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Es geht um Leben und Tod … Spitzbergen Anfang des 20. Jahrhunderts. Die junge Tora lebt ein hartes Leben im abgeschiedenen Norden, doch die Liebe zu ihrem Verlobten Anton gibt ihr Kraft. Aber dann erreicht sie eine schreckliche Nachricht: Eine verheerende Explosion hat die Minen erschüttert, in denen Anton als Bergarbeiter sein Tagewerk verrichtet. Während die Männer versuchen, ihre eingeschlossenen Kollegen zu befreien, müssen Frauen wie Tora ausharren und bangen. Und je länger sie wartet, desto näher rückt die traurige Gewissheit, dass sie eine schwierige Entscheidung treffen muss … Unter goldener Mitternachtssonne entscheidet sich zwischen den Gletschern und Fjorden Spitzbergens das Schicksal einer großen Liebe …
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Seitenzahl: 225
Veröffentlichungsjahr: 2025
Über dieses Buch:
Spitzbergen Anfang des 20. Jahrhunderts. Die junge Tora lebt ein hartes Leben im abgeschiedenen Norden, doch die Liebe zu ihrem Verlobten Anton gibt ihr Kraft. Aber dann erreicht sie eine schreckliche Nachricht: Eine verheerende Explosion hat die Minen erschüttert, in denen Anton als Bergarbeiter sein Tagewerk verrichtet. Während die Männer versuchen, ihre eingeschlossenen Kollegen zu befreien, müssen Frauen wie Tora ausharren und bangen. Und je länger sie wartet, desto näher rückt die traurige Gewissheit, dass sie eine schwierige Entscheidung treffen muss …
Über die Autorin:
Ellinor Rafaelsen ist eine norwegische Autorin und Journalistin, die 1945 geboren wurde. In ihrer über drei Jahrzehnte währenden schriftstellerischen Laufbahn hat sich Rafaelsen als renommierte Autorin historischer Romane und Liebesromane etabliert. Inspiriert von ihren Reisen und ihrem siebenjährigen Aufenthalt in Spitzbergen hat Rafaelsen über 100 Bücher geschrieben, die die Leser mit lebendigen Beschreibungen und fesselnden Handlungssträngen in ihren Bann ziehen.
Ellinor Rafaelsen veröffentlichte bei dotbooks bereits ihre »Polarnächte«-Reihe mit den Bänden »Das Lied des Schicksals«, »Das letzte Schiff«, »Ein Leben voller Neuanfänge«, »Eine neue Hoffnung« und »Herzen in Aufruhr«.
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Erstausgabe April 2025
Die norwegische Originalausgabe erschien erstmals 2009 unter dem Originaltitel »For siste gang« bei Cappelen Damm, Oslo.
Copyright © der norwegischen Originalausgabe 2009 Cappelen Damm
Copyright © der deutschen eBook-Erstausgabe 2025 dotbooks GmbH, München
Übersetzt von Inge Wehrmann
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung eines Motives von Korea Saii / Adobe Stock sowie mehrerer Bildmotive von © shutterstock
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ae)
ISBN 978-3-98952-624-2
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dotbooks ist ein Verlagslabel der dotbooks GmbH, einem Unternehmen der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt: www.egmont.com/support-children-and-young-people. Danke, dass Sie mit dem Kauf dieses eBooks dazu beitragen!
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Bei diesem Roman handelt es sich um ein rein fiktives Werk, das vor dem Hintergrund einer bestimmten Zeit spielt oder geschrieben wurde – und als solches Dokument seiner Zeit von uns ohne nachträgliche Eingriffe neu veröffentlicht wird. In diesem eBook begegnen Sie daher möglicherweise Begrifflichkeiten, Weltanschauungen und Verhaltensweisen, die wir heute als unzeitgemäß oder diskriminierend verstehen. Diese Fiktion spiegelt nicht automatisch die Überzeugungen des Verlags wider oder die heutige Überzeugung der Autorinnen und Autoren, da sich diese seit der Erstveröffentlichung verändert haben können. Es ist außerdem möglich, dass dieses eBook Themenschilderungen enthält, die als belastend oder triggernd empfunden werden können. Bei genaueren Fragen zum Inhalt wenden Sie sich bitte an [email protected].
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Ellinor Rafaelsen
Polarnächte – Herzen in Aufruhr
Roman – Band 5
Aus dem Norwegischen von Inge Wehrmann
dotbooks.
Wichtige Personen in diesem Buch
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Lesetipps
Tora Lyngvik – junges Mädchen aus Tromsø
Anton Knutsen – Toras Verlobter
Harald Havre – Bergbauingenieur
Benedikte Havre – Haralds Ehefrau
Sarah-Ellen Johnsen – Köchin in der Arbeiterkantine
Mattias Lind – Bauunternehmer
Longyear City, Spitzbergen 3. Januar 1920
In dieser sturmgepeitschten Nacht wurden die Einwohner gegen halb drei von einem gewaltigen Knall geweckt, der die Häuser erschütterte. Viele Fensterscheiben zerbarsten durch die enorme Druckwelle, und nicht wenige dachten zuerst, der Sturm sei so heftig, dass seine Folgen einem Erdbeben gleichkamen.
Doch dieser Sturm legte sich zu abrupt. Nach dem ohrenbetäubenden Knall senkte sich eine schwere, düstere Stille über das Tal. Das Gehämmer von Stahl auf Fels, das Knacken und Knarren des Grubenaufzugs und das Rasseln der Seilbahn mit ihren Hängeloren waren verstummt.
Durch die zerbrochenen Fensterscheiben wehte Schnee in die Häuser und Baracken. Dann hörte man eine Stimme aus dem Dunkel rufen, der Dynamitschuppen sei explodiert. Im nächsten Moment rief eine andere Stimme, dass es eine Explosion in der Amerikanergrube gegeben habe.
Tora war hellwach, ohne zu verstehen, was los war. Sara-Ellen war als Erste auf den Beinen, wenige Sekunden nachdem der dumpfe Knall die Baracke erschüttert hatte. Sie stand mitten im Raum und hielt sich mit beiden Händen den Kopf.
»Oh, Herr … Oh, Jesus!«
»Was ist los, Sara-Ellen?« Mit einem Sprung war Tora aus der Koje. Sie spürte, wie die Furcht, die sich in den schwarzen Augen der Köchin spiegelte, auf sie übersprang. Ihr Herz hämmerte unter der warmen Wollunterwäsche und dem Nachthemd. »Der Sturm? Ist die Baracke eingestürzt?«
»Nein, nein!« Sara Ellen nahm die Hände vom Kopf und presste sie auf ihre Brust. »Hast du nicht gehört? Die Grube, sie ist explodiert. Ich hab’s gesehen, bevor es geknallt hat!«
Toras Mund wurde trocken. Ein bleischweres, taubes Gefühl durchlief ihren Körper und sie musste sich setzen.
Eine Explosion! Sie starrte auf Sara-Ellens gekrümmten Rücken. Sie stand an dem geborstenen Fenster und versuchte, das Loch mit den Vorhängen zuzustopfen, damit der Schnee nicht ins Zimmer stob.
»Wo?«
»In der Amerikanergrube.« Sara-Ellen bekreuzigte sich.
»Nein … Nein, nicht in der Grube!« Toras Lippen bewegten sich, aber sie konnte ihre Stimme nicht hören. Vielleicht brachte sie auch gar keinen Laut hervor. Sie war wie gelähmt. Doch dann riss sie sich zusammen und zwang sich aufzustehen. Auf zittrigen Beinen wankte sie zum Fenster, wo Sara-Ellen ihr Platz machte, damit sie hinaussehen konnte.
Sie starrte auf eine Wand aus wirbelnden Schneeflocken, dieselbe Wand, die sie schon seit mehreren Tagen und Nächten auf der anderen Seite der zerbrochenen Fensterscheiben gesehen hatten. Doch das Schneegestöber war nicht dasselbe wie sonst – ein wirbelndes Gemisch aus Schnee und Kohlenstaub –, denn jetzt hatte es einen Unheil verkündenden Rotschimmer, als wären Schnee und Kohlenstaub mit Blut vermischt.
Blut war jedoch nicht der Grund für die rote Farbe. Es war der Feuerschein der Flammen, die aus der Grubenöffnung schlugen. Er färbte die Polarnacht rot. Das Heulen des Sturms verstärkte die unheilvolle Stimmung, die durch den flackernden Lichtschimmer entstand. Es klang wie das herzzerreißende Klagelied sterbender, eingeschlossener und verbrennender Männer. Über all dem Geheul ertönte nun die Brandsirene auf dem Dach der Arbeiterkantine, wie um zu bestätigen, dass die Katastrophe real war.
»Anton … Anton«, schrie Tora verzweifelt. Gleichzeitig waren Stimmen und Rufe aus dem Nebenraum zu hören, wo Undis und Eivor aus dem Schlaf gerissen worden waren.
Jetzt begannen die Leute, ihre Häuser zu verlassen. Tora und Sara-Ellen sahen sie wie unwirkliche dunkle Schatten durch das vom roten Feuerschein erhellte Schneegestöber laufen. Es ertönten laute, vom Sturmgeheul verzerrte, panische Schreie.
»Anton … Er ist in der Grube. Er hat doch Nachtschicht!« Panisch fing Tora an, sich ein paar wärmende Kleidungsstücke übers Nachthemd zu ziehen.
»Wo willst du hin?«, fragte Sara-Ellen.
»Ich muss zu Anton!«
»Du bleibst hier!«
»Nein! Das kannst du mir nicht vorschreiben!« Tora zog sich weiter an. Wollstrümpfe, lange Unterhosen, Wollrock, Islandpullover, Schal, Mütze und Anorak. Das Ankleiden war beschwerlich, da ihre Hände so sehr zitterten.
»Du wirst den Rettungskräften nur im Weg sein«, erklärte Sara-Ellen streng. »Du musst …«
Tora hörte nichts mehr. Sie war schon aus der Tür. Einen Moment lang blieb sie stehen und schnappte nach Luft, bis sie genug Kraft gesammelt hatte, um sich durch Sturm und Schneetreiben zu kämpfen.
Die aus dem Schlaf gerissene Stadt war zu hektischem Leben erwacht. Unter dem nachtschwarzen Polarhimmel ereignete sich eine unvorstellbare Katastrophe. Auf einen Schlag war der Schlaf durch die effektive Hilfsbereitschaft der Bewohner ersetzt worden. Arbeiter, Angestellte und Führungskräfte verließen ihre Häuser und machten sich Seite an Seite auf den Weg, um denen zu helfen, die sich zum Zeitpunkt der Explosion in der Grube befanden.
Inmitten von Dunkelheit, Schneetreiben und Rauchwolken war der schwache Lichtschein der Grubenlampen zu erkennen. Tora sah, dass viele der Männer, die sich in Richtung Grubenaufzug bewegten, Wolldecken, Hacken und Spaten dabeihatten. Sie wickelte sich den Schal ums Gesicht und eilte, bebend vor Angst und Verzweiflung, den Mannsleuten hinterher.
Der Grubenaufzug war zerstört. Große Steine und zersplitterte Holzteile lagen herum. Langsam und mühselig begannen die Rettungsmannschaften den steilen Hang zu erklimmen, an dem sich der Eingang zur Grube befand. Tora folgte ihnen. Der Wind hatte Eis und Schnee poliert, weshalb man auf den losen Steinen noch weniger Halt als sonst fand. Ihr langer Rock erschwerte den Anstieg und nach einer Weile krempelte sie ihn kurz entschlossen hoch und schob den Saum in den Taillenbund, um nicht ständig darüber zu stolpern.
Schluchzend rief sie nach Anton und betete zu Gott, während sie sich bergauf schleppte. Um sie herum lagen verbogene Eisenstangen, Gesteins- und Kohlebrocken sowie völlig zerstörte Gerätschaften. Die Schienenteile des Grubenaufzugs waren so verdreht, dass sie aussahen wie riesige Korkenzieher.
Um sie herum kämpften Männer sich hinauf zu dem Inferno. So schnell es ging, krochen sie den Felsenhang hinauf, in der Hoffnung, früh genug zu den Überlebenden in den verrauchten Stollen vorzudringen.
Auf der Hälfte des Anstiegs musste Tora sich kurz ausruhen. Aus dem Schlund des einstigen Grubeneingangs quoll dichter Rauch in die eiskalte Sturmnacht.
Sie dachte nur an Anton, als sie sich weiter bergauf kämpfte. An manchen Stellen war der Hang so steil und glatt, dass sie nur auf allen Vieren vorankam. In der Eile hatte sie ihre Handschuhe vergessen. Jetzt brannten ihre Fingerspitzen wie Feuer und die Kälte arbeitete sich bis zu den Armen hoch.
Bevor sie den Grubeneingang erreichte, pausierte sie ein zweites Mal. Die Männer mit ihren Lampen, Wolldecken, Seilen, Äxten und Spitzhacken verschwanden wie unwirkliche Schatten im Rauch.
Betonbrocken des Hauses, das am Eingang gestanden hatte, lagen weit verstreut umher. Das Gebäude war dem Erdboden gleichgemacht worden.
Tora hauchte ihre Hände an, um die Frostschmerzen an den Fingerspitzen zu lindern. Am Fuß des Abhangs sah sie Leute mit Pferden, Schlitten, Pulkas und Tragen zum Transport der Verletzten und Toten. Viele der Helfer hatten Petroleumlaternen dabei, die in der nachtschwarzen Finsternis besseres Licht gaben als die kleinen Grubenlichter.
Toras Finger waren taub. Der Wind zerrte an ihren Kleidern und erschwerte den Aufstieg. Dennoch schaffte sie es bis zum Eingang, wo der Qualm aus dem Hauptstollen herausquoll. Ein dichter und extrem übel riechender Qualm. Doch es war nicht der Qualm, von dem ihr übel wurde. Sie hätte sich fast übergeben, als sie den Unterschenkel eines Pferdes unter einem Balken herausragen sah. Die Pferde wurden gebraucht, um die Kohle aus den Stollen ins Freie zu transportieren. Dieses Pferdebein saß nicht mehr an einem Tier. Als ihr dann zwei Männer, die einen Toten zwischen sich trugen, entgegenkamen, musste sie sich tatsächlich übergeben. Die Kleidung des Umgekommenen war verbrannt, seine Haare ebenso. Und das Gesicht war so zerschunden, dass es nicht zu erkennen war, aber der Mann war kleiner und untersetzter als Anton.
»Es ist einer der Kabeljungen!«, rief der eine Mann dem anderen zu.
»Ist er am Leben?«
»Nein.«
Tora wurde schwindelig. Sie musste sich auf einen geborstenen Betonklotz stützen. Nach einigen Sekunden holte sie tief Luft und riss sich zusammen. Dann wankte sie auf die Rauchwolke beim zerstörten Grubeneingang zu. Hustend und keuchend und mit brennenden, tränenden Augen, stolperte sie an verbogenen Eisenstangen, Brettern und Kohlehaufen vorbei.
»Was zum Teufel! Sieh zu, dass du hier wegkommst!«, hörte sie eine wütende Männerstimme schreien. Vor ihr tauchte ein großer, magerer Mann auf, der ihr als Steiger Abrahamsen bekannt war. »Verschwinde!«, rief er und zeigte talwärts. »Wir können hier oben keine Frauen gebrauchen!«
»Anton … Er ist da drinnen!« Tora ließ sich nicht beirren und ging einfach weiter.
»Es interessiert mich einen Dreck, wer alles dort drinnen ist, wir müssen alle rausholen – die Toten und die Lebenden«, rief der Mann. »Und hysterische Weiber, die uns im Wege stehen, sind das Letzte, das wir brauchen!«
»Anton! Wir sind verlobt!«
»Ja, das weiß ich«, unterbrach er sie verärgert. »Aber du musst unten im Ort warten, genau wie alle anderen! Hier hast du nichts zu suchen!«
Tora hörte nicht auf ihn. Sie hatte nur einen einzigen Gedanken – zu Anton zu gelangen. Sie musste sehen, dass er am Leben war. Sie musste bei ihm sein, wenn er verletzt war und Schmerzen hatte. Sie wollte ihn umarmen, trösten und ihm Mut machen. Anton … ihr Verlobter! Sie wollten doch heiraten!
Ein gequälter Schluchzer entfuhr ihr, als sie sich an Abrahamsen vorbei in die Grube drängte. Ein Mann wankte hustend und keuchend auf sie zu.
»Was machst du hier?«, schrie er sie an. »Da drinnen liegen mehrere Leichen! Mach, dass du fortkommst, das ist kein Anblick für dich!«
Tora antwortete nicht. Verzweiflung und Panik und der dichte Rauch raubten ihr den Atem.
»Hörst du nicht, was ich sage? Wir haben keine Zeit, uns um Weibsbilder zu kümmern, die beim Anblick abgerissener Gliedmaßen in Ohnmacht fallen. Also verschwinde!«
Abrahamsen war ihr gefolgt und beide Männer packten ihre Oberarme und hoben sie hoch. Tora trat schreiend um sich. Sie versuchte, sich zu befreien, doch die beiden Männer waren stärker als sie, und jetzt war noch ein dritter dazugekommen. Als sie sah, dass es Harald Havre war, leistete Tora noch heftigeren Widerstand. »Fass mich nicht an!«, brüllte sie.
»Teufel nochmal!«, fluchte Abrahamsen. »Dass wir unsere kostbare Zeit mit diesem Weibsstück verschwenden müssen!«
Sie schleppten sie hinaus in die nächtliche Dunkelheit, eine Dunkelheit, in der jetzt neue und ungewohnte Geräusche widerhallten. Rufende Stimmen, die Angst, Entsetzen und tiefste Verzweiflung ausdrückten. Tora fürchtete, dass man sie die Geröllhalde hinunterstoßen würde, damit sie nicht versuchte, zurück zur Grube zu gelangen, aber die Männer stellten sie lediglich beim Grubeneingang ab.
Abrahamsen kam ihr mit seinem rußigen, wutverzerrten Gesicht ganz nah und zischte: »Du behinderst unsere Arbeit, kapierst du das? Dabei geht für deinen Verlobten kostbare Zeit verloren. Wenn er da drin ist, werden wir ihn finden, aber du hältst dich fern. Geh runter in deine Baracke und warte da!«
Tora schnappte nach Luft. Vor Kälte und Angst zitterte sie wie Espenlaub. Dennoch war sie wieder in der Lage, vernünftig zu denken und sah ein, dass Abrahamsen recht hatte. Sie konnte dort oben nichts ausrichten und war den Helfern nur im Wege.
Langsam und vorsichtig stieg sie die steile, vereiste Geröllhalde hinab. Dennoch rutschte sie aus. Sie fiel mehrere Meter abwärts, schürfte sich die Hände auf und prellte sich die Hüfte. Glücklicherweise war nichts gebrochen und sie kam wieder auf die Beine, denn in dieser Nacht hätte keiner Zeit gehabt, ihr zu helfen.
Als sie das Tal erreicht hatte, war der Wind ein wenig abgeflaut. Frauen und Kinder hatten ihre Häuser verlassen, um zu sehen, was geschah. Starr vor Schreck und mit ernsten, schockierten Gesichtern standen sie da und starrten auf die Männer, die sich langsam und vorsichtig auf dem steilen Hang vorwärtsbewegten, um ihre toten und verwundeten Kameraden ins Tal zu bringen. Ihre Grubenlampen schwankten im Wind und erinnerten an Glühwürmchen, während die Retter auf den losen Steinen nur schrittweise vorankamen.
»Dass so etwas passieren konnte!«
»So etwas Schreckliches. Es muss eine gewaltige Explosion gewesen sein. Im ganzen Tal liegen verstreute Trümmerteile.«
»Sie sagen, man hat drei Tote gefunden.«
Es wurde leise gesprochen, als würden laute Worte bestätigen, was keiner hören wollte.
Tora war nach ihrem Sturz auf der Geröllhalde ganz zerschunden, doch das kümmerte sie nicht. Jetzt schob sie Erna Olofsen, die Köchin der Chefkantine, und Marta Karlsen beiseite, um zu dem Schlitten zu gelangen, der ganz hinten stand. Im selben Augenblick setzte er sich in Bewegung, als zwei kräftige Kaltblüter ihn über das spiegelglatte Eis zogen.
»Anton! Anton!« Sie lief dem Schlitten nach, bekam den Rahmen zu fassen und schaute über die Kante. Doch im nächsten Augenblick verlor sie den Halt und stürzte. Die drei malträtierten und verbrannten Gesichter und die verdrehten Körper waren so grotesk und unkenntlich, dass einer von ihnen Anton sein konnte.
»Anton war nicht unter den Dreien«, sagte eine leise Frauenstimme. Als Tora sich umdrehte, sah sie Benedikte, die sie mitfühlend anschaute.
»Woher weißt du das?« Toras Stimme klang härter als beabsichtigt, was auf ihre Angst zurückzuführen war.
»Ich habe gehört, wie sie die Namen der Drei genannt haben. Harald ist da oben, um zu helfen.«
»Ja, das weiß ich. Er hat mich weggejagt.«
»Weggejagt? Bist du etwa dort gewesen?«
»Ja, ich wollte … Ich muss wissen, was mit Anton ist!« Jetzt konnte Tora sich nicht länger zusammenreißen. Sie war nicht imstande, die harte, zornige Maske aufrechtzuerhalten, mit der sie sich gegen Panik und Verzweiflung und vergebliche Hoffnungen wappnen wollte. »Er ist tot, Benedikte. Ich weiß es. Ich spüre es. Er ist tot …«
Hemmungslos brach sie in Tränen aus. Benedikte legte den Arm um ihre Schulter. Mehrere Leute schauten betreten in ihre Richtung, aber Benedikte war die Einzige, die versuchte zu trösten.
Sara-Ellen, Undis und Eivor waren auch nach draußen gekommen. Sara-Ellens Gesicht war so ausdruckslos wie eh und je und selbst die beiden Küchenmädchen schienen den Ernst der Lage begriffen zu haben.
»Woher willst du wissen, dass er tot ist?«, fragte Benedikte und drückte Toras Schulter. »Es sind noch so viele in der Grube. Er könnte noch am Leben sein.«
»Ich weiß es, weil wir so glücklich waren«, schluchzte Tora. »Wir haben endlich zueinander gefunden und beschlossen zu heiraten, und … wir waren wohl zu glücklich. Gott hört nicht auf, mich zu strafen. Zuerst das Kind … und jetzt Anton. Ich werde niemals den Mann bekommen, den ich liebe.«
»Tora, so darfst du nicht reden. Du weißt ja noch gar nicht …«
»Doch«, hauchte Tora mutlos. »Ich weiß es.« Im selben Augenblick hob sie den Kopf, schaute in Sara-Ellens schwarze Augen und war wie vom Donner gerührt. Die schwarzen Augen starrten sie an, dann kam Sara-Ellen auf sie und Benedikte zu. Tora wäre am liebsten vor der sonderbaren Samin geflohen, doch sie blieb wie angewurzelt stehen, als diese sagte: »Ich habe es gesehen. Ich sah, wie es geschah.«
Tora wusste von den übersinnlichen Fähigkeiten der Köchin, deshalb war sie nicht überrascht, sondern wütend. »Und warum hast du die Arbeiter dann nicht gewarnt?«, platzte sie heraus. »Du hättest sie aus der Grube holen können!«
»Ich habe es im Traum gesehen … zu spät. Und ich habe ihn gesehen«, fuhr Sara-Ellen fort und schaute die Geröllhalde hinauf.
»Ihn? Meinst du Anton?« Tora hielt den Atem an. »Hast du ihn gesehen? Was hast du gesehen?«
Sara-Ellen antwortete nicht. Sie schüttelte nur den Kopf, murmelte ein paar unverständliche Worte vor sich hin und ging zurück zu Undis und Eivor. »Nichts Gutes … nichts Gutes …«
Die Nacht auf den 3. Januar 1920 sollte für alle Zeiten als dunkelste Nacht in der Geschichte der Grubenstadt in Erinnerung bleiben. Für die Rettungsmannschaften stand schnell fest, dass es lange dauern würde, bis die Schäden überschaubar waren –die materiellen und die menschlichen Verluste. Die Stollen waren voller Rauch und Kohlenstaub, und die Hitze war so unerträglich, dass man in der undurchdringlichen Finsternis nicht in jeden kleinen Seitengang und jeden Winkel vordringen konnte. Doch genau dort war es möglich, dass sich noch Menschen oder menschliche Überreste befanden.
Bald wurde klar, dass die Explosion in der Grube mehr Todesopfer gefordert hatte als die drei Leichen, die man mit dem Krankenhausschlitten ins Tal gebracht hatte. Nach und nach fand man abgerissene Arme und Beine, Körperteile von Grubenpferden und verbrannte, gekrümmte Leichen. Die Hoffnung, viele Überlebende zu finden, sank. Dennoch wollte Tora sich nicht von Benedikte überreden lassen, mit ins Warme zu kommen.
»Ich gehe nicht rein, bevor sie Anton gefunden haben«, erklärte Tora und starrte mit brennenden, rot geweinten Augen die Geröllhalde hinauf, wo es noch immer von Männern wimmelte, die ihr Bestes taten, um ihren Kameraden zu helfen. Das Schneetreiben war nicht mehr so dicht und die Sicht wurde langsam besser.
»Das kann Tage dauern, Tora!«
»Dann bleibe ich eben tagelang hier stehen.« Tora brach wieder in Tränen aus. Sie faltete ihre steif gefrorenen Hände und schaute zum dunklen Nachthimmel auf. »Lieber, lieber Gott«, betete sie inbrünstig. »Lieber Gott, lass ihn leben! Lass Anton noch am Leben sein. Ich werde nie wieder mit ihm streiten. Ich werde ihn nie wieder belügen oder hässliche Dinge zu ihm sagen. Ich werde in die Kirche gehen und …« Was sie in der Kirche tun würde, konnte sie dem Herrn später erklären, jetzt ging es um Anton. »Lieber Gott, mach, dass er lebt! Mach, dass er wohlauf ist!«
Sie verstummte, als zwei Männer einen verletzten Grubenarbeiter auf einer einfachen Trage herunterbrachten. Sie liefen über die vereisten Steine zum Krankenhausschlitten, der zurückgebracht worden war, um weitere Patienten zu holen.
»Aus dem Weg! Lasst uns durch!« Der erste Träger rempelte Benedikte an. »Steht nicht im Wege!«
»Anton … habt ihr Anton gesehen?«, rief Tora und starrte den Mann auf der Trage an. Sein Haar war verrußt und angesengt, sein Gesicht war mit Blut, Ruß und Asche verschmiert, wodurch er nicht zu erkennen war. Doch die schmerzverzerrten Gesichtszüge und das Stöhnen des Mannes zeigten, dass er noch am Leben war. »Hat jemand meinen Anton gesehen?«, fragte Tora unter Tränen. Dann verstummte sie abrupt. Der Mann auf der Trage hatte die Augen geöffnet. Sie leuchteten in seinem schwarzen, versengten Gesicht wie blaue Lichter. Mit leerem, ausdruckslosem Blick starrte er himmelwärts, aber Tora war sich ganz sicher. Jetzt sah sie die kleine Falte über der Nasenwurzel und ein paar Haarbüschel, die von den Flammen verschont worden waren.
»Anton …« Sie wollte seinen Namen rufen, brachte aber nur ein heiseres, keuchendes Flüstern hervor. »Anton …«
Die beiden Träger bewegten sich auf den Schlitten zu. Mit Benedikte an ihrer Seite stürmte Tora ihnen nach.
»Anton!«
Der Mann auf der Trage drehte den Kopf zur Seite. Seine von Rauch und Kohlenstaub blutunterlaufenen blauen Augen blickten in ihre Richtung.
»Er ist es!« Sie griff nach der Trage, aber einer der Retter stieß sie verärgert weg.
»Scher dich weg!«, zischte er. »Er muss dringend ins Krankenhaus! Steh uns nicht im Weg!«
»Nein … ich … Er lebt!« Tora wusste nicht, was sie sagen sollte und wandte sich an Benedikte. »Es ist Anton, Benedikte! Er lebt!« Sie lief dem Schlitten nach, der sich in Richtung Krankenhaus in Bewegung setzte. »Anton … Anton, kannst du mich hören? Ich bin hier … bei dir!«, rief sie schluchzend.
Der Schlittenkutscher warf ihr einen wütenden Blick zu, als sie hinter dem Schlitten her stolperte, als fürchtete er, sie würde sich festhalten und die Fahrt verlangsamen.
»Hau ab!«, lautete der kurze Befehl, als die Trage mit Anton vor dem Krankenhauseingang vom Schlitten gehoben wurde und Tora sich ins Gebäude drängeln wollte. »Hör gefälligst auf und scher dich zum Teufel!«
»Aber er ist mein … mein Verlobter!« Jetzt weinte sie hemmungslos. Warum konnten sie nicht verstehen, wie wichtig es für sie und für Anton war, dass sie mit hinein und bei ihm sein durfte? Er musste doch wissen, dass sie an seiner Seite war. Dass sie ihn liebte, einerlei, was geschehen war. »Er braucht mich, wenn er begreift, dass …«
Der Rest des Satzes wurde abgeschnitten, als man ihr die Tür vor der Nase zuknallte. Wie gelähmt blieb Tora stehen und starrte auf die geschlossene Tür. Rasend vor Wut, auf diese Weise ausgesperrt zu werden, stieß sie die Tür auf und marschierte in den halbdunklen Krankenhausflur, wo hektische Betriebsamkeit herrschte. Die beiden Männer, die Anton hereingebracht hatten, waren schon wieder auf dem Weg nach draußen, um weitere Verletzte zu bergen. In ihrer Eile bemerkte keiner von ihnen, dass Tora sich hereingeschlichen hatte.
Verwirrt blieb sie stehen und schaute sich um. Wo war Anton? Wohin hatten sie ihn gebracht?
»Steh da nicht rum! Wenn du gekommen bist, um zu helfen, dann mach dich an die Arbeit!« Elsa Edvardsen, die sich als freiwillige Helferin im Krankenhaus gemeldet hatte, warf Tora eine weiße Schürze zu.
Mit ihren steif gefrorenen Händen konnte Tora sie gerade noch auffangen, bevor sie auf dem Fußboden landete. »Wenn du den Anblick von Blut und abgerissenen Gliedmaßen nicht erträgst, kannst du gleich wieder gehen«, fuhr Elsa fort. »Die Verletzten sind kein schöner Anblick!«
»Ich … wo ist Anton?« Tora hatte eigentlich nicht die Absicht gehabt, sich als freiwillige Helferin zu melden, ihr ging es nur um Anton. Doch plötzlich erkannte sie, dass es vielleicht gar nicht so dumm wäre, hier zu helfen. Es war die einzige Möglichkeit, in Antons Nähe zu bleiben. Sie hoffte nur, dass sie es aushalten konnte.
Eilig zog sie ihren Mantel aus und band sich die weiße Ärmelschürze um.
»Du kannst in Nummer zwei anfangen«, sagte Elsa.
»Was soll ich tun?« Tora war vollkommen durcheinander und konnte an nichts anderes denken als an Anton.
»Du musst einfach da sein. Mit ihnen reden. Ihre Tränen trocknen, wenn sie weinen. Es ist so furchtbar. Aber du darfst auf keinen Fall die Wunden berühren. Die sind Sache des Arztes.«
»Anton …«, murmelte Tora angstvoll.
»War er das, der gerade eingeliefert wurde?«
»Ja.«
»Der Arzt hat ihn untersucht. Sie haben ihn sofort in den Operationsraum gebracht, weil er …«
»Kann eine von euch dem Jungen auf Zimmer 3 Gesicht und Hände waschen?«, fiel Schwester Erna Elsa ins Wort. »Er hat keine offenen Wunden, nur Knochenbrüche, aber seid trotzdem vorsichtig!«
Elsa Edvardsen und Tora wechselten einen Blick, dann nickte Tora beklommen.
»Ich kann das übernehmen«, sagte sie. Es war vielleicht besser, etwas zu tun zu haben, bis sie erfuhr, wie es um Anton stand. Eigentlich fühlte es sich gut an, sich nützlich machen zu können. Es war besser, als draußen herumzustehen und zu frieren, während die schockierten Kollegen und Angehörigen das grausame Schicksal der verletzten und toten Grubenarbeiter mitansehen mussten.
Es wurde eine hektische und unwirkliche Nacht. Nach ein paar Stunden nahte ein neuer stürmischer Tag, der dunkler und schwärzer schien als je zuvor. Draußen in der Dunkelheit wurde weiterhin fieberhaft nach Überlebenden gesucht, während man im Krankenhaus unermüdlich versuchte, den Verletzten und Verstümmelten zu helfen.
Mehrere Mitglieder des Frauenvereins hatten ihre Hilfe im Krankenhaus angeboten. In beiden Kantinen wurden die erschöpften Rettungsmannschaften den ganzen Tag lang mit Kaffee und Essen versorgt. Undis und Eivor waren dort bestimmt im Dauereinsatz, aber Tora hatte nicht die Absicht, sich bei Sara-Ellen zu melden. Sie wollte lieber im Krankenhaus aushelfen und in Antons Nähe bleiben. Sara-Ellen schien dafür Verständnis zu haben, denn sie schickte niemanden, um Tora in die Kantine zu holen. Vielleicht hatten sich andere Frauen bereiterklärt, bei der Essensausgabe zu helfen. Alles war anders als sonst.
Während der Tag langsam vorüberzog und in eine weitere Nacht überging, wurde den Bewohnern der kleinen Grubenstadt klar, dass es lange – sehr lange – dauern würde, bis das Leben wieder seinen normalen Gang gehen konnte.