Platon - Hellmut Flashar - E-Book

Platon E-Book

Hellmut Flashar

0,0
23,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Kein Philosoph hat über die Jahrhunderte bis in die unmittelbare Gegenwart hinein eine so reiche Wirkung erfahren wie Platon. Dabei bleibt der Autor der platonischen Dialoge im Verborgen: Er selbst tritt nicht als Dialogpartner auf, sondern lässt Sokrates mit anderen diskutieren. Obwohl Platon – der Begründer der "Akademie" – über eine interne Prinzipienlehre verfügte, hat er seine Philosophie ausschließlich in Form von Dialogen artikuliert. Damit zeigt er, dass das Philosophieren im Sinne einer Suche nach der Wahrheit immer im lebendigen Vollzug stattfindet: Der Dialog ist das notwendige Mittel des philosophischen Denkens. Darin liegt die Einzigartigkeit des platonischen Werkes.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 313

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Kein Philosoph hat über die Jahrhunderte bis in die unmittelbare Gegenwart hinein eine so reiche Wirkung erfahren wie Platon. Dabei bleibt der Autor der platonischen Dialoge im Verborgenen: Er selbst tritt nicht als Dialogpartner auf, sondern lässt Sokrates mit anderen diskutieren. Obwohl Platon – der Begründer der „Akademie“ – über eine interne Prinzipienlehre verfügte, hat er seine Philosophie ausschließlich in Form von Dialogen artikuliert. Damit zeigt er, dass das Philosophieren im Sinne einer Suche nach der Wahrheit immer im lebendigen Vollzug stattfindet: Der Dialog ist das notwendige Mittel des philosophischen Denkens. Darin liegt die Einzigartigkeit des platonischen Werkes.

Hellmut Flashar, 1929 in Hamburg geboren, ist emeritierter Professor für Klassische Philologie.

Hellmut FlasharPlaton

Philosophieren im Dialog

Deutsche Erstausgabe

Dieses Buch wurde ermöglicht durch die freundliche Unterstützung der Passagen Freunde – Freundeskreis des Passagen Verlags.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de/ abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

eISBN 978-3-7092-5045-7

ISBN 978-3-7092-0452-8

© 2021 by Passagen Verlag Ges. m. b. H., Wien

Grafisches Konzept: Ecke Bonk

Satz: Passagen Verlag Ges. m. b. H., Wien

http://www.passagen.at

Inhalt

Vorwort

Die Jugend: Begegnung mit Sokrates

Laches – Tapferkeit

Charmides – Besonnenheit

Ion – Dichtung

Hippias Minor – Achill oder Odysseus

Euthyphron – Frömmigkeit

Protagoras – Lehrbarkeit der Tugend

Die Apologie des Sokrates – Sokrates vor Gericht

Kriton – Sokrates im Gefängnis

Die erste Sizilienreise

Wieder in Athen: Gründung der Akademie

Gorgias – Rhetorik

Menon – Wissen und Tugend

Lysis – Freundschaft

Euthydemos – Wissen und Sophistik

Kratylos – Sprache

Menexenos – Grabrede

Symposion – Platonische Liebe

Phaidon – Unsterblichkeit der Seele

Staat (Politeia) – Gerechtigkeit

Die zweite Sizilienreise und die Folgen

Die ungeschriebene Lehre

Phaidros – Rhetorik unter der Platane

Parmenides – das Eine und das Viele

Theätet – Seele und Erkenntnis

Die dritte Sizilienreise

Der Sophist (Sophistes)

Politikos

Philebos – Lust

Timaios

Kritias – Atlantis

Gesetze (Nomoi) – Der realisierbare Staat und seine Verfassung

Platons Tod

Stufen der Rezeption

Anmerkungen

Literatur

Vorwort

In der von mir herausgegebenen Reihe Die Philosophie der Antike sind in der Bibliographie des Bandes über Platon (II 2, 2007, verfasst von Michael Erler) mehr als 6000 Arbeiten über Platon genannt. Sie haben dazu beigetragen, das Werk Platons zumeist in Teilaspekten, aber auch in Gesamtdarstellungen dem Verständnis zu erschließen.

Das vorliegende Buch unterscheidet sich von den meisten dieser Arbeiten durch den Anspruch einer Sofortverständlichkeit. Es wird nichts vorausgesetzt und wer Platon nur dem Namen nach kennt, aber keine Vorstellung von seinem Werk hat, soll mit diesem Buch in seine Philosophie und zugleich in den Vollzug des Philosophierens eingeführt werden, und zwar so, dass durch einen Überblick über alle Schriften Platons nicht nur der Inhalt, sondern zugleich die Eigenart des platonischen Philosophierens sichtbar wird.

Für Anregungen und Korrekturen danke meinem Sohn Martin Flashar.

Zu danken habe ich Caroline Wahl für technische Hilfe, besonders aber auch für die Erstellung einer Druckvorlage. Ihre Arbeit wurde großzügig von der Fritz Thyssen-Stiftung gefördert.

Für das sorgfältige Lektorat von Seiten des Verlages danke ich Sophie Emilia Seidler.

Die Jugend: Begegnung mit Sokrates

Platon wurde im Jahre 428/27 v. Chr. in Athen (oder auf der Insel Aegina) geboren. Er stammte aus einer alten Athener Adelsfamilie, die ihren Stammbaum bis auf die Zeit der Könige zurückführte. Platon ist (abgesehen von Sokrates) der erste bedeutende Philosoph, der aus Athen stammte. Keiner der frühgriechischen Denker (der sogenannten Vorsokratiker) war Athener. Die frühgriechische Philosophie entwickelte sich aus drei Zentren, aus der Gegend um die kleinasiatische Küste (Milet, Ephesos) sowie aus den griechisch besiedelten Teilen Unteritaliens (Pythagoras und seine Schüler) und Siziliens (Empedokles).

Mit dem entscheidenden Anteil Athens am Sieg der Griechen über die Perser (480 v. Chr.), dem delisch-attischen Seebund und der Verlegung der Kasse des Seebundes nach Athen (454 v. Chr.) waren die Grundlagen gegeben, die Athen zu starkem Wachstum verhalfen und zu einer Metropole werden ließen. Dazu trugen auch die großen Feste bei, vor allem die Dionysien, die alljährlich im Sommer oder Herbst viele Besucher aus dem ganzen griechischen Raum (einen Staat „Griechenland“ gab es nicht) im Herbst zur Aufführung der Tragödien (und der Komödien im Frühjahr) nach Athen führten.

Die frühgriechische Philosophie war in Athen durchaus bekannt. Es gab einen regelrechten Buchhandel und Platon bemerkt einmal (Apologie 26B), man könne die Schriften des Anaxagoras (aus Klazomenai an der kleinasiatischen Küste) zu einem geringen Preis käuflich erwerben. Insgesamt aber hat die frühgriechische Philosophie mit der Frage nach Ursprung und Eigenart des Kosmos im Athen des 5. Jahrhunderts v. Chr. an Dynamik stark eingebüßt, wenn nicht überhaupt verloren. An ihre Stelle ist jetzt der Mensch mit seiner Stellung und seinen Aufgaben getreten, repräsentiert vor allem durch die Sophistik. So war Platon nach der üblichen grammatischmusischen Erziehung in seinem ausgeprägten Wissensdrang auf die Sophistik gestoßen, die zu dieser Zeit in Athen meinungsführend war. Zwar stammen ihre führenden Vertreter ebenfalls nicht aus Athen, sondern mit Protagoras aus Abdera (im nordöstlichen Griechenland), Gorgias aus Leontinoi (in Sizilien) und Hippias aus Elis (im Nordwesten der Peloponnes). Sie hielten in verschiedenen Städten Vorträge (gegen Entgelt), setzten sich aber dann vor allem in Athen fest. Auf sie stieß man im Athen dieser Zeit, wenn man über einen schulischen Unterricht hinaus nach weitergehendem Wissen fragte. Die Sophistik war eine durchaus emanzipatorische Bewegung, die nicht nach den letzten Prinzipien des Seins fragte, sondern im Menschen das Maß aller Dinge sah.1 Platon stand von Anfang an der Sophistik kritisch gegenüber. In ihrem Wissensanspruch sah er eine subjektive Beliebigkeit. Sie war ihm aber so bedeutend, dass sich die Auseinandersetzung mit ihr durch sein ganzes Werk zieht, zunächst in den frühen Dialogen mit dem Titel Hippias Minor (der Dialog Hippias Maior ist wahrscheinlich unecht), Protagoras, Gorgias und in dem späteren Dialog Der Sophist (Sophistes). Dabei ist Platon dem im Jahre 411 v. Chr. verstorbenen Protagoras kaum noch persönlich begegnet, wohl aber den anderen namenhaften Sophisten.

Die gleiche Zeit war aber auch durch eine Blüte der Tragödie und Komödie bestimmt. Alljährlich wurden auf den großen Dionysien die Dramen des späten Sophokles und des Euripides, aber auch der zahlreichen anderen (circa fünfzig) Tragödiendichter, von denen nur wenige Fragmente erhalten sind, aufgeführt, und daneben – vor allem auf dem im Frühjahr gefeierten Fest der Lenäen – die Komödien des Aristophanes und anderer Dichter. Etwa vom Jahre 410 v. Chr. an wird Platon die Möglichkeit gehabt haben, derartige Aufführungen zu besuchen. Diese Zeit war aber auch ein Höhepunkt in der bildenden Kunst, wie er vor allem durch die Vollendung der Bauten auf der Akropolis sichtbaren Ausdruck fand. In einer solchen Atmosphäre wuchs Platon auf.

Bei alledem ist zu bedenken, dass Platons Geburt und Jugend in eine Kriegszeit fallen. Als Platon geboren wurde, hatte Athen gerade eine verheerende Seuche („Pest“) hinter sich, an der Perikles (der bedeutendste Politiker der Zeit) starb, die aber auch moralisch zersetzend wirkte. In den ersten Kriegsjahren gab es immer wieder Einfälle der Peloponnesier in das attische Land, Felder wurden zerstört, Bäume gefällt, sodass Athen zeitweilig wie eine von der Außenwelt abgeschnittene Festung wirkte. In die Zeit von Platons Kindheit fiel dann der (brüchige) Friede des Nikias (422/1 v. Chr.) und die für Athen verheerende Sizilische Expedition (416–414 v. Chr.). Bei der endgültigen Kapitulation Athens (404 v. Chr.) war Platon vierundzwanzig Jahre alt.

Prägend war aber die Begegnung mit Sokrates, um dessen Leben und Wirken es viele, schon früh einsetzende Anekdoten gibt. Einigermaßen sicher ist, dass Sokrates ca. 469 v. Chr. geboren ist, also circa vierzig Jahre älter als Platon war. Sokrates war der Sohn einer Hebamme namens Phainarete und er war verheiratet mit der sagenumwobenen Xanthippe, die als schwierig und widerspenstig galt. Xenophon berichtet in seinem Symposion, Sokrates habe auf die Frage, warum er eine so unverträgliche, widerspenstige Frau geheiratet hat, geantwortet: Wer ein guter Reiter werden wolle, sucht sich auch nicht ein ruhiges, sondern ein feuriges Pferd aus (Symposion 10). Sokrates hatte drei Söhne, von denen zwei noch Kinder waren, als er im Jahre 399 v. Chr. vor Gericht stand. Das hat zur schon früh aufgekommenen Anekdote geführt, Sokrates habe nach oder neben Xanthippe noch eine andere Frau namens Myote gehabt. Aber wenn nach dem zuverlässigen Bericht Platons Xanthippe Sokrates im Gefängnis besucht und dabei den jüngsten Sohn auf dem Arm getragen hat, so erscheint die Anekdote von der zweiten Frau als unzutreffend. Auf jeden Fall aber ist Sokrates mit mehr als fünfzig Jahren noch einmal Vater geworden. Ins Reich der Anekdote gehört die Nachricht, Sokrates habe als Bildhauer gearbeitet, wie es sein Vater berufsmäßig getan hat. Ein wenn auch bescheidenes Vermögen erlaubte es ihm, zumindest den größten Teil seines Lebens philosophierend auf dem Marktplatz („Agora“) Athens zu verbringen. Im Übrigen war er ein gesetzestreuer Bürger, der auch als Hoplit (Schwerbewaffneter) seine Pflicht bei der Belagerung von Potideia (432 v. Chr.), in der Schlacht von Delion (424 v. Chr.) und vor Amphipolis (422 v. Chr.) vorbildlich erfüllt hatte (Laches 181A; Symposion 221A).2 In seinen Gesprächen auf dem Marktplatz Athens hat Sokrates vor allem vor jungen Menschen nicht etwa ein philosophisches System vorgetragen, sondern umgekehrt die umlaufenden philosophischen Lehren als Scheinmeinungen entlarvt, und zwar konzentriert auf den Bereich der Ethik. Über das, was Sokrates dem Abbau des Scheinwissens entgegengesetzt hat, gibt es zwei sich scheinbar widersprechende Nachrichten. Der immer wieder betonten Maxime des Sokrates: „Ich weiß, dass ich nichts weiß“, steht der von Platon (Apologie 21A–B) mitgeteilte Orakelspruch des mit Sokrates befreundeten Chairephon gegenüber, dem das Orakel in Delphi auf seine Frage, ob jemand weiser wäre als Sokrates, mitteilte, dass niemand weiser sei. Das Wissen um das Nichtwissen bedeutet nicht, dass Sokrates gar nichts gewusst hätte. Natürlich hatte er ein gewisses Maß an handwerklichem und alltäglichem Wissen, aber das Bekenntnis seines Nichtwissens betrifft die Prinzipien und Grundlagen allem menschlichen Handelns. Mit einer solchen Einstellung ist er täglich auf der Athener Agora vielen Bürgern begegnet und hat dabei vor allem auf junge Menschen stark gewirkt, am meistens wohl auf Platon, der etwa im Jahre 410 v. Chr. mit Sokrates bekannt wurde und in ihm Ausgangspunkt und Grundlage seiner eigenen Philosophie sah. Entsprechend knüpfen auch seine frühen Dialoge thematisch an den sokratischen Abbau von Scheinwissen an, und darüber hinaus ist in allen Dialogen Platons (mit Ausnahme des Spätwerkes (Nomoi) Sokrates als zumeist zentraler Gesprächspartner präsent.

Das demokratisch verfasste Athen konnte einen Bürger wie Sokrates ertragen. Als nach der Niederlage Athens im Peloponnesischen Krieg sich ein diktatorisches (Herrschaft der Dreißig) und dann oligarchisches System etablierten, wurde Sokrates als Gefahr für die Polis empfunden, angeklagt und verurteilt. Unmittelbar nach dem Tod des Sokrates verließ Platon Athen und begab sich zunächst nach Megara am Saronischen Golf, nur circa dreißig Kilometer von Athen entfernt. Ob er befürchtete, ebenfalls angeklagt zu werden, oder einfach nur Distanz gewinnen wollte, bleibt ungewiss. Auch dass sich dann weitere Reisen nach Italien und Ägypten angeschlossen haben, ist wahrscheinlich, aber in der antiken biographischen Tradition nicht widerspruchslos belegt. Bald ist er jedenfalls nach Athen zurückgekehrt, als sich die politische Situation des nun wieder demokratisch verfassten Athens beruhigt hatte. Jetzt hat Platon mit seiner schriftstellerischen Tätigkeit begonnen, aber wohl zunächst noch nicht gleich mit der Apologie des Sokrates, sondern mit einigen kleineren Dialogen. Dass Platon sein Leben lang ausschließlich Dialoge geschrieben hat, ist sokratisches Erbe. Sokrates war ein Gegner der langen Rede und führte Gespräche. Das nahm Platon auf, wobei es allerdings eine Entwicklung gibt. Während die frühen Dialoge das lebendige Gespräch widerspiegeln, finden sich in den mittleren und späten Dialogen auch längere Reden, nicht nur von Sokrates. Doch auch die längeren Reden stehen immer im Kontext eines Dialoges, auch im letzten Werk Platons, in den Gesetzen (Nomoi), in dem Sokrates – im Unterschied zu allen anderen Dialogen – als Gesprächspartner nicht mehr auftritt und auch nicht anwesend ist. Die Kraft und die Lebendigkeit der Sprache werden im Dialog erfahren.

Damit hängt das prinzipielle Misstrauen Platons gegenüber der Schriftlichkeit als Medium zur Vermittlung von Wissen zusammen. Aber der schriftlich konzipierte Dialog mildert die Gefahren einer schriftlichen apodiktischen Wissensübermittlung, indem er immer wieder Ergebnisse offenlässt und namentlich in den frühen Dialogen Platons zu einem aporetischen Schluss kommt. Dabei ist die chronologische Abfolge der platonischen Dialoge heute im Groben, aber nicht in allen Einzelheiten geklärt. Früher ist man ganz spekulativ verfahren. Schleiermacher hielt den Phaidros für den ersten Dialog Platons, weil er in der Auseinandersetzung mit Schreiben und Reden einführende Bemerkungen enthält. Heute kennt man dank der sprachstatistischen, zum Teil sogar durch Computeranalysen gestützten Forschung die Abfolge der platonischen Schriften im Groben (wenn auch nicht in allen Einzelheiten)3 und weiß, dass der Phaidros zum Spätwerk Platons gehört.

Laches

Wahrscheinlich ganz am Anfang steht der Dialog Laches.4 Denn in diesem Dialog wird an zentraler Stelle das Wirken des Sokrates charakterisiert, und zwar so, dass Platon den, auch historisch bekannten, Feldherrn Nikias zu seinem älteren Freund Lysimachos sagen lässt:

Du scheinst mir gar nicht zu wissen, dass, wer Sokrates im Gespräch ganz nahe gekommen ist, unvermeidlich, auch wenn er zunächst über etwas ganz Anderes begonnen hat, von ihm so lange im Gespräch pausenlos herangeführt wird, bis er ihn so weit gebracht hat, dass er Rechenschaft über sich selber gibt, auf welche Weise er jetzt lebt und wie er sein frühes Leben gelebt hat. Und dass er ihn, wenn er ihn dahin gebracht hat, nicht loslassen wird, bevor er das alles gut und sorgfältig geprüft hat (Laches 188A).

Hier wird Sokrates geradezu vorgestellt und eingeführt. Das geschieht ganz prinzipiell in diesem Dialog, so auch, wenn Laches zu Lysimachos sagt: „Lasse diesen Mann nicht los“, und anschließend die tapfere Haltung des Sokrates bei der Schlacht von Delion rühmt (181A–B). Platon war auf der Suche nach dem richtigen, verantwortbaren Verhalten. Er war überzeugt davon, dass dies in der Verwirklichung der kardinalen Tugenden liegt. Zu diesen kardinalen Tugenden gehört auch die Tapferkeit. Das Thema dieses Dialoges ist also die Tapferkeit und ein erstes Mal wendet sich Platon einer der Kardinaltugenden zu, die der Reihe nach das Thema verschiedener Dialoge bilden: Im Charmides geht es um die Besonnenheit, im Euthyphron um die Frömmigkeit und im Staat (Politeia) um die Gerechtigkeit, die vermutlich zuerst in einem Dialog mit dem Titel Thrasymachos behandelt war, der dann als erstes Buch der Politeia integriert wurde. Dabei legt Platon dar, dass diese kardinalen Tugenden auf Wissen beruhen. Das gilt auch für die im Laches erörterte Tugend der Tapferkeit. Nach von Laches vorgetragenen unzureichenden Definitionsversuchen, Tapferkeit sei Standhaftigkeit dem Feind gegenüber und Tapferkeit sei Beharrlichkeit der Seele, stellt Nikias die Definition auf, Tapferkeit sei das Wissen von dem, was zu fürchten und was nicht zu fürchten ist, die der sokratischplatonischen Auffassung nahekommt. Aber was ist es, das zu fürchten ist, und ist die Tapferkeit die gesamte Tugend oder nur ein Teil von ihr? Das sind Fragen, die offen bleiben, also zu einem für die Frühdialoge charakteristischen aporetischen Schluss führen, sodass der Laches mit der erneuten Empfehlung endet, sich Sokrates anzuvertrauen. Eine weitere Diskussion der angesprochenen Fragen ist also nur mit Sokrates möglich. Das ist der Anfang des platonischen Dialogwerkes.

Charmides

Auch in anderen Dialogen der gleichen Epoche wird Sokrates förmlich vorgestellt. Dazu möchte man bei aller Unsicherheit der Chronologie den Dialog Charmides rechnen.5 Geht es im Laches um die Tapferkeit, so ist hier die Besonnenheit das Thema. Platon lässt die Rahmenerzählung von Sokrates selber berichten. Sie knüpft thematisch an die im Laches diskutierte Tapferkeit an, weil ihr fiktives Datum 424 v. Chr. ist, als Sokrates bei der Belagerung von Potideia teilgenommen hat und gerade „nach langer Abwesenheit“ nach Athen zurückgekommen ist. Sokrates hatte sich als tapfer erwiesen, wie denn Platon die Tapferkeit des Sokrates gerade im Laches (181B) hervorgehoben hatte. Die beiden Gesprächspartner des Sokrates stammen aus Platons Familie. Charmides war der Bruder und Kritias ein Vetter von Platons Mutter Periktione. Das ist deshalb bemerkenswert, weil beide zu den sogenannten „Dreißig“ gehörten – Kritias als einer der „Dreißig“, Charmides als deren Sympathisant –, die nach der Niederlage Athens im Peloponnesischen Krieg acht Monate lang (von August 404 bis März 403 v. Chr.) eine Terrorherrschaft ausübten und dabei mehr als 1500 politische Gegner unter den Bürgern ermorden ließen. Dass sie dabei Sokrates für ihr frevelhaftes Tun missbrauchen wollten, bemerkt Platon ausdrücklich (Siebenter Brief 325A). Beide erscheinen jetzt, im Charmides, in positivem Licht, als Freunde und Anhänger des Sokrates. Das hängt damit zusammen, dass das fiktive Datum dieses Dialoges die Schlacht bei Potideia (430/29 v. Chr.) ist, an der Sokrates teilgenommen hat. In dieser Rückprojektion sind beide Gesprächspartner des Sokrates noch völlig frei von jeder missbräuchlichen Herrschaftsausübung, aber Platons Lesepublikum hatte die neuere Phase ihres Tuns im Gedächtnis. Dabei ist es dann eine ganz hintergründige Ironie, dass gerade sie über das Thema Besonnenheit diskutieren.

Auch in diesem Dialog wird Sokrates noch einmal vorgestellt, genauer gesagt: Platon lässt ihn sich selbst vorstellen, und zwar als Seelenarzt. Anlässe sind die Kopfschmerzen, von denen Charmides geplagt ist, wenn er morgens aufsteht. Sokrates legt dar, dass man den Kopf nicht allein behandeln kann, sondern nur im Ganzen des Körpers und diesen wiederum nicht ohne die Seele. Das hat Sokrates im Felde bei thrakischen Ärzten gelernt, während die griechischen Ärzte den meisten Krankheiten noch nicht gewachsen wären, weil sie „das Ganze“ verkennen würden. Sokrates als Seelenarzt – so lässt Platon ihn sich selber charakterisieren. Die verschiedenen Definitionen für das, was Besonnenheit ist, bleiben in diesem Dialog ohne Ergebnis. Aber am Schluss lässt Platon Kritias sagen, besonnen sei es, sich ganz dem Sokrates hinzugeben. Das aporetische Ende und die erneute Vorstellung (hier: Selbstvorstellung) des Sokrates lassen uns auch diesen Dialog in die erste, frühe Gruppe der platonischen Schriften einordnen.

Ion

Zu dieser ersten Gruppe von Dialogen Platons möchte man auch den früher fälschlich für unecht gehaltenen Ion rechnen. Hier ist Platon das erste Mal mit der Dichtung, ihrer Interpretation und ihrem Verhältnis zur Philosophie konfrontiert. Dieser Dialog hatte früher viel Beachtung gefunden, weil Goethe ihm eine ausführliche Studie mit dem – ironisch gemeinten – Titel Plato als Mitgenosse einer christlichen Offenbarung gewidmet hat.6 Goethe richtet sich gegen die Vorrede zu diesem Dialog, die Friedrich Leopold Graf Stolberg im Kontext seiner Platon-Übersetzungen verfasst hatte. Goethe sah im Dialog Ion eine Persiflage ohne ernste Kehrseite. Hätte der Rhapsode Ion nur ein geringes Maß an Kenntnissen gehabt, so hätte er auf die unsachlichen Fragen des Sokrates anders geantwortet. Dieses Urteil Goethes hat stark gewirkt und dazu beigetragen, den Ion entweder für unecht oder für philosophisch irrelevant zu halten. Beide Positionen sind unzutreffend.7 Dass Ion als Philosoph in der Konzeption Platons Gesprächspartner des Sokrates ist, hängt damit zusammen, dass der Stand der Rhapsoden nach wie vor bedeutend war. Die Rhapsoden waren zunächst diejenigen, die professionell die homerischen Epen durch ihre Rezitation verbreitet hatten, vor allem auf den großen Festen, und zwar auch in Athen, wo im letzten Viertel des 6. Jahrhunderts v. Chr. Rhapsodenvorträge offiziell in das Fest der Panathenäen eingeführt wurden, und zwar in der Form des Wettbewerbs um den ersten Preis. Derartige Rhapsodenagone gab es an verschiedenen Orten der griechischen Welt, wie eben auch auf dem Asklepiosfest in Epidauros, wo Ion als Sieger hervorgegangen ist. Dass Sokrates wünscht, Ion möge nun auch bei den Panathenäen in Athen siegen (530B), hängt mit der als Wesenszug des Sokrates hervorgehobenen Bindung an Athen zusammen. Ion wird als Herumreisender gekennzeichnet, Sokrates dagegen als derjenige, der nur in Athen lebt und wirkt. Es ist mit der Bindung an Athen erneut ein Wesenszug des Sokrates hervorgehoben, während die Sophisten durchweg im platonischen Werk als die unstet Herumreisenden charakterisiert werden. Ion kommt in der Darstellung Platons den Sophisten auch darin nahe, dass er als Rhapsode die Epen Homers nicht nur rezitiert, sondern auch zu erklären beansprucht, wie analog die Sophisten sich mit der Auslegung der alten Dichtung beschäftigen, was vor allem der platonische Dialog Protagoras eindrucksvoll zeigt. Wie in allen Frühdialogen Platons hat auch im Ion der Gedankengang die Form einer Elenxis, eines elenktischen, den Gesprächspartner des Nichtwissens überführenden Verfahrens, und zwar oft, aber nicht immer, mit einem aporetischen Ende. Im Ion fällt besonders auf, dass Sokrates das Wissen, das er im Verlaufe des Gesprächs dem Rhapsoden Ion abspricht, ihm zu Anfang mit besonderer Emphase theoretisch zuspricht. Er beneidet geradezu den Rhapsoden um sein (angebliches) Wissen und stellt ihn so dar, wie er sein müsste, wenn er das Wissen besäße, das Sokrates ihm dann Schritt für Schritt abspricht. Ion hatte zunächst erklärt, sein Wissen und Verständnis beziehe sich nur auf Homer, nicht auf andere Dichter. Aber (der platonische) Sokrates, der die Dichtung insgesamt als ein und denselben Sachbereich ansieht, meint, Ion sei mit seiner Beschränkung auf Homer nicht in der Lage, über Dichtung überhaupt auf Grund eines Wissens angemessen zu urteilen. Dieser Dialog endet aber nicht in der Aporie und mit dem Vorsatz, das Thema weiter zu untersuchen, sondern der (platonische) Sokrates weiß eine Antwort. Sie liegt in dem Nachweis, dass Dichter und Rhapsoden ihre Tätigkeit im Zustand göttlicher Begeisterung („Enthusiasmus“) ausüben. Formal befindet sich Platon damit in Übereinstimmung mit den homerischen Epen: „Göttin, besinge den Zorn …“ (Ilias), „Sage mir, Muse …“ (Odyssee). Er intensiviert und erweitert diesen göttlichen Enthusiasmus durch das Bild von der Magnetkette, die nicht nur einen Ring (den Dichter) anzieht, sondern auch seine Interpreten und schließlich Rezipienten.

Die Deutung, dass die Dichter ihre Dichtungen im Zustand göttlicher Begeisterung schaffen, hat Platon stets aufrechterhalten. Sie ist zum ersten Mal im Ion formuliert. Anspielungen auf die im Text genannten Feste (Asklepien in Epidauros; Panathenäen in Athen) und auf einzelne Personen legen eine Abfassungszeit auf circa 394 v. Chr. nahe und damit in eine Zeit noch vor der Apologie. Mit dem Ion ist thematisch und strukturell der Dialog Hippias Minor verbunden.

Hippias Minor

Es geht um die Frage, ob Achill oder Odysseus der Bessere ist. Die Erörterung, ob Vielgewandtheit (wie sie für Odysseus charakteristisch ist) Falschheit bedeutet, ob Falschheit mit Tüchtigkeit und Klugheit verbunden sein kann, ob vorsätzlich falsches Handeln gut sein kann, führt zu einem aporetischen Schluss, wie er für die frühen Dialoge Platons charakteristisch ist. Wenn Platon dabei das ausgezeichnete Namensgedächtnis des Hippias erwähnt (368D–369A), so steht unausgesprochen die vielleicht größte Leistung des Hippias im Hintergrund. Der Text ist eine erste Philosophiegeschichte8 von Thales an, deren (sophistischer) Grundgedanke ist, dass „alles fließt“. Bei Thales ist es das Wasser, aber Hippias deutet die frühgriechische Philosophie insgesamt so, als würde kein festes Sein angenommen, sondern immer alles bei allen Philosophen im Fluss sein. In diesem Sinne hat Hippias eine erste (verlorene) Philosophiegeschichte mit dem Titel Synagoge geschrieben, und zwar mit der Tendenz, alle philosophischen Lehren als Lehren von beständigem Fließen umzudeuten. Insofern sind der subjektiven Deutung aller Sachverhalte Tor und Tür geöffnet.

Euthyphron

Zu den kleinen Dialogen dieser Epoche gehört auch der Euthyphron mit dem Thema Frömmigkeit. Wie Laches und Charmides hat auch dieser Dialog einen aporetischen Schluss. Zum ersten Mal ist hier von der Anklage gegen Sokrates die Rede. Daher ist das Treffen von Sokrates mit Euthyphron auch nicht dort, wo Sokrates sich aufzuhalten pflegte (hier wird das Lykeion, etwas außerhalb der Agora genannt), sondern die Halle („Stoa“) des obersten Richters, zu der sich Sokrates begeben musste. Zum ersten Mal wird hier die Klage des sehr abschätzig charakterisierten Richters Meletos erwähnt, mit dem Vorwurf, Sokrates würde die Jugend verderben und neue Götter einführen. Gemeint ist damit das „Daimonion“, die innere Stimme, die Sokrates von Taten und Handlungen gegebenenfalls abrät. Den Vorwurf, Sokrates würde damit neue Götter einführen und an die alten nicht mehr glauben, weist er energisch zurück (3B). Und Euthyphron stellt sich am gleichen Ort ein, weil er eine Anklage gegen seinen Vater wegen Todschlags einreichen möchte. Die Sache ist einigermaßen absurd, wird aber ausführlich exponiert. Euthyphrons Vater besitzt ein Landgut auf der Insel Naxos. Hier hat ein Arbeiter einen Sklaven erschlagen. Der Vater ließ den Mörder aussperren, der auf unerklärte Weise bald verstorben ist. Euthyphron verklagt nun seinen Vater auf Mord wegen Fahrlässigkeit. Das hält er für ein Gebot der Frömmigkeit. Damit ist der Rahmen für das Thema „Frömmigkeit“ gegeben, wobei dieses deutsche Wort Assoziationen weckt, die in dem griechischen Begriff Eusebeia nicht angelegt sind, der vor allem die Scheu vor dem rechten Umgang mit den Göttern meint. Die Breite dieses Begriffs zeigen gerade auch die Definitionsversuche, die Euthyphron in diesem Dialog macht: 1. Eusebeia ist die Verfolgung des Übeltäters, egal wer es sei. 2. Eusebeia ist das, was den Göttern lieb ist. 3. Eusebeia ist ein Teil der Gerechtigkeit. 4. Eusebeia ist das Wissen von Bitten und Geschenken an die Götter. Sokrates, der sich anfangs von Euthyphron belehren lassen wollte, hat in der Prüfung dieser Thesen seinen Gesprächspartner in die Aporie geführt.9

Es ist nicht unwahrscheinlich, dass Platon diese Gruppe von frühen Dialogen noch vor seiner Apologie des Sokrates verfasst hat. Gleichzeitig haben aber auch andere Schüler des Sokrates Dialoge verfasst, die allerdings ausnahmslos verloren sind. Diogenes Laertius führt sie in seinem zweiten Buch seines Werkes Leben und Meinungen berühmter Philosophen auf: Aischines mit sieben Dialogen, Phaidon mit drei Dialogen, Kriton mit siebzehn Dialogen, Simon mit 23 Dialogen, Kebes mit drei Dialogen. Es sind Schriften, deren Verfasser etwa gleichzeitig mit den hier besprochenen platonischen Frühdialogen gewirkt haben. Aber auch später hat es neben Platon andere Schüler und Anhänger des Sokrates gegeben, die Dialoge verfasst haben.10

Protagoras

Zu der ersten Gruppe platonischer Dialoge wird auch der Protagoras gerechnet, obwohl eindeutige Kriterien für die Datierung fehlen.11 Der Protagoras überragt die anderen Frühdialoge durch eine größere Länge, teilt mit ihnen aber eine Buntheit der Szene und einen in die Problematik einführenden Charakter. Im Kern geht es um die Frage nach der Lehrbarkeit der Tugend. Diese Frage wird in eine reiche Szenerie eingebettet, in der zum ersten Mal Wesen und Eigenart der Sophistik zur Sprache kommen. Erzähler ist durchweg Sokrates selber, der eingangs berichtet, wie ein ihm bekannter Hippokrates (es ist nicht der berühmte Arzt) im Morgengrauen ihn aufsucht und noch im Bett liegend antrifft, sich zu ihm setzt und aufgeregt berichtet, dass Protagoras, der berühmte Sophist, gerade in Athen eingetroffen ist. Er wohnt im Hause des reichen Kallias, der mit diesem Sophisten sympathisiert. Hippokrates möchte mit Sokrates sofort dorthin gehen. Aber Sokrates hat keine Eile; er sei ohnehin noch zu früh. Die Zwischenzeit wird durch ein Gespräch zwischen beiden ausgefüllt, in dem das Wesen der Sophistik aus der Sicht Platons deutlich wird. Dabei fällt auf, dass hier, in der ersten Auseinandersetzung Platons mit der Sophistik, diese Bewegung ganz generell abgelehnt und als eine Gefahr für die Seele des Menschen angesehen wird (313A–314C), zumal wenn die nötige Erfahrung noch fehlt („wir sind noch zu jung“, 314B). Dabei führt Platon die Auseinandersetzung mit der Sophistik ganz prinzipiell am Paradigma des Archegeten dieser Bewegung, Protagoras. So begleitet Sokrates seinen Freund in das Haus des Kallias, in dem sich Protagoras aufhält. Dabei kommt es Platon auf den Kontrast an. Die beiden, Sokrates und Hippokrates, die bescheiden auftreten, geraten in eine glanzvolle Gesellschaft. Allein neun Anhänger des Protagoras werden namentlich genannt, mit anderen bilden sie einen „Chor“ (315B) um Protagoras, der sich vorstellt als ein in Athen Fremder, der die großen Städte durchreist und die jungen Leute für sich gewinnen will mit der Überzeugung, die Tugend sei lehrbar, was Sokrates verneint. Protagoras demonstriert seine These in Form eines Mythos. Mit diesem Mythos hat es eine besondere Bewandtnis. Im Werk Platons finden sich mehrfach Mythen, aber stets als eine Überhöhung der logischen Argumentation, als zusammenhängende Darstellung eines Bereiches, in dem der Logos nicht ausreicht als Vermittlung von Sachverhalten. Nur hier, im Protagoras, ist der Mythos eine bloße Einkleidung von Inhalten, die man auch argumentativ darlegen könnte. Ausdrücklich richtet Protagoras an Sokrates die Frage, ob er seine These, die Tugend sei lehrbar, in Form eines Mythos oder als einen „Logos“, also als eine argumentative Rede, vorbringen soll. Sokrates überlässt Protagoras die Entscheidung, der sich für einen Mythos entscheidet, der doch anmutiger sei als eine nüchterne Abhandlung. Der Mythos ist hier, aus sophistischer Sicht, austauschbar mit dem Logos und wird damit zu einer beliebigen Form der Darstellung.

Der Mythos selber, den Platons zeitgenössisches Lesepublikum im Kern vor allem durch die Prometheus-Tragödie des Aischylos kannte, wird hier ergänzt und erweitert. Während Epimetheus allen Lebewesen nur die äußere Ausstattung zukommen lässt, vermag sein Bruder Prometheus, indem er das Feuer von Hephaistos und die Weisheit von Athene stiehlt, die Menschen in die Lage zu versetzen, Städte zu bauen, Ordnung und Recht zu vermitteln. An diesen Tugenden kann jeder Anteil haben, sie sind lehrbar und können ausgebildet werden. Dem Einwand, dass es doch auch missratene Söhne tüchtiger Eltern gibt, begegnete Protagoras mit dem Argument, sie hätten keine zureichende Erziehung erfahren.

Den langen Ausführungen des Protagoras begegnet Sokrates mit der Bitte um kurze Gespräche. Er könne mit langen Reden gar nichts anfangen und will fortgehen. Doch Kallias hindert ihn daran und in dem Drängen, nur mit Sokrates sei ein sinnvolles Gespräch möglich, kann man erneut das Bestreben Platons sehen, Sokrates in seiner Eigenart vorzustellen. Schließlich interpretieren alle Gesprächspartner ein (nicht vollständig erhaltenes) Gedicht des Simonides (556–468 v. Chr.). Ausdrücklich betont Protagoras, dass es wichtig sei, sich in der Dichtung auszukennen, um über die Qualität von Dichtung Rechenschaft geben zu können. Das Gedicht des Simonides beginnt damit, dass es schwierig sei, physisch wie geistig völlig vollkommen zu sein. Das käme nur einem Gott zu, ein Mensch könne eine geistige und physische Vollkommenheit nicht verwirklichen. Daher solle man sich auch nicht auf die Suche begeben nach dem, was es nicht geben kann. Zu loben sei der, der mit gesundem Verstand der Polis nützt.

Nach langwieriger und kontroverser Auslegung des Gedichtes durch Protagoras und Sokrates wird das Gespräch schließlich zu der Frage nach der Einheit der Tugend zurückgelenkt. Ob die Tapferkeit zugleich Wissen ist, welche Rolle die Lust im Verhältnis zu den Tugenden spielt, wird kontrovers diskutiert. Am Schluss scheinen sich die Positionen umgekehrt zu haben. Wenn die Tugend auf Wissen beruht, was Sokrates behauptet, dann muss sie doch lehrbar sein. Protagoras, der anfangs die Lehrbarkeit der Tugend behauptet hat, muss am Schluss ihre Lehrbarkeit bestreiten und die Auffassung von der Einheit der Tugend aufgeben. In dem Vorsatz, das Gespräch später fortzusetzen, hat auch dieser Dialog ein aporetisches Ende. Und in dem Bekenntnis des Protagoras, er würde sich nicht wundern, wenn Sokrates dereinst zu den wenigen Menschen gehören würde, die ihrer Weisheit wegen berühmt seien, lässt Platon den Sophisten ein Urteil aussprechen, das sich für ihn selbst erfüllt hat.

Der Protagoras ist ein relativ langer, lebendiger, bisweilen sprunghafter Dialog, der die noch früheren Dialoge in der Frage nach der Tugend beziehungsweise nach den Einzeltugenden zusammenfasst und erneut mit einer Einführung und Empfehlung des Sokrates verbindet. Er steht am Schluss der ersten Gruppe der platonischen Dialoge.

Überblickt man diese frühen Dialoge, so wird deutlich, dass Philosophie sich für Platon im Gespräch ereignet. Den Ausgangspunkt bildet die Frage nach den Normen menschlichen Verhaltens, die an den traditionellen Tugenden erörtert wird. Platon verwendet als Gesprächspartner des Sokrates durchweg historische Gestalten, die in Athen seiner Zeit bekannt und angesehen waren. Dabei gibt es einen Bezug zwischen dem Thema des Dialogs und dem Gesprächspartner. Wenn dabei im Abbau des Scheinwissens der Dialog in einer Aporie endet, so ist dies für Platon ein notwendiges Durchgangstadium, das die Grundlage für die vorurteilsfreie Untersuchung bildet.

Die Apologie des Sokrates

Platons Schrift Die Apologie des Sokrates enthält drei Reden, die Sokrates als Antwort auf die Anklage des Meletos zu seiner Verteidigung vor Gericht gehalten haben soll.12 Diese Reden hat der historische Sokrates, der Gegner langer Reden, jedoch nicht gehalten. Sie stellen die Fiktion Platons dar und enthalten Grundzüge der platonischen Philosophie. Dabei ist die Anklageschrift des Meletos, der an anderer Stelle als noch junger Mann mit glattem Haar, schwachen Bart und Habichtnase beschrieben wird (Euthyphron 2B), einigermaßen sicher überliefert. Sie lautet: „Sokrates macht sich schuldig durch die Leugnung der von der Polis anerkannten Götter sowie durch die Einführung neuer göttlicher Wesen. Er begeht aber auch Unrecht, indem er die Jugend verdirbt. Beantragt wird die Todesstrafe.“ Diese Anklage ist im Metroon, einem Verwaltungsgebäude auf der Agora, aufbewahrt worden, wie Diogenes Laertius berichtet (II 40). Was Sokrates zu seiner Verteidigung gesagt hat, ist jedoch ganz unterschiedlich überliefert. So hat Xenophon, auch er ein Anhänger des Sokrates, in seiner Apologie des Sokrates berichtet, Sokrates habe vor Gericht überhaupt keine zusammenhängende Verteidigungsrede gehalten, wovon ihm auch seine innere Stimme (das „Daimonion“) abgeraten habe. Er sei zwar nicht schuldig, aber der Zeitpunkt des Todes (Sokrates war 71 Jahre alt) sei ohnehin gekommen und so sei es für ihn besser zu sterben als weiterzuleben.

Die erste große Rede des Sokrates in der Apologie gestaltet Platon so, dass ihr das Bemühen des Sokrates zugrunde liegt, den Spruch des delphischen Gottes, keiner sei weiser als Sokrates, zu widerlegen. Platon lässt Sokrates das berichten, was er in den frühen Dialogen vorführt: den Abbau von Scheinwissen durch die „elenktische Methode“, wonach ein Wissen zu Anfang zugestanden wird, dann aber den Fragen des Sokrates nicht standhält. Zuerst wandte, so berichtet er, sich Sokrates an einen prominenten (namentlich nicht genannten) Politiker, der als weise und wissend gilt, aber vor den prüfenden Fragen des Sokrates versagt. Dann ging Sokrates zu den Dichtern und konnte auch sie des Nichtwissens überführen. Aber der poetische Rang ihrer Werke wird anerkannt und darauf zurückgeführt, dass ihnen Naturgabe und göttliche Begeisterung (enthousiasmos) zugrunde liegt. Es ist evident, dass hier der Dialog Ion zugrunde liegt, in dem das gleiche Ergebnis in ausführlichem Gespräch erzielt wird. Schließlich wendet sich Sokrates an die Handwerker, deren fachliches Wissen anerkannt wird, nicht jedoch ein in Anspruch genommenes Wissen über „die wichtigsten Dinge“ (22D).

Die Rede des Sokrates wirkt wie ein Resümee der ersten, frühen Dialoge, natürlich bezogen auf die konkrete Situation der Verteidigung vor Gericht mit der Widerlegung der weiteren Anklagepunkte (Sokrates würde die Jugend verderben und glaube nicht an Götter) und dem Nachweis der Inkompetenz des Anklägers Meletos. Das Wissen vom Nichtwissen, das Sokrates für sich in Anspruch nimmt, führt – in der Deutung Platons – dann zu dem Bekenntnis, Sokrates habe keine fertige Lehre und sei nie eines Menschen Lehrer gewesen (33A). Aber Sokrates kann ohne ein detailliertes Fachwissen Fragen stellen und ist insofern seinen Gesprächspartnern überlegen.

Platon gibt dem Auftreten des Sokrates vor Gericht den Anschein des Authentischen, indem er ihn siebzehn Freunde und Bekannte aufzählen lässt, die bei der Gerichtsverhandlung anwesend sind, auch Platons Bruder Adeimantos. Dabei wird etwas verstellt, aber deutlich genug, auch Platon selber genannt (anwesend sei Adeimantos, „der Bruder dieses Platon hier“, 34A). Es ist eine der wenigen Stellen, an denen Platon sich selber erwähnt beziehungsweise durch Sokrates erwähnen lässt. Dieser Anschein des Authentischen bedeutet aber nicht, dass Platon die Rede des Sokrates so wiedergibt, wie sie vor Gericht gehalten wurde. Sie ist Platons Interpretation des sokratischen Wirkens auf der Grundlage der frühen Dialoge. Als im Kern sokratisch wird man aber die ganz persönlichen Bemerkungen halten, wenn am Schluss dieser Rede Sokrates von seinem Verhalten vor Gericht und von den Pflichten spricht, die die Richter zu erfüllen haben. Hier erfährt man auch, dass Sokrates der Vater von drei Söhnen ist und dass er nicht aus Eichenholz oder Felsen bestehe, sondern ein Mensch sei (34D), der aber nicht um Gnade und Mitleid fleht und damit den Richtern indirekt recht geben würde.

Die beiden kurzen Reden, die Sokrates sodann in der platonischen Apologie hält, sind ganz an den konkreten und üblichen Prozessverlauf gebunden. Die Richter haben inzwischen abgestimmt, die Todesstrafe ist verhängt und nach dem athenischen Recht hat der Angeklagte die Möglichkeit, das Wort noch einmal zu ergreifen und einen Gegenantrag zu formulieren. Dass das Urteil mit 230 Stimmen für und 220 Stimmen gegen den Antrag auf Todesstrafe ausgefallen ist, dürfte auch auf den realen Vorgang zutreffen. Während eine solche Gegenrede normalerweise mit der Bitte verbunden ist, das Strafmaß zu reduzieren, aber die Todesstrafe zu vermeiden, stellt Sokrates hier den Gegenantrag auf Speisung im Prytaneion, also auf Aufhebung der Todesstrafe und auf eine glanzvolle Ehrung auf Staatskosten. Das war eine Provokation für die Richter. Ob Sokrates so gesprochen hat oder ob auch hier die Interpretation sokratischen Wesens durch Platon vorliegt, lässt sich nicht eindeutig entscheiden.

Schließlich wendet sich Sokrates an die nicht geringe Zahl derer, die für Freispruch plädiert hatten. Sokrates nennt sie „meine Freunde“ (39E) und berichtet ihnen, dass seine innere Stimme (das „Daimonion“) ausgeblieben sei, die ihn dazu hätten führen können, dem Todesurteil auszuweichen. Denn der Tod sei ein Gewinn. Im Hades würde Sokrates die richtigen Richter antreffen. Er könne dann auch direkt mit Hesiod, Homer und anderen Dichtern sprechen. Hier möchte man die Stimme Platons vernehmen, dessen Kritik an der Dichtung, insbesondere an Homer, in seinem ganzen Werk von Bedeutung ist.

Platon hat die Apologie