PLÖTZLICH ZAUBERER - Scott Meyer - E-Book

PLÖTZLICH ZAUBERER E-Book

Scott Meyer

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Beschreibung

"Der Weg des jungen Zauberers Martin ist ein ganz anderer als der eines Harry Potter, aber ganz sicherlich nicht weniger unterhaltsam." [Lesermeinung] "PLÖTZLICH ZAUBERER ist ein Science-Fiction- und Fantasy-Titel, den man nicht verpassen darf." [Blog IO9] "Ich bin wirklich positiv überrascht, somit erhält das Buch von mir wohlverdiente 5 von 5 Sternchen und kann guten Gewissens weiterempfohlen werden." [Lesermeinung] "Unterhaltsames für den Nerd in uns" [Lesermeinung] Inhalt: Martin Banks ist ein ganz gewöhnlicher Typ, der eine sehr ungewöhnliche Entdeckung gemacht hat: Er kann die Realität manipulieren, denn die Realität ist nichts anderes als ein weiteres Computerprogramm. Doch seine kleinen Veränderungen der Realität hier und da bleiben nicht unbemerkt. Um seinen Verfolgern ein Schnippchen zu schlagen, entschließt er sich, in der Zeit zurückzureisen und im Mittelalter sein Glück als Zauberer zu versuchen. Denn was sollte da schon schiefgehen? Als hackender Yankee an König Artus Hof muss Martin sich nun alle Mühe geben, um ein vollwertiger Meister seiner Fähigkeiten zu werden, das Geheimnis um den uralten Zauberer Merlin zu lüften und … ja, ihr wisst schon, möglichst nicht dabei umzukommen und so.

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Plötzlich Zauberer

Scott Meyer

This edition made possible under a license arrangement originating with Amazon Publishing, www.apub.com

 

Text copyright © 2014 Scott Meyer All rights reserved.

 

No part of this book may be reproduced, or stored in a retrieval system, or transmitted in any form or by any means, electronic, mechanical, photocopying, recording, or otherwise, without express written permission of the publisher.

 

First published by 47North, Seattle www.apub.com

 

Diese Geschichte ist frei erfunden. Sämtliche Namen, Charaktere, Firmen, Einrichtungen, Orte, Ereignisse und Begebenheiten sind entweder das Produkt der Fantasie des Autors oder wurden fiktiv verwendet. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Personen, lebend oder tot, Ereignissen oder Schauplätzen ist rein zufällig.

Impressum

Deutsche Erstausgabe

Originaltitel: OFF TO BE THE WIZARD

Copyright Gesamtausgabe © 2016 LUZIFER-Verlag

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Cover: Michael Schubert

Übersetzung: Katrin Fahnert

Dieses Buch wurde nach Dudenempfehlung (Stand 2016) lektoriert.

ISBN E-Book: 978-3-95835-155-4

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Dies hier soll ein lustiger, komödiantischer Sci-Fi/Fantasy-Roman sein. Jede Ähnlichkeit zwischen den beschriebenen Ereignissen und der tatsächlichen Funktionalität in der Realität ist rein zufällig.

Inhaltsverzeichnis
MAGIC 2.0
Impressum
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Danksagung
Über den Autor
Leseproben
LUZIFER Verlag

Kapitel 1

Schrecken

Martin Banks war von der Wissenschaft begeistert. Als Kind hatte er alles über Menschen gelesen, die gewaltige Entdeckungen gemacht hatten. Entdeckungen, die die Welt verändert hatten. Er hatte sich immer gefragt, was für Empfindungen er wohl hätte, wenn er selbst jemals etwas wirklich Weltbewegendes entdecken würde. Jetzt wusste er es. Denn er hatte gerade eine solche Entdeckung gemacht. Er war überrascht, denn er fühlte nun einen Schrecken, der ihn fast dazu brachte, sich in die Hose zu machen.

Martin sah sich nicht als Hacker. Er mochte das Image nicht, das mit dieser Bezeichnung einherging. Sicher, als Teenager hatte er mit der ganzen Bandbreite dieses Images experimentiert, aber er fand es einfach zu anstrengend, die ganze Zeit gegen alles rebellieren zu müssen. Eswar ein emotionales Hamsterrad. Es hörte nie auf und brachte einen nirgendwo hin. Wenn man in einem Zustand ständiger Rebellion lebt, wird man unweigerlich von allen wichtigen Personen seines Lebens missachtet.

Martin beschloss also, dass er kein Hacker war. Er war nur ein Kerl, der es wirklich mochte, seine Zeit am Computer zu verschwenden.

Es war ein ganz gewöhnlicher Abend gewesen. Martin surfte gerade im Internet und schaute sich nach Seiten um, von denen er ungestraft etwas abgreifen konnte.

Im Hintergrund lief der Fernseher und tauchte das Zimmer in ein schummriges Licht.

Die Flimmerkiste bot ihm gelegentlich Ablenkung und die Illusion von menschlichem Kontakt. Ihm war klar, dass er Dinge tat, die bei genauer Betrachtung illegal waren, aber er trieb die Rumpfuscherei auf den Computern anderer Menschen nie besonders weit. Im Grunde war es harmlos, was er tat. Die Behörden würden sich nicht für ihn interessieren, solange Täter mit höherer krimineller Energie noch frei herumliefen. Das redete er sich zumindest immer wieder ein, aber er war zu schlau, um es wirklich zu glauben. Das hielt ihn dennoch nicht davon ab, jeden Abend den Computer einzuschalten, um zu schauen, was es dort zu sehen gab.

In dieser Nacht sah er sich auf den Servern eines Herstellers für Mobiltelefone um, der schon seit den 1930ern im Geschäft war. Allerdings hatten sie zu dieser Zeit Radios in der Größe von Briefkästen hergestellt. Er hatte eigentlich gar nichts Schlimmes getan. Martin hatte nicht einmal gewaltsam eindringen müssen. Jeder, der gute Kenntnisse von Netzwerkstrukturen hatte und gewillt war, sich eine unglaubliche Menge von verblüffend langweiligen Informationen anzusehen, hätte diese Datei finden können.

Sie gehörte in die Kategorie: besonders uninteressant. Fünf Terabyte einfacher ASCII-Textzeichen. Selbst der Name machte Martin schläfrig – repository1-c.txt. Der Moment, in dem er dachte, dass kein vernünftiger Mensch an einer Datei wie dieser interessiert sein könnte, war der Moment, in dem er beschloss, einen Blick hinein zu riskieren.

Er schätzte, dass es zu lange dauern würde, sie komplett herunterzuladen, darum entschied er stattdessen, direkt mit einem Terminal-Emulator auf sie zuzugreifen. Als die Datei sich öffnete, schien sie aus einer endlosen Reihe riesiger, unterschiedlicher Datenblöcke zu bestehen. Die einzelnen Datenblöcke waren ein gewaltiges Zahlenwirrwarr, in dem sich nur ab und zu Bruchstücke von erkennbarem Text fanden. Er hätte die Datei einfach komplett ignorieren können, wenn da nicht die Tatsache gewesen wäre, dass sich viele der Zahlen scheinbar ständig änderten. Er überprüfte das schließlich genauer. Er arbeitete mit seinem Standard-Texteditor, und soweit er wusste, hatte er bislang kein Update eingespielt, durch das so etwas möglich wäre. Aber er sah es – ganz deutlich.

Das Erste, was Martin immer tat, wenn er eine neue Datei fand, war nach seinem eigenen Namen zu suchen. Es mochte egozentrisch erscheinen, aber Martin machte sich darüber keine Sorgen. Er hatte eine Menge Zeit damit verbracht, über sich selbst nachzudenken, und war zu der Erkenntnis gelangt, dass er definitiv nicht von sich selbst eingenommen war.

Er suchte also nach »Martin Kenneth Banks«.

In der Regel dauerte die Wörtersuche in einer simplen Textdatei nicht allzu lange. Es war leicht für einen Computer, mit einfachem Text zu arbeiten. Dieses Mal dauerte Martins Suche nach sich selbst aufgrund der schieren Größe der Datei allerdings fast zehn Minuten. Schließlich fand er seinen Namen, der sich tatsächlich am Ende der Datei befand.

Über eine Stunde verbrachte er damit, auf die Datei zu starren, und irgendwann war er in der Lage, ein paar erkennbare Informationen aus ihr herauszukitzeln. Wer auch immer diese Datei erstellt hatte, wusste anscheinend eine Menge über ihn. Es irritierte ihn nur, dass seine Größe nicht stimmte. Da stand allerdings auch nicht Größe – da war nur eine Zahl. Aber es war unverkennbar. Ein Meter achtzig.

Das stimmte aber nicht. Es könnte Martins Größe sein, wenn man sich die Mühe machen würde, ihn zu vermessen, doch in jedem Formular, das er seit der Highschool ausgefüllt hatte, hatte er einen Meter siebenundachtzig angegeben. Er änderte die Zahl also und drückte auf Speichern. Weitere Augenblicke verbrachte er damit, sich verschiedene Nummern in der Datei anzuschauen, dann stand er auf, um ins Badezimmer zu gehen.

Martin streckte sich und fühlte plötzlich ein ziemliches Unbehagen in seiner Leistengegend. Es schien so, als hätte jemand den Bund seiner Jeans gepackt und hochgezogen. Es war seine Lieblingsjeans. Sie war schon immer ein wenig eng gewesen, denn er mochte Hosen, die einen ständig daran erinnerten, dass man auch Hosen trug, aber sie hatte ihm nie so ein Unbehagen wie heute beschert. Er sah nun an sich hinab auf seine Taille. Sein Gürtel war genau dort, wo er hingehörte, aber die Hosenbeine der Jeans waren definitiv kürzer als gewöhnlich. Er trug Hochwasserhosen. Der Saum war definitiv höher, als er es in Erinnerung hatte.

Seltsam, dachte er, als er seine Hose ein wenig herunterzog und ins Badezimmer ging. Während er geistesabwesend pinkelte, warf er einen Blick auf den Spiegelschrank. Er sah, dass sich Staub darauf gesammelt hatte, und dachte, dass er da oben wirklich mal dringend wieder sauber machen müsste. Er wischte den Staub nicht oft genug weg, weil er nicht dort hochsehen konnte. Martin starrte auf den Staub und ließ den Gedanken kurz sacken, bis er erkannte, dass er sein Ziel verfehlt hatte und gerade gegen die Wand urinierte.

Die ganze Zeit, während er die Wand hinter der Toilette säuberte, lachte er über sich selbst. Als Kind hatte er ab und zu nachts das Haus verlassen müssen, um für seine Eltern etwas aus dem Auto zu holen. Dabei hatte er immer darüber nachgedacht, wie gruselig es doch wäre, wenn ihn irgendein schreckliches Monster verfolgen würde, und er auf dem Weg zurück ins sichere Haus mit zusammengekrampften Magen um sein Leben rennen müsste. Dann hatte er stets gelacht, weil es einfach lächerlich erschien, dass ihn ein Monster auf einer gut beleuchteten Straße in einer Vorstadt in seinem eigenen Vorgarten jagen würde.

Das hier, so wusste er, war nichts anderes. Seine Hose war einfach hochgerutscht. Wahrscheinlich bedeutete es, dass er an Gewicht zugelegt hatte. Das war zwar nicht gut, aber auch nichts, weswegen man gleich ausflippen musste. Und der Spiegelschrank war vielleicht etwas abgesenkt oder eine der Schrauben, die ihn hielten, hatte sich aus der Trockenbauwand gelöst – oder vielleicht bildete er sich das alles auch einfach nur ein. Die ganze Nacht in einem dunklen Apartment herumzusitzen, in dem nur der Fernseher und die Computerbildschirme etwas Licht spendeten, veränderte nach einiger Zeit nun mal die Wahrnehmung.

Als die Wand wieder sauber war, richtete er seine Aufmerksamkeit auf den Spiegelschrank. Er war immer noch fest an der Wand angebracht und schien sich kein Stück bewegt zu haben. Martin konnte sehen, dass er oben mit Staub bedeckt war, und war sich außerdem ziemlich sicher, dass er sich immer in die Augen hatte schauen können, wenn er in die verspiegelte Front geblickt hatte. Er erinnerte sich daran, dass sein Spiegelbild ungefähr auf der Hälfte der Augenbrauen abgeschnitten worden war. Jetzt sah er in den Spiegel, und das Einzige, was er sehen konnte, war seine Nase. Er blickte erneut auf seine Füße, um sich zu vergewissern, dass er barfuß war. Dann stand er einfach nur verwirrt da.

Schließlich verließ Martin das Badezimmer. Er schaltete jetzt überall in der Wohnung das Licht ein, im Wohnzimmer, der Küche und auch im Esszimmer. Da es sich um ein Single-Apartment handelte, war alles in einem großen Raum untergebracht. Einzig die Küche konnte man als separat bezeichnen, weil sich darin die entsprechenden Geräte befanden. Das Esszimmer konnte man nur daran erkennen, dass ein billiger Kronleuchter genau an der Stelle von der Decke hing, wo der Architekt offensichtlich gewollt hatte, dass Martin seinen Tisch und die Stühle hinstellte. Doch Martin hatte die Stelle lieber freigelassen. Deshalb hing der Kronleuchter nun auf Augenhöhe direkt hinter seinem Schreibtischstuhl und beleuchtete nichts weiter als den Boden.

Martin lief nun durchs Zimmer und redete sich ein, dass er sicher schon immer in der Lage gewesen war, auf den Kühlschrank zu blicken. Ihm wurde es jetzt nur deshalb bewusst, weil es dort extrem staubig war. Genug davon, dachte er und ging zum Schlafzimmerschrank, um seinen Werkzeugkasten zu durchwühlen. Als er aus dem Haus seiner Eltern ausgezogen war, hatte sich Onkel Ray angeboten, den gemieteten Lastwagen zu fahren. Ray hatte im klimatisierten Führerhaus gesessen und von seinem bequemen Sitz aus beobachtet, wie Martin und seine Freunde die Sachen einluden. Dann hatte Ray bemerkt, dass Martin gar keinen Werkzeugkasten besaß, und ihn darauf angesprochen, doch Martin hatte erwidert: »Bisher brauchte ich keine Werkzeuge, weil ich bei Dad gelebt habe. Während du hier herumsitzt und zuschaust, lässt du einfach den Motor laufen und die Klimaanlage ist eingeschaltet. Das kostet mich ein Vermögen an Benzin. Hast du das mal bedacht?«

Onkel Ray hatte entgegnet, dass er das sehr wohl bedacht hätte, es ihn aber nicht störte.

Später hatte Onkel Ray ihm eine Werkzeugkiste als Einweihungsgeschenk für die neue Wohnung überreicht, die recht ordentlich ausgestattet war, und Martin hatte gemeint: »Danke! Aber … äh … ist dir aufgefallen, dass die Werkzeugkiste pink ist und mit glitzernden Buchstaben Mein erster Werkzeugkasten draufsteht?«

Onkel Ray hatte entgegnet, dass ihm das aufgefallen wäre, es ihn aber nicht weiter störte. Der gute, alte Onkel Ray. Dieser Kerl war wirklich nicht aus der Fassung zu bringen.

Martin kehrte nun mit einem pinkfarbenen Maßband und einem winzigen, pinkfarbenen Zimmermannswinkel zurück. Er schnappte sich einen Bleistift und stellte sich mit dem Rücken an den Türrahmen des Schlafzimmers. Dort legte er sich den Zimmermannswinkel auf seinen Kopf und machte behutsam einen Strich an der Stelle, wo der Winkel auf die Wand traf. Martin schmunzelte über sich selbst, weil er seine Zeit mit so etwas Bescheuertem verschwendete, während er das Maßband an der Wand bis zur Markierung hochzog. Er beugte sich nach vorne, um die Zahlen auf dem Maßband abzulesen.

Der Strich, den er gemacht hatte, lag nur ein klein wenig über einem Meter achtundachtzig. Er wiederholte den Vorgang und kam zu demselben Ergebnis.

Offensichtlich bin ich im Laufe der letzten Jahre nach und nach etwa sieben Zentimeter gewachsen und habe es erst jetzt bemerkt. Und zwar direkt, nachdem ich meine Größe in einer seltsamen Textdatei geändert habe, die ich online gefunden habe. Das ist alles vollkommen normal, dachte er.

Während er weiter nachdachte, saß Martin an seinem Computer und sah sich die Datei genauer an. Er wollte nun einfach mal ein paar Dinge ändern, um sich selbst zu zeigen, wie lächerlich er sich benahm, aber gleichzeitig wollte er die Datei am liebsten auch schließen und so tun, als hätte er sie niemals gefunden. Darum saß er eine Zeit lang einfach nur da. Nach etwa zwanzig Minuten beschloss er, dass er sich ein für alle Mal beweisen musste, wie albern er sich verhielt. Der Cursor war immer noch an der gleichen Stelle wie zuvor. Nämlich bei der Größenangabe. Martin änderte die 1,87 nun in 1,85 m um.

Dann ging er wieder zur Schlafzimmertür und stellte sich gerade mit dem Rücken an den Türrahmen. Den Zimmermannswinkel legte er vorsichtig auf seinen Kopf und markierte die Höhe am Türrahmen erneut mit dem Bleistift, dann legte Martin das Maßband sorgfältig an und zog es bis zur Markierung aus. Dabei achtete er darauf, dass es wirklich gerade und senkrecht ausgerichtet war. Schließlich nahm er mit großem Interesse zur Kenntnis, dass seine Größe nun 1,85 m betrug.

Martin wiederholte das Ganze fünf Mal. Er hätte es auch noch ein sechstes Mal versucht, wenn seine Hände nicht so sehr gezittert hätten, dass er keinen ordentlichen Strich mehr ziehen konnte.

Eine Stunde lang saß er da und starrte irritiert auf den Fernseher. Er hatte keine Ahnung, was gerade lief und es war ihm ehrlich gesagt auch vollkommen egal. Er ging zu dem Computer zurück, änderte seine Größe wieder in 1,80 m, dann schloss er die Datei. Er ging ins Badezimmer und spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht.

Im Spiegelschrank konnte er sich selbst nun wieder in die Augen sehen.

Er beschloss, ins Bett zu gehen. Nicht zum Schlafen. Einfach nur ins Bett. Jedes Licht im Apartment war noch an und er trug auch noch seine Kleidung. Er lag einfach nur da und dachte darüber nach, welche Konsequenzen das, was gerade passiert war, wohl hatte, und das war der Moment, in dem er den Schrecken verspürte. Jeder, der bei Science-Fiction Dingen und auch in Naturwissenschaften aufgepasst hatte, stieß irgendwann auf das Konzept, dass die Realität, wie wir sie kannten, ein Computerprogramm war. Die Menschen waren lediglich Unterprogramme. Sie waren keine biologischen Organismen, die sich an eine Felskugel klammerten, die um einen Feuerball umgeben von einem Meer aus Nichts herumraste, sondern sie waren simulierte Organismen, die an einem virtuellen Felsbrocken hingen, der sich in einem unergründlichen Programm befand, das ein Spiel, eine Wettersimulation oder sogar ein Bildschirmschoner sein konnte.

Nein, kein Bildschirmschoner, dachte Martin. Eine Gesellschaft, die fortgeschritten genug war, um ein solch anspruchsvolles Programm hervorzubringen, hätte längst einen Monitor entwickelt, in den sich keine Pixel mehr einbrannten.

Sobald sich sein psychischer Zustand etwas beruhigt hatte und der Schrecken einer schweren Erregung gewichen war, erkannte Martin die Ironie der ganzen Situation. Seit Anbeginn der dokumentierten Zeit hatte man über das Wesen des Daseins diskutiert. Die größten Denker hatten ihr gesamtes Leben damit verbracht, sich mit den Grundfragen des Lebens herumzuschlagen. Selbst ganz einfache Entdeckungen wie das Rad und die Hebelgesetze hatten die menschliche Existenz tief greifend verändert.

Jetzt hatte Martin den Beweis dafür gefunden, was genau wir wirklich waren, und er hatte die Mittel, um Dinge ohne größere Anstrengung sofort zu ändern. Er war durch eine zufällige Entdeckung zur wichtigsten Figur der Menschheitsgeschichte geworden, und er wünschte sich verzweifelt, dass er all dies wieder rückgängig machen könnte.

Martin schaute auf die Uhr. Es war mittlerweile drei Uhr morgens. Er hatte sechs Stunden einfach nur dagelegen, an die Decke gestarrt und so die Panik etwas gelindert. Er stand wieder auf und schluckte zwei Schlaftabletten mit einem doppelten Bourbon herunter, dann schaltete er überall das Licht aus und verlor schließlich das Bewusstsein.

Kapitel 2

Der Wecker klingelte um sieben. Martin spürte noch immer die Wirkung der Pillen, die er eingenommen hatte. Obwohl seine Augen offen waren und sein Körper sich bewegte, konnte er nicht klar denken.

Er duschte, putzte sich die Zähne und rasierte sich.

Normalerweise würde sein Verstand nun langsam erwachen, aber Martin zog es vor, nicht zu denken.

Während er durch sein Apartment lief, war sein Blick auf die zittrigen Bleistiftmarkierungen am Türrahmen des Schlafzimmers gerichtet. Für einen Moment starrte er vor sich hin und verzog das Gesicht, dann schaltete er seinen Verstand wieder ab. Er kochte sich Kaffee und steckte Waffeln in den Toaster. Während er aß, starrte er seinen Computer an. An diesem Morgen las er die Nachrichten lieber auf seinem Smartphone. Das fühlte sich sicherer an.

Er fuhr mit seinem Kombi zur Arbeit. Als er das Firmengebäude erreichte, konnte er sich nicht mehr daran erinnern, wie er überhaupt hergefahren war. Er saß an seinem Arbeitsplatz und ging Papierkram durch. Als er Feierabend hatte, stellte er fest, dass er sich an fast gar nichts, was an diesem Tag passiert war, erinnern konnte. Wie betäubt hatte er den Tag durchlebt. Er ging zum Parkplatz, setzte sich in sein Auto und betrachtete sich selbst im Rückspiegel. So konnte es nicht weitergehen. Darum beschloss er an Ort und Stelle, dass er den Rest seines Lebens damit verbringen würde, die Existenz dieser Datei zu leugnen.

So schnell er konnte, fuhr er nach Hause und schaltete sofort seinen Computer ein. Dann öffnete er die Datei. Er hatte sich überlegt, dass er ihre Existenz nicht leugnen konnte, bevor er nicht wenigstens herausgefunden hatte, um was genau es sich handelte.

Wieder suchte er nach seinem Namen und fand den Datenblock, der seine Existenz definierte. Er wusste, wo er seine Größenangabe fand, aber die anderen nützlichen Parameter herauszufiltern, gestaltete sich deutlich schwieriger. Seine Intelligenz, sein Körperfettanteil, seine Stärke und sein Gesundheitsniveau waren alle unmöglich gegenständlich zu beziffern, unabhängig davon, was die Leute sagten, die Diätpläne erstellten.

Martin fand sein Gewicht, wagte jedoch nicht, es zu ändern. Er dachte darüber nach und kam dann zu dem Schluss, dass weniger zu wiegen nicht unbedingt bedeutete, dass man weniger fett war. Er könnte sich problemlos so ändern, dass sein Körper weniger Dichte aufwies. Er konnte sich plötzlich bildlich seine Eltern vorstellen, die auf seiner Beerdigung gefragt wurden, woran ihr Sohn denn gestorben sei und sich eingestehen mussten, dass sich das niemand erklären konnte. Er habe sich einfach von selbst in einen Schwamm verwandelt.

Martin ging anders vor. Auf seinem Smartphone öffnete er die Banking-App und sah sich seinen Kontostand an. Er suchte in der Datei nach dieser Zahl und fand sie sofort. Dann atmete er tief ein, bewegte das Komma eine Stelle nach rechts und drückte auf Speichern.

Er aktualisierte seine Banking-App. Der Kontostand betrug nun $ 839,00.

GESCHAFFT!

Er verspürte plötzlich einen Stich. Es waren allerdings keine Gewissensbisse, denn er hatte schließlich von niemandem Geld gestohlen. Das Geld hatte er einfach so aus dem Nichts erschaffen. Es hatte vorher gar nicht existiert. Jetzt aber schon. So wie er es sah, hatte er der Welt sogar einen Gefallen getan! Der Stich war die Angst gewesen, die er empfand! Er wusste, es war zu einfach, und wenn die Behörden herausfanden, was er getan hatte, würde man ihn bestrafen, selbst wenn er technisch gesehen gar nicht gegen das Gesetz verstoßen hatte. Martin wusste, dass die Beweislast beim Kläger lag. Also würde jeder, der versuchte, ihn wegen elektronischen Bankbetrugs strafrechtlich zu verfolgen, erst einmal beweisen müssen, wie er es ohne Zugriff auf den Bankcomputer angestellt hatte. Außerdem schlussfolgerte er, dass es bei jedem Diebstahl zwei Dinge gab: Einem Besitzer eine Sache wegnehmen und sie für sich selbst behalten. Und Martin nahm schließlich niemandem etwas weg. Darum glaubte er, dass es gar kein Diebstahl war, oder zumindest war es nur halb so wahrscheinlich, dass man ihn überführte. Es war eine fadenscheinige Begründung, aber sie war gut genug, um ihn schlafen lassen zu können. Er versetzte das Komma wieder eine Stelle zurück und verließ für diese Nacht den Computer.

Erneut sah er sich etwas im Fernsehen an, ohne zu bemerken, was überhaupt lief. Wieder griff er auf frei verkäufliche Schlafmittel und billigen Bourbon zurück, um die Ruhe zu bekommen, die er so dringend brauchte.

Der nächste Tag war ein Freitag. Er durchsegelte die Arbeit wie der Fliegende Holländer. Das Schiff war in Bewegung, aber niemand befand sich am Steuer. Seine Vorgesetzte war besorgt, weil Martin sich äußerst seltsam benahm, aber er schaffte sogar mehr Arbeit als üblich. Darum beschloss sie, ihn lieber nicht zu stören.

Martin begriff, dass er die Datei doch nicht ignorieren konnte. Was er erfahren hatte, konnte er schließlich nicht ungeschehen machen. Er musste einfach nur etwas Willenskraft aufbringen. Er beschäftigte sich eingehend mit all den Dingen, mit denen er sich nicht beschäftigen sollte. Dinge, die möglich werden würden, wenn man die Datei benutzte, die aber wahrscheinlich zu nichts Gutem führen würden. Den ganzen Freitag verbrachte er damit, gefährliche Ideen zu sammeln. Als er in dieser Nacht an seinem Computer saß, gab es eine Menge Dinge, die er ausprobieren wollte, und er hatte das gesamte Wochenende Zeit dafür.

Kapitel 3

Zuerst wählte Martin das gesamte Datenpaket aus, von dem er glaubte, das es ihn betraf, und kopierte es in eine separate Datei, die er verschlüsselte und auf die Speicherkarte seines Handys übertrug.

Dann bewegte er das Komma seines Kontostandes drei Stellen nach rechts.

Zuerst zog er in Erwägung, sich zum Millionär zu machen, doch dann überlegte er, warum er die damit verbundenen Risiken eingehen sollte, wenn er sich doch zu jeder Zeit zum Tausendär machen konnte.

Ich muss vorsichtig sein, dachte er. Ich möchte das hier schließlich nicht vermasseln.

Er fragte sich, wie etwas so Komplexes, wie das menschliche Wesen, in ein Datenpaket passen konnte, das klein genug war, um es zu verwalten. Aber als er sich wieder beruhigt und darüber nachgedacht hatte, wurde ihm klar, wie es wohl funktionierte. Er sah, dass die Datei eine Liste von Parametern ohne detaillierte Beschreibungen war. Er konnte den Code erkennen, der seine Herztätigkeit festlegte, und überprüfte das, indem er seinen Puls maß und dabei beobachtete, wie die Zahlen in Echtzeit schwankten. Für ihn machten die Zahlen allerdings keinen Sinn. Selbst für Kardiologen würden sie wahrscheinlich keinen Sinn ergeben, aber sie änderten sich in vorhersehbarer Weise zusammen mit seinem Puls. Der Code beschrieb, was das Herz gerade tat und inwiefern es sich von den Herzen anderer Leute unterschied, aber der Code definierte nicht das Herz an sich. Es schien so, als ob es irgendwo anders eine weitere Datei gab, die menschliche Herzen im Detail beschrieb. Und die Daten jeder einzelnen Person bezogen sich darauf, ihr spezifisches Herz zu rendern. Dasselbe galt anscheinend auch für all die anderen Organe, auch wenn das für ihn viel weniger interessant war, als er feststellte, dass er keinen Zugriff auf die grundlegende Struktur seines Körpers hatte. So konnte er zum Beispiel die Knochen seines Skeletts nicht in unzerbrechliches Metall verwandeln.

Es waren auch andere Verknüpfungen in das System integriert. Er suchte nach seinem aktuellen Längen- und Breitengrad. Weil er in seinen späten Teenagerjahren mit Geocaching herumgespielt hatte, verstand er die Bezeichnungen, und dank seines Smartphones hatte er Zugriff auf die tatsächlichen Zahlen. Als er seine genauen Koordinaten in der Datei fand, entschied er, sich probehalber zu bewegen und zu sehen, ob sie sich ebenfalls änderten. Langsam ging er rückwärts, während er auf den Monitor starrte und dabei immer mehr schielte. Die Zahlen schienen sich tatsächlich zu ändern, während er sich bewegte, doch statt die absolute Position einer Person über den Weltraum festzumachen, spürte das System sie in Relation zur Erde auf. Unter den Koordinaten stand noch eine Zahl, von der er wusste, dass sie die Höhe über dem Meeresspiegel darstellte. Martin sprang hoch, obwohl es schwer war, dabei die Zahl zu entziffern. Er konnte sehen, dass diese sich änderte, während er in der Luft war. Als er landete, stand wieder die Ausgangszahl dort.

Martin wusste, was als Nächstes zu tun war. Wenn er es nicht versuchte, würde er sich den Rest seines Lebens Gedanken darüber machen.

Nein, das ist nicht wahr, dachte er. Ich würde mir Gedanken machen, bis ich letzten Endes zusammenbreche und es dann trotzdem versuchen. Also kann ich es auch genau so gut jetzt gleich ausprobieren.

Ohne sich hinzusetzen, beugte er sich über den Schreibtisch, schluckte schwer und veränderte dann den Höhenmeter um dreißig Zentimeter. Anschließend atmete er langsam aus.

»Jetzt schauen wir doch mal, ob ich fliegen kann«, sagte er laut, als wäre es für die Nachwelt gedacht. In diesem Moment war das leere Apartment die Nachwelt. Er drückte auf die Enter-Taste.

Sofort befand er sich dreißig Zentimeter über dem Boden, doch unmittelbar danach fiel er wieder nach unten. Er kam mit seinem vollen Gewicht auf dem Schreibtisch auf, verstauchte sich beide Handgelenke und verdrehte sich seinen rechten Knöchel. Fast hätte er es geschafft, aufrecht stehen zu bleiben, aber schließlich fiel er doch nach hinten, direkt in seinen Schreibtischstuhl hinein. Der Aufprall war so hart, dass sich der Stuhl unter der Belastung durchbog und die gesamte Luft aus seiner Lunge wich. Als er so dasaß und versuchte, wieder Luft zu holen, konnte er die Nachbarin unter ihm hören. Mit einem Besen stieß sie gegen die Decke und brüllte, dass er endlich ruhig sein sollte.

Okay, dachte Martin. Ich kann zwar nicht fliegen, aber ich kann fallen, wann immer ich es will.

Er richtete seine Aufmerksamkeit nun wieder auf den Längen- und Breitengrad, brachte sein Smartphone zur anderen Ecke des Schlafzimmers und notierte sich dort die GPS-Daten. Dann kehrte er zum Computer zurück, setzte sich hin und gab die Koordinaten ein.

Er atmete tief durch, drückte auf Enter und befand sich plötzlich am anderen Ende des Schlafzimmers. Seine Füße standen zwar auf festem Boden, aber der Rest von ihm befand sich noch in einer sitzenden Position, obwohl er keinen Stuhl mehr unter sich hatte. Mit seinem gesamten Gewicht landete er deshalb genau auf seinem Steißbein. Er brach es sich zwar nicht, aber es fühlte sich so an, als hätte es genau das vorgehabt. Einen Moment lang nahm er sich Zeit. Dann stand er auf und ging zum Computer zurück. Die Nachbarin unter ihm stieß nun fester gegen die Decke und brüllte noch lauter. Er stellte sich vor, wie sie versuchte, ihre Kaution zurückzubekommen, und behauptete, dass die unzähligen Besenstielabdrücke schon dort gewesen waren, als sie eingezogen war. Das brachte ihn zum Lächeln.

Jetzt wusste er, dass er sich teleportieren konnte! Er wusste auch, dass er darüber nachdenken musste, wie er es tat, denn ansonsten würde er sich über kurz oder lang ernsthaft verletzen. Wieder schaute er auf die GPS-App. Er suchte sich eine Stelle aus, die anderthalb Kilometer entfernt war. Ein Ort, der gut beleuchtet sein würde, aber wo ihn gleichzeitig niemand sehen würde: ein Parkplatz an der Seite einer Boston Market Filiale. Er gab die Koordinaten ein, stand auf und winkelte dann die Beine etwas an, um etwaige Stöße dämpfen zu können. Für eine bessere Balance streckte er außerdem die Arme aus. Dann biss er die Zähne zusammen und drückte auf Enter.

Martin stand tatsächlich auf dem Parkplatz des Boston Market. Er war froh, dass er seine Arbeitskleidung nicht ausgezogen hatte, als er nach Hause gekommen war und dass sein Portemonnaie immer noch in seiner Tasche steckte. Er wünschte nur, er hätte seine Schuhe angelassen und seine Schlüssel in der Tasche, aber man konnte eben nicht alles haben. Er lebte in Seattle, darum war er dankbar, dass nur der Bürgersteig, und nicht die Luft selbst nass war. Sein Computer stand immer noch zu Hause. Darum konnte er sich nicht einfach dorthin zurück teleportieren. Stattdessen ging er zu Fuß, während er ein Boston Market Hackbratensandwich aß und darüber nachdachte, was er als Nächstes tun würde. Mit der Datei und auch mit dem Ersatzwohnungsschlüssel, der bei der Nachbarin unter ihm war.

Wer wäre besser geeignet?, dachte er. Sie ist schließlich immer zu Hause. Siebeobachtet stets ganz genau, was vor sich geht.

Seine Handgelenke, sein Knöchel und sein Steißbein schmerzten, aber der Heimweg und die ruinierten guten Wollsocken waren es ihm vollkommen wert. Sowohl wegen der Zeit, die er zum Nachdenken hatte, als auch wegen des Gesichtsausdrucks seiner Nachbarin.

»Warum sind Sie da oben die ganze Zeit so laut?«, fragte sie genervt.

»Was meinen Sie? Ich war doch gar nicht zu Hause. Ich war im Boston Market. Sehen Sie?«, entgegnete er und hielt seine Sandwichverpackung und seinen nun leeren Trinkbecher hoch.

»Warum tragen Sie dann keine Schuhe?«

Er schaute auf seine Füße.

»Ich mag es, leise zu gehen. Das wissen Sie doch.«

»Woher weiß ich denn, dass Sie die Sachen nicht vorher schon gekauft und sie jetzt einfach nur hier herunter gebracht haben?«

Martin kicherte. »Was macht denn mehr Sinn? Dass ich etwas Fast Food gegessen, meinen Müll aufbewahrt, absichtlich einen Haufen Lärm gemacht und mich dann aus meinem eigenen Apartment ausgesperrt habe, nur um hier runterzukommen und Sie zum Spaß anzulügen? Oder, dass ich einfach nur ohne Schuhe und Schlüssel losgelaufen bin, um beim Boston Market zu essen?«

Darauf wusste sie keine Antwort, denn keine dieser Optionen machte wirklich Sinn. Martin kehrte als müder, aber glücklicher Mann in sein Apartment zurück.

Er minimierte das Fenster der Datei nun und rief den App-Store für Android-Smartphones auf. Dort fand er eine Reihe von Emulatoren, mithilfe derer er die Datei auch auf seinem Handy aufrufen könnte. So musste er nicht mehr zwangsläufig zu Hause sitzen oder überhaupt irgendwohin gehen.

Doch auf seiner geistigen To-do-Liste stand noch ein weiterer Punkt.

Martin musste ziemlich lange suchen, bis er die Felder für Datum und Zeit fand. Er war nicht besonders überrascht, dass er diese Einträge in einer Form vorfand, die er verstehen konnte. Er vermutete einmal, das Programm hatte diese Einträge aus Zeitgründen genau so an die Menschen, die es erstellt hatten, weitergeleitet. Warum Generationen damit verbringen, neue Notationssysteme zu entwerfen, wenn man den Menschen das geben konnte, was sie bereits kannten? Etwas, das funktionierte und leicht zu verwalten war.

Eine lange Zeit schaute er intensiv auf die Zeitangabe. Im Grunde war sie die genaueste Uhr der Welt. Nur die Zahlen schienen danebenzuliegen. Doch dann stellte er fest, dass es sich um die Greenwich Mean Time handelte.

Er würde jetzt eine Zeitreise versuchen. Es nicht zu probieren, ging einfach nicht, auch wenn ihm diese Idee natürlich verständlicherweise Angst machte. Vorsichtig fügte er der Zeitangabe dreißig Sekunden hinzu, drückte auf Enter und … nichts passierte. Er überprüfte es noch einmal. Das Programm hatte seine Eingabe anscheinend nicht akzeptiert. Abermals versuchte er es, aber das Resultat war dasselbe.

Martin stieß einen langen Atemzug aus. »Wahrscheinlich ist es auch besser so.«

Eine Stimme aus der Ecke des Zimmers sagte plötzlich: »Versuch, in der Zeit zurückzureisen, und nicht vorwärts.«

Martin sprang erschrocken auf, danach blickte er zu der Stelle, woher die Stimme herkam. Er sah sich nun selbst mit seinem Smartphone in der Hand in der Ecke stehen. Auch er hielt es gerade in der Hand. Martin sah tatsächlich sich selbst. Kein Abbild. Kein Spiegelbild. Er sah sich.

Er hatte angenommen, dass er besser aussah.

Für einen Moment starrten sie sich gegenseitig an. Schließlich sprach Martin, der Zeitreisende: »Ich sagte, du sollst in der Zeit zurückreisen und nicht vorwärts.«

Der originale Martin war momentan viel zu sehr damit beschäftigt, durchzudrehen, anstatt zuzuhören, und bekam deshalb gar nicht mit, was Martin aus der Zukunft zu ihm gesagt hatte.

»Was?«, fragte er verwirrt und riss sich zusammen.

Martin aus der Zukunft schüttelte den Kopf. »Großartig. Jetzt bin ich verwirrt.«

»Du bist verwirrt?«

Martin aus der Zukunft sah irritiert aus. Er nuschelte etwas im Flüsterton, während er auf dem Smartphone herumtippte. Noch einmal schaute er auf, stellte Blickkontakt zum originalen Martin her und verschwand einfach.

Martin ging zu der Stelle, wo gerade noch sein Doppelgänger gestanden hatte. Keine Brandflecken oder etwas in der Art waren dort zu sehen. Er wusste nicht, was er erwartet hatte, was mit der Stelle passierte, an der ein Zeitreisender auftauchte und wieder verschwand. Er wusste aber, dass er mehr erwartet hatte als … nichts.

Martin blickte auf sein Handy und sah das Feld mit der Zeitangabe in der Datei. Die Sekunden tickten. Schnell zog er dreißig Sekunden von der Zeit ab und drückte auf Enter.

Die Welt um ihn herum machte eine ziemlich schnelle Überblendung von jetzt zu der verstaubten Erinnerung an die Welt vor dreißig Sekunden. Er sah Martin aus der Vergangenheit in der Mitte des Zimmers stehen. Seine ganze Aufmerksamkeit hatte er auf den Handybildschirm gerichtet und er machte irgendwie einen ziemlich enttäuschten Eindruck.

Martin aus der Vergangenheit atmete einmal tief ein und aus und sagte dann: »Wahrscheinlich ist es besser so.«

Ihm tat der Martin aus der Vergangenheit leid. Ich sehe so traurig aus, dachte er.

»Versuch, in der Zeit zurückzureisen, und nicht vorwärts«, schlug er hilfsbereit vor.

Martin aus der Vergangenheit war ziemlich entsetzt. Mit echter Panik in den Augen sah er zu ihm. Er schaute erst ungläubig, dann überrascht und zu Martins immer noch währender Bestürzung auch enttäuscht.

Na großartig, dachte Martin. Ich sehe pummelig aus und man kann mir all meine Emotionen im Gesicht ablesen.

Martin beschloss, es noch einmal zu versuchen: »Ich sagte, du sollst in der Zeit zurückreisen und nicht vorwärts.«

Martin aus der Vergangenheit öffnete und schloss den Mund ein paar Mal. Schließlich schaffte er zu fragen: »Was?«

Martin war nicht sonderlich beeindruckt von sich selbst. »Großartig. Jetzt bin ich verwirrt.«

Der Martin aus der Vergangenheit sah nun wirklich beleidigt aus. »Du bist verwirrt?«

Martin gab auf. »Fantastisch«, murmelte er, während er die Zeit wieder zurücksetzte. »Ich bin der erste Mensch in der Geschichte, der sich selbst trifft, und dann erfahre ich, dass ich ein hässlicher Idiot bin.«

Martin drückte wieder auf Enter und sah zu, wie sein früheres Selbst verschwand, während er zu dem Moment zurückkehrte, an dem er gegangen war.

Das ist ja nicht so gut gelaufen, dachte er. In der Rückschau hätte er das ahnen können. Erste Treffen waren immer heikel, selbst wenn man sich selbst traf. Nächstes Mal würde es bestimmt besser laufen. Denn dann habe ich ja schon eher eine Ahnung,wie ich mich verhalten und wie ich reagieren soll.

Martin hörte nun ein leises »Ähm«, das von rechts kam. Er schaute in die Richtung und war nicht überrascht, sich selbst lächelnd dort stehen zu sehen.

»Ich bin du, und zwar in einer Stunde«, sagte er. »Willst du vielleicht ein bisschen Poker spielen?«

Kapitel 4

Am nächsten Morgen erwachte Martin mit einem Kater. Dabei hatte gar nicht viel getrunken, während er mit sich selbst Poker gespielt hatte. Nur ein paar Bier.

In der ersten Runde, als er Martin aus der Vergangenheit gewesen war, hatte er verloren. Dann war er in der Zeit zurückgereist und hatte als Martin aus der Zukunft alles noch mal durchgespielt. Um ehrlich zu sein, war er zunächst nicht so begeistert von einer zweiten Runde gewesen und hauptsächlich aus Pflichtgefühl zurückgekehrt, um eine Revanche anzubieten.

Dann hatte er allerdings angefangen zu gewinnen, weil er sich daran erinnert hatte, was Martin aus der Vergangenheit auf der Hand gehabt hatte.

Jedes Spiel macht mehr Spaß, wenn man gewinnt, auch wenn es in diesem Fall am Ende gerade so null zu null ausging. Dann war er ins Bett geschlurft und müder als jemals zuvor in seinem Leben gewesen, doch sein Hirn hatte immer noch auf Hochtouren gearbeitet. Er hatte darüber nachgedacht, was passiert wäre, wenn er die erste Pokerrunde gewonnen hätte, dann zurückgekommen wäre und wieder gewonnen hätte. War das überhaupt möglich? Und wenn ja, woher wären die Gewinne dann gekommen? Konnte er unendlichen Reichtum schaffen, indem er gegen sich selbst im Poker verlor? Natürlich konnte er auch so unendlichen Reichtum erschaffen, indem er einfach eine Dezimalstelle in einer Datei verschob.

Schließlich erkannte er, dass er, wenn er überhaupt noch etwas Schlaf bekommen wollte, das Ende erzwingen musste. Also trank er seinen allnächtlichen Cocktail: zwei Schlaftabletten in einem Schuss billigem Bourbon aufgelöst.

Nun war es Morgen und er hatte einen Kater.

Martin saß an seinem Schreibtisch, aß Toast und trank Kaffee, während er wieder mal auf die Datei starrte. Die Nacht zuvor war eine überwältigende Achterbahnfahrt voller Entdeckungen gewesen, aber der Morgen danach war wie gewöhnlich harte Schufterei, ein ständiges hin- und herspringen in der Realität.

Er hatte nun bewiesen, dass die Datei ein Werkzeug war, welches jeden Aspekt seines Lebens verbessern konnte. Doch seine schmerzenden Füße, seinen verdrehten Knöchel und die verstauchten Handgelenke sowie seine ruinierten Socken und die verwirrte Nachbarin, bewiesen eindeutig, dass er sein Leben auch ruinieren konnte, wenn er weiterhin einfach handelte, ohne vorher groß darüber nachzudenken.

Martin hatte bereits beschlossen, dass er seinen Körper nicht mehr verändern wollte. Denn solange er die Datei nicht besser verstand, war das viel zu gefährlich. Es war viel besser, erst einmal einfach Geld zu erschaffen und eine Mitgliedschaft im Fitnessstudio zu kaufen, oder, wenn nötig, auf plastische Chirurgie zurückzugreifen. Er hatte außerdem entschieden, dass er gelegentlich kleinere Mengen Geld auf sein Bankkonto schaffen würde, statt einer riesigen Summe auf einmal. Martin hoffte, dass er auf diese Art nicht entdeckt werden würde.

Und er hatte es geschafft, dass er kurz fliegen konnte. Wirklich, er konnte sich selbst für einen Moment mitten in der Luft platzieren, bevor er wieder zu Boden fiel. Er hatte bereits eine Idee, wie man das optimieren könnte, aber das besaß für ihn erst einmal keine Priorität.

Außerdem konnte er sich jetzt teleportieren. Das war erstaunlich, aber auch sehr gefährlich. Glücklicherweise war seine Kleidung mit ihm teleportiert worden. Darum schlussfolgerte er, dass die Datei – oder das System, das die Datei nutzte – die Kleidung und die Dinge in der unmittelbaren Umgebung in Relation zu dem Standort setzte. Genau so, wie es die eigene Position in Relation zur Erde bestimmte. Das war eine Erleichterung, denn Martin wollte der Polizei nicht eines Tages erklären müssen, warum er sich plötzlich wie aus dem Nichts, nackt an einem öffentlichen Ort materialisiert hatte. In Wirklichkeit wollte er der Polizei nicht mal erklären müssen, warum er sich überhaupt materialisiert hatte. Er musste dafür sorgen, dass er, wenn er sich irgendwohin teleportierte, nicht nur den richtigen Längen- und Breitengrad und den richtigen Höhenmeter, sondern auch Einsamkeit hatte. Er brauchte unbedingt einen Landeplatz, wo ihn niemand sehen würde.

Zu guter Letzt könnte er dann in der Zeit reisen und zu seinem Startpunkt zurückgehen, aber er konnte nicht darüber hinaus gehen. Er überlegte, dass es wohl daran lag, dass die Vergangenheit ein bekannter Zustand, die Zukunft aber noch nicht geschehen war. Man konnte sie nicht kennen und sie war auch nicht greifbar. Mit Sicherheit wusste er das zwar nicht zu sagen und würde es wahrscheinlich auch nie können. Fakt war aber, dass er in der Zeit zurückgehen und dann wieder zur Gegenwart zurückkehren konnte. Im Grunde teleportierte er sich also nur in eine andere Zeit sowie an einen anderen Ort. Also waren die benötigten Parameter, die er brauchte: Längengrad, Breitengrad, Höhenmeter, Einsamkeit und … Zeit.

Der einzige Weg, wie er all das beeinflussen konnte, war auf die Datei zuzugreifen. Er konnte das von seinem Computer aus tun und mittlerweile auch von seinem Smartphone. Öffentliche Computer kamen hingegen nicht infrage. Denn dort könnte er die Software nicht installieren, die er brauchte, um auf den Remotecomputer mit der Datei zuzugreifen. Es schien so, als wäre sein Handy von jetzt an sein wichtigster Zugang zur Datei. Also musste er sicherstellen, dass er sich nicht aus Versehen irgendwohin teleportierte, wo das Handy nicht funktionierte, denn dann würde er dort festsitzen. Martin öffnete nun eine Landkarte, auf der die Netzabdeckung seines Telefonanbieters ersichtlich war. Jetzt war es nicht nur eine Karte, die einen zuverlässigen High-Speed-Datenzugang für ihn darstellte, sondern auch die Orte, an denen Martin gottgleiche Kräfte über Zeit und Raum besaß. Das sollte sich eigentlich nicht wie eine Einschränkung anfühlen, aber genau das tat es.

Ich kann jetzt sofort überallhin auf dieser Karte der Vereinigten Staaten reisen, wohin ich möchte, dachte er, solange dort einer dieser roten Flecken ist. Die dunkelroten Flecken. Denn die Helleren sind mir zu fraglich.

Zum ersten Mal, seit er die Datei gefunden hatte, dachte Martin Banks erst einmal darüber nach, bevor er handelte. Er machte eine Liste von Dingen, die er brauchte, damit er weitermachen konnte. Dann brachte er diese in eine logische Reihenfolge und begann, die Liste abzuarbeiten.

Er durchsuchte die Datei nach der Seriennummer und dem Modellnamen seines Handys. Er war erleichtert, als er beides fand. Irgendwie hatte er Angst gehabt, dass die Datei nur Menschen abdecken würde, aber das war offensichtlich nicht der Fall. Die Datei war riesig (viel gewaltiger als die tatsächlich eingetragene Größe) aber nicht unendlich.

Martin war sich nicht sicher, ob sie für alle Menschen und alle Gegenstände groß genug war, aber immerhin: Da war er, der Eintrag für sein Handy, der jedenfalls nicht sehr umfangreich war. Er nahm an, dass Massenartikel wie Handys nicht jedes Mal aufs Neue detailliert beschrieben werden mussten, genau, wie es bei den Menschen der Fall war. Stattdessen hatte jede Kopie einen Eintrag, der beschrieb, inwiefern sie sich von anderen Gegenständen seiner Art unterschied. Die vollständige Beschreibung, was dieses Gerät zu einem Handy machte, musste sich also wahrscheinlich irgendwo anders in einer separaten Datei befinden.

Er verbrachte einige Zeit damit, eine rudimentäre Smartphone-App zu erstellen, mit der man die Datei automatisch bearbeiten konnte. Er fand sogar den Akkustand des Handys. In der Datei war er präzise in fünf Dezimalstellen dargestellt. Auf dem Handy war er hingegen vollkommen ungenau, es sei denn, man installierte eine separate App. Doch auch bei dieser konnte man nur ganze Zahlen ablesen. Er überprüfte, dass es sich auch wirklich um den Akkustand handelte, indem er die Datei mit der App verglich. Dann spielte er fünf Minuten lang ein Spiel, das besonders viel Akkuleistung verbrauchte. Danach überprüfte er den Akkustand erneut und war nun sicher, dass er tatsächlich das richtige Feld gefunden hatte. Er stellte die experimentelle App so ein, dass sie im Hintergrund lief und den Akkustand alle zehn Sekunden auf einhundert Prozent zurücksetzte. Dann spielte er das Spiel weitere fünf Minuten. Danach war der Akku immer noch voll.

Eine Stunde lang hieß es jetzt suchen und Copy&Paste. Doch dann hatte er sein Handy so modifiziert, dass immer genau dreiundsiebzig Prozent der Akkuleistung verblieben (einhundert Prozent hätte nämlich verdächtig ausgesehen). Nun würde es ihm endlich erspart bleiben, einen Haufen Ersatzakkus wie Chewbacca in einem Patronengurt mit sich herumzuschleppen.

Außerdem brachte er sein Handy dazu, immer aus einem Gebiet zu senden, das von drei separaten Mobilfunkmasten und zwei Stromverteilern abgedeckt wurde, egal, wo das Handy sich tatsächlich befand. Dieser Gedanke war ein intuitiver Sprung, aber Martin verstand jetzt, dass die Funkwellen, die vom Handy produziert wurden, genau so unecht waren wie alles andere. Darum konnten auch sie manipuliert werden. Und wenn er konkretisieren könnte, woher das Signal kam, könnte er auch festlegen, wann es gesendet wurde. Im Grunde genommen war die Zeit also nur eine weitere Zahl in der Datei.

Er hatte immer noch große Schwierigkeiten damit, die Umstände einer Reise durch die Zeit vernünftig zu beurteilen. Im kalten Licht des Tages wurde ihm klar, dass es unglaublich leichtsinnig von ihm gewesen war, das Reisen durch die Zeit auch nur zu versuchen. Außerdem hatte er unglaublich viel Glück gehabt. Theoretisch würden nämlich stets zwei Kopien von ihm zur selben Zeit in der Datei auftauchen, wenn er zurückging. Man müsste annehmen, dass es dadurch zu einer Art Fehlermeldung kommen würde, was natürlich sehr ungünstig wäre. Zum Glück war dies aber nicht passiert. Martin schloss daraus, dass es irgendwo ein Programm gab, das auf die Datei zugriff und sie nutzte, um die Welt zu rendern. Jeder Moment, den er augenblicklich durchlebte, war exakt ebenso weit entwickelt wie dieses theoretische Programm.

Was Reisen in die weiter zurückliegende Vergangenheit anbelangte, waren diese, wenn die Wirklichkeit tatsächlich ein Computerprogramm war, schon immer möglich gewesen. Das bedeutete, dass die Datei schon immer existiert hat. Es war seltsam, sich vorzustellen, dass die Datei älter war als die Erfindung der Computer, aber sie war ja auch älter als die menschliche Erfindung von Computern. Wer oder was auch immer die Datei erschaffen hatte, hatte Computer bereits erfunden, lange bevor das Programm, das Martin jetzt erlebte, geschrieben worden war.

Wenn die Datei schon immer existiert hatte, dann hatte alles, was in der Datei stand, in gewissem Sinne ebenfalls schon immer existiert. Also war der einzige Grund, warum Martin nicht die gesamte Geschichte durchlebt hatte, der, dass das Programm keinen Grund sah, ihn dorthin zu rendern. Nun aber wusste Martin, wie er ihm diesen Grund geben konnte.

Er konnte nichts über die Existenz des Dateispeicherortes hinaus beweisen, aber das war auch nicht wichtig. Zum millionsten Mal dankte er sich selbst dafür, dass er gelernt hatte, Computer zu programmieren.

Als das Wochenende vorbei war, befand er die App als vorerst praktikabel.

Die App hatte nun drei Reiter. Auf dem ersten Reiter war ein Dollarzeichen. Es zeigte ihm seinen Kontostand an und erlaubte ihm, diesen schnell zu ändern. Die App machte die notwendigen Änderungen in der Datei automatisch.

Das Symbol des zweiten Reiters war ein Kompass. Er nutzte die Programmierschnittstelle eines beliebten Kartenprogramms, um eine Satellitenkarte der Erde darzustellen. Dort konnte er hineinzoomen, um sich ein Gebiet anzusehen und eine Stelle auszuwählen. Die App würde die Koordinaten und den Höhenmeter in die Datei eingeben. Nur einen Herzschlag später würde er dann vor Ort sein. Es gab auch ein Dialogfeld, in das er ein Datum und eine Uhrzeit eintragen konnte. Wenn er das Datum und die Uhrzeit nicht präzisierte, hielt ihn die App in der Gegenwart fest. Es gab auch eine Taste, die ihn dorthin zurückbrachte, wo und wann auch immer er bei seiner letzten Zeitreise gewesen war. Und eine Taste, mit der man alles wieder rückgängig machen konnte, wenn man es wollte. Praktisch, wenn er sich mal irgendwo wiederfand, wo er nicht sein wollte. Der Reiter zeigte ihm auch eine Liste mit den Orten an, zu denen sich Martin bereits teleportiert hatte. Bestimmte Orte und Zeiten konnte er nun auch als Favoriten markieren, damit er sie einfacher wiederfinden konnte.

Der dritte Reiter war mit ?! bezeichnet. Dieser hatte drei Tasten. Der Zweck der ersten Taste war es, Menschen zu beweisen, dass er tatsächlich die Macht hatte, die er nun besaß. Wenn er sie betätigte, würde die App knapp einen Meter zu seinem Höhenmeter hinzufügen. Die Taste war mit Schweben bezeichnet. Er hatte allerdings noch keinen Weg gefunden, seinen Höhenmeter so zu modifizieren, dass er auf dem geänderten Wert bleiben konnte. Darum würde die App stattdessen immer wieder etwa zehn Mal pro Sekunde den neuen Höhenmeter angeben. Dadurch würde er so lange in der Luft bleiben, bis er erneut auf die Taste drückte. Er hatte es ausprobiert, und die Erfahrung war ehrlich gesagt sehr unangenehm gewesen, aber nichts, womit er nicht umgehen konnte.

Auf der zweiten Taste stand Zuhause. Ein Tastendruck würde ihn wieder zurück in sein Apartment bringen. Die dritte Taste war leuchtend rot und darauf stand Flucht. Darüber hatte er sich einige Gedanken gemacht.

Martin war sich sicher, dass nichts, das er tat, unmoralisch war. Denn er hatte schließlich niemanden verletzt. Er hatte nur sich selbst geholfen. Außerdem war er ziemlich sicher, dass nichts, was er getan hatte, wirklich illegal war. Wer machte schon Gesetze darüber, ob man Raum und Zeit nach seinem eigenen Willen beugen durfte? Aber er war sich auch sicher, dass er in große Schwierigkeiten geraten würde, sobald jemand herausfand, was er hier tat. Wenn er Glück hatte, würden sie ihn vielleicht einfach nur ins Gefängnis werfen und seine Entdeckung für sich behalten. Wenn er Pech hatte, würde man ihn allerdings als Außerirdischen bezeichnen und dann sezieren. Er wusste, dass er einen Fluchtplan brauchte, wenn irgendetwas schiefgehen sollte. Er versuchte, an einen Ort zu denken, an den er verschwinden und wo ihn keine Regierung oder Konzerne finden würden. Er wusste, dass das heutzutage ein echtes Problem war, aber er wusste auch, dass genau darin die Antwort lag. Heutzutage. Er könnte in die Vergangenheit fliehen und niemand, der heute lebte, würde dort an ihn herankommen können.

Martin war klar, dass die Dinge, die er mithilfe der Datei tun konnte, für jeden, der es miterlebte, wie Magie aussehen mussten. Wenn er also in die Vergangenheit flüchtete, dann musste es eine Zeit sein, in der man an die Existenz von Magie glaubte. Auf diese Weise würden die Menschen hoffentlich anstelle von: »Magie! Das muss ein Trick sein! Lasst ihn uns zusammenschlagen, bis er uns das Geheimnis erzählt«, brüllen: »Magie! Ich habe davon gehört! Allerdings habe ich es nie selbst gesehen!« Der Trick bestand darin, eine Zeit zu finden, in der der nächste Satz nicht lautete: »Lasst ihn uns verbrennen!«

Er versuchte, an die beispielhafte Geschichte eines Zauberers zu denken, der verehrt worden war. Die einzigen Namen, die ihm einfielen, waren Houdini und Merlin. Houdini war gestorben, nachdem ihn ein Fan in den Bauch geschlagen hatte. Das schien ihm nicht sehr vielversprechend. Merlin war der Zauberer von König Artus gewesen und wahrscheinlich frei erfunden. Selbst wenn eine reale Person Basis dieser Geschichte gewesen war, so hatte diese mit Sicherheit keine magischen Kräfte besessen. Merlin war wahrscheinlich nur ein Schamane gewesen, gut darin, mysteriös zu wirken. Er hatte daraus insofern Kapital geschlagen, als dass er ein Leben mit einem gewissen Ansehen geführt hatte und zu einer Legende geworden war, die bis heute andauerte. Das würde reichen, dachte sich Martin.

Bestimmt war das Leben im Mittelalter nicht sonderlich angenehm, aber es zwang ihn ja niemand, für immer dortzubleiben. Es schien einfach nur ein sicherer Ort zu sein, zu dem er im Notfall flüchten und sich entspannen konnte. Wenn es sich als Albtraum herausstellen sollte, konnte er immer noch so lange in der Zeit weitergehen, bis er einen Ort fand, der ihm mehr zusagte.

Martin forschte ein wenig nach. Sehr wenig. Denn er erwartete nicht, dass er die Fluchttaste je nutzen müsste. Die Möglichkeit wollte er sich eben nur offenhalten. Zunächst hatte er kurz die Idee gehabt, selbst zu versuchen, Merlin zu werden. Irgendjemand muss es ja tun, dachte er. Diese Idee starb aber schmählich innerhalb der ersten paar Minuten seiner Nachforschungen. Denn niemand wusste genau, wann, wo, wie lange oder ob Merlin überhaupt je gelebt hatte. Das Einzige, worin alle Experten übereinzustimmen schienen, war, dass Merlin und die anderen Charaktere aus der Artuslegende wahrscheinlich im sechsten Jahrhundert gelebt hatten. Das war keine besonders angenehme Zeit, um darin zu leben. Martin ließ also wieder von der Idee ab. Stattdessen startete er eine Suche mit dem Satz: Die beste Zeit, um im mittelalterlichen England zu leben. Das dritte Suchergebnis in der Liste war ein Link zu Amazon. Dort gab es ein Buch mit dem Titel Die besten Jahre, um im mittelalterlichen England zu leben von Gilbert Cox. Martin las die Produktbeschreibung:

In seinem bahnbrechenden Werk plädiert der beliebte Historiker und Fernsehmoderator Gilbert Cox dafür, dass der Zeitraum zwischen 1140 und 1160, und zwar nach der Schlacht von Hastings, vor dem Mord an Thomas Becket und weit vor dem Schwarzen Tod, die absolut beste Zeit war, um im mittelalterlichen England zu leben.

Das reicht mir, dachte Martin. Er entschied sich für die Mitte und trug 1150 als Fluchtdatum und Dover als Ort ein, weil die weißen Klippen der einzige Orientierungspunkt in England waren, die ihm einfielen. Kurz zog er auch Stonehenge in Erwägung, aber er wollte sich nur ungern inmitten einer Gruppe von Druiden materialisieren.

Wie gesagt, die Fluchttaste war nur eine reine Vorsichtsmaßnahme, doch wie sich herausstellen würde, würde er sie innerhalb der nächsten achtundvierzig Stunden benutzen müssen.

Kapitel 5

Martin war glücklich, wieder zur Arbeit zu gehen. Nachdem er das ganze Wochenende in seinem Apartment eingepfercht gewesen war, sich über komplizierte Dinge Gedanken gemacht und sich mit Computercodes herumgeschlagen hatte, war es richtig schön, mal wieder raus und unter Menschen zu kommen, auch wenn sein Job nur Datenerfassung war. Dort saß er zwar wieder an einem Computer, aber es war nicht notwendig, dabei nachzudenken. Er war allein in seiner Zelle des Großraumbüros, aber das war kein wirkliches Alleinsein. Es war gerade privat genug, um ein falsches Gefühl von Sicherheit vermittelt zu bekommen, aber man konnte leicht dabei erwischt werden, wie man sich gerade an einer Stelle kratzte, die einem peinlich war.

Er fuhr also zur Arbeit. Sein Auto war eine sonnige, kleine Insel der Ruhe inmitten eines anschwellenden Flusses des Elends. Der typische morgendliche Pendelverkehr.

Martin machte sich keine Gedanken mehr über die philosophischen Konsequenzen seiner Entdeckung. Er war mittlerweile so weit gekommen, es auf folgende Art zu sehen: Einige sagten, das Universum wurde von Gott geschaffen, und wir waren machtlose Bauern, die seinen Launen ausgesetzt waren. Andere sagten, das Universum sei nur durch einen glücklichen Zufall entstanden, und wir waren machtlose Flecken in einem gewaltigen, desinteressierten Ozean. Martin konnte nun beweisen, dass die Welt von einem Computerprogramm geschaffen worden war. Das machte jedoch keinen Unterschied, denn wer hatte das Programm geschaffen? Gott? Der Zufall? Er kannte die Antwort nicht, und so dachte er auch nicht weiter darüber nach. Der Unterschied war, dass die Menschen weder machtlose Bauern noch machtlose Flecken waren. Menschen waren machtlose Unterprogramme – zumindest alle außer Martin! Machtlosigkeit schien auf einmal gar nicht so schlecht zu sein, wenn man sie nur bei anderen Leuten sah.

Martin hatte einen Plan. Er würde einfach so weiterleben wie bisher, aber ohne Geldsorgen und mit der Fähigkeit an seinen freien Tagen überall hingehen zu können, wohin es ihm beliebte. Er würde ein Leben führen, um das ihn Milliardäre beneiden würden. Totale Freiheit und totale Anonymität; und das Beste daran war, dass er gar nichts Großartiges zu ändern brauchte. Alles, was er dafür tun musste, war sich bedeckt zu halten. Man konnte sich gar nicht zurückhaltender benehmen, als er es ohnehin schon tat. Er würde seinen Job, sein Auto und sein Apartment behalten. Nichts davon war besonders großartig, aber das könnte sich ja mit der Zeit ändern. Zunächst einmal war der einzige Weg nach vorne, allen Fortschritt zu stoppen.

Als er in das Großraumbüro ging, wirkte es plötzlich anders auf ihn als sonst. Noch vor einer Woche war es ein künstlich beleuchteter Schlachthof menschlicher Seelen mit beigefarbenen Wänden für ihn gewesen, in dem er den Großteil seiner Zeit verbringen musste. Jetzt sah er es als einen künstlich beleuchteten Schlachthof menschlicher Seelen mit beigefarbenen Wänden an, wo er den Großteil seiner Zeit verbrachte, weil er es sich so ausgesucht hatte. Es war wie ein Fantasycamp für Unternehmensdrohnen.

Lächelnd saß er nun an seinem Schreibtisch und summte vor sich hin, während er Papiere ausseinem Posteingang nahm, die relevanten Informationen der Formulare in die richtigen Felder der Datenbank eintrug und sie dann in seinem Postausgang ablegte.

Er ging in den Pausenraum. Eine Frau, die er seit zwei Jahren kannte, ohne je ihren Nachnamen erfahren zu haben, starrte den Wasserspender an. Ihr Vorname war Becky. Sie hatte einen blassen Teint und schlaffe, dunkelblonde Haare, die irgendwie perfekt zu ihrem verblichenen und abgenutzten Businessanzug passten. Auf seine Art ist es ein einheitlicher Look, dachte Martin.

»Wie geht's dir?«, fragte er.

»Mir ist langweilig«, erwiderte sie.

»Ich weiß. Alles an diesem Ort ist atemberaubend langweilig, nicht wahr?«

»JA!« Sie schaute sich um, um zu sehen, ob noch jemand zuhörte, aber sie waren allein. »Hast du dich jemals dabei erwischt, dass du hoffst, nur für eine Sekunde in einen Autounfall verwickelt zu werden?«

»TOTAL«, sagte Martin lauter als beabsichtigt. »Weil es unheimlich interessant wäre!«

»Ja. Nur nichts, wo ernsthaft jemand verletzt wird. Das möchte ich natürlich auch nicht«, erklärte sie.

»Nein. Einfach nur so verletzt, dass man in die Notaufnahme kommt.«

»Hm. Vielleicht in einem Krankenwagen fahren und zwei kräftige Jungs in Uniform, die einem helfen. Ein gebrochener Arm wäre optimal. Man bekommt sofort Aufmerksamkeit und muss ein paar Wochen nicht arbeiten, aber man ist nicht gelähmt oder so was in der Art …« Sie verstummte und verlor sich in ihrer Fantasie.

Eine Minute lang standen sie beide schweigend da.

»Nun«, sagte sie, »ich muss leider wieder zurück an die Arbeit.«

»Ja, vermutlich musst du das«, erwiderte Martin. »Wir werden ja nicht fürs Rumstehen und Quatschen bezahlt.«

Sie lächelte. Sie hatte ein wunderschönes Lächeln. Das hatte Martin noch nie zuvor bemerkt. »Allerdings werden wir auch nicht gut genug bezahlt, um zu rechtfertigen, dass wir unsere Jobs machen«, sagte sie, während sie den Pausenraum verließ.

Und sie ist eine Führungskraft, dachte Martin. Wenn ich wirklich hart arbeiten würde, könnte man mich eines Tages auch befördern.

Mittags, als alle anderen beim Essen waren, trug Martin einen Karton voller Sachen zu seinem Auto. Zu kündigen war nicht annähernd so schwer gewesen, wie er es sich vorgestellt hatte.

Als sein Vorgesetzter gefragt hatte, warum er gehen wollte, hatte Martin gesagt: »Ich würde lieber etwas tun, was mich glücklich macht.«

Daraufhin hatte sein ehemaliger Vorgesetzter ein Lächeln gezeigt, das einem Mittelfinger gleichkam. »Nun, mit der Einstellung wollen wir Sie sowieso nicht weiter beschäftigen.«

Sein Plan war bereits zunichtegemacht worden, aber Martin sah, dass es ohnehin ein dummer Plan gewesen war. Etwas zu tun, um sich unglücklich zu fühlen, damit man zu den anderen unglücklichen Menschen passte …? Er hätte lieber versuchen sollen, glückliche Menschen zu finden, zu denen er passte. Vielleicht könnte er ja wieder zur Schule gehen. Er hatte das College so sehr gehasst, dass er es irgendwann hingeschmissen hatte, aber damals hatte er auch geglaubt, dass seine gesamte Zukunft davon abhängen würde. Vielleicht würde er es ja jetzt genießen können, wo er wusste, dass es eigentlich gar nicht von Bedeutung war.

Als er zu seinem Apartment zurückkehrte, kam es ihm so vor, als ob er es zum ersten Mal sah. Weiße Wände mit Stuck und ein beigefarbener Teppich. Wenn man den Boden bei Tageslicht betrachtete, konnte man genau sehen, wo er immer entlang ging. Leichte Abnutzungsspuren zeichneten die Wege vom Bett zum Badezimmer, zur Küche, zum Computer und zur Couch.

Es war deutlich an der Zeit, seinen Lebensstil zu verbessern. Er wusste, dass es nicht notwendig war, aber auf einer tieferen Ebene ahnte er, dass er es dringend brauchte. Bisher war er schließlich anständig gewesen, nicht wahr? Seit fast einer Woche wusste er von der Datei und er hatte nichts damit gemacht, um sich selbst etwas zugutekommen zu lassen. Okay, er hatte achttausend Dollar auf sein Bankkonto gepackt, aber man könnte sagen, dass er das Geld verdient hatte, weil er schließlich entdeckt hatte, wie man es sich beschaffen konnte. Wie auch immer, jetzt hatte er das Geld. Selbst wenn es falsch gewesen war, es sich zu besorgen, war es nicht falsch, es nun auszugeben. Es war nur die logische Konsequenz dessen, was er vor ein paar Tagen getan hatte. In Gedanken erstellte er schnell eine Liste von Dingen, die er ersetzen wollte. Er schätzte, dass er mit achttausend Dollar ziemlich weit kommen würde.