9,99 €
1,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 3,99 €
Das Leben ist hart im einsamen hohen Norden … Spitzbergen, 1917. Die junge Tora ist ihrem Verlobten Anton in den kalten Norden gefolgt – nun ist sie gestrandet, denn das letzte Schiff des Jahres hat abgelegt und schon bald werden die Inseln ringsum nicht mehr von Wasser, sondern von Eis umgeben sein. Ihre Anwesenheit bringt Anton in Schwierigkeiten mit seinem Auftraggeber, denn als unverheiratete Frau dürfte sie gar nicht hier sein. Um sich über Wasser zu halten, nimmt sie eine Stelle als Küchenmädchen an – doch das macht die Kluft zwischen ihnen nur noch größer. Dann ist da auf einmal noch ein anderes Mädchen, das Anton nahezustehen scheint – und Tora hat das Gefühl, dass ihr der Boden unter den Füßen weggezogen wird … Unter goldener Mitternachtssonne entscheidet sich zwischen den Gletschern und Fjorden Spitzbergens das Schicksal einer großen Liebe …
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 201
Veröffentlichungsjahr: 2025
Über dieses Buch:
Spitzbergen, 1917. Die junge Tora ist ihrem Verlobten Anton in den kalten Norden gefolgt – nun ist sie gestrandet, denn das letzte Schiff des Jahres hat abgelegt und schon bald werden die Inseln ringsum nicht mehr von Wasser, sondern von Eis umgeben sein. Ihre Anwesenheit bringt Anton in Schwierigkeiten mit seinem Auftraggeber, denn als unverheiratete Frau dürfte sie gar nicht hier sein. Um sich über Wasser zu halten, nimmt sie eine Stelle als Küchenmädchen an – doch das macht die Kluft zwischen ihnen nur noch größer. Dann ist da auf einmal noch ein anderes Mädchen, das Anton nahezustehen scheint – und Tora hat das Gefühl, dass ihr der Boden unter den Füßen weggezogen wird …
Über die Autorin:
Ellinor Rafaelsen ist eine norwegische Autorin und Journalistin, die 1945 geboren wurde. In ihrer über drei Jahrzehnte währenden schriftstellerischen Laufbahn hat sich Rafaelsen als renommierte Autorin historischer Romane und Liebesromane etabliert. Inspiriert von ihren Reisen und ihrem siebenjährigen Aufenthalt in Spitzbergen hat Rafaelsen über 100 Bücher geschrieben, die die Leser mit lebendigen Beschreibungen und fesselnden Handlungssträngen in ihren Bann ziehen.
Ellinor Rafaelsen veröffentlichte bei dotbooks bereits ihre »Polarnächte«-Reihe mit den Bänden »Das Lied des Schicksals«, »Das letzte Schiff«, »Ein Leben voller Neuanfänge«, »Eine neue Hoffnung« und »Herzen in Aufruhr«.
***
Erstausgabe Februar 2025
Die norwegische Originalausgabe erschien erstmals 2009 unter dem Originaltitel »Gjøkunge« bei Cappelen Damm, Oslo.
Copyright © der norwegischen Originalausgabe 2009 Cappelen Damm
Copyright © der deutschen eBook-Erstausgabe 2025 dotbooks GmbH, München
Übersetzt von Inge Wehrmann
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung eines Motives von ana / Adobe Stock sowie mehrerer Bildmotive von © shutterstock
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ae)
ISBN 978-3-98952-512-2
***
dotbooks ist ein Verlagslabel der dotbooks GmbH, einem Unternehmen der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt: www.egmont.com/support-children-and-young-people. Danke, dass Sie mit dem Kauf dieses eBooks dazu beitragen!
***
Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit gemäß § 31 des Urheberrechtsgesetzes ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags
***
Sind Sie auf der Suche nach attraktiven Preisschnäppchen, spannenden Neuerscheinungen und Gewinnspielen, bei denen Sie sich auf kostenlose eBooks freuen können? Dann melden Sie sich jetzt für unseren Newsletter an: www.dotbooks.de/newsletter (Unkomplizierte Kündigung-per-Klick jederzeit möglich.)
***
Besuchen Sie uns im Internet:
www.dotbooks.de
www.facebook.com/dotbooks
www.instagram.com/dotbooks
blog.dotbooks.de/
Ellinor Rafaelsen
Polarnächte – Ein Leben voller Neuanfänge
Roman – Band 3
Aus dem Norwegischen von Inge Wehrmann
dotbooks.
Tora Lyngvik – junges Mädchen aus Tromsø
Anton Knutsen – Toras Verlobter
Harald Havre – Bergbauingenieur
Benedikte Havre – Haralds Ehefrau
Undis Serviererin in der Arbeiterkantine
Sarah-Ellen Johnsen Köchin in der Arbeiterkantine
Anton eilte im Dauerlauf den Weg entlang, der zu dem kleinen Haus der Eheleute Benedikte und Harald Havre führte. Die Nachtschichten im Bergwerk waren kräftezehrend. Die Schichtarbeit stellte eine körperliche und seelische Belastung dar, da der natürliche Tages- und Nachtrhythmus durcheinandergebracht wurde. Der tiefe, erholsame Schlaf wollte sich nicht einstellen, denn sobald man sich an den einen Rhythmus gewöhnt hatte, stand der nächste Schichtwechsel und damit die nächste Umgewöhnung an.
Die Nachtschichten der letzten Tage waren besonders anstrengend gewesen. Dass Tora bei den Eheleuten Havre krank im Bett lag – und das wegen ihm –, machte ihm zusätzlich zu schaffen. Solange sie sich in Longyear City aufhielt, war er für sie verantwortlich, auch wenn sie nicht unter einem Dach lebten.
Als Anton sich an diesem Morgen hinlegte, um sich ein bisschen auszuruhen, schlief er wegen des ständigen Schlafmangels so tief ein, dass er erst wieder aufwachte, als Sigmund ins Zimmer getrampelt kam und ihn mit einem heftigen Niesanfall aufweckte. Augenblicklich war ihm klar, dass er verschlafen hatte.
Tora! Er hatte ihr versprochen, die letzten Stunden vor der Abfahrt der Forsete mit ihr zu verbringen. Jetzt blieb nur noch eine Dreiviertelstunde bis zum Ablegen!
»Tora, wo ist Tora? Ist sie schon runter zum Schiff?«, platzte er heraus, als er in Benediktes Küche stürmte.
»Nein.« Benedikte schaute ihn verständnislos an. Er sah müde und erschöpft aus. »Ich dachte, sie wäre bei dir!«
»Bei mir? Ich habe in der Baracke gelegen und geschlafen.«
»Aber sie wollte einen Spaziergang machen. Vor etwa einer Stunde ist sie losgegangen.« Benedikte sah Anton bestürzt an. »Sie müsste längst zurück sein. Ich dachte, ihr würdet herkommen und ihren Koffer abholen.«
»Aber wo ist sie?«
»Das weiß ich nicht! Sie ist rausgegangen, wie gesagt.«
Anton blieb ein paar Sekunden lang stehen, bevor er auf dem Absatz kehrtmachte und zur Haustür eilte. Auf der Eingangstreppe hielt er inne und spähte hinauf in Richtung Gletscher und hinunter zum Hafen. Wenn sie einen Spaziergang machen wollte, um eine Weile allein zu sein, war sie wahrscheinlich dorthin gegangen, wo sie mit ihm gewesen war. Oben beim Flussbett kannte sie sich am besten aus.
Schnellen Schrittes eilte er in diese Richtung, stellte jedoch bald fest, dass er sich offenbar geirrt hatte. Von dort, wo er stand, hatte er einen guten Ausblick über das ganze Gebiet, doch Tora war nirgends zu sehen. Sie musste wohl runter zum Hafen gegangen sein.
Er schaute auf die Uhr. In zehn Minuten würde die Forsete den Anker lichten. Als er nicht pünktlich erschienen war, hatte Tora bestimmt befürchtet, die Abfahrt zu versäumen und war allein zum Hafen und an Bord gegangen. Doch warum hatte sie ihren Koffer nicht mitgenommen?
Er rannte den Weg zurück bis hinunter zum Kai, wo man gerade das Fallreep einziehen wollte.
»Halt, halt!«, schrie er und winkte mit beiden Armen. »Tora Lyngvik, meine Verlobte, ist sie an Bord?«
»Diesmal fahren keine Frauen mit«, rief ihm einer der Matrosen zu.
»Bist du sicher? Sie sollte doch mitfahren.«
»Ich sage doch, hier gibt’s keine Frauensleute!«, versicherte ihm der Matrose.
»Dann müsst ihr warten! Sie muss doch mitfahren.«
»Wir können nicht auf Passagiere warten, die zu spät kommen. Wir haben einen Fahrplan, an den wir uns halten müssen.«
»Aber sie muss heute mit euch runter nach Tromsø fahren!«
»Dann hätte sie pünktlich sein sollen. Wir müssen jetzt abfahren. Sonst riskieren wir, im Fjord einzufrieren. Weiter draußen schiebt sich das Eis schon übereinander.«
»Aber …« Hektisch schaute Anton in alle Richtungen in der verzweifelten Hoffnung, dass Tora sich irgendwo in der Nähe befand. Wo konnte sie nur sein?
Das Fallreep wurde eingezogen und Anton musste zusehen, wie der Anker gelichtet wurde. Kurz darauf glitt das große Schiff vom Kai weg und verließ die Stadt. Hilflos schaute er ihm nach.
»Verdammt!« Er schlug sich mit der Faust in die Handfläche. »Verflucht, Tora! Warum machst du das?«
Eine Weile blieb er ratlos stehen, bis ihn Unruhe überkam. Wo war Tora? Was war mit ihr geschehen?
Mit großen Schritten ging er den Weg hinauf und sprach den ersten Passanten an, der ihm entgegenkam. Es war ein Grubenarbeiter, den er vor Kurzem kennengelernt hatte.
»Hast du ein Mädchen gesehen, eine junge Frau? Mit roten Haaren?«
»Die Haarfarbe hab ich nicht gesehen. Sie hatte eine Mütze auf. Aber da ist eine Frauensperson den Hang überm Hafen hochgegangen und dann weiter da lang«, antwortete der Mann und deutete auf den Bergkamm.
»Wann war das?«
»Vor einer halben oder einer Dreiviertelstunde.« Der Mann schüttelte den Kopf. »Ich hab mich noch gefragt, was sie da wollte, aber …« Er zuckte mit den Achseln. »Frauenzimmer! Was die sich alles ausdenken!«
Die letzte Bemerkung hörte Anton nicht mehr, denn er steuerte schon die Böschung über dem Hafengebiet an.
Tora lag reglos auf den eiskalten, harten Steinen. Mit einer Mischung aus Ungläubigkeit, lähmendem Schrecken und einem vagen Gefühl der Erleichterung konnte sie nichts anderes tun, als der D/S Forsete nachzuschauen, die langsam zwischen umhertreibenden Eisschollen über den Fjord glitt. Mittschiffs stieg schwarzer Rauch aus dem schlanken Schornstein. In der kargen Natur hallten Geräusche von weither wider, und sie hörte das regelmäßige Stampfen der dampfbetriebenen Schiffsmotoren. Wegen der großen Entfernung war es nur ein leises Gewummer, doch Tora empfand es als ohrenbetäubend laut.
Sie hätte an Bord des Schiffes sein sollen! Sie hätte heute zurück aufs Festland fahren sollen. Es war die letzte Fahrt des Jahres. Die letzte Möglichkeit, Spitzbergen zu verlassen, bevor die Insel während eines langen, dunklen Winters von der Außenwelt isoliert sein würde. Erst in einem Dreivierteljahr gab es wieder die Möglichkeit, von hier wegzukommen, wenn wieder Schiffe ein- und auslaufen konnten und die Verbindung mit dem Rest der Welt wiederhergestellt sein würde. Doch bis dahin musste sich jeder, der sich momentan auf dieser kalten Insel befand, auf eine lange Überwinterungszeit einstellen. Für die meisten war es eine freiwillige Überwinterung. Die Pelztierjäger in ihren Jagdhütten hatten sich selbst dafür entschieden, isoliert vom Rest der Welt zu leben. Das Gleiche galt für die Grubenarbeiter und alle anderen, die bei der Großen Norwegischen Spitzbergen-Kohlebergbaugesellschaft beschäftigt waren. Die Frauen, die sich in Longyear City befanden, waren mit den Chefs verheiratet und wollten bei ihren Ehemännern sein. Es hatte sie niemand gezwungen, ihre Kinder mitzubringen – jene wenigen hier oben, die Kinder hatten – und in der eisigen Polarregion auszuharren. Sie waren auf eigenen Wunsch hier – und sie waren willkommen.
Doch Tora war hier unerwünscht. Eine Ausgewiesene, die nun gezwungen war, die kommenden Monate in der kleinen Grubenstadt zu verbringen. Ein unerwünschtes Kuckuckskind in einem fremden, ungastlichen Nest.
Ein mattes Gefühl der Verzweiflung überkam sie, während sie zusah, wie sich die Forsete weiter und weiter von der Hafenanlage entfernte. Doch neben der Verzweiflung beschlich sie auch ein leises Triumphgefühl. Ein ach so winziges Gefühl des Sieges – auch wenn es ein Sieg war, den sie nicht bewusst angestrebt hatte. Jetzt konnte sie nicht mehr zurück nach Tromsø geschickt werden, weder von den Direktoren der Bergbaugesellschaft noch von Harald Havre oder Anton. Jetzt gab es niemanden mehr, der ihr befehlen konnte, die Insel zu verlassen. Vielleicht hatte ja der liebe Gott eingegriffen und dafür gesorgt, dass sie bei Anton bleiben durfte. Vielleicht hatte er sie dazu gebracht, den Hang hinaufzusteigen, wohin sich sonst niemand verlief, und hatte bewirkt, dass der lose Stein unter ihren Füßen weggerutscht war, weshalb sie sich den Knöchel verletzt hatte.
Der Schock, die Forsete davonfahren zu sehen, hatte sie die Schmerzen vergessen lassen. Jetzt spürte sie wieder, wie weh ihr der Fuß tat. Den Blick unablässig auf das durch den Fjord gleitende Schiff gerichtet, versuchte sie, ihre Gedanken zu ordnen. Dass die Forsete abgelegt hatte, konnte nichts anderes bedeuten, als dass Anton bei Benedikte gewesen sein musste, um sie abzuholen. Er hatte sie ja an Bord bringen und sich dort von ihr verabschieden wollen, was wiederum bedeutete, dass er losgegangen war, um sie zu suchen. Sie stellte sich seine Reaktion vor, als er bei Benedikte angeklopft und herausgefunden hatte, dass sie nicht dort war. Und als sie auch beim Auslaufen des Schiffes nicht aufgetaucht war …
Der Gedanke, dass Anton umherlief und nach ihr suchte, veranlasste sie, wiederholt um Hilfe zu rufen, während sie trotz der Schmerzen versuchte, sich auf den harten, losen Steinen der Geröllhalde vorwärtszubewegen.
»Hilfe! Anton, wo bist du? Ich bin hier oben!«
Sie lauschte, vernahm jedoch nichts anderes als den Lärm der Arbeiten, die unten am Kai vor sich gingen. Selbst das Motorengeräusch der Forsete war nicht länger zu hören. Das Schiff wurde kleiner und kleiner, je weiter es sich auf dem Fjord entfernte.
»Anton! Hilfe!«
Sie lauschte wieder. Dann hörte sie etwas. Eine Stimme, die ihren Namen rief. Antons Stimme. Und sie klang erstaunlich nah.
»Anton! Ich bin hier, Anton! Hier oben am Hang. Hier drüben!«
Sie hörte ein paar lose Steine knirschen. Kurz darauf tauchte sein Kopf hinter dem Kamm auf. Er hatte die steile Bergkuppe erklommen und konnte bis zu der Stelle schauen, an der sie lag.
»Tora!« Einen kurzen Moment stand er wie erstarrt da, bevor er über das Geröll auf sie zulief. Mehrere Steine lösten sich und rollten talwärts. Anton geriet mehrmals ins Stolpern, schaffte es aber, sich auf den Beinen zu halten, bis er sie erreicht hatte.
»Tora! Was ist passiert? Was zum Teufel tust du hier?«
Tora blickte zu ihm auf. Seine blauen Augen glitzerten vor Zorn. Sie spürte, dass ihr die Tränen kamen und wollte ihm erklären, warum sie hier lag, statt auf dem Weg nach Tromsø zu sein, aber Anton gab ihr keine Chance.
»Wie konntest du nur?«, schäumte er, ohne ihr aufzuhelfen. »Ich dachte, du hättest den Ernst der Lage erkannt«, fuhr er fort und griff sich verzweifelt an den Kopf, wodurch seine Mütze in Schieflage geriet. »Ich dachte, du hättest verstanden, welche gewaltigen Probleme du mir machst. Und ich dachte, du hättest dich damit abgefunden, dass du abreisen musst, du hättest es eingesehen. Und dann …« Er schüttelte den Kopf und schaute mutlos hinunter zum Fjord, wo die Forsete nur noch als schwarzer Punkt in der Ferne zu erahnen war. »Aber du hast mir nur was vorgespielt! Mich hinters Licht geführt. Du hattest nie die Absicht, zu fahren, stimmt’s? Sobald du erfahren hast, dass du zurückgeschickt wirst, hast du das alles hier geplant! Davonzulaufen, dich zu verstecken, bis das Schiff abgelegt hat und es keine Möglichkeit mehr gibt, dich fortzuschicken!« Er spuckte verächtlich auf die Felsen. »Pfui Teufel, Tora, das hätte ich nicht von dir gedacht. Du enttäuschst mich. Und jetzt habe ich keine Ahnung, was zum Teufel ich mit dir anfangen soll.« Außer sich vor Wut, trat er gegen einen losen Gesteinsbrocken, der den Hang hinunterpolterte. »Ich bin es, der hier Schwierigkeiten bekommt, verstehst du das nicht?«
Tora saß zusammengesunken da und weinte und schluchzte, aber ihre Tränen hatten keine beschwichtigende Wirkung auf Anton. Er brüllte weiter drauflos. »Wenn du glaubst, hiermit zu bewirken, dass die Leitung dir gestattet, hier wohnen zu bleiben …«
»Sie können mich ja wohl schlecht auf eine Eisscholle setzen und mich meinem Schicksal überlassen! Oder mich hinaus in die Kälte schicken, damit ich mich zu Tode friere!«, schrie Tora und spürte, dass ihre tiefe Verzweiflung in blinde Wut umschlug. Der seelische Schmerz, weil Anton offenbar glaubte, sie hätte sich absichtlich davongemacht, um nicht fortgeschickt zu werden, tat mehr weh als die Schmerzen in ihrem verletzten Fußgelenk. »Aber das kümmert dich wohl nicht!«, fuhr sie fort. »Du wirst tatenlos zuschauen, wie ich ohne Wohnung, ohne Essen und …«
»Was kann ich sonst tun?«, rief er zornig. »Ich habe hier nichts zu sagen und keine Ahnung, was sie jetzt mit dir machen werden.«
»Sie?«
»Ja, die Chefs. Sie haben hier weiterhin die Befehlsgewalt.« Er schüttelte den Kopf. »Du ahnst ja nicht, was du angestellt hast.«
»Ich habe gar nichts angestellt!«, schrie sie schluchzend. »Glaubst du im Ernst, ich liege hier zum Spaß mit gebrochenem Knöchel herum?«
»Hast du … hast du dir den Knöchel gebrochen?« Einen kurzen Moment lang wandelte sich sein Zorn in Besorgnis. Und endlich ging er neben ihr in die Hocke, statt über ihr zu stehen und auf sie herunterzublicken. »Welcher Knöchel ist es denn?« Seine Stimme hatte ihren hartherzigen Unterton verloren. »Dieser?«
»Au! Autsch, nicht so fest!«
»Ist er gebrochen?«
»Ich weiß nicht. Es tut jedenfalls höllisch weh.«
Anton entfuhr ein tiefer Seufzer, während er ein paar Sekunden lang mit gesenktem Kopf sitzen blieb. Tora hörte ihn leise vor sich hin fluchen, bevor er verbittert sagte: »Gut gemacht, Tora! Ein gebrochener Fußknöchel. Da bist du noch mehr auf andere angewiesen, ein noch …«
»Ein noch größerer Klotz am Bein für dich!«, unterbrach sie ihn ebenso verbittert. »Aber weißt du was, Anton? Vergiss mich einfach! Denk nicht mehr an mich. Ich werde schon allein fertig. Ohne dich!«, schluchzte sie. Wie sie ohne Anton klarkommen sollte, wusste sie nicht, aber in diesem Moment wollte sie nur, dass er seiner Wege ging, sie in Frieden ließ und ihr die erniedrigende Demütigung ersparte, eine Last und eine Plage für den Mann zu sein, den sie liebte. »Na, hau schon ab!«, heulte sie. »Geh einfach! Lass mich hier.«
»Red keinen Unsinn, Tora!«
»Ich komme zurecht.«
»Tust du nicht!«, sagte er wütend. In seinen Augen war die Situation so hoffnungslos, dass ihre Tränen diesmal keine besänftigende Wirkung auf ihn hatten. »Als Erstes müssen wir dich von hier weg und ins Haus schaffen. Du zitterst ja vor Kälte.«
»Das ist ja auch kein Wunder. Ich liege hier schon seit einer Ewigkeit!«
»Versuch, dich aufzurichten«, unterbrach Anton sie barsch. »Kannst du auf dem Fuß stehen?«
»Ich glaube, nicht.«
»Versuch es!« Er umfasste sie und zog sie hoch. »Geht es?«
»Es tut weh! Au!«
»Aber kannst du auf dem Fuß stehen?«
»Ja, aber es tut so weh!«
»Gut! Dann ist er nicht gebrochen. Komm schon!« Er packte ihr Handgelenk und zog ihren Arm um seinen Hals. Dann umschlang er ihre Taille und hielt sie auf diese Weise aufrecht. »Versuch, auf dem heilen Fuß zu hinken, dann stütze ich dich, bis wir unten im Tal sind.«
Tora protestierte nicht. Sie biss die Zähne zusammen und tat ihr Bestes. Immer wenn sie mit dem verletzten Fuß gegen ein Hindernis stieß, schoss ein stechender Schmerz in den Knöchel, aber sie war fest entschlossen, nicht zu klagen. Sie hatte gesagt, dass sie allein und ohne Anton klarkommen würde, und deshalb musste sie ihm beweisen, dass sie keine wehleidige Memme war!
Der Abstieg dauerte eine halbe Ewigkeit. Auf dem steinigen, rutschigen Untergrund war es schon mit gesunden Füßen schwierig genug, den steilen Hang hinabzuklettern. Da Tora ihm mehr oder weniger am Hals hing, war es für Anton ein äußerst kräftezehrendes Unterfangen, sie hinunter zur Ansiedlung zu bugsieren.
»Ich bringe dich zum Krankenhaus«, erklärte er, als sie den Weg erreicht hatten.
»Warum?«
»Weil der Arzt sich deinen Knöchel ansehen muss.«
Tora protestierte nicht. Mit zusammengebissenen Zähnen humpelte sie neben ihm her bis zu einem zweigeschossigen Holzgebäude, in dem sich das Krankenhaus der Stadt befand.
Doktor Lønningdal empfing sie mit erstauntem Blick hinter seinen Brillengläsern.
»Ich dachte, Sie …? Wollten Sie nicht heute mit der Forsete zurück aufs Festland fahren?«, fragte er verwundert.
»Ja, so war es geplant«, erwiderte Anton nüchtern. »Aber sie …«
»Vielen Dank, aber ich kann für mich selbst sprechen!«, schnitt Tora ihm das Wort ab und schaute ihn wütend an. Dann wandte sie sich an den Arzt. »Ich habe mich verletzt. Ich glaube, ich habe mir den Knöchel gebrochen. Könnten Sie sich ihn netterweise anschauen?«
»Natürlich! Aber ich verstehe nicht …«
»Kapieren Sie denn nicht, dass ich es nicht auf das verflixte Schiff geschafft habe, weil ich mir den Knöchel verletzt habe?«, unterbrach Tora ihn zornig. Die Schmerzen bewirkten, dass sie sich aufführte, wie es unter normalen Umständen gegenüber einem Mann wie Doktor Lønningdal undenkbar gewesen wäre. »Ich halte es nicht aus, hier noch länger zu stehen und zu plaudern«, fügte sie hinzu. »Tun Sie endlich was!«
»Ja, natürlich. Wenn Sie mir bitte folgen wollen!« Der Arzt schob die Hände in die Taschen seines weißen Kittels und führte Tora in einen kleinen Raum mit einem Schreibtisch und einer gepolsterten Liege mit vier dünnen Stahlrohrbeinen auf kleinen Rollen. »Setzen Sie sich und ziehen Sie den Stiefel aus.«
Anton musste draußen im Flur warten, während Doktor Lønningdal den Knöchel untersuchte und mit einem festen Verband versah. Eine Viertelstunde später konnte sie auf zwei Krücken gestützt hinter ihm her humpeln.
Anton erhob sich von dem Hocker, auf dem er gesessen hatte.
»Der Knöchel ist nicht gebrochen. Es handelt sich nur um eine heftige Verstauchung«, erklärte der Arzt und wandte sich dabei an Anton, als wäre er ihr Vater, was Tora sehr ärgerlich fand.
Doch von nun an sollte er von jeglicher Verantwortung für sie entbunden sein. Während der Arzt den Knöchel bandagierte, hatte sie beschlossen, dass sie Anton in den langen Winter- und Frühlingsmonaten, die vor ihnen lagen, auf keinen Fall zur Last fallen wollte. Sowohl ihm als auch den hohen Herren, die, wenn sie erfuhren, dass sie nicht mit der Forsete abgereist war, garantiert aus der Fassung gerieten, würde sie zeigen, dass sie alleine klarkam.
Wie sie es hinbekommen sollte, in dieser ungastlichen, eiskalten Gesellschaft ohne Hilfe von Anton oder anderen Menschen zurechtzukommen, war ihr allerdings ein Rätsel. Daran mochte sie jetzt noch nicht denken.
Aber sie würde es schaffen!
»Ist sie nun endlich abgereist?« Harald Havre war zu seiner täglichen Kaffeepause bei Benedikte erschienen. Jetzt stand er in der Türöffnung zwischen Flur und Küche und schaute herein. Sein Blick fiel auf den braunen Koffer, der neben der Holzkiste beim Ofen stand. »Ist das nicht ihr Koffer?«
»Ja, schon«, murmelte Benedikte beklommen.
»Warum hat sie ihn denn nicht mitgenommen?«
»Ich weiß es nicht.«
»Aber sie ist doch wohl abgereist, oder?« Harald fixierte seine Frau mit strengem Blick, während er die Flurtür hinter sich zuzog und in die Küche trat. »Sie wird ja wohl nicht etwa …?«
»Doch, ich denke, sie ist gefahren«, stammelte Benedikte, die nicht wusste, was mit Tora passiert war. Sie ging davon aus, dass Anton sie gefunden hatte, da er ja nicht zurückgekommen war. Vermutlich war keine Zeit mehr gewesen, den Koffer abzuholen, bevor das Schiff ablegte. »Ja«, sagte sie mit fester Stimme. »Sie ist abgereist.«
Sie hatte kaum ausgesprochen, als sie vor dem Küchenfenster eine Bewegung wahrnahm. Instinktiv wandte sie sich um, schaute durch die staubigen Glasscheiben und erblickte zwei Gestalten. Zwei Leute auf dem Weg zu ihrer Eingangstreppe.
Benedikte schluckte. Dann beugte sie sich über den Küchentisch, um besser durchs Fenster spähen zu können und sich zu vergewissern, dass sie richtig gesehen hatte. Dass die beiden da draußen tatsächlich Tora Lyngvik und Anton Knutsen waren. Sie spürte ihr Herz schneller schlagen, als sie hörte, wie die beiden den Vorraum betraten und an der Küchentür klopften. Irgendetwas musste schrecklich schiefgelaufen sein. Benedikte warf ihrem Mann einen ratlosen Blick zu und sagte zögernd: »Herein!«
Gemeinsam traten sie in die Küche. Tora zuerst. Anton direkt hinter ihr. Benedikte hatte richtig gesehen. Tora stützte sich auf zwei Krücken. Ihre Achseln ruhten auf den gepolsterten Enden und ihre Hände umklammerten die dünnen hüfthohen Haltegriffe. Ihre Augen waren rot und geschwollen, als hätte sie geweint. Ihr Gesicht wirkte hart und verbissen, und dieselbe Härte spiegelte sich im Gesicht ihres Verlobten.
»Tora! Was ist passiert?«, rief Benedikte und ging auf sie zu.
Harald hatte die Arme vor der Brust verschränkt und starrte den beiden fassungslos und argwöhnisch entgegen.
»Ich habe das Schiff nicht erreicht«, erwiderte Tora und warf einen ängstlichen Seitenblick auf Harald Havre. Was machte er hier? Sie hatte gehofft, ihre Freundin allein anzutreffen, jetzt, wo sie humpelnd und problembeladen bei ihr angeklopft hatte.
»Ja, das sehen wir«, kommentierte Harald Havre trocken. »Ich muss schon sagen, Sie lassen wirklich nichts unversucht, um gegen das Aufenthaltsverbot zu rebellieren, Fräulein Lyngvik.« Er deutete auf ihren bandagierten Knöchel. »Sich absichtlich zu verletzen!« Er schüttelte den Kopf. »Man könnte Ihren Mut fast bewundern!«
»Es war keine Absicht, wie können Sie nur so etwas glauben?«, sagte Anton entrüstet. Er holte tief Luft, um eine Erklärung abzugeben, wurde jedoch von Tora unterbrochen, die sofort in die Luft ging.
»Ich kann für mich selbst sprechen! Du musst nicht für mich einstehen und mich verteidigen!«, fauchte sie Anton an. »Und zu Ihnen, Herr Havre, sage ich nur eins. Wenn Sie glauben, dass irgendjemand auf die Idee kommen könnte, sich willentlich ein Bein zu brechen, nur um in dieser unseligen, dreckigen Stadt bleiben zu können, dann sind Sie dümmer, als ich dachte!«
»Tora!« Anton versuchte, seine Hand auf ihre Schulter zu legen, aber sie schüttelte sie zornig ab.
»Ich hatte viel Zeit zum Nachdenken, als ich oben auf der Geröllhalde lag und fror«, fuhr sie fort und fixierte Harald Havre mit funkelnden Augen. »Und jetzt weiß ich, dass dies die kälteste Gesellschaft auf Gottes Erde ist, und damit meine ich nicht nur die Lufttemperatur! Das hier ist eine Gesellschaft voller abweisender, selbstgerechter …«