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Sie folgt ihrer Liebe an den Rand der Welt … Tromsø, 1917: Die junge Norwegerin Tora Lyngvik arbeitet im kleinen Café ihrer Stiefmutter und träumt heimlich von einer besseren Zukunft. Als sie hier dem charmanten Anton Knutsen begegnet, verliebt sie sich Hals über Kopf – und schwebt schon bald wie auf Wolken, denn er erwidert ihre Gefühle. Aber kann das wirklich gutgehen? Obwohl sie sich verloben, steht ihnen eine lange Trennung bevor: Denn Anton hat sich verpflichtet, für ein Jahr als Bergarbeiter ins eiskalte Spitzbergen zu reisen. Doch nach einem Abschied voller Tränen und Leidenschaft ändert sich von einem Tag auf den anderen plötzlich alles in Toras Leben – und sie hat keine andere Wahl, als Anton zu folgen … Unter goldener Mitternachtssonne entscheidet sich zwischen den Gletschern und Fjorden Spitzbergens das Schicksal einer großen Liebe … - Band 1 der bewegenden »Polarnächte«-Reihe - Handlungsort und -zeit: Tromsø (Nordnorwegen) und Longyearbyen auf Spitzbergen; 1917 - Eine Skandinavien-Saga für Fans von Ines Thorn und Arabella Meran In Band 2 erreicht Tora Spitzbergen – doch als Frau ohne Arbeit gibt es für sie keinen Platz hier …
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Seitenzahl: 212
Veröffentlichungsjahr: 2025
Über dieses Buch:
Tromsø, 1917: Die junge Norwegerin Tora Lyngvik arbeitet im kleinen Café ihrer Stiefmutter und träumt heimlich von einer besseren Zukunft. Als sie hier dem charmanten Anton Knutsen begegnet, verliebt sie sich Hals über Kopf – und schwebt schon bald wie auf Wolken, denn er erwidert ihre Gefühle. Aber kann das wirklich gutgehen? Obwohl sie sich verloben, steht ihnen eine lange Trennung bevor: Denn Anton hat sich verpflichtet, für ein Jahr als Bergarbeiter ins eiskalte Spitzbergen zu reisen. Doch nach einem Abschied voller Tränen und Leidenschaft ändert sich von einem Tag auf den anderen plötzlich alles in Toras Leben – und sie hat keine andere Wahl, als Anton zu folgen …
Über die Autorin:
Ellinor Rafaelsen ist eine norwegische Autorin und Journalistin, die 1945 geboren wurde. In ihrer über drei Jahrzehnte währenden schriftstellerischen Laufbahn hat sich Rafaelsen als renommierte Autorin historischer Romane und Liebesromane etabliert. Inspiriert von ihren Reisen und ihrem siebenjährigen Aufenthalt in Spitzbergen hat Rafaelsen über 100 Bücher geschrieben, die die Leser mit lebendigen Beschreibungen und fesselnden Handlungssträngen in ihren Bann ziehen.
Ellinor Rafaelsen veröffentlichte bei dotbooks bereits ihre »Polarnächte«-Reihe mit den Bänden »Das Lied des Schicksals«, »Das letzte Schiff«, »Ein Leben voller Neuanfänge«, »Eine neue Hoffnung« und »Herzen in Aufruhr«.
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Erstausgabe Januar 2025
Die norwegische Originalausgabe erschien erstmals 2009 unter dem Originaltitel »Tora« bei Cappelen Damm, Oslo.
Copyright © der norwegischen Originalausgabe 2009 Cappelen Damm
Copyright © der deutschen eBook-Erstausgabe 2024 dotbooks GmbH, München
Übersetzt von Inge Wehrmann
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung eines Motivs von © Adobe Stock / Korea Saii sowie mehrerer Bildmotive von © shutterstock
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ae)
ISBN 978-3-98952-447-7
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dotbooks ist ein Verlagslabel der dotbooks GmbH, einem Unternehmen der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt: www.egmont.com/support-children-and-young-people. Danke, dass Sie mit dem Kauf dieses eBooks dazu beitragen!
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Ellinor Rafaelsen
Polarnächte – Das Lied des Schicksals
Roman – Band 1
Aus dem Norwegischen von Inge Wehrmann
dotbooks.
Tora Lyngvik – junges Mädchen aus Tromsø
Johanna Lyngvik – Toras Mutter
Ottar Lyngvik – Toras Vater
Astrid, Ester, Jens und Kristoffer – Toras Geschwister
Oleanna Davidsen – Cafébesitzerin
Anton Knutsen – Arbeiter in der Segelmacherei seines Vaters
Kitty Antonsen – Toras beste Freundin
Als unser Herrgott die Erde erschuf, hatte er am Ende eine Handvoll Kies und Sand übrig. Er beschloss, diese Überbleibsel möglichst weit nach oben auf den nördlichen Teil der Erdkugel zu befördern, damit sie niemandem im Weg waren. Also schleuderte er sie in Richtung des Nordpols in dem Glauben, dass sie dort niemanden stören würden, da kein Mensch jemals dorthin gelangen würde.
Unser Herrgott sollte sich irren …
Tromsø, Ende Mai 1912
Das Geräusch ihrer Schuhsohlen auf dem Schotter war der einzige Laut, der in der stillen, hellen Frühlingsnacht zu hören war. Tapp, tapp … tapp, tapp …
Tora rannte, bis sie Seitenstechen bekam und ihr Tempo drosseln musste. Zum Glück waren es nur noch ein paar Meter bis zum rot gestrichenen Haus der Hebamme unten am Wasser. Sie schleppte sich die Treppe hinauf und drosch mit den Fäusten auf die verwitterte blaue Tür ein. »Karen, Hebamme Karen!«, rief sie und hämmerte weiter gegen die Tür. »Du musst kommen! Sofort! Es ist wegen Mutter. Du musst mitkommen!« In der nächtlichen Stille der Straße hallten ihre schrillen Rufe zwischen den Hauswänden wider.
»Jesus Christus! Was ist denn los?« Die Tür schwang auf und eine schlaftrunkene Frau stand vor Tora. Sie war um die sechzig und hatte das lange graue Haar zu einem nachlässigen Zopf geflochten. Mit kleinen Augen blinzelte sie das Mädchen an und bemerkte rasch, dass es unter dem offenen Mantel nur ein Nachthemd trug. Das rotbraun gelockte Haar umrahmte das bleiche, verängstigte Gesicht.
»Du musst kommen, Karen«, schluchzte Tora. »Meine Mutter …«
»Johanna … jetzt schon?« Karen Grønnli, die in der Gegend nur unter dem Namen ‚Hebamme Karen‘ bekannt war, sah Tora erschrocken an. Entsetzen spiegelte sich in den grünen Augen des Mädchens. »Bist du sicher? Es könnten nur Senkwehen sein …«
»Du musst mitkommen!« Tora umfasste den Arm der Hebamme, um sie aus der Tür zu zerren.
Doch Karen schob ihre Hände weg. »Lass mich in Gottes Namen zuerst etwas anziehen!«
»Aber es eilt! Mutter … sie blutet so schrecklich.«
Die letzte Bemerkung brachte die ältere Frau auf Trab. Innerhalb von Sekunden hatte sie ihre nackten Füße in ein paar abgetragene Schuhe geschoben und sich einen Mantel übers Nachthemd geworfen. Dann folgte sie dem Mädchen mit raschen Schritten zur Vestregate, wo Toras Mutter jetzt dringend ihre Dienste brauchte.
Was Tora erzählte, verhieß nichts Gutes. Karen hatte alle fünf Säuglinge entbunden, die Johanna Lyngvik bislang zur Welt gebracht hatte. Tora war die Erste gewesen. Kaum zu glauben, dass schon zwölf Jahre vergangen waren, seit dieses hübsche Mädchen aus dem Leib ihrer Mutter geflutscht war, unter schrillem Wutgeschrei, als hätte sie am liebsten dorthin zurückkehren wollen, wo sie hergekommen war. Nach Tora folgten wie am laufenden Band vier weitere Kinder. Zwei Mädchen und zwei Jungen. Und jetzt … Karen hatte Johannas Schwangerschaft nicht durch regelmäßige Untersuchungen betreut, das war ihr unnötig erschienen bei einer Frau, die das ja schon viele Male ohne jegliche Komplikationen durchgestanden hatte. Als Johanna fünf Monate zuvor wieder schwanger geworden war, hatte Karen damit gerechnet, dass es irgendwann im Spätherbst so weit sein würde – Anfang November wahrscheinlich –, aber noch nicht jetzt. Und Blutungen … das gefiel ihr ganz und gar nicht.
Tora war besser zu Fuß als Karen und traf vor ihr zu Hause ein.
»Karen … Wo ist Karen? War sie zu Hause …« Edna Rutholm, ihre langjährige Nachbarin, trat Tora im Flur entgegen.
»Sie kommt!« Tora war so außer Atem, dass sie kaum sprechen konnte. »Sie ist gleich da …« Sie hatte die Worte kaum ausgesprochen, als die Hebamme schon hinter ihr auftauchte.
»Wo ist sie?« Karens Stimme klang schroff und bestimmt. »Wo ist Johanna?«
»Sie liegt oben … im Schlafzimmer. Ottar ist bei ihr.« Edna Rutholm rang ihre aufgesprungenen roten Arbeitshände. »Das kann ein schlimmes Ende nehmen.«
Tora steuerte die Treppe an, doch Karen drängte sie beiseite und eilte an ihr vorbei.
»Bleib hier unten, Tora«, befahl die Hebamme. »Oben bist du nur im Weg.«
»Aber Mutter …«
»Bleib hier oder geh zu deinen kleinen Geschwistern, falls sie wach werden«, schnitt Karen ihr das Wort ab und verschwand nach oben.
Ratlos blieb Tora am Fuße der Treppe stehen, und Edna legte ihr tröstend die Hand auf die Schulter.
»Geh du zu den Mädchen. Ich kümmere mich um die Jungs, falls sie aufwachen.«
Tora sah das verschreckte Gesicht der Nachbarin und spürte, wie nackte Angst ihr die Kehle zuschnürte. Die Situation war ernst. Das war allen anzumerken. Sie hatte es im Gesicht ihres Vaters gesehen, als er sie geweckt und zur Hebamme geschickt hatte, sie hatte es in Karens kleinen, verschlafenen Augen gesehen, und jetzt sah sie es in Ednas Augen hinter den runden Brillengläsern. Das hier war ernst.
Leise schlich Tora die Treppe hinauf. Durch die geschlossene Schlafzimmertür ihrer Eltern drang gedämpftes Gemurmel, als sie das Zimmer ansteuerte, das sie mit ihren beiden jüngeren Schwestern Astrid und Ester teilte. Astrid war acht und Ester war sechs. In der kleinen Dachkammer über dem Vorbau schliefen die Jungen, der vierjährige Jens und der neunjährige Kristoffer. Mit ihren zwölf Jahren war Tora die Älteste der Geschwisterschar, worüber sie sich oft beklagte. Denn auch wenn Kristoffer nur drei Jahre jünger war als sie, war immer sie es, die der Mutter zur Hand gehen musste, sei es bei der Kinderbetreuung, bei der Hausarbeit oder anderen Pflichten. Kristoffer konnte sich immer drücken, weil er ein Junge war. Und die anderen Mädchen waren noch zu klein, um verantwortungsvolle Pflichten zu übernehmen – nur wenn Tora etwas anderes zu tun hatte, mussten auch sie leichte Aufgaben erledigen.
In den vergangenen zwei Jahren hatte besonders viel auf Toras jungen Schultern gelastet. Wegen der raschen Geburtenfolge war die Mutter häufig krank und erschöpft, weshalb Tora ihre Rolle fast vollständig übernehmen musste. In gewisser Weise machte diese Verantwortung sie frühzeitig erwachsen. Doch hinter der altklugen und manchmal neunmalgescheiten großen Schwester gab es auch noch die kleine Tora, die sich danach sehnte, ein Kind sein zu dürfen.
Tora konnte sich kaum daran erinnern, wie es gewesen war, als Kristoffer und Astrid geboren wurden. Da sie damals noch so klein war, hatte man sie zu Edna gebracht, während Mutter zu Hause in den Wehen lag. Aber sie konnte sich noch gut an die letzte Geburt erinnern, als der kleine Jens zur Welt gekommen war. Sie hatte das herzzerreißende Jammern und die gellenden Schmerzensschreie zwischen den Wänden widerhallen hören. Sie wusste noch, wie sie mit den Geschwistern bei Edna in der Küche saß und Mutter schreien hörte, obwohl das Fenster des Elternschlafzimmers und Ednas Küchenfenster beide geschlossen waren. Tora erklärte damals, dass sie niemals – niemals im Leben – ein Kind zur Welt bringen wollte. Edna hatte gelächelt und geantwortet, dass alle Frauen nach einer Geburt dasselbe sagen würden. »Nie wieder«, schworen sie. Aber das vergaß man, sobald das Kind auf der Welt war, und Tora würde bestimmt einen ganzen Haufen Kinder bekommen, wo sie doch so gut mit den Kleinen fertig wurde.
Edna sollte recht behalten. Mutters Schmerzensschreie waren vergessen, als Tora den kleinen Jens in den Armen halten durfte und das hübsche kleine Gesicht mit den dunklen Augen betrachtete, die fragend zu ihr aufblickten. Und in den vier Jahren seit Jens’ Geburt hatte sie kein einziges Mal gedacht, dass sie keine Kinder bekommen wollte, wenn sie erwachsen wäre. Edna hatte recht, so etwas vergaß man …
Trotzdem stand der Traum von einer großen Kinderschar nicht im Mittelpunkt, wenn Tora und ihre beste Freundin Kitty Antonsen über ihre Zukunft sprachen. Kitty wollte gern Krankenschwester werden. Sie wohnte in der Nähe des Krankenhauses, in dessen Keller ihre Mutter als Wäscherin beschäftigt war. Ab und zu durfte Kitty ihre Mutter dorthin begleiten, und der Anblick der jungen Krankenschwestern mit ihren blauweißen Uniformen und den gestärkten Hauben ließ Kitty davon träumen, eines Tages auch eine solche Uniform zu tragen und sich in den Fluren des Krankenhauses zu Hause zu fühlen.
Toras Träume waren weniger konkret. Mal wollte sie Lehrerin werden, ein andermal stand Verkäuferin ganz oben auf ihrer Wunschliste. Vielleicht würde sie aber auch in einer Bank arbeiten wie ihr Vater. Sie wusste nicht genau, ob das für Frauen möglich war, denn dort, wo ihr Vater arbeitete, gab es nur Männer. Doch ihr größter Traum, über den sie allerdings nicht laut reden mochte, erwachte immer im Sommer zum Leben, wenn Fremde in die Stadt kamen. Wenn es im Hafen von bekannten und unbekannten Booten wimmelte. Dann fuhren sie ein, die Fangschiffe aus dem Nordmeer, voll beladen mit wunderschönen weißen Fuchs- und Eisbärfellen – ja, und manchmal hatten sie sogar lebendige Eisbärjungen an Bord. Es war immer Leben und Trubel in der Stadt, wenn die raubeinigen Pelztierjäger die Bierstuben und Kaffeehäuser füllten und in schweren Stiefeln aus Seehundsfell und Anoraks mit pelzverbrämten Kapuzen umherwanderten.
Aber es waren nicht die Pelztierjäger und deren Schoner, die Toras Neugierde am allermeisten weckten. Es war das eher seltene, aber umso aufregendere Einlaufen ausländischer Kreuzfahrtschiffe. Große, schöne Segelschiffe – ja, es gab auch modernere Dampfschiffe – mit Touristen von weither, die jede Menge Geld und Abenteuerlust besaßen und etwas Exotisches auf ihren Reisen erleben wollten. Für Leute aus Frankreich, England und Italien waren Tromsø und die Mitternachtssonne, Rentiere und helle Sommernächte etwas sehr Exotisches.
Es waren diese Menschen aus fernen Ländern, die bei Tora Träume auslösten. Sie brachten einen Duft nach Abenteuer und fremden Kulturen mit sich und erinnerten daran, dass es eine Welt jenseits des Tromsø-Sundes gab. Eine Welt, die man tatsächlich erleben konnte. Wenn Touristen nach Tromsø kommen konnten, mussten Leute aus Tromsø doch wohl auch in ihre Länder reisen können?
Also träumte Tora davon zu reisen. Fort von Tromsø. Wie das gehen sollte, wusste sie nicht. Denn es war ganz klar, dass Leute, die als Touristen nach Tromsø kamen, sehr vermögend waren. Offenbar musste sie zuerst reich werden. Und wie das gehen sollte, wusste sie ebenfalls nicht. Aber träumen konnte sie trotzdem. Das kostete schließlich nichts.
Sie redete nicht oft über diese Träume, nur ab und an mit Kitty. Andere hätten sich darüber bloß lustig gemacht. Sowohl Mutter als auch Vater meinten, sie solle sich am besten auf eine Zukunft als Hausfrau und Mutter vorbereiten. So war das Leben für die meisten Frauen, jedenfalls für die, deren Eltern gewöhnliche Arbeiter waren, die kein Geld hatten, um ihre Kinder fortzuschicken und ihnen eine teure Ausbildung zu bezahlen. Toras Eltern hielten es für wichtig, dass sie kochen, nähen, stricken und Kinderpflege lernte. Der Traum, vielleicht eigenes Geld zu verdienen und auf diese Weise zum Familieneinkommen beizutragen, stand an zweiter Stelle. Tora hatte ihre Eltern darüber reden hören, wenn sie glaubten, sie würde es nicht mitbekommen. Sie wusste, dass Vater plante, Kristoffer nach dem Abschluss der Volksschule zur Handelsschule zu schicken, damit er Buchführung lernen und sich einen Posten in einer Bank oder in einem Handelskontor sichern konnte. Das waren sichere Arbeitsplätze, meinte Vater. Und da Astrid sehr gut in Norwegisch und Rechnen war, konnten die Eltern sich vorstellen, sie nach der Volksschule vielleicht zum Lehrerinnenseminar gehen zu lassen. Aber das war ein hochgestecktes Ziel und noch lange hin. Vieles konnte in der Zwischenzeit geschehen. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich genau wie alle anderen verlieben, heiraten und Kinder bekommen würde, war ziemlich groß.
Über Tora redete niemand. Es war irgendwie selbstverständlich, dass sie ihrer Mutter zur Hand ging, bis sie einen Mann finden und ihr eigenes Heim haben würde. Sie war ja so tüchtig auf diesem Gebiet.
Tora schlich sich in das Zimmer, in dem ihre Schwestern schliefen. Sie setzte sich auf die Bettkante und lauschte angestrengt den Geräuschen im Nebenzimmer, aus dem weiterhin nur leises Gemurmel zu hören war. Tora wusste nicht, ob sie sich deshalb Sorgen machen sollte oder beruhigt sein konnte. Dann aber drangen gellende Schreie durch die Wand, und sie wünschte sich die Stille zurück. Sie war ihr lieber als die Schmerzensschreie ihrer Mutter, die nun ihre beiden kleinen Schwestern aufweckten.
»Was war das?« Ester setzte sich schläfrig auf und blickte sich verwirrt im Zimmer um. Die Mainacht war so hell, dass sie keine Lampe brauchten, um sehen zu können. Der orangefarbene Schimmer der aufsteigenden Sonne drang durch die dünnen Spitzengardinen.
»Wer hat da geschrien?« Auch Astrid hatte sich aufgesetzt.
»Legt euch wieder hin, es ist nichts.« Tora versuchte, das Beben in ihrer Stimme zu unterdrücken. »Es ist …«
Sie wurde von einem weiteren Schrei ihrer Mutter unterbrochen.
»Was ist los? Wer schreit da?« Esters Stimme zitterte.
»Das war Mutter«, erwiderte Tora und hielt die Luft an, während sie auf einen weiteren Schrei wartete.
»Warum?«, fragte Astrid bestürzt. »Ist sie krank?«
Tora antwortete nicht. Die Schreie hinter der Wand waren in herzzerreißendes Wehklagen übergegangen. Jetzt klangen die Stimmen der Hebamme und des Vaters nicht mehr gedämpft. Jetzt wurden sie laut und fielen einander ins Wort, sodass man bis auf ein paar vereinzelte Wörter und kurze Satzbruchstücke kaum verstehen konnte, was sie sagten. Tora hörte die Wörter »Krankenhaus« und »Blutungen« und dass man nach Mekkel Johnson schicken solle.
Mekkel Johnsen war für Krankentransporte zuständig. Vor ein paar Jahren hatte die Stadt ein ganz neues Pferdefuhrwerk erhalten, einen großen geschlossenen Wagen, der für Krankentransporte genutzt werden konnte. Tora, die ahnte, dass man sie schicken würde, um Mekkel Johnsen zu holen, war schon auf dem Weg zum Elternschlafzimmer. Hinter sich hörte sie das verschreckte Schluchzen ihrer Schwestern. Doch jetzt dachte sie nur an ihre Mutter und hatte keine Zeit, die Mädchen zu trösten.
Sie riss die Tür zum Elternschlafzimmer auf. »Soll ich loslaufen und …?« Die Worte blieben ihr im Halse stecken. Der Anblick ihrer blutenden Mutter im elterlichen Ehebett versetzte ihr einen gewaltigen Schock. Es schien, als würde das Blut die ganze Welt rot färben. Sie musste sich am Türrahmen festhalten, um nicht zu stürzen.
»Ja, lauf und hol ihn!«, stieß ihr Vater heiser hervor. Weder er noch die Hebamme waren erzürnt, weil sie ins Zimmer gestürmt war. »Beeil dich! Sag ihm, er soll sofort kommen!«
Die Sonne war gerade aufgegangen, als Tora zum zweiten Mal an diesem Morgen in aller Herrgottsfrühe durch Tromsøs Straßen rannte, um Hilfe für ihre Mutter zu holen. Auch jetzt hatte sie sich keine Zeit genommen, sich anzukleiden. Der Mantel flatterte um ihren Körper und ihr langes Nachthemd verfing sich zwischen ihren dünnen Beinen. Sie musste es hochraffen, um nicht zu stürzen.
Ein paar Minuten später hämmerte sie erneut auf eine verschlossene Tür ein und rief um Hilfe.
Für Mekkel Johnsen war es nichts Ungewöhnliches, so früh geweckt zu werden. Er war aus dem Bett und im Stall, wo Pferd und Krankentransportwagen standen, noch bevor Tora es wieder nach Hause geschafft hatte.
Außer Atem und mit rasendem Herzen lief sie in ihren Stiefeln die Treppe hinauf und wurde von beklemmender Stille empfangen. Sie hätte lieber Mutters Jammern oder ihre schrillen Schmerzensschreie gehört. Sie hätte lieber irgendetwas anderes gehört als die bleierne Stille, die über dem Raum lag. Ihr Vater und die Hebamme standen mit dem Rücken zur Tür und blickten auf ihre Mutter im Bett, die reglos zwischen den blutigen Laken lag. Erst als Ottar Lyngvik sich umdrehte und Tora mit kreidebleichem Gesicht in der Tür stehen sah, brach er weinend und schluchzend zusammen.
Zwei Jahre später (1914)
Die Gerüchte hatten schon seit einer Weile die Runde gemacht, aber Tora mochte sie nicht glauben. Dass ihr Vater sich knapp zwei Jahre nach Mutters Tod eine Geliebte zugelegt haben sollte, schien völlig unvorstellbar. Ottar Lyngvik war vor Trauer am Boden zerstört, nachdem Johanna Ende Mai vor zwei Jahren verblutet war. Freunde, Verwandte und Nachbarn waren eingesprungen und hatten ihm geholfen, so gut sie konnten. Allein mit fünf kleinen Kindern dazustehen, war kein Spaß, und nicht nur Ottar selbst war untröstlich über Johannas plötzlichen und unerwarteten Tod. Die Kinder vermissten ihre Mutter, und ihre Trauer war genauso tief wie die des Vaters.
Aber Kinder sind mit einer besonderen Gabe gesegnet, zwar nicht zu vergessen, aber sich an neue Lebensumstände anzupassen. Und alle meinten, dass Ottar Lyngvik sich glücklich schätzen konnte, Tora zu haben. Die älteste Tochter war eine große Stütze für ihn, jetzt, wo er allein für die Kinder sorgen musste. Zuerst wurde gesagt, Tora solle die Schule verlassen, um sich zu Hause um die kleinen Geschwister zu kümmern, doch damit war der Vater nicht einverstanden. Edna Rutholm hatte sich deshalb bereiterklärt, auf die Kleinen aufzupassen, wenn Tora in der Schule war. Außerdem kam Edna zweimal die Woche ins Haus, um beim Waschen und Kochen zu helfen. Dennoch blieb für Tora sehr viel Arbeit.
Seitdem sie so viele Pflichten ihrer Mutter übernehmen musste, spürte Tora in gewisser Weise eine doppelte Trauer. Sie hatte das Gefühl, neben ihrer Mutter auch ihren Vater verloren zu haben. Ottar Lyngvik, der ein glücklicher und heiterer Mann gewesen war, der wunderbar Mandoline spielte und bei fröhlichen Zusammenkünften gern ein Lied anstimmte, war zu einer leeren Hülle geworden, nachdem er seine Frau verloren hatte. Viele Wochen und Monate wandelte er wie ein Untoter umher. Seine tiefe Trauer ließ ihn älter aussehen, als er war, und niemand hörte ihn mehr lachen und scherzen.
Tora wusste nicht genau, wann die Veränderung begonnen hatte, aber ihr war seit einiger Zeit, als kehrten nach und nach Vitalität und Lebensfreude in den leeren Blick seiner grünen Augen zurück. Ottar Lyngvik begann wieder, mit den Leuten zu reden, nachdem er lange Zeit nur einsilbige Antworten gegeben und sich in seiner Trauerwelt vergraben hatte. Er machte lange Spaziergänge und lächelte wieder öfter. Tora spürte eine große Erleichterung. Ihr Vater kehrte langsam zurück. Die Trauer hielt ihn nicht länger umklammert. Jetzt würde alles wieder gut werden. So gut, wie es eben ohne Mutter sein konnte. Sie konnte aufatmen und wieder die vierzehnjährige große Schwester für ihre kleinen Geschwister sein, statt ihnen Vater und Mutter zu ersetzen.
Dass es im Leben ihres Vaters eine neue Frau geben könnte, die seine Veränderung bewirkte, kam Tora nicht in den Sinn. Deshalb machte es sie wütend, als sie mitbekam, dass einige Leute in der Stadt behaupteten, Ottar Lyngvik habe eine Liebste gefunden. Man sagte, er sei des Öfteren am Telegrafbukta-Strand gesehen worden, in Begleitung einer Frau namens Oleanna Davidsen, die von Sørreisa nach Tromsø gekommen war, um in der Stadt ein Café zu eröffnen. Dass Vater eine Liebste hatte, war genauso unglaublich wie die Vorstellung, dass diese Oleanna Davidsen – oder irgendeine andere Frau – jemals Mutters Platz am Esstisch oder in Vaters Bett einnehmen könnte.
Tora weigerte sich, der brodelnden Gerüchteküche Glauben zu schenken. Deshalb war sie verärgert, als Kitty andeutete, Toras Vater und diese Oleanna seien Arm in Arm die Storgata, Tromsøs zentrale Straße, entlangspaziert. Die Schule war aus und die beiden Mädchen gingen wie immer zusammen nach Hause. Äußerlich sehr verschieden, waren sie sich wesensmäßig ziemlich ähnlich und in enger Freundschaft miteinander verbunden. Kitty hatte dunkles Haar und braune Augen und war einen Kopf größer als Tora. Ihr Vater kam von den Lofoten und es wurde behauptet, er stamme von spanischen Seeleuten ab, die dort vor langer Zeit gestrandet waren. Deshalb habe sie so schwarze Haare und braune Augen. Tora hatte Kitty immer um ihren geheimnisvollen dunklen Blick beneidet, während Kitty wiederum Toras grüne Augen viel aufregender als ihre eigenen fand. Manchmal standen sie bei Tora zu Hause vor dem ovalen Spiegel über der Wohnzimmerkommode und verglichen ihre Gesichtszüge miteinander. Kitty ärgerte sich über ihre vollen Wangen, durch die sie so kindlich wirkte, während Tora Kitty um ihre Stupsnase beneidete.
Beide wussten jedoch, dass sie an ihrem Aussehen nicht viel ändern konnten. Was ihr Wesen anging, gab es beträchtlich mehr, das sie justieren konnten. Beide waren sie dickköpfig und rechthaberisch, doch bei einem Streit gab Kitty meist als Erste nach. Um des lieben Friedens willen. Sie beklagte, dass ihre Eltern sich ständig stritten und dass ihr Unfrieden zuwider sei, deshalb lenkte sie ein, wenn sie fürchtete, Toras hitziges Temperament zu wecken. Trotzdem fühlte sich Kitty von Tora nicht unterdrückt und tyrannisiert. Es war eher so, dass die beiden Freundinnen einander ergänzten und sich gegenseitig auf Kurs brachten, wenn eine sich in ihre Fantasien und Träume hineinsteigerte und den Sinn für die Realität aus den Augen verlor.
»Wie fändest du es, eine Stiefmutter zu bekommen?«, fragte Kitty plötzlich unvermittelt.
»Wieso sollte ich mir darüber Gedanken machen?«, wollte Tora wissen. Sie blieb stehen und starrte ihre Freundin an.
»Wenn dein Vater wieder heiraten würde …« Kitty mied Toras Blick.
»Warum sollte er wieder heiraten?«, fragte Tora und ging weiter. Kitty hastete ihr nach.
»Er hat doch eine Liebste!«
»Nein, hat er nicht!«
»Doch, hat er wohl.«
»Woher weißt du das?«
»Viele haben sie zusammen gesehen.«
»Wer denn?«
»Meine Mutter, Tante Aslaug. Und Margot Odinsens Mann, er hat sie auch zusammen gesehen.«
»Mein Vater darf ja wohl mit Leuten reden, auch mit einer Frau, ohne dass sie gleich ein Liebespaar sind!«, erwiderte Tora wütend.
»Aber sie sind Arm in Arm gegangen.«
»Das glaube ich nicht!«
»Glaub doch, was du willst.« Kitty zuckte mit den Achseln. Sie hatte eigentlich nicht vorgehabt, mit Tora über dieses Thema zu sprechen, denn sie fand es auch ein wenig schwierig. Ihr würde es an Toras Stelle auch nicht gefallen, wenn ihr Vater eine fremde Frau als neue Mutter für sie und ihre beiden Geschwister anschleppen würde.
Schweigend gingen sie weiter. Nach einer Weile sagte Kitty: »Sei nicht böse, Tora. Ich wollte nicht …«
»Ich bin nicht böse.«
»Du siehst aber so aus.«
»Tatsächlich?« Tora zwang sich zu einem Lächeln. »Ja, vielleicht bin ich wütend. Aber nicht auf dich.«
»Auf deinen Vater?«
»Ja, wenn es stimmt, was die Leute sagen.«
»Ich verstehe dich«, erwiderte Kitty finster und hakte sich wieder bei Tora unter. »Sollen wir heute Abend weben?« Beide Mädchen hatten angefangen, Bänder und Tischläufer auf ihren kleinen Webrahmen zu fertigen, die sie sich ein Jahr zuvor angeschafft hatten. Jetzt trafen sie sich immer, wenn sie ein bisschen Zeit hatten, um hübsche bunte Zierbänder und Läufer zu weben, die sie zu Weihnachten verschenkten oder für die Basare des Missionshauses und des Frauenverbands spendeten.
»Ja, ich muss sehen, ob ich Zeit habe«, antwortete Tora. »Edna ist heute bei uns und wir backen zusammen Knäcke- und Fladenbrot.«
Vor Toras Elternhaus angekommen, trennten sich die Freundinnen. Kitty lief nach Hause – sie wohnte nur zwei Häuser weiter – und Tora ging ins Haus, um mit Edna zusammen das Essen für ihre Geschwister vorzubereiten.