Polis und Imperium - Michael Stahl - E-Book

Polis und Imperium E-Book

Michael Stahl

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Beschreibung

Die Prägekraft der antiken Tradition für die europäische Kultur bis in die Gegenwart ist trotz aller angeblichen Mythenzerstörung nicht ernsthaft zu leugnen. In vielen Bereichen unseres Lebens - von unserer urbanen Lebensweise bis zu den Grundbegriffen der Kunst und Philosophie, von Politik, Recht, Verwaltung und Religion bis zur technischen Formung der natürlichen Lebenswelt - stehen wir nach wie vor auf den Schultern der antiken Welt.HOMER - an den Wurzeln der europäischen KulturHomer im Streit der Gegenwart: Der Dichter und seine Werke - Der Mythos als Erzählung von den Ursprüngen - Homers Menschen - Odysseus und Achilleus: Urbilder des europäischen Menschen - Der erste Klassiker Europas.ANTIKE UND MODERNE DEMOKRATIE - ein ferner Spiegel?Die Fremdheit der griechischen Demokratie - Probleme in der modernen Demokratie - Die Definition von Politik - Wie organisiert man politische Teilhabe? - Politische Ethik.TEMPEL, KULTE, GÖTTER - die Religion der GriechenTempelbau und Polis-Gemeinde - Der heilige Bezirk - Das religiöse Opfer - Die Anrufung der Götter - Das Göttliche und das Schöne.DIE ANFÄNGE DER PHILOSOPHIE IM FRÜHEN GRIECHENLAND - eine neue Sicht auf die WeltDie Stimme des Individuums - Weise Männer - Die Frage nach dem neuen Denken - "Vom Mythos zum Logos" - Die Philosophen und ihre Lehren - Thales - Anaximander - Anaximenes - Heraklit - Parmenides - Empedokles - Anaxagoras - Leukipp und Demokrit.DAS WELTREICH DER RÖMER IN DER KAISERZEIT - Perspektiven auf ein ImperiumAmerika und Rom - Der Prinzeps und das Reich - Subsidiarität und politisches Ethos - Pax Romana - Die "augusteische Schwelle" - Das Imperium Romanum als TraditionProf. Dr. Michael Stahlhatte bis 2011 den Lehrstuhl für Alte Geschichte an der Technischen Universität Darmstadt. Sein Lehrbuch "Gesellschaft und Staat bei den Griechen" erschien 2003 in zwei Bänden, 2008 präsentierte er "Botschaften des Schönen", Bilder aus der antiken Kultur.

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Prof. Dr. Michael Stahl

ALTE GESCHICHTE

Polis und Imperium

Kultur und Politik im frühen Griechenland

und im römischen Weltreich

Fünf Vorlesungen:

HOMER –

an den Wurzeln der europäischen Kultur

ANTIKE UND MODERNE DEMOKRATIE –

ein ferner Spiegel?

TEMPEL, KULTE, GÖTTER –

die Religion der Griechen

DIE ANFÄNGE DER PHILOSOPHIE IM

FRÜHEN GRIECHENLAND –

eine neue Sicht auf die Welt

DAS WELTREICH DER RÖMER

IN DER KAISERZEIT –

Perspektiven auf ein Imperium

© Verlag KOMPLETT-MEDIA GmbH

2012, München/Grünwald

www.der-wissens-verlag.de

ISBN: 978-3-8312-0391-8

Satz: Pinsker Druck und Medien, Mainburg

Dieses Werk sowie alle darin enthaltenen einzelnen Beiträge und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen schriftlichen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen sowie für das Recht der öffentlichen Zugänglichmachung.

eBook-Herstellung und Auslieferung: HEROLD Auslieferung Service GmbHwww.herold-va.de

Inhaltsverzeichnis

Vorwort – Antike und Gegenwart

Homer – An den Wurzeln der europäischen Kultur

• Homer im Streit der Gegenwart

• Homerische Fragen: Der Dichter und seine Werke

• Der Stoff der Epen: Tradition und Neuschöpfung

• Dichtung und Lebenswelt: Das Problem der Historizität

• Homer und die Nachwelt

• Eine „kulturelle Enzyklopädie“

• Lügen des Odysseus

• Die Welt des Hauses

• Ein Aristokrat

• Wonach man strebte

• Arbeit für die Gemeinschaft

• Der Mythos als Erzählung von den Ursprüngen

• Homers Menschen

• Odysseus und Achilleus: Urbilder des europäischen Menschen

• Penelope und die eheliche Liebe

• Der erste Klassiker Europas

• Literatur

Antike und moderne Demokratie – Ein ferner Spiegel?

• Die Fremdheit der griechischen Demokratie

• Probleme in der modernen Demokratie

• Die Definition von Politik

• Wie organisiert man politische Teilhabe?

• Politische Ethik

• Literatur

Tempel, Kulte, Götter – Die Religion der Griechen

• Der christliche Blick auf die antike Religion

• Die Gottheit und ihr Tempel

• Die Idee der Säule

• Tempel und Bürgerkommunikation

• Tempelbau und Polisgemeinde

• Der heilige Bezirk

• Das religiöse Opfer

• Die Anrufung der Götter

• Kult und Bürgerstaat: Ohne Kirche und Klerus

- Das Göttliche

• Der Mythos

• Viele göttliche Kräfte

• Nach dem Bilde des Menschen

• Das Göttliche und das Schöne

• Literatur

Die Anfänge der Philosophie im frühen Griechenland – Eine neue Sicht auf die Welt

• Ionien und die archaische Zeit

• Einflüsse aus dem Osten

• Die Ausbreitung des Griechentums

• Neue Bilder von der Welt

• Mobilität und Freiheit

• Die Stimme des Individuums

• Weise Männer

• Die Frage nach dem neuen Denken

• „Vom Mythos zum Logos“

• Die Konstruktion der Wirklichkeit: Mythisches Denken

• Eine neue Realität: Die rationale Konstruktion

• Philosophie und politischer Wandel: Ein Fragment des Anaximander

• Anaximander und Solon

• Solons politische Diagnose

• Kosmos in Natur- und Menschenwelt

• Die Philosophen und ihre Lehren

• Was bleibt

• Literatur

Das Weltreich der Römer in der Kaiserzeit – Perspektiven auf ein Imperium

• Was ist Geschichte?

• Amerika und Rom

• Europäische Orientierungsprobleme

• Das Reich als Einheit

• Der Prinzeps und das Reich

• Militär als Kulturfaktor

• Die Reichsverwaltung: Ein persönliches Regime

• Das Patronat der Eliten

• Subsidiarität und politisches Ethos

• Pax Romana

• Stadtkultur

• Das Amphitheater

• Die „augusteische Schwelle“

• Integrationsfähigkeit und Abschließung nach außen

• Das Imperium Romanum als Tradition

• Literatur

Vorwort – Antike und Gegenwart

Wer über Vergangenheit sprechen will, muß an die Zukunft denken. Dann entsteht Geschichte – der Blick auf Vergangenheit aus der Gegenwart und für sie. Jede Gegenwart, auch die unsere, bleibt stets offen für die Zukunft. Und diese tanzt keineswegs nach der Pfeife eines vermeintlichen Fortschritts. Wohin unsere modernen Gesellschaften und Gemeinwesen sich in den nächsten Generationen entwickeln werden und vielleicht entwickeln müssen, wenn sie noch eine Zukunft haben wollen, ergibt sich nicht einfach aus dem immer weiteren Ausziehen der bekannten Entwicklungslinien der Moderne. Vielmehr täten wir gut daran, uns empfänglich und bereit zu halten für Erneuerung und Alternativen, um aus den Sackgassen der Moderne herauszufinden.

Für das Beschreiten neuer Wege in dem sich ankündigenden epochalen Umbruch bedürfen wir jedoch – wie schon an früheren historischen Wendepunkten – des Blicks auf den gesamten Bestand der europäischen Geschichte. Dann können wir über den unüberwindbar scheinenden Bruch zwischen Moderne und Vormoderne hinweg eben diese wieder als notwendigen und zukunftsweisenden Teil unseres Geschichtsbewußtseins zurückgewinnen. Das bedeutet weder Flucht in eine idealisierte Vergangenheit noch die unreflektierte Affirmation scheinbarer historischer Vorbilder. Ein „neuer Humanismus“ befähigt vielmehr zu produktiver Kritik an offensichtlich in die Irre führenden modernen Strukturen und zu innovativen Entwürfen für das Ziel einer weiterentwickelten, anderen Moderne.

Die antike Vergangenheit in Perspektiven der Gegenwart hereinholen – was kann das heißen? Es heißt nicht, Phänomene der Antike auf einer vordergründigen Ebene zu aktualisieren und etwa Modernes in ein äußerlich antikes Gewand zu hüllen – wie z.B. bei manchen Inszenierungen bei den Olympischen Spielen oder der Verarbeitung der Antike im Film oder in der Werbung. Genauso wenig kann es umgekehrt heißen, im Antiken das Moderne im Verhältnis eins zu eins wiederzufinden. Perspektivierung des historischen Blicks zielt auch nicht darauf, die Antike als absolut gesetztes Vorbild wiederholen zu wollen. Das Ergebnis wäre in ästhetischer Hinsicht Kitsch und in der Aussage unverbindlich, weil nicht einlösbar. Die Ausfertigung von Patentrezepten ist nicht statthaft, und einfach übertragbare Lehren sind nicht zu haben.

Die Antwort lautet vielmehr: Die aus der Gegenwart gewonnenen Perspektiven auf die Antike fördern an ihr etwas zutage, das auf einer dritten Ebene, einem tertium comparationis liegt. Über die Epochenbrüche hinweg kann man auf dieser Vergleichsebene beiden Zeiten gemeinsame Probleme und Aufgaben identifizieren. Ziel ist die bewußte und reflektierte Wiederaneignung von antiker Vergangenheit als Teil unserer Geschichte. Ganz ähnlich sah dies schon vor etwa 200 Jahren der große Humanist und Klassizist Karl Friedrich Schinkel:

„Historisch ist nicht, das Alte (…) festzuhalten oder zu wiederholen, dadurch würde die Historie zugrunde gehen. Historisch Handeln ist das, welches das Neue herbeiführt und wodurch die Geschichte fortgesetzt wird.“

Nur eine echte Revitalisierung der vormodernen Vergangenheit für unsere Gegenwart und Zukunft kann ein privilegiertes öffentliches Interesse an ihr begründen. Ich habe dies in meinem Buch „Botschaften des Schönen“ (Stuttgart 2008) an zwölf Beispielen aus der antiken Kultur zu zeigen versucht. Die hier vorgelegten Vorlesungen sind als eine thematische Fortsetzung und Ergänzung dazu zu verstehen, ohne daß damit nunmehr ein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben würde – im Gegenteil: Der Bau neuer Brücken in die antike Vergangenheit hat gerade erst begonnen.

Wie stellt sich das vor dem Hintergrund der heutigen Wissenschaft dar? In der Altertumswissenschaft gibt heute mehrheitlich eine zu meinem Ansatz fundamental gegensätzliche Strömung den Ton an: die Antike möglichst weit von uns wegzurücken, damit wir erkennen können, wie für uns fremd es in ihr bei den Alten zuging. Und deshalb hätten wir Modernen nichts mehr mit ihnen zu tun. Wenn das richtig wäre, liefe es in der Tat darauf hinaus, daß die Erinnerung an Griechen und Römer für uns keinen Deut wichtiger sein müßte, als die an die Vergangenheit von Indern, Chinesen oder Südseeinsulanern. Das interessierte Publikum fragt sich dann allerdings, warum es sich denn mit einer angeblich so gleich gültigen und damit gleichgültigen Vergangenheit noch beschäftigen sollte und warum von Seiten der öffentlichen Sachwalter der Antike häufig keine Mühen und Kosten gescheut werden, eben diese Antike so opulent wie möglich zu präsentieren – in Museen oder teilweise großartigen Ausstellungen. Und die dortigen Besucher, zumeist nicht gering an Zahl, empfinden sich keineswegs naiv und unaufgeklärt, wenn sie von der Schönheit eines antiken Kunstwerks einfach überwältigt werden und überhaupt den Eindruck mitnehmen, das Gezeigte ginge sie und ihre Zeitgenossen doch etwas an.

Der Wissenschaftsbetrieb allerdings ist weithin geprägt von interesseloser Gleichgültigkeit. Man möchte nicht wahrhaben, daß die These der vollkommenen Andersartigkeit oder Alterität der Antike in der Sache falsch ist. Denn die Prägekraft der antiken Tradition für die europäische Kultur bis in die Gegenwart ist trotz aller angeblichen Mythenzerstörung nicht ernsthaft zu leugnen. In vielen Bereichen unseres Lebens – von unserer urbanen Lebensweise bis zu den Grundbegriffen der Kunst und Philosophie, von Politik, Recht, Verwaltung und Religion bis zur technischen Formung der natürlichen Lebenswelt – stehen wir, ob wir es zustimmend zur Kenntnis nehmen oder nicht, nach wie vor auf den Schultern der antiken Welt.

Die Alteritätsthese ist im übrigen auch theoretisch falsch: das gesamte, nicht erst neuzeitliche Geschichtsdenken hat seit jeher als unabdingbare Grundlage für Geschichte die Verbindung von Gegenwart und Vergangenheit erkannt. Der Gedanke der Alterität gründet sich hingegen auf die Vorstellung der Einzigartigkeit der Moderne mit ihren beiden Grundpfeilern Fortschritt und Emanzipation, und das heißt eben auch Befreiung von überkommenen Bindungen und Verpflichtungen. Mit der permanenten Zerstörung von Tradition werden die Brücken zwischen Gegenwart und Vergangenheit eingerissen, und das Vollgefühl des modernen Singularitäts- und Befreiungsbewußtseins entzieht auch dem Historiker die Geschäftsgrundlage: den Neu-, Um- und Weiterbau jener Brücken, die das Heute mit dem Gestern und Vorgestern verbinden.

Das aber bedeutet den Verlust von Geschichte und damit den Rückfall in vorhochkulturelle Verhältnisse. Wir sind möglicherweise nicht sehr weit davon entfernt und sehen zugleich, wie zahlreiche Entwicklungslinien der Moderne zunehmend fragwürdig werden.

Wenn hier der in der modernen Geschichtswissenschaft häufig anzutreffenden Methodik der Dekonstruktion aufs Heftigste widersprochen wird, so folgt daraus jedoch nicht, hinter die Errungenschaften der wissenschaftlich verfahrenden Geschichtsschreibung zurückgehen zu wollen. Denn sie sichern die Geltungskraft von Aussagen über die Vergangenheit auf besonders überzeugende Weise. Man mag daher auf das wissenschaftliche Instrumentarium heute so wenig verzichten wie auf die Spritze beim Zahnarzt. Selbstverständlich liegt daher den folgenden Kapiteln eine methodisch-wissenschaftliche Vorgehensweise zugrunde. Wer sich mit den Themen in diesem Sinne vertiefend befassen möchte, findet in den beigefügten Literaturhinweisen genügend Ansatzpunkte. Für den Weg zur Geschichte ist Wissenschaft als Methode aber nicht ausschlaggebend, ja es gilt das Gegenteil: Wer sich auf die Handhabung – wie virtuos auch immer – eines wissenschaftlichen Methodeninstrumentariums beschränken zu können glaubt, wird die Geschichte sogar zerstören.

Im Titel dieses Buches sind zwei für die Antike grundlegende Leitbegriffe genannt: Polis und Imperium. Die griechische Polis und die aus ihr hervorgegangene, für die Dauer der gesamten Antike weiterlebende Stadtgemeinde sowie das Weltreich der römischen Kaiserzeit sind die für die Antike selbst wichtigsten prägenden Formen ihrer Lebenswelt. Dabei bildet die Kultur des Imperium Romanum, das die antike Welt politisch geeint hat und gleichzeitig aus den unzähligen Städten vom Atlantik bis nach Indien und von der Sahara bis nach Schottland bestand, gleichsam den Unterlauf und das Mündungsdelta des gesamten antiken Kulturflusses.

Die folgenden, je für sich stehenden Kapitel behandeln nur auf den ersten Blick disparat erscheinende Themen. Was sie verbindet, darauf verweist der Untertitel: „Kultur und Politik“. Diese beiden Lebensbereiche waren so elementar aufeinander bezogen wie angewiesen. Das können wir durch die ganze Antike hindurch kontinuierlich verfolgen. Kultur als das Leben im Geiste und der Schönheit ist nicht zu trennen vom Leben der Gemeinschaft. Literatur, Religion, Philosophie oder Bildkunst sind weder beliebig schmückende Dekoration einer ansonsten harten, wenig Trost bereithaltenden Lebenswirklichkeit noch Theaterkulisse zur Verschleierung extremer sozialer und politischer Machtgefälle. Natürlich ist nicht zu leugnen, daß Trostlosigkeit und Macht das antike Leben auch zuweilen bestimmt haben. Aber eine Menschheitsepoche, die annähernd 1500 Jahre Bestand hatte, kann nicht dauerhaft im Zeichen von Leid, Unterdrückung und Unmenschlichkeit gestanden haben. In den bis heute vielfach unübertroffenen Manifestationen des antiken Geistes finden vielmehr die antiken Lebensordnungen zu einem positiven Bewußtsein ihrer selbst. Schon ihre mehr als tausendjährige Dauer zeugt von ihrem weitgehenden Gelingen. Die antike Kultur, aus der hier fünf Streiflichter präsentiert werden, beglaubigt die antiken Ordnungen von Gesellschaft und Gemeinschaft vor dem Richterstuhl der Geschichte. Deshalb sendet sie ihre Botschaften auch noch an uns. Wir müssen sie nur zum Sprechen bringen und wieder auf sie hören.

HOMER

An den Wurzeln der

europäischen Kultur

Von Prof. Dr. Michael Stahl

Homer

An den Wurzeln der europäischen Kultur

Homer im Streit der Gegenwart – Homerische Fragen: Der Dichter und seine Werke – Der Stoff der Epen: Tradition und Neuschöpfung – Dichtung und Lebenswelt: Das Problem der Historizität – Homer und die Nachwelt – Eine „kulturelle Enzyklopädie“ – Lügen des Odysseus – Die Welt des Hauses – Ein Aristokrat – Wonach man strebte – Arbeit für die Gemeinschaft – Der Mythos als Erzählung von den Ursprüngen – Homers Menschen – Odysseus und Achilleus: Urbilder des europäischen Menschen – Penelope und die eheliche Liebe – Der erste Klassiker Europas

Homer im Streit der Gegenwart

„Wir sind Kinder des Orients“ – so war ein Leitartikel auf der Titelseite der FAZ am 29. Dezember 2007 überschrieben. Sein Autor war Dieter Bartetzko, ein Journalist, der sich um die Belange der Archäologie in der Öffentlichkeit immer wieder sehr verdient macht und sich auch engagiert über die öffentliche Architektur in unserem Land äußert. Sein prominent plazierter Artikel gehörte in einen bestimmten Kontext: Nur eine Woche zuvor hatte die FAZ die Thesen von Raoul Schrott über Homer veröffentlicht. In ihnen lokalisierte der österreichische Literat und Literaturwissenschaftler das homerische Troja in das östliche Mittelmeer, nach Kilikien, und seinen Dichter an den Hof eines assyrischen Kleinkönigs.

Es ist hier nicht zu rekapitulieren, mit welcher Argumentation Schrott das Geheimnis um „Homers Heimat“ gelüftet haben will. Jedenfalls hatte er damit und mit seiner danach erschienenen Übersetzung von Homers Ilias eine lebhafte Debatte ausgelöst. Inzwischen haben sich aber alle Kenner der Materie zumeist kritisch geäußert. Von Schrotts These ist kaum etwas übrig geblieben.

Keiner der Diskussionsbeiträge ging allerdings näher ein auf den brisanten Kontext, in den Bartetzko in seinem Artikel Schrotts vermeintliche Erkenntnisse gestellt und damit die weitertragenden politischen Konsequenzen gezogen hat. Lediglich der Althistoriker Christian Meier hat ebenfalls in einer großen Zeitung den Schlußfolgerungen Bartetzkos eine dezidierte Gegenthese gegenübergestellt: „Wir sind Kinder des Okzidents“.

Bartetzko rückt Schrotts Konstruktionen neben die einst umstürzenden Befunde Heinrich Schliemanns. Nun sei es endlich bewiesen, so Bartetzko:

„Das Epos, das wir als fernen Spiegel der eigenen Befindlichkeit und Besonderheit verehrt haben, ist durchwirkt von jener Kultur, die wir als das Andere, das Fremde zu sehen gewohnt sind.“

Schrott habe Homer „humanisiert“, indem er ihn als einen „multikulturellen Dichter (und Propagandisten)“ erkannt habe. Mit Schrotts Ilias in der Hand, so Bartetzkos Schluß, drängten sich nun „Fakten gemeinsamer Wurzeln“ auf. Angesichts derer könne man an den bisher gesehenen Unterschieden und Gegensätzen zwischen Abend- und Morgenland nicht mehr festhalten. Das eigentlich Wichtige und Provozierende von Schrotts Annahmen liegt in dieser aus ihnen ableitbaren Botschaft. Sie lautet: Wir müßten, um den uns bedrückenden Konflikten der Gegenwart besser begegnen zu können, vergessen, wovon wir seit mehr als 2500 Jahren überzeugt waren: nämlich daß wir in Homer einen der zentralen Bezugspunkte unserer okzidentalen Identität besitzen.

Ich möchte in dieser Vorlesung zeigen, daß wir das nicht dürfen und auch nicht können, solange wir uns nur mit Homers Dichtung selbst befassen sowie mit dem, was eine gründliche Forschungstradition über sie ermittelt hat, und nicht mit aus dem Zusammenhang gerissenen Einzelfakten. Die Unhaltbarkeit von Schrotts Überlegungen zum Entstehungskontext der Epen erweist sich gewissermaßen auf indirektem Wege über die Frage, was der Text Homers in seiner Wirkungsgeschichte für die Griechen und für uns bedeutet.

Wer ein Bild der griechischen Kultur zeichnen will, muß nämlich immer noch mit Homer beginnen. Seine Dichtungen sind die ersten Werke der griechischen Literatur und damit der antiken, ja der europäischen Literatur überhaupt. Das muß als solches in seiner Bedeutung und in seinen Wirkungen gewürdigt werden. Homer ist und bleibt – selbst wenn man die Thesen von Raoul Schrott einmal hypothetisch akzeptieren würde – praktisch ausschließlich ein Phänomen der griechischen (und später natürlich auch der römischen) Kultur.

Nur in diesem Zusammenhang, als erster Autor Europas in einem emphatischen Sinn, hatte Homer auch über die Antike hinaus Bedeutung. Mag es auch ‚orientalische Wurzeln’ geben: Wer in der Antike und später diesen prachtvollen Baum betrachtete und von seinen Früchten aß, wußte nichts von diesen Wurzeln; er konnte und er kann sie vernachlässigen.

Wir müssen uns also fragen, welche Bedeutung Homer für die Griechen und später für das Altertum überhaupt besaß. Das möchte ich im zweiten Kapitel der Vorlesung tun. Davor werde ich zusammenfassen, was die Forschung bisher mit dem Namen „Homer“ verbindet und dann kurz erläutern, worin meiner Auffassung nach der geschichtliche Bezug seiner Dichtung besteht. Schließlich werde ich im dritten Teil anhand einiger Beispiele erläutern, warum die dichterischen Bilder Homers den Menschen in Europa auch später, bis auf den heutigen Tag, etwas zu sagen hatten.

Homerische Fragen: Der Dichter und seine Werke

Was meinen wir, wenn wir von „Homer“ sprechen? Mit diesem Namen werden in der antiken Überlieferung zwei sehr lange, in Hexameterversen gehaltene Dichtungen verbunden, sog. Epen. Das eine Epos, die „Ilias“, beschreibt in ca. 16000 Versen die letzten 51 Tage im 9. Jahr des Krieges der Griechen – Homer nennt sie Achaier – gegen das kleinasiatische Troja. Das andere Epos, die „Odyssee“ umfaßt ca. 12000 Verse, sie handeln in der ersten Hälfte des Werks von jenen Irrfahrten und Abenteuern, die der Held Odysseus nach dem Fall Trojas zu bestehen hat – vor seiner Rückkehr ins heimatliche Ithaka. Die zweite Hälfte erzählt, wie Odysseus sein Haus wieder in Besitz nimmt. Auch die „Odyssee“ schildert das Geschehen vom Ende her, den letzten 40 Tagen im 20. Jahr nach dem Aufbruch des Helden nach Troja. In diese Erzählzeit sind in Rückblicken dann die zehn Jahre der Irrfahrten und Abenteuer des Odysseus eingeblendet.

Beide Epen sind an zwei kulturellen Brennpunkten des damaligen Griechentums entstanden, möglicherweise in Griechenstädten an der Ägäisküste Kleinasiens, die Odyssee vielleicht auch an der nordwestgriechischen Küste in der Nähe von Ithaka, der Heimat des Odysseus. Wir befinden uns in der zweiten Hälfte des 8. Jhs. v. Chr. Die Ilias ist das ältere Epos und wohl zwischen 750 und 730 v. Chr. zu datieren, die Odyssee vermutlich etwa eine Generation später.

Wir kennen zwei Dichter, Hesiod und Tyrtaios, beide aus der ersten Hälfte des 7. Jhs. v. Chr. Sie setzen in jedem Fall die Existenz der homerischen Epen schon voraus. Sehr frühe Reflexe der beiden Epen gibt es auch in der griechischen Bildkunst. Diese Befunde machen deutlich, wie schnell sich nicht nur die Kenntnis Homers verbreitet hat, sondern wie groß von Beginn an das Interesse an dieser Dichtung gewesen ist. Wir können sie daher als einen kulturellen Fixpunkt für die frühen Griechen bezeichnen.

Ilias und Odyssee wurden eben die Werke Homers genannt, und wir sind dabei der antiken Tradition gefolgt. Nun hat die neuzeitliche Beschäftigung mit Homer zeigen können, daß diese Tradition, die sich in der Antike über die Person des Dichters gebildet hatte, fast vollständig aus Spekulationen und Konstruktionen herrührte. Das war auch ganz natürlich so angesichts der Wichtigkeit der Texte und ihrer Botschaften. Man kann das vielleicht vergleichen mit der Entstehung einer Kindheitsgeschichte Jesu in den Evangelien. Tatsächlich erhielt auch für die Griechen Homer ein Gesicht nur durch die umlaufenden und zum Teil sich widersprechenden Legenden über seine Person. Darüber hinaus Gewißheit zu erhalten, ist deshalb auch uns nicht möglich. Die historische Gestalt dieses Dichters Homer bleibt für immer ein Schatten.

Eines hingegen kann man mit guten Gründen behaupten: Die beiden Epen sind nicht denkbar ohne die schöpferische Leistung eines Dichters. Vielleicht ist es aufgrund des zeitlichen Abstands von Ilias und Odyssee sogar eher plausibel, von zwei Autoren auszugehen. Wenn wir aber dennoch zu Recht weiterhin von dem einen Homer sprechen, so ist das auch nicht nur bequeme Konvention. Vielmehr kommt dadurch vor allem zum Ausdruck, daß Ilias und Odyssee in gemeinsamen Voraussetzungen wurzeln und eine geistige Einheit bilden. Und als solche Einheit ist Homer vom Altertum bis in die Gegenwart denn auch wahrgenommen worden. Homer vermittelt das einheitliche Bild einer ganzen Welt. In diesem Bild fanden sich nicht nur seine Zeitgenossen wieder, sondern es hatte auch vielen Generationen nach ihm noch etwas zu bedeuten.

Der Stoff der Epen: Tradition und Neuschöpfung

Das liegt natürlich auch daran, daß die beiden Dichtungen außergewöhnliche sprachliche Kunstwerke sind. Sie besitzen eine innere Geschlossenheit und eine jeweils charakteristische Form. Von Anfang bis Ende ist ihr komplexer Bauplan exakt durchkomponiert – mit vielfachen Bezügen, Verweisen, Steigerungsreihen und Kontrasten.

Homer ist mit dem dichterischen Stoff, den er bereits vorgefunden hat, virtuos verfahren, und hat ihn zu einem neuartigen Ganzen zusammengefügt. So sieht es jedenfalls die neuere Forschung. Ihr Mittel war u. a. der Vergleich mit anderen Heldensagen oder bestimmten Sängertraditionen auf dem Balkan. Diese Seitenblicke haben das Zusammenspiel von Form und Inhalt des Epos besser verstehen lassen.

Danach geht der Stoff von Ilias und Odyssee zurück auf eine bereits mehrere Jahrhunderte währende mündliche Tradition. Seit dem Zusammenbruch der mykenischen Monarchien und in der Zeit der Dunklen Jahrhunderte (also zwischen 1200 und 800 v. Chr.) hatten sich die großen Sagenkreise um den Trojanischen Krieg und die Zeit danach ausgebildet. Ein Schatz von sprachlichen Formeln war akkumuliert worden. Mit seiner Hilfe brachten Sänger die mythischen Geschichten im Vortrag zu Gehör – in stets neu improvisierten Variationen.

Im 8. Jh. v. Chr. fanden die Griechen zu ihrer Alphabetschrift. Mit ihrer Hilfe gestaltete Homer aus den umlaufenden Traditionen seine Gedichte. Sie waren dennoch für lange Jahrhunderte nicht als Lesestoff gedacht, sondern in ihrer Wirkungsweise auf die Bedingungen einer mündlichen Kultur abgestellt. Mit diesem Befund können wir nun den Charakter der beiden Epen besser beschreiben.

Auf den ersten Blick nämlich spielen die Geschichten, von denen Ilias und Odyssee erzählen, in der Welt von Fürsten der Vorzeit. Als man im 19. Jh. die spätbronzezeitliche Zivilisation in Griechenland entdeckt hatte, wurden Namen wie Agamemnon oder Menelaos sogleich mit der mykenischen Kultur verbunden. Das Handlungsgerüst, die Orte der Handlung, einige Namen, einige prachtvolle und exotische Gegenstände sollten die Hörer Homers im 8.Jh. v. Chr. tatsächlich in eine längst verschwundene sagenhafte Epoche zurückversetzen. Jene Vorzeit war von der Gegenwart Homers durch eine märchenhafte Überhöhung unterschieden.

Das also waren die Stoffe, über die das Publikum des 8. und 7. vorchristlichen Jahrhunderts von Homer etwas zu hören erwartete. Eine andere Erwartung war, daß seine Zuhörer sich trotz aller Verklärung in dem, was sie hörten, auch wiederfinden mußten, weil es ihr Interesse erregte. Die Erforschung der mündlichen Dichtung hat nämlich ergeben, daß durch mündliche Überlieferung nur das weitergetragen wird, was für die jeweils gegenwärtige Gesellschaft wissenswert und damit erinnerungswürdig ist. Nur dann kann es auch verstanden werden und macht für die Zuhörer Sinn. Mündliche Dichtung richtet sich immer an ein konkretes, eben ein zeitgenössisches Publikum. Daher müssen Homers Beschreibungen der alltäglichen Lebenswelt, des Handelns im Haus und in der Öffentlichkeit, der wirtschaftlichen Existenzgrundlagen und der politischen Verfaßtheit den Erfahrungshorizont des Publikums zum Zeitpunkt der schriftlichen Fixierung der Epen getreu widerspiegeln.

Andererseits sind manche Elemente in der Schilderung des materiellen Lebens auch eine Folge dichterischer Überhöhung und exotischer Verfremdung, etwa Paläste, Stadtanlagen und Bronzewaffen, nicht zuletzt die Bilder von materiellem Überfluß und Prosperität, die nach Ausweis der archäologischen Funde der Wirklichkeit der homerischen Zeit gar nicht entsprechen. Vor allem hier ist der Blick auf den Orient erhellend. Manche Anregungen für solche literarischen Stilisierungen erhielt Homer vermutlich aus den Berichten über die zeitgenössischen Kulturen des Orients. Die literarische Kunst der beiden Epen äußert sich jedoch jenseits von solchen künstlichen Verfremdungen darin, daß sie von einem einheitlichen geistigen Habitus, einer homogenen Weltsicht durchdrungen sind. Dadurch wurden sie für die Griechen zu einem Gefäß der gesellschaftlichen Selbstverständigung und Selbstidentifikation.

Dichtung und Lebenswelt: Das Problem der Historizität