorsichtig Magazin und Waffe neben sich auf den Boden.

„Aufstehen, Hände hoch, umdrehen!“ rief er ihr mit belegter Stimme zu; es klang seltsam durch den Helm. Sie erhob sich etwas unbeholfen, wie er feststellte, und drehte sich dann mit erhobenen Händen um, wandte ihm den Rücken zu.

„Auf die Knie und die Hände auf den Kopf!“ befahl er. Sie kniete sich ab, legte aber nur die linke Hand auf den Kopf, die rechte hielt sie auf Schulterhöhe hoch.

Keine Tricks, Alyreia, dachte er, verdammt nochmal, keine Tricks!

„Beide Hände!“ sage er nachdrücklich, man weiß nie, was sie versucht…

Sie entgegnete: „Kann ich nicht, der Arm ist verletzt.“

Er gab ihr einen leichten Schlag an den Hinterkopf, sie sank zu Boden und lag reglos vor ihm.

Lyra, dachte er, wie lange ist das jetzt her? Einundzwanzig Jahre?...?

Er kickte ihre Waffe mit dem Fuß weg, kniete sich ab zu ihr, strich ihr die Haare aus dem Gesicht, dann fesselte er ihr Hand- und Fußgelenke.

Er nahm den Kommunikator und wartete, bis Baldwin sich meldete. „Ich habe den Schützen. Wir haben mehrere Verletzte, schicken sie den Sanitrupp zur Basis eins!“

„Verstanden, Sir!“ brüllte Baldwin zurück. Immer das Gleiche, immer der Arschkriecher. Sobald es offiziell wurde, war Baldwin der perfekte Soldat. Privat war er ein überheblicher, arroganter, sadistischer Idiot, der am liebsten andere für sich arbeiten ließ und überhaupt nicht verstand, warum Chrispen Morgenstern sein Vorgesetzter war und nicht andersherum.

Chrispen seufzte und betrachtete Lyra, die immer noch bewusstlos am Boden lag. Sie sah wirklich fast so aus wie damals vor einundzwanzig Jahren, wirkte kein einziges Jahr älter. Vermutlich ist das meine verzerrte Erinnerung, dachte er sich und machte sich daran, sie aufzuheben.

Er hob sie vorsichtig auf und trug sie zum Haus. Er ging jedoch nicht zu dem nahegelegenen Häuschen, sondern ungefähr einen Kilometer weiter. Dort stand das Basis eins genannte Hauptquartier der Außensicherung, die den äußersten Abwehrring um den Flughafen bewachte. Insgesamt waren hier vierundsechzig Mann stationiert, von denen die meisten jedoch permanent auf Patrouille unterwegs waren, was auch notwendig schien angesichts des größten und einzigen Flughafens auf Hooi. Hooi war die größte Strafkolonie der kaiserlichen Regierung und jeder, der wahlweise kriminell oder auch nur politisch unliebsam war, von den aufsässigen Rebellen ganz zu schweigen, wurde dorthin gebracht.

Hooi war ein einziger Höllenplanet: es gab sumpfige Tropenwälder voller ekelhafter Krankheitserreger, staubige Trockenwüsten, in denen jedes Lebewesen innerhalb von Stunden verdorrte, und jenseits der Tag- und Nachtlinie dauerhaft eisige Minustemperaturen. Alles in allem keine einzige bewohnbare Lebenszone, was es den Bewachern einfach machte, denn sie mussten sich nicht wirklich um die Gefangenen kümmern. Alle Neuankömmlinge, die arbeitsfähig waren, wurden ohnehin in die Minen des Aijdargebirges gebracht, um dort nach Aridium und Schwefel zu schürfen. Hatten sie noch genug Energie, um irgendwann dort abzuhauen, so ließ man ein Rudel Sahiwölfe nach ihnen suchen, die üblicherweise bald zufrieden zurückkehrten. Und schaffte es einer wirklich, weiter weg zu fliehen, nun denn, das Klima war wirklich nicht sehr freundlich… Trotzdem hatte all die geballte Energie der Strafgefangenen kein anderes Ziel, als zum Flughafen zu gelangen und Hooi so schnell wie möglich zu verlassen. Entsprechend aufgerüstet waren trotzdem die Sicherungsanlagen, an deren äußerster Grenze Lyras Truppe angelangt war.

Chrispen öffnete die Tür, als ihm Baldwin schon entgegen kam. Er legte Lyra auf einer Liege ab, wobei ihm Baldwin misstrauisch zusah.

„Sir, ähm, … Gefangene..?“

„Wir wissen noch nicht genau, wer das ist, aber es könnte wichtig sein. Bewachen Sie sie gut, ich bin gleich wieder zurück!“

„Jawolllll, Sir!“

Er rannte hinaus in den Regen, der jetzt wie aus Kübeln vom Himmel schoss, und machte sich auf den Rückweg zum Ort des Gefechtes. Der Sanitrupp bog eben um die Ecke. Er winkte, der Gleiter hielt an und er sprang hinein. Er dirigierte sie zur richtigen Stelle, nur um dort festzustellen, dass tatsächlich lediglich zwei seiner Leute überlebt hatten. Die anderen und Lyras Begleiter waren alle tot. Sie ließen die Leichen vorerst liegen und brachten die Verletzten zur Versorgungsstation. Auf dem Weg dorthin ließ Chrispen sich wieder an der Basis absetzen und ging ins Haus.

Gefangen

Die Tür fiel hinter Morgenstern zu. Baldwin sah ihm kurz nach und überlegte. Vielleicht konnte er ja Wichtiges in Erfahrung bringen. Die Frau lag auf der Seite, Hände und Füße gefesselt. Ihre langen Haare waren wild verteilt um ihren Kopf und ihre Kleidung war verschmutzt. Sie trug ein schwarzes, ärmelloses Oberteil und eine eng anliegende, schwarze Hose, dazu schwarze Lederstiefel. Sie war immer noch bewusstlos.

Eigentlich sah sie ja harmlos aus, dachte Baldwin, aber das tun sie immer, vor allem die Frauen. Er nahm ein kurzes Seil und fixierte ihre Arme am Bettrand über ihrem Kopf, mit einem zweiten ihre Beine. So gefiel es ihm schon besser. Er stieß sie an, keine Reaktion. Er schüttelte sie fester an der rechten Schulter, sie blinzelte und sah auf, versuchte zu begreifen, wo sie war. Sie wollte sich zu bewegen, vergebens. Es sah die Erkenntnis in ihren Augen. Ihre Blicke fingen sich.

„Wie heißt Du?“ sagte er auf Intergal. Sie sah ihn nur an. Baldwin beugte sich zu ihr herunter.

„Ich frage dich nur ganz … einfache … Fragen. Es ist ganz leicht.“, sagte er dicht neben ihrem Ohr. Er roch nach billigem Alkohol und kaltem Zigarettenrauch. „Also, nochmal: Wie heißt Du?“

Sie sah ihn an, überlegte noch, welche Strategie die beste wäre, da schlug er unvermittelt und hart zu. Sie schmeckte Blut, der typische Geschmack organischer Eisenverbindungen breitete sich in ihrem Mund aus, ihre Unterlippe brannte.

„Frage zwei.“, flüsterte er „Was willst Du hier?“

Sie schluckte das Blut in ihrem Mund hinunter, da schlug Baldwin sie schon in den Magen. Lyra krümmte sich zusammen und schnappte verzweifelt nach Luft. Das fing nicht gut an. Ihr rechter Arm war völlig taub, ihre Schulter ebenso gefühllos, und die Wunde auf ihrem Rücken brannte wie Feuer. Und jetzt das.

In diesem Moment ging die schwere Metalltüre mit einem leichten Knirschen auf und Morgenstern kam herein. Baldwin zuckte zurück und nahm sofort Haltung an. Hatte er das noch gesehen? Baldwin wusste, dass Morgenstern ein Weichei war, der Gefangene lieber überleben lies anstatt wertvolle Informationen zu gewinnen.

„Immer erst nachdenken und dann zuschlagen, Baldwin!“, pflegte er zu sagen. „Man weiß nie, wozu man sie noch brauchen kann. Tot nützen sie einem gar nichts!“

„Alles in Ordnung, Kommandant! Gefangene weigert sich zu kooperieren!“ schrie Badwin ihm zackig entgegen.

„Abtreten, Baldwin, ich übernehme, bis der Transport da ist. Sorgen Sie dafür, dass die Leichen abgeholt werden und überprüfen Sie das Gelände, ob wir alle erwischt haben. Nehmen Sie sich ein paar Leute dafür!“ Der frustrierte Gesichtsausdruck von Baldwin, dem sein Spielzeug weggenommen wurde, änderte sich sofort, als er die Anweisungen bekam und die Aussicht hatte, ein paar Soldaten herumkommandieren zu dürfen. Er rannte sofort nach draußen und begann Befehle in seinen Kommunikator zu brüllen.

Chrispen trat hinter ihn an die Tür, schloss sie und schob den Riegel vor.

Lyra lag leicht gekrümmt auf der Seite, Arme und Beine an der Liege festgebunden. Sie hatte die Augen geschlossen und kämpfte mit dem Schmerz, versuchte, den Kopf freizubekommen und einen klaren Gedanken zu fassen. Eine Tür ging auf, sie nahm leise Schritte wie durch einen Nebel wahr. Nochmal die Tür, das leise Klacken eines Riegels. Regentropfen, ansonsten nur Stille. Sie wartete, nichts, kein Laut, aber da war jemand. Lyra öffnete die Augen, blinzelte. Vor ihr stand der Soldat, der sie gefangen genommen hatte. Sie hob vorsichtig den schmerzenden Kopf, versuchte seine Augen hinter dem Visier zu finden. Er sah sie nur kurz an und ging weg. Sie schloss die Augen wieder, nur um sofort aufzufahren von dem Gefühl, beobachtet zu werden. Er stand wieder vor ihr, seine Hand bewegte sich auf sie zu. Instinktiv holte sie kurz Luft und spannte sich an, um einen Schlag abzufangen, doch in diesem Moment wischte er mit einem Tuch über ihr Kinn, um das dünne Blutrinnsal wegzuwischen, das aus ihrer Unterlippe herablief.

„Ich hätte dich mit dem Depp nicht allein lassen sollen.“, brummte er. Er überlegte kurz und löste ihre Arme vom Bett, so dass sie zwar noch gefesselt war, die Arme aber nach unten bewegen konnte.

„Besser?“, fragte er, ohne auf eine Antwort zu warten. Mit einem kurzen Ausatmen nahm sie beide Arme vor ihren Bauch. Ein stechender Schmerz zuckte durch ihre Schulter und das gebrochene Schlüsselbein. Lyra versuchte keine Miene zu verziehen, was ihr nicht gelang, stattdessen krümmte sie sich vor Schmerz und versuchte ruhig zu atmen.

Interessiert beobachtete Chrispen ihr Mienenspiel hinter dem Visier. Sie schien stärkere Schmerzen zu haben als er vermutet hatte, dazu kannte er sie gut genug. Ihr krampfhaftes Bemühen, unbeteiligt zu wirken, verriet schon alles. Er löste ihre Handfesseln und hielt ihren linken Arm fest, dann nahm er rasch das abgeschnittene Seil und band die linke Hand wieder am Bett fest. Mit einer schnellen Handbewegung zog er ihr Shirt über der Schulter zurück. Sie hob reflexartig den rechten Arm, um ihn daran zu hindern. Er fing ihre Hand auf und verdrehte ihr dabei leicht den Unterarm. Sie verzog das Gesicht.

„Was ist mit dem Arm?“ fragte er.

„Nichts!“ schnappte sie zurück.

„So, nichts also. Deshalb schießt Du auch mit links – zwölf Schuss, zehn Treffer ist nicht deine normale Quote, Lyra.“ Sie erstarrte, sah ihn regungslos an, abwägend. Er wusste, wer sie war, was zwar erklärte, warum er nicht geschossen hatte, aber auch bedeutete, dass es gut möglich war, dass er wusste, was sie wert war, je nachdem, was er mit ihr vor hatte. Bei seinen Leuten konnte das eine satte Beförderung bedeuten oder bei den Kopfgeldjägern einen Batzen Geld – beides keine guten Optionen für sie: Sie musste sehen, dass sie hier schnell weg kam.

„Also? Was ist mit deinem Arm?“, fragte er nochmal und drehte ihr mit einer schnellen Bewegung den rechten Arm ein wenig weiter auf den Rücken. Sie keuchte auf und unterdrückte dabei mühsam einen Schrei. Schmerz flackerte in bunten Kreisen vor ihren Augen.

„Das Schlüsselbein ist gebrochen!“, stieß sie hervor. Ihr stand der Schweiß auf der Stirn.

„Soll ich loslassen?“, fragte er leise und ganz nah an ihrem Ohr. Er roch nach Moschus und frischem Laub. Vage kam ihr der Geruch vertraut vor, aber es fiel ihr nicht ein, woher.

„Bitte,… ja.“, erwiderte sie durch die zusammen gepressten Zähne hindurch. Er sah den Schweiß, die leichten Schmerzfalten im Augenwinkel, die Ränder unter ihren Augen, er gab ihren Arm frei. Sie ließ ihn einfach nur fallen und schloss kurz die Lider. Als sie die Augen wieder öffnete, stand er neben ihr mit einem Medikoffer in der Hand.

„Was willst Du von mir? Weshalb hast Du nicht geschossen?“, fragte sie ihn plötzlich. Er sah sie nachdenklich an und nahm dann mit einer einzigen, fließenden Bewegung seinen Helm ab.

„Chris!“, flüsterte sie verwundert.

„Lyra.“, erwiderte er knapp. „Dreh dich auf die Seite!“ befahl er. Als sie zögerte, fügte er hinzu: „Ich bin immer noch Arzt!“

Mit einem Seufzer tat sie, was er von ihr wollte. Er zog ihr Shirt hoch und entfernte den Verband, der bis zur Hüfte hinunter reichte. Der Stoff war ihm im Weg, aber er wollte das Shirt nicht zerschneiden, da sie hier knapp an Kleidung waren. In der Tropenhölle Hoois hielt tragbare Kleidung selten lange durch. Als er die klaffende Wunde sah, die sich vom Schlüsselbein bis zur untersten Rippe zog, pfiff er zwischen den Zähnen hindurch.

„Was genau war das?“, fragte er. Die Wunde nässte und an zwei Stellen hatte sich Eiter angesammelt. Von den Rändern aus erstreckten sich schwarze Adern wie Finger in alle Richtungen, die sich verzweigten und bei genauerem Hinsehen ein merkwürdiges Eigenleben zu führen schienen. Er blinzelte.

„Ein vergiftetes Schwert.“, erwiderte Lyra.

„Ah. Also nur ein gebrochenes Schlüsselbein?“, kommentierte Chrispen. „Und was ist das?“ Er stupste mit dem Finger die oberste rechte Rippe an, die sich irgendwie seltsam unter der Haut abzeichnete.

„Au!“, stieß Lyra aus. „Eine gebrochene Rippe!“

Der Finger wanderte weiter.

„Ok ok, drei gebrochene Rippen.“, fügte sie schnell hinzu, bevor er weitere Schmerzpunkte austesten konnte.

„Was ist das für ein Gift?“, fragte er, während er mit einem Skalpell den Eiter öffnete. Sie schien es nicht einmal zu bemerken.

„Keine Ahnung, ich weiß nur, dass es sich ausbreitet. Und dass es mich eine Menge Energie kostet.“

Währenddessen hatte er mit sterilen Wattestäbchen die Wunde gesäubert, sie schien es nicht einmal zu bemerken, dass er sie berührte.

Fünf Minuten später betrachtete Chrispen zufrieden sein Werk. Die Wunde war gesäubert und neu verbunden. Lyra lag vollkommen reglos da, hielt die Augen geschlossen.

„Fertig.“

Sie reagierte nicht. Er stieß sie vorsichtig an, nichts. Sie atmete flach, aber regelmäßig.

„Weggekippt!“, brummte er. Na gut. Er ließ sie liegen und fing an, einen moosgrünen Rucksack einzuräumen mit Proviant, einem Zelt, etwas Werkzeug und wetterfester Kleidung. Der Kommunikator schnurrte.

„Ja?“, meldete sich Morgenstern.

„Kommander, es zieht überraschend ein Sturm auf. Wir können Sie in den nächsten sieben bis neun Stunden nicht erreichen und Ihnen auch nichts schicken. …“

„Kein Problem, ich komm schon klar.“, erwiderte er und schaltete ab. Auch nicht schlecht, dann konnte er sie noch ein bisschen ausruhen lassen. Er fing an, sich einen Kaffee zu kochen und wartete geduldig, bis die Maschine eine gelbgrüne Flüssigkeit in einem Blattbecher auswarf. Der Geruch erinnerte ihn nicht wirklich an das, was er als terrestrischen Kaffee kannte, aber leider gab es keine Alternative. Er schüttete Berge synthetischen Traubenzuckers hinein und trank einen Schluck, verzog leicht das Gesicht und stellte den Becher ab. Er legte die Füße überkreuzt auf den Tisch und schloss die Augen. In seinem Traum folgte er einem schwarzen Panther, der durch einen Dschungel voller seltsamer Geräusche streifte, bis er an einen dunkelgrünen Strom kam, der von Lianen gesäumt war.

Begegnungen

Das erste, was Lyra wahrnahm, war ein leises Brummen. Sie öffnete die Augen, neben ihr saß Chrispen angelehnt auf einem Stuhl, die Füße auf dem Tisch übereinandergeschlagen, einen Becher neben sich, und schnarchte leise. Sie bewegte sich, nur um festzustellen, dass ihr linker Arm und ihre Beine immer noch angebunden waren. Ihre Wunde schmerzte weniger, sie fühlte sich ausgeruht. Naja, etwas zumindest. Und sie musste aufs Klo.

„Chris!“, sagte sie. Keine Reaktion.

„Chris!!“, sie versuchte es etwas lauter. Keine Regung.

„Hey!“, schrie sie. Chrispen zuckte zusammen und warf dabei mit dem Fuß den Kaffeebecher vom Tisch.

„Was ist? Shit!“, fluchte er und sah dem Fleck auf dem Boden hinterher.

„Ich, äh, ich muss mal aufs Klo.“ Er sah sie an, halb verschlafen, halb überrascht und überlegte kurz.

„Okay.“ Er zog ein bemerkenswert großes Messer aus einer Scheide an seinem linken Oberschenkel und legte es neben sich auch den Tisch. Dann öffnete er bedächtig ihre Fesseln an Hand und Füßen, setzte sich wieder in den Stuhl und legte das Messer beinahe liebevoll quer vor sich hin. Lyra folgte dem Messer mit ihren Blicken. Sie rollte sich über die Seite, setzte sich auf und warf ihm einen fragenden Blick zu. Er zeigte mit einem entschuldigenden Schulterzucken auf einen Vorhang. Dahinter befand sich die Toilette und ein kleines Waschbecken. Vorsichtig ging Lyra hin; ihr Kreislauf fühlte sich noch instabil an und ihre Beine etwas wackelig. Chris sah ihr nach.

Immer noch ein geiler Hintern, dachte er.

Er schüttelte den Kopf, wie um das Gefühl wegzuwischen.

Als sie wieder herauskam, lehnte sie sich an die Wand neben dem Vorhang und blickte ihn an, abwartend, fragend, reglos. Er sah einen Schmerz in ihrem Blick, der aus der Geduld geboren war, der Geduld, die Hoffnungslosigkeit überdauert hatte über viele Zeiten hinweg, die aus dem Wissen einer Macht geboren war, die jenseits des üblichen Menschseins lag. Und er sah die dunklen Ringe unter ihren Augen, die vom fehlenden Schlaf herrührten, feine Linien im Augenwinkel, die von Erlebnissen gezogen worden waren jenseits dessen, was er sich vorstellen wollte. Sie hielt die Arme verschränkt, die rechte Schulter leicht verspannt höher als die unverletzte linke. Ihr Blick sagte alles und verriet doch nichts.

Sie wartete.

„Besser?“, fragte er. Sie ignorierte die Frage und fragte stattdessen: „Und? Wie geht es jetzt weiter?“

Wie sie da lehnte, in dieser typischen, lässig-provokanten Haltung, die ihr eigen war, die Arme übereinander geschlagen, an die Wand gestützt, erinnerte er sich an ihre erste Begegnung.

Er war als Neuling nach Karousza gekommen. Nachdem er sich beim Backgammon-Spielen total verschuldet hatte in einer durchzechten Nacht voller Schnaps und schöner Frauen, war ihm nichts anderes übrig geblieben, als seine Haut an den kaiserlichen Rekrutierungsoffizier zu verkaufen, die gerade händeringend Leute suchten. Also hatte er sich wohl oder übel für zehn Jahre verpflichtet. Die Ankunft in der Ausbildungsbasis war nicht besonders freundlich gewesen. Das Wetter war warm und ein kurzer Regenguss hatte die Luftfeuchtigkeit extrem erhöht, was er nicht sonderlich mochte, aber eindeutig besser war als die Aussicht auf einen Lageraufenthalt auf Hooi mit seinem schaurigen Klima.

Der Empfangssergeant fragte ihn knapp und kurz nach seinen Daten. „Schon mal gedient?“

„Nein.“ Die Antwort schien den Sergeant nicht zu berühren, er kreuzte eine Auswahl auf seinem Monitor an. „Kampferfahrung?“

„Naja.“

„Also ja oder nein?..... Nahkampf? Messer, Schusswaffen, Sprengstoffkunde?“

„Nahkampf etwas. Messer ja, Schießen geht so. Mit Spengstoffen kenne ich mich etwas aus, hab mal ´ne Zeitlang auf Ziijaa beim Mienenschürfen gearbeitet.“

„Na, das ist doch schon was. Zimmer 307, hier ist Ihr Türchip. Melden Sie sich sofort nach dem Einchecken bei Leutenant Shannon zum Tauglichkeitstest beim Waffentraining.“

„Jawoll.“

„Jawohl, Sir!“ Der Sergeant blickte ihn streng von unten herauf an. „Jawohl, Sir!“ wiederholte er und dachte sich, das fängt ja gut an.

Er hatte seine wenigen Sachen schnell in den Schrank im Zimmer geräumt und war danach auf die Suche nach dem Trainingsraum gegangen. Ein muskulöser, untersetzter Typ mit Muscle Shirt und Shorts in Tarnmustergrün und Turnschuhen hatte ihn zweifelnd von oben bis unten gemustert und ihm dann den Weg zur Sporthalle gezeigt, ihm grinsend noch viel Spaß gewünscht. Als er die Halle betrat, war er überrascht. Im Gegensatz zu der nüchterngrauen Betonatmosphäre des Gebäudes war der ganze Raum mit echtem, hellem Holz verkleidet. An einer Wand hingen mehrere große Tafeln mit Abbildungen von Menschen, deren Sinn er nicht genau zuordnen konnte. Das Deckenlicht strahlte gleichmäßig. Am Boden waren bunte Markierungen angebracht, und etwa zwanzig Männer rannten in wilder Ordnung einem eiförmigen Ball hinterher, die Hälfte davon in hellgrünen Oberteilen. Ein in dunkelblau gekleideter Mann stand an der Seite und pfiff ab und zu den Spielern etwas zu. An der Seite standen mehrere Leute herum, die sich dehnten oder anderweitig warm machten, darunter zwei Frauen. Bei genauem Hinsehen konnte er auch in einer der Mannschaften noch drei weitere Frauen ausfindig machen. Er grinste zufrieden in sich hinein, als jemand zu ihm sagte: „Du bist der Neue?“ Eine rothaarige Frau stand neben ihm. Sie war in etwa in seinem Alter, ungefähr einen Kopf kleiner als er und hatte die Haare zu einem anliegenden Zopf geflochten. Sie war barfuß, trug nur eine lange, schwarze Hose und ein ärmelloses, schwarzes Oberteil, unter dem sich ihr Busen deutlich abzeichnete. Ihre grünen Augen sahen ihn prüfend an.

„Ja.“, erwiderte er. „Chrispen Morgenstern.“

Statt einer Antwort drückte sie ihm ein grünes Trikot in die Hand. „Der Ball gehört ins Tor, und dein Tor ist da unten.“, sagte sie mit spöttischer Miene und ging weg.

Zwei Stunden später war er schweißgebadet. Nach dem Ballspielen hatten sie sich in Gruppen aufgeteilt, die abwechselnd Nah- und Bodenkampftechniken trainierten. Eigentlich hatte er sich für recht gut gehalten – er hielt immerhin den braunen Gürtel im Shinkendo – doch hier musste er feststellen, dass er ein eher Anfänger war. Einen großen, massigen, braungebrannten Mann namens Michael hatte er erfolgreich zu Boden geworfen, um dann festzustellen, dass fünfundzwanzig Kilogramm mehr doch ein erhebliches Mehr an Gewicht sind. Er gab auf, als er keine Luft mehr bekam, nachdem Michael sich auf ihn gerollt hatte und einfach liegen geblieben war.