Politeia. Eine politische Theorie in Polylogform - Kolja Mertz - E-Book

Politeia. Eine politische Theorie in Polylogform E-Book

Kolja Mertz

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Beschreibung

Die politische Theorie ist ein Schlachtfeld. Bollwerke der Ideologen haben sich in einem Jahrtausende andauernden Grabenkampf herausgebildet und stehen sich heute erbarmungsloser und unvereinbarer Gegenüber als je zuvor. In der Politik treffen sämtliche Dimensionen des Gesellschaftlichen aufeinander – die Soziale, die Wirtschaftliche, ja bisweilen auch die Theologische. In diesem Polylog treffen Menschen aufeinander, die sich in einem offenen Schlagabtausch begegnen und aneinander messen. Zugleich gehen sie dabei auf klassische Inhalte der Philosophie und Wirtschaftslehre ein – nicht ohne dabei alles bestehende grundsätzlich zu hinterfragen. Mit unklarem Ausgang. Bis zum Schluss.

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Seitenzahl: 1245

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Politeia

Eine politische Theorie in Polylogform

„Zu zynisch für Linksliberale, zu kritisch für Konservative, zu schmutzig für Intellektuelle, zu anarchisch für Realos – und zu intelligent für Nazis.“

ChatGPT auf die Frage: Wie würdest du das Buch Politeia in einem Satz kritisch zusammenfassen mit Blick auf mögliche Zielgruppen und im Stil und Jargon des Textes?

Impressum

Texte © Kolja Mertz

Umschlaggestaltung/Cover: © Kolja Mertz

Veröffentlichungsdatum: 01.01.2023

Verlag

Kolja Mertz

Auf den Stöcken 8

36119 Neuhof

Druck und Vertrieb: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Ich frage euch: Wollt ihr den totalen Krieg? Wollt ihr ihn, wenn nötig, totaler und radikaler, als wir ihn uns heute überhaupt erst vorstellen können?

Joseph Goebbels

„Weißt du eigentlich, dass in Deutschland zwei Familien mehr Vermögen besitzen als die untere Hälfte der gesamten Bevölkerung zusammen?“

„Zwei? Wer denn?“

„Reimann und Schwarz. Die einen machen dir den Kaffee, die anderen verkaufen dir die Milch dazu. Und Martyna Linertas sagt: Das ist nicht nur ungerecht – das ist gefährlich.“

„Weil Menschen ungleich sind?“

„Nein. Weil Demokratien auf Vertrauen beruhen – nicht auf Gleichheit. Aber zu viel Ungleichheit frisst das Vertrauen. Und Linertas zeigt das ziemlich eindrucksvoll: Immer, wenn wirtschaftliche Macht zu stark konzentriert war, kam es zu Brüchen – besonders in der Weimarer Republik.“

„Weimar? Schon wieder?“

„Ja, denn da war’s lehrbuchartig. Erzberger, Zentrumspolitiker, hat nach dem Ersten Weltkrieg die Steuerreform durchgesetzt: Besitzabgaben, Kriegsgewinnsteuer, erste echte Vermögensbesteuerung – ein Versuch, die alte monarchische Elite wirtschaftlich zu entmachten.“

„Also gab es doch Reformen.“

„Gab’s. Aber das reicht nicht, wenn das System weiter das Gefühl vermittelt: Oben bleibt oben, unten bleibt unten. Linertas beschreibt, wie in der Weimarer Republik Sozialpolitik immer hinterherlief – den Krisen, den Abstürzen, der Angst. Und wenn dann auch noch die Reichswehr, die Großindustrie und die konservative Presse gegen die Republik arbeiten, wird es brandgefährlich.“

„Und heute?“

„Heute haben wir eine stabilere Ordnung – formal. Aber das Grundgefühl, das damals viele hatten, kehrt zurück: Dass das System nicht mehr für alle da ist. Dass Leistung weniger zählt als Erbe. Dass der soziale Aufstieg eine Legende ist. Und dass, wer Kritik übt, entweder Verschwörungstheoretiker oder Sozialromantiker ist.“

„Du meinst: Der demokratische Glaube zerfällt?“

„Ja. Es entsteht, was ich die Schwebezone des Verrats nenne.“

„Was soll das heißen?“

„Es ist der Zustand, in dem das System zwar noch funktioniert, aber keiner mehr daran glaubt. In dem das politische Versprechen intakt ist – Freiheit, Aufstieg, Mitbestimmung – aber in der Lebenswirklichkeit brüchig geworden ist. Und diese Schwebe, dieser Zwischenraum zwischen Anspruch und Erfahrung, wird von innen als Verrat empfunden. Nicht, weil jemand bewusst täuscht – sondern weil das Vertrauen aufgebraucht ist.“

„Und das endet wie damals?“

„Damals wurde daraus ein autoritärer Reflex. Heute ist es schwerer – aber das Potenzial bleibt. Wenn das ökonomische System als undurchschaubar, ungerecht und unkontrollierbar erscheint, wird der Ruf nach Kontrolle laut. Dann kommt der Technokrat, der Populist, der Sicherheitsfetischist. Und jeder bringt seine eigene Wahrheit mit.“

„Also brauchen wir wieder einen Erzberger?“

„Vielleicht. Aber mit Kugelsicherer Weste.“

„Du sprichst immer von struktureller Ungleichheit. Aber Robert Fryer hat schon vor Jahren gezeigt, dass bei vielen schwarzen Jugendlichen in den USA das Problem tiefer liegt. Es geht nicht nur um Geld oder Herkunft – sondern um kulturelle Codes. Um Milieus, in denen Bildung kein Ansehen hat. In denen Gang-Zugehörigkeit, Dominanzverhalten und Abgrenzung wichtiger sind als Leistung.“

„Du meinst: Sie sind selbst schuld?“

„Ich meine: Man muss genauer hinschauen. Wenn die Polizei bei einem schwarzen Jugendlichen schneller Verdacht schöpft, dann liegt das nicht nur an Rassismus, sondern auch daran, dass die Kriminalitätsraten in bestimmten Vierteln tatsächlich höher sind – und das wissen auch die Beamten. Die Verdachtsmomente sind oft empirisch gestützt, auch wenn man das ungern hört. Das ist nicht schön, aber es ist Teil der Realität.“

„Und du glaubst, das sei ein Naturgesetz? Dass sich nichts ändern lässt, weil es kulturell verankert ist?“

„Nein, aber: In der Soziologie ist es seit Jahrzehnten bekannt, dass intergenerationale soziale Mobilität in westlichen Gesellschaften gering ist. In Deutschland etwa bleibt laut Studien des DIW etwa die Hälfte der Kinder aus dem unteren Einkommensquintil auch als Erwachsene im untersten Fünftel. Und umgekehrt: Wer oben ist, bleibt oben. Das ist relative Klassenstabilität – und die ist erstaunlich robust.“

„Und trotzdem tun wir so, als sei alles offen. Dabei liegt der Gini-Koeffizient von Deutschland inzwischen bei über 0,8, fast genauso hoch wie in Mexiko – zwei formal-demokratische Gesellschaften mit extrem ungleicher Vermögensverteilung.“

„Aber das Bewusstsein fehlt. Alle glauben, sie gehörten zur Mitte. Studien zeigen, dass sich Reiche regelmäßig nach unten und Arme nach oben einschätzen. Eine kollektive Illusion – das System funktioniert, weil sich niemand als extrem empfindet.“

„Und währenddessen schrumpft die Mittelschicht. Der aktuelle Oxfam-Bericht spricht davon, dass acht Männer so viel besitzen wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung. Das ist keine Verschwörung, das ist Statistik. Und diese Realangst vor Abstieg wird kulturell verarbeitet – in Form eines strukturell ausgelösten kollektiven Verdrängungsmechanismus, der von den Medien bedient wird: Selfmade-Stories, Wohlfühl-Bullshit, Jammern auf hohem Niveau. So wird das System stabilisiert.“

„Das ist einer dieser typischen Fehlschlüsse. So wie die Behauptung, Armut führe zu früherer Sterblichkeit. In Wirklichkeit ist es der Mangel an Bildung, der korreliert – nicht das fehlende Geld. Wer schlecht ausgebildet ist, lebt ungesünder, trifft schlechtere Entscheidungen, kennt sich mit Ernährung, Medizin, Stressregulation nicht aus.“

„Erstens, ist Mangel an Bildung gerade eine Folge von Armut – nicht umgekehrt. Zweitens: Es ist nicht Unwissenheit, die uns langsam umbringt, sondern es ist chronischer Stress. Studien zeigen klar: Beamte in höheren Besoldungsgruppen leben länger als einfache Arbeiter – bei gleichem Lebensstil. Warum? Weil sie mehr Selbstwirksamkeit erleben. Mehr Kontrolle über ihren Alltag. Und das ist, wie Albert Bandura gezeigt hat, ein zentraler Faktor für psychische und körperliche Gesundheit.“

„Ja, das sind dynamische Prozesse.“

„Es ist gewollt. Das System reproduziert sich durch Ohnmacht – es braucht den Druck von unten, damit die Ruhe oben funktioniert. Es braucht den müden Schichtarbeiter, der keine Energie mehr hat, sich zu wehren. Es braucht den alleinerziehenden Elternteil, der mit Formularen kämpft, statt mit Konzepten. Es braucht die falsche Hoffnung auf Aufstieg – damit niemand die Verteilungsfrage stellt. Es braucht die Reservearmee der Arbeitslosen, um Druck auf den Niedriglohnsektor zu erhalten, den sozialen Druck zu verstärken und das Lohnniveau niedrig zu halten.“

„Es braucht – als sei das etwas Lebendiges.“

„Schau mal: 1% der Menschen besitzen 44% des Vermögens in Deutschland. Und das ist noch die konservative Schätzung der Bundesbank. Weltweit haben die fünf reichsten Männer seit 2020 ihr Vermögen verdoppelt. Im selben Zeitraum haben fünf Milliarden Menschen – also gut drei Viertel der Weltbevölkerung – netto Vermögen verloren. Und dann erzählen sie uns, das sei halt Marktwirtschaft.“

„Streng genommen ist es das auch.“

„Marktwirtschaft ohne Markt und ohne Gerechtigkeit – mit politisch gepflegter Steuerblindheit. In Deutschland haben 0,5% der Haushalte die Hälfte der Sparguthaben. Die anderen 99,5% teilen sich den Rest.“

„Und? Das hat schon seine Gründe.“

„Mag ja sein. Aber wenn schon: Wenigstens muss man zugeben, dass hier etwas defizitär ist. Und wo soll es hinführen, wenn jeder für seine Lebensentscheidungen bestraft wird – die er bloß nur getroffen hat, weil er eh keine andere Perspektive hatte.“

„Ja, die können das nicht – das ist in der Genetik so angelegt.“

„Es ist ein verbreitetes Vorurteil, dass arme Menschen keine langfristigen Perspektiven entwickeln könnten – als wären Kurzsichtigkeit und mangelndes Verantwortungsbewusstsein eine anthropologische Konstante der unteren Schichten. Doch die empirische Evidenz spricht eine andere Sprache. Nicht Dummheit oder Kultur erklären das kurzfristige Denken der (vor allem extremen) Armen, sondern die strukturelle Gewalt des Mangels selbst: Armut erzeugt kognitive Enge. Wer jeden Tag um das Überleben ringt, denkt nicht in Jahrzehnten, sondern in Stunden. Wie soll Nachhaltigkeit entstehen, wo das Morgen ungewiss bleibt?

Studien aus der Entwicklungsökonomik – insbesondere von Esther Duflo, Abhijit Banerjee und Michael Kremer – zeigen eindrücklich, dass Kapitalzugang das Denken verändert. Gibt man sehr armen Menschen finanzielle Mittel, und zwar ohne Bedingungen oder moralische Gängelung, investieren sie keineswegs irrational oder verschwenderisch. Im Gegenteil: Sie beginnen zu planen, zu bauen, zu sparen. Sie schicken ihre Kinder zur Schule, kaufen wetterfeste Dächer, erneuern Werkzeuge, schaffen saubere Kochstellen an. Nachhaltigkeit wird zur Option, sobald Not zur Ausnahme wird.

Diese Erkenntnis stellt die gängigen Narrative der Leistungsgesellschaft radikal in Frage. Es ist nicht der Bildungsgrad, der die Zukunft erschließt, sondern der Grundlagenbesitz: Wer Eigentum, Sicherheit, Nahrung hat, beginnt zu denken wie ein Bürger – nicht wie ein Überlebender. Die Tugend des nachhaltigen Handelns ist kein moralischer Akt, sondern ein Ausdruck existenzieller Entlastung.

Die politische Konsequenz ist brisant: Eine Ordnung, die Menschen in Armut hält – sei sie durch Lohn, Bodenrecht oder bürokratische Repression vermittelt – verhindert nicht nur Wohlstand, sondern auch Vernunft. Kapital ist nicht nur ein Produktionsmittel. Es ist eine Form von Freihei.“

„Das ist richtig. Aber es ist auch richtig, dass die Genetik eine Rolle spielt – und dass deshalb bestimmte Persönlichkeiten mit größerer Wahrscheinlichkeit reich werden.“

„Gewiss. Die menschliche Disposition ist nicht Tabula rasa. Persönlichkeit, Impulskontrolle, kognitive Kapazität, sogar Risikobereitschaft – vieles davon hat erbliche Komponenten. Studien der Verhaltensgenetik belegen, dass ökonomischer Erfolg zum Teil auf genetischen Dispositionen beruht. Wer ein hohes Maß an Selbstdisziplin, Ausdauer und abstraktem Denken mitbringt, hat unter gleichen Bedingungen bessere Chancen, Wohlstand aufzubauen und zu erhalten.

Doch dieser Hinweis rechtfertigt keine soziale Überheblichkeit – denn auch die genetische Ausstattung ist nicht verdient. Es ist kein moralisches Verdienst, mit einem IQ von 130 oder einem dopaminoptimierten Belohnungssystem geboren zu werden. Vielmehr verschiebt sich die Frage: Wenn Reichtum teilweise genetisch begünstigt ist, müsste eine gerechte Gesellschaft nicht umso mehr dafür sorgen, dass genetisches Glück nicht zur Klassenstruktur gerinnt?

Denn genau das ist der gefährliche Punkt: Wenn Kapital die Zukunft öffnet und Genetik die Ausgangschancen verteilt, dann wird Eigentum zum Verstärker biologischer Ungleichheit – zur institutionellen Verfestigung des Zufalls. Die meritokratische Fiktion, dass Leistung allein zählt, verdeckt diesen Zusammenhang systematisch. Wer Reichtum ausschließlich als Ausdruck von Persönlichkeit versteht, verwechselt Ursache mit Legitimation.

Also ja: Persönlichkeit spielt eine Rolle. Doch der entscheidende Unterschied ist nicht zwischen fähig und unfähig, sondern zwischen Mensch und Marktmechanismus. Die Frage ist nicht, wer zu Reichtum fähig ist – sondern, wie wir verhindern, dass Reichtum zur natürlichen Erbfolge wird.“

„Zugegeben – genetische Begünstigung ist (wahrscheinlich) nicht verdient. Aber ist das wirklich ein Argument gegen Ungleichheit? Auch Gesundheit, Kraft und Talent sind nicht verdient und schlichtweg zugefallen. Viele Dinge sind unfair verteilt – nicht bloß Geld und Status – wo also anfangen? Vielleicht in der Hose: Sollen alle Männer mit Mikropenis einen Sonderbus vom Staat erhalten, weil das Schicksal es bös mit ihnen meinte? Wer bestimmt die Kriterien? Wer sagt, wo es aufhören soll?“

„Das tun wir aber: Wir legen staatliche Grenzen fest.“

„Ja. Aber das ist nur das Symptom einer defizitären Gesellschaft.“

„Ja. Die Pathologie der Gesellschaft zwingt den Staat zum Eingriff. Am besten, es gäbe gar keinen Staat.“

„Das wäre der Fall, wenn die Menschen nicht so verkommen wären.“

„Die Conditio Humana fordert uns einen Staat zu gründen, der eine Struktur vorgibt, die den Menschen zum bessren erzieht. Das ist doch nur wünschenswert.“

„Bist du sicher? Du willst eine Ordnung, in der alle gleich viel (Geld und Machtmittel) bekommen, unabhängig von Eignung, Beitrag, Verantwortung? Eine solche Gesellschaft wäre nicht gerecht, sondern gleichgültig – gegenüber Unterschied, Exzellenz, Leistung. Schlimmer: Sie wäre ineffizient und würde allen schaden. Das wäre eine Lose-lose-Situation.“

„Wenn ein Doktor achtmal so viel verdient wie eine Krankenschwester und es vor 40 Jahren noch das Dreifache war, dann hat sich etwas verschoben. Dasselbe gilt für die Partner in einer Kanzlei. Das sind immer größer werdende Abstände – die dazu führen, dass sich Milieus wieder in Klassen verwandeln.

Hier wirkt nicht mehr Luhmanns autopoietische Funktionalität, die sich die Teilsysteme entfalten lässt, hier verschläft sich der von Marx und Althusser beschriebene Klassenkampf. Es ist jene Dynamik, die Lacan beschrieben hat: Das Selbst höhlt sich aus und entwickelt ein falsches Ideal-Ich: Jeder Mann will Milliardär sein und jede Frau Pin-Up-Girl – und zwar nicht, weil sich das einfach so entwickelt hat, sondern weil es forciert worden ist von einer Industrie, die das Schlechteste im Menschen anspricht, und zwar systematisch. Es werden Produkte hergestellt, mit denen ich mich selbst belügen kann und Ideale aufgebaut, denen nur die wenigsten gerecht werden können – vom Entrepreneur, der nichts anderes ist als ein arischer Übermensch, zwei Meter groß, reich und mit einem Kinn aus Granit.

Derweil schaut jede Frau jeden Morgen in den Spiegel und fragt: Spieglein, Spieglein an der Wand: wer ist die Schönste im Land? Aber der Spiegel lacht sie nur aus und sagt: Du bestimmst nicht! Und im Spiegel – da sitzt der Mann mit dem Kinn aus Granit.“

„Ja. Da ist was dran.“

„Das treibt die Menschen und nicht Rationalität und Funktionalität – es ist wild und frei und irrsinnig ungerecht. Das Psychische ist konfiguriert wie in Mary Shelleys Roman Frankenstein: Dr. Frankenstein erschafft ein Monster aus den Leichenteilen alter Körper, die er auf dem Friedhof findet. Doch das Monster ist sein wahres Selbst – das Ding jenseits des Granit-Kinns, jenseits des Spiegels. Das wahre, kaputte, zusammengeschusterte Ich, das fragil und brüchig ist. Und gerade nicht das Instagramm-Ich mit dem Filter drüber. Das, was wir verdrängen: Der Grund, warum wir all die Scheiße kaufen, die wir uns aufs Gesicht oder den Pimmel schmieren. Dr. Frankensein – das ist Freuds Über-Ich: Die Projektion, der wir nie gerecht werden. Das Monster aber – das ist die Wahrheit. Die eigentliche Conditio Humana.“

„Ja, wir sind innerlich gespaltene Wesen, die ihre Konflikte neurotisch ausagieren und sie nicht aussprechen – davon lebt die Werbeindustrie. Das ist bekannt. Aber ist sie schuld daran? Um deine Bilder zu gebrauchen: Nimm den Nosferatu, den lebenden Toten, den Vampir. Was ist das anderes als das kultivierte, wohlhabende Monster – eine elitäre Variante des Hedonismus.

„Und?“

„Ja und auf der anderen Seite? Die Armen. Eine Armee von hirnlosen Zombies, die auch auf ihre Weise nach Unsterblichkeit streben und die Ekstase suchen. Extremer fraglos – aber im Kern sind sie dasselbe. Das meinst du doch: Dr. Frankenstein und sein Monster sind eins. Über-Ich und Es bilden nach Freud eine Einheit. Dein Beispiel zeigt das!

Aber müssen wir da nicht vom Einzelnen ebenso auf die Gesellschaft schließen? Ist das nicht miteinander verzahnt? Ist der Vampir nicht das, was der Zombie gerne wäre? Ist der Zombie nicht das, was der Vampir nicht sein kann, aber gerne leben würde? Lebt der Vampir nicht von individualisiert Kapitalmacht und der Zombie nicht von kollektivem Luststreben – braucht nicht der eine den anderen, um mit dem versorgt zu werden, was er will? Wer ist hier also der Parasit – nicht beide einander? Ich behaupte:Der Reiche und der Arme bilden nun ebenso eine perverse, hedonistische Symbiose wie Über-Ich und Es im Freudianischen Instanzen-Modell. Keiner ist da besser als der andere.“

„Du hast schon ein bisschen Recht. Das gebe ich wohl zu. Die Krankenschwester entspricht dem Zombie und der Doktor dem Vampir. Und das Ich, der Mittelstand verschwindet und wird zerrieben – das kann man schon parallelisieren.“

Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust,

die eine will sich von der andern trennen:

Die eine hält in derber Liebeslust

sich an die Welt mit klammernden Organen;

die andre hebt gewaltsam sich vom Dust

zu den Gefilden hoher Ahnen.

Faust 1, Vers 1112 - 1117; Vor dem Tor.

„Um wieder in den politischen Diskurs zu kommen: Man muss aufpassen, das Kind nicht mit dem Bade auszuschütten. Dass Reichtum nicht vollständig auf Leistung beruht, ist wahr – aber daraus folgt nicht, dass Reichtum illegitim ist. Im Gegenteil: Gerade, weil Menschen unterschiedlich sind – genetisch, charakterlich, kulturell – ist Ungleichheit bis zu einem gewissen Grad folgerichtige Konsequenz von Freiheit.

Die Frage ist nicht: Wie verhindern wir, dass Genetik zu Reichtum führt? Sondern: Wie organisieren wir eine Gesellschaft, in der diese Unterschiede produktiv, friedlich und für alle nutzbar werden?“

„Und wir vergessen, dass alles psychische Gründe hat.“

„Was sollen wir den tun? Das Volk einer Massentherapie unterziehen? Lass uns pragmatisch sein und auf das Machbare schauen.“

„Ja okay. Seien wir pragmatisch: Du hast von Chancengleichheit gesprochen: Aber genau diese Chancengleichheit ist angesichts der extremen Gefälle zwischen Prekariat und Elite in zunehmender Auflösung begriffen. In deinen Worten: Man ist in sein Vampir- oder Zombiedasein verdammt worden – und das gilt für beide Seiten, aufgrund von Habitus und Ausbildung. Es ist eine Art Klassenschicksal.“

„Ja. Du hast Althusser gelesen. Das habe ich verstanden.“

„Und er hat Recht!“

„Also was ich will, ist ein gerechtes System. Ein gerechtes System erkennt an, dass Begabung verteilt ist – und schafft institutionelle Wege, wie daraus Wohlstand für viele (Zombies) entstehen kann. Kapitalakkumulation ist nicht das Problem, solange sie nicht rentistisch wird. Im Gegenteil: Wer mehr kann, darf auch mehr haben (und Vampir werden) – wenn er damit mehr schafft. Das ist kein moralisches Urteil, sondern ein ökonomisches Funktionsprinzip. Und es ist empirisch belegbar, dass Leistungsanreize – in der Forschung, in der Innovation, im Unternehmertum – entscheidend davon abhängen, dass sich Erfolg auch materiell auszahlt.“

„Nicht renitistisch also? Rentistisch nennt man, soweit ich weiß, Einkommen, das nicht durch eigene Arbeit oder unternehmerisches Risiko entsteht, sondern allein durch den Besitz knapper Güter – etwa Land, Kapital, Wohnraum oder Patente. Rentistische Vermögen wachsen nicht durch Leistung, sondern durch das bloße, vampiristische Abschöpfen von Erträgen, die irgendwelche Arbeitszombies erwirtschaften.

Der Begriff steht im Gegensatz zu produktivem Einkommen und beschreibt eine Form struktureller Ungleichheit durch Eigentum. Kurzgesagt: Erbe. Also etwas, das man durch sein Blut übertragen bekommt – wie passend für die Metapher.“

„Ja. Aber wenn du da herangehen willst, musst du nicht weniger als die Seele des Menschen selbst umfurchen – du musst am Ende seine Freiheit wegraffen und ihn zum Kollektivgeist machen, ohne familiäre Bindung.“

„Wäre das schlecht?“

„Dann wären wir Ghule – heimatlose Zwischenwesen, weder Vampir noch Zombie, halb-bewusst und sich von Leichenteilen ernährend.“

„Klingt auch nicht gerade sonderlich appetitlich.“

„Wie gesagt – das meint: Das Kind mit dem Bade ausgießen. Der Staat sollte nicht Gleichheit herstellen, sondern Chancen öffnen – und dafür sorgen, dass Kapital mobil bleibt, nicht vererbt wird, dass Netzwerke zugänglich bleiben, nicht abgeschlossen, dass Bildung Durchlässigkeit schafft, nicht Standesbewusstsein. Der Anspruch kann nicht sein, alle Unterschiede zu nivellieren – sondern sie fair zu verwalten, ohne Ressentiment und ohne Romantisierung der Armut.“

„Also, die untere Grenze der Definition von Mittelschicht liegt bei einem Solo-Einkommen von 1.850 Euro netto, die obere bei 3.470 Euro. In diesen Bereich fällt in Deutschland jeder Zweite. Der Median liegt bei 2.300.

Aber: Der an der oberen Grenze hat ja beinahe das Doppelte desjenigen, der an der unteren Grenze ist. Das ist ein völlig anderes Leben: Der eine hat im Monat 1.600 Euro mehr! Wieder einmal wurde hier am Zahlenregler rumgedreht, um es schön aussehen zu lassen.“

„Ja. Da ist vielleicht wirklich ein bisschen was aus dem Lot geraten. Wir brauchen eine starke Mittelschicht, die das repräsentiert, was Freud das Ich nannte: Das Rückgrat der Gesellschaft. Das ist schon wahr.“

„Mit 5800 Euro gehört man zu den obersten 4%! Man muss sich angesichts dessen mal klarmachen, wie viele junge Menschen sich erhoffen, dereinst 8.000 Euro im Monat zu verdienen – Studien zeigen, dass es sehr viele sind. Den Zahn muss man ziehen: Mit Einkommen wird man (in aller Regel) nicht reich. Reichwerden geht eigentlich nur noch über Erbschaft. Will sagen: Man muss als Vampir geboren sein – als Zombiekind braucht man es gar nicht erst zu versuchen.“

„Und trotzdem denkt jeder, er gehört zur Mitte – während er bei Aldi einkauft und ein gebrauchtes iPhone besitzt.“

„Ja. Das spricht doch für meine Argumentation. Selbst ein relativ Reicher, der 5.000 Euro im Monat verdient, benötigt, nach Abzug der Lebenskosten, zwei Jahre, bis er sich mit Müh und Not einen 3er-BMW leisten kann. Sein Nachbar erbt ihn einfach.“

„Der Punkt ist doch: Die Reichen stufen sich nach unten, weil sie Hafermilch trinken und Second-Hand tragen. Die Armen stufen sich nach oben, weil sie Netflix haben. Das Bewusstsein ist verwirrt – aber die Eigentumsverhältnisse sind glasklar. Es ist eine Sache der Einstellung – des Innerpsychischen und der Entscheidung darüber, wie ich die Welt wahrnehme.“

„Das will ich gar nicht abstreiten. Aber Wahrnehmung ist doch von außen geprägt: Warum will ich denn unbedingt den 3er-BMW?“

„Na ja. Aus demselben Grund, warum ich ein Einfamilienhaus will.“

„Da musst du dann schon 20 Jahre sparen – es sei denn du erbst: Wieder dasselbe.“

„Ja. Da muss mal halt sparen.“

„Ja, aber um überhaupt 20 Jahre sparen zu können, muss ich doch schon zu den 4% der am besten verdienenden gehören, du Depp – und vor allem, die ganze Zeit über in diesem Einkommenssegment bleiben. Man muss also in der Industrie oder Pharmazie in einer leitenden Position sein – oder sowas in der Art.

Und stell dir mal vor, da kommt einer von den Obersten daher und sagt dir im Vertrauen: Wenn du nicht so machst, wie wir dir sagen, dann verlierst du deine Karriere. Also erzähl der Presse mal dies und das! Da frag ich dich: Kann bei diesem Druck ein gesundes System am Ende herauskommen?“

„Ja. Das ist wohl wahr. Das muss man schon ändern.“

„Das gilt auch für Baukredite – ohne 20% Eigenkapital bekommst du den gar nicht.“

„Ja, aber was tun denn die ganzen Armen? Solidarisieren sie sich? Nein. Sie laufen den Erfolgs-Coaches auf Instagram hinterher und träumen davon genauso asozial mit dem Geld herumzuwerfen und sich dicke Autos zu kaufen wie die Manager-Vampirfürsten der großen Unternehmen.“

„Man muss eben einfach die Einkommenssteuer senken.“

„Das ist ein Thema für sich. Das Steuersystem ist völlig idiotisch aufgebaut – an etlichen Stellen. Das kann niemand bestreiten. Da rennst du bei mir offene Türen ein.“

„Ich will aber schon den Spitzensteuersatz für Leute, die eine Millionen verdienen, auf 75% setzen.“

„Und was soll das bringen? Das konsolidiert den Haushalt, sicher, aber es senkt die Motivation und führt zu anderen Steuermodellen oder gar Steuerflucht. Es bringt Einnahmen – aber Steuern sind nicht zweckgebunden. Wenn die Linke an der Macht ist, geht das alles für irgendeinen woken Quatsch drauf und strukturell wird da nichts wirklich sinnvolles gemacht – Sexualkundeunterreicht im Kindergarten vielleicht.“

„Fakt ist jedenfalls: Die Mittelschicht schrumpft – und wird gleichzeitig zur moralischen Kulisse der Nation verklärt. Sie wird romantisiert und immer breiter definiert, weil jeder dazugehören will – zumindest assoziativ.

Aber die Wahrheit der wirtschaftlichen Realitäten sieht ganz anders aus. Eine Oxpham-Studie zeigt: Acht Männer besitzen mehr als die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung. Und währenddessen singen deutsche Wirtschaftszeitungen Loblieder auf den liberalen Mittelstand.“

„Ja. Das hängt eben am Einzelnen, der da seine persönliche Lebenslüge lebt. Und wer höhere Löhne will, der soll sich in Gewerkschaften organisieren – wofür gibt es Tarifökonomie. Der Staat stellt doch sämtliche Mittel rechtlich zur Verfügung.“

„Natürlich. Der Staat ist auf der Seite der Mittellosen und nicht auf der Seite der Reichen. Guter Witz! Wo hat Friedrich Merz nochmal gearbeitet, bevor er Kanzler wurde?“

„Er ist aber gewählt worden.“

„Woran man erkennen kann, wie verzweifelt die Menschen gewesen sein müssen.“

„Warum sind die denn verzweifelt – wir leben in einem reichen Land, voller Chancen: Im Internet gibt es so viel kostenlose Bildung. Ich kann mir als Bürgergeldempfänger den ganzen Tag Bildungsinhalte reinziehen – oder eben billige Karlkrone von Aldi. Das ist ganz allein meine Entscheidung.“

„Ach! Das ist doch kein Zufall, sondern ein systemischer Verdrängungsmechanismus. Die Medien liefern die tägliche Dosis Selbsttäuschung: Irgendwas mit Mindset, irgendwas mit Durchhalten, irgendwas mit Aufstieg. Aber alle realen Strukturen – Schule, Wohnung, Kredit, Erbschaft – sind längst festbetoniert.“

„Das zeigt sich nicht nur bei den Reichen. Denk ans Ahrtal. Die Leute dort haben in der Flut 2021 alles verloren – Häuser, Erinnerungen, ganze Existenzen. Der Punkt ist aber: Diese Familien waren vorher auch nicht besser als die Superreichen – nur weniger wirkmächtig. Sie wollten das Beste für sich, haben Steuervorteile genutzt, Förderungen abgegriffen, auf die Migranten und Bürgergeldempfänger geschimpft – und sich nie für andere eingesetzt, außer es sieht gerade jemand und steigert so ihr Ansehen… Und jetzt, plötzlich, rufen sie nach Gemeinschaft und Staat, verlangen nach Solidarität und Beistand. Das ist das Tragische: Die Heuchelei ist sozial flächendeckend. Sie kommt von ganz unten. Nicht von oben.

Sie zeigt sich in den Wahlergebnissen. Was da entsteht, ist ein hybrider Volksgeist: halb Opfer, halb Gier – halb Heimat, halb Ego – halb Sofa, halb Reichskriegsflagge. Heraus kommt so etwas wie Friedrich Merz – eine Politikerfigur mit dem Charisma eines Steuersparmodells und der moralischen Elastizität eines Stretchanzugs. Er ist nicht das Problem – er ist das Produkt.“

„Das strukturelle Produkt wohlbemerkt. Genau wie der Feudalherr des Mittelalters. Früher: ein paar Großgrundbesitzer mit Leibeigenen. Heute: ein paar Digitalkonzerne mit Mietern. Der Boden ist nur nicht mehr ein physischer, sondern digitaler – Daten, Plattformen, Clouds. Und wir zahlen Pacht in Form von Klicks, Likes, Abos und steigenden Mieten.“

„Die Politiker von heute – das sind die Dämonenfürsten einer säkular-satanischen Eigentumsordnung. Metaphorisch gesprochen. Ihr Besitz ist religiös überhöht – er darf nicht angetastet werden. Sie verteidigen ihn mit Ideologien: Jeder ist seines Glückes Schmied. Wer nichts hat, hat eben zu wenig geackert. Dass das System vorher die Hacke wegnimmt – geschenkt.“

„Da ist was dran. Ich will es nicht abstreiten. Das erkennt man besonders gut an den reichsten Familien Deutschlands: Familie Böhringer Ingelheim und Familie von Baumbach. Kaum jemand kennt sie – kein Fernsehauftritt, kein Interview, kein Instagram. Warum auch? Ihr Eigenkapital liegt zwischen 50 und 100 Milliarden Euro – als sogenanntes gebundenes Familienvermögen.“

„Gebundenes Familienvermögen?“

„Das bedeutet: Es ist kein Geld auf dem Konto: Es sind Anteile an der Firma, Stiftungen, Rechte, Immobilien, Beteiligungen – sauber juristisch eingebettet in Strukturen, die kaum besteuert werden. Und keiner weiß genau, wie viel es wirklich ist – denn es gibt keine offiziellen Stellen, die das prüfen dürfen.“

„Warum wird das nicht geprüft?“

„Tja. Die offizielle Begründung lautet: Das wäre zu aufwändig. Zu teuer.“

„Aber vom Bürgergeldempfänger wissen wir, wie viele Kippen in der Zigarettenschachtel noch übrig sind, wenn der Monat zu Ende geht – und die halb-angerauchten Kippen im Aschenbecher werden mitgezählt!“

„Das ist schon richtig. Da stimmt was nicht.“

„Ja! Und da frage ich mich eben: Das soll jetzt kein strukturelles Problem sein? Was, um alles in der Welt, ist denn dann überhaupt je ein strukturelles Problem?“

„Da würde ich schon um Präzision bitten: Die Krise verschärft die aus den individuellen Beziehungen hervorgegangenen Strukturen und macht sie in ihrer Dramatik präsent. Sie legt offen, was vorher diffus war – familiäre Besitzverhältnisse, kulturelle Codes, Loyalitäten, Feindbilder.“

„So argumentiert auch Marx. Konflikte verschärfen sich, und aus dem Widerspruch der Klassen treten die verborgenen Strukturen hervor.“

„Mir gefällt der späte Marx besser. Der, der den ökonomischen Determinismus verlässt. Der eher fragt, wie Dynamiken wirken – nicht nur, wie Geschichte zwangsläufig abläuft. Der dialektisch bleibt, statt mechanisch-deterministisch.“

„Aber es ist doch eindeutig: In der Corona-Krise sind die Reichen reicher geworden, und im Krieg noch reicher. Energiekrise, Inflation – und wer profitiert? Aktienbesitzer, Waffenlobby, Großinvestoren. Das war historisch immer so gewesen. Bis es zur Katastrophe kam.

Beispiel: Nach dem Ersten Weltkrieg kam es zum Totalverlust des Kapitals – und zur Chance auf einen echten Neuanfang. Matthias Erzberger, von der Zentrumspartei, wollte damals, zur Zeit der Weimarer Republik, durch Kriegsgewinnsteuer, Besitz- und Vermögensabgabe die monarchischen Vermögensstrukturen brechen. Das war der erste, echte Versuch einer demokratischen Vermögensumverteilung.“

„Und was ist passiert?“

„Er wurde erschossen. 1921. Von Freikorps-Leuten. Weil er als Vaterlandsverräter galt – in Wahrheit war er eine Gefahr fürs Kapital.“

„Tragisch.“

„Nach dem Zweiten Weltkrieg war es wieder dasselbe: Zerstörung, Krise, neue Chance. Aber diesmal war es perfider.“

„Weil die Täter bleiben durften.“

„Ja. Lies mal das Buch Braunes Erbe. Ein Großteil des nationalsozialistischen Vermögens wurde nie enteignet. Großspenden aus der Wirtschaft – z.B. von Flick, Krupp, Quandt – haben die NSDAP groß gemacht. Und nach dem Krieg gab es keine strukturelle Abrechnung, sondern Rebranding. Die Nazis gingen – das Geld blieb. Die alten Familien erfanden sich neu und entdeckten Benefizveranstaltungen, das Fernsehen und die Bild-Zeitung. Der Aufstieg des Marketings zur Leitdisziplin der Betriebswirtschaftslehre hatte begonnen. Alles war möglich – man musste es nur richtig bewerben.“

„IG Farben.“

„Ein Paradebeispiel. Chemieindustrie, Sklavenarbeit, Zwangsarbeiterlager in Auschwitz. Die Firma wurde aufgelöst – die Vorstände nicht. Sie wechselten einfach die Visitenkarten. Höchstens ein paar Monate Gefängnis. Der Besitz floss in Familienstiftungen, Nachfolgefirmen, politische Netzwerke. Ein Vorgang, der verschwiegen wird – für die entsprechende Summe. Das ist nicht Marx’ linearer Fortschritt – das ist ein Pendelschlag der Geschichte, ein Rückfall in feudale Dynastien.“

„Also war es nie anders? Es war immer ein Pendel, nie eine Bewegung nach vorn.“

„Ja, aber das bedeutet nicht, dass es nicht anders sein kann.“

„Das stimmt.“

„80% des Vermögens in Deutschland ist vererbt. Wir leben in einer Erbengesellschaft – nicht in einer Leistungsgesellschaft. Ähnlich global: Der globale Norden produziert 90% des CO₂ – und der Süden trägt 90% der Folgen. Die strukturelle Asymmetrie bleibt bestehen – egal welches Narrativ gerade kursiert.Daher ist der Mittelstand tatsächlich eine Gruppe von Ghulen, die sich von Leichen ernährt – den Leichen der Kinder der dritten Welt“

„Und du meinst, wenn die Armen an der Macht wären, wäre es besser?“

„Nein. Weil es in den Köpfen sitzt. Strukturell. Wir glauben wirklich, Fortschritt sei gleich Rakete. Dass wir ins All fliegen müssen, um zu überleben – und dabei verbraucht ein zehnminütiger suborbitaler Ausflug von Elon Musk so viel CO₂ wie ein Mensch aus dem globalen Süden in einem ganzen Leben.“

„Vielleicht ist der Himmel gar kein Ziel mehr – sondern nur noch ein Spiegel.“

„Du drehst es immer so, als sei der Einzelne verantwortlich.“

„Nein – ich beschreibe Dynamiken. Und Dynamiken entstehen aus Geschichte. Nimm das Beispiel der späten römischen Republik. Die Proskriptionen unter Lucius Cornelius Sulla waren kein isoliertes Gewaltphänomen. Sie waren Ausdruck einer über Jahrzehnte gewachsenen inneren Zerrüttung: Klassenkonflikte, Verteilungskrisen, institutioneller Verfall. Gewalt ist nie einfach aus dem Himmel gefallen. Sie war immer multikausal und dynamisch.“

„Sie hat aber dennoch einen strukturellen Hintergrund.“

„Richtig – aber entscheidend ist, wie sich dieser Hintergrund entfaltet und wie seine Genese konfiguriert ist. Sulla war kein Ursprung, sondern ein Symptom. Die römische Republik hatte ihre Bindekräfte verloren, als er an die Macht kam. Schon im 2.Jahrhundert v.Chr. häuften sich die Ressourcenkonflikte. Der römische Expansionismus führte zu einer zunehmenden Konzentration von Reichtum in den Händen weniger – während breite Schichten der freien Bürger, insbesondere die kleinbäuerliche Plebs, in die Verarmung rutschten – auch weil Großgrundbesitzer ihre Ländereien aufkauften und bündelten. Es gab auch Konflikte zwischen den alten Adelshäusern und den aufsteigenden Proletariern, die sich den Weg in die Ämterlaufbahn erstritten hatten und sogar Konsuln werden konnten.“

„Genau. Und auf die Massenenteignung durch die Nobilität reagierten Tiberius und Gaius Gracchus – die Gracchenbrüder – mit legislativen Versuchen, die soziale Spaltung abzumildern.“

„Ja, aber die konnten auch nur in Erscheinung treten, weil es ein Bewusstsein für die Ungerechtigkeit gab und weil sich aus der Dynamik der Ständekämpfe das Amt des Volkstribuns überhaupt hatte etablieren können. Ihr Ziel war dabei eine Begrenzung des Landbesitzes, plus Umverteilung und soziale Integration der verarmten Bürger.“

„Wie bei Erzberger.“

„Die Parallelen sind in der Tat erstaunlich: Beide Grachenbrüder wurden ermordet – nicht aus Privatinteresse, sondern weil sie die Besitzordnung infrage stellten. Der politische Mord wurde zu einem Mittel der strukturellen Selbstbehauptung.“

„Eben: Wie bei Erzberger.“

„Nicht nur das. Wir haben hier vor uns auch ein Beispiel für das Tocqueville-Paradoxon: Der Moment der Reform erzeugt nicht Beruhigung, sondern Revolte – weil er Hoffnung schafft, die dann enttäuscht wird.“

„Aber die Revolte kam doch in Gestalt von Diktatoren: Sulla und Cäsar.“

„Ganz recht. Das ist eben Dynamik. Der römische Bürger verliert sein Land, zieht in die Stadt, ist politisch instabil in seinen Ansichten und ökonomisch abhängig. Die Macht verschiebt sich: Wer Getreide verteilt, hat Einfluss – und kann Preise diktieren. Wer die städtische Masse kontrolliert, kann Druck auf Senat und Magistrate ausüben. Der Bauer wird König. Es entsteht Landadel: Großgrundbesitz. Macht und Vermögen akkumulieren sich. Das Prekariat wird größer. An den Grenzen kommt es zu Konflikten mit anderen Völkern. Rom muss reagieren. Die Heeresreform des Marius diszipliniert die Truppen – deren Soldaten aus der verarmten Landbevölkerung stammen und ein neues stoisches Ideal entdecken. Ihre Disziplin verleiht ihnen sowohl eine Identität als auch einen Hebel in Verhandlungen mit den Herrschenden – der neue Adel muss reagieren und ihnen Land zusprechen. Ein Militärstaat entsteht und der Feldherr wird unantastbar und übermächtig. Nicht lange und da steht ein Cäsar vor dem Volk und nennt sich Imperator.“

„Eine neue, gefährliche Feudalstruktur formiert sich und wird von den Reichen perpetuiert.“

„Aber die ist auch nur dynamisch eingebettet in multifaktoriellen Verschiebungen sozialer Plattentektonik.“

„Und dennoch bleibt die tieferliegende Struktur dominant. Der Grundkonflikt zwischen Grundbesitzenden und Besitzlosen ist die Matrix, in der sich auch der Kampf zwischen Sklaven und Herren vollzieht. Rom war auf externe Expansion angewiesen – nicht nur, um Ressourcen zu sichern, sondern um innere Konflikte zu externalisieren. In den punischen Kriegen mag es noch um Selbstbehauptung und Landesverteidigung gegangen sein, aber spätesten nach dem Zusammenbruch der Republik ging es nur noch um Stabilisierung durch Brot, Spiele und militärisch-imperialistische Heldenmythologie. Auf die Spitze getrieben durch Commodus – dessen inszenierte Gladiatorenauftritte mit wilden Tieren und irrsinnigen Zirkusvorführungen führten zu Spott und Unverständnis bei den Senatoren und einem Teil der Bevölkerung. Trotzdem feierte er sich als unbesiegbar und ließ sogar die Stadt Rom nach sich benennen, was seine zunehmende Entfremdung von der römischen Gesellschaft verdeutlichte. Im Jahr 192 wurde er erdrosselt.“

„Ja. Das ist wahr. Deshalb wurde die physische Invasion zur strukturellen Lösung. Die Expansion des Reiches war kein Zufall – sie war Notwendigkeit. Denn interne Reformen gefährdeten die Besitzverhältnisse, während externe Kriege sie stabilisierten. Commodus war ebenso ein Symptom seiner Zeit wie es heute die irren Reichen sind, die von sich glauben, sie seine die besten Manager und Vermögensverwalter, die man sich nur denken kann. Und was für Rom Expansion war, ist für uns heute die Rendite.“

„Was ich ja so bemerkenswert finde, ist, dass es eigentlich so gut wie gar keinen echten technologischen Fortschritt gegeben hat über all die Jahrhunderte des römischen Reiches – also schon im Bauwesen, weil man besseren Lehm herstellen konnte. Aber ich meine eben keinen großflächigen: Es gab beispielsweise keine Veränderung der landwirtschaftlichen Strukturen.“

„Ein interessantes Beispiel: Man hätte Windmühlen bauen können – das Wissen war da. Aber es gab keine ökonomische Notwendigkeit: Es gab Sklaven. Wie später in den Südstaaten der USA, wo die Sklavenökonomie Innovation verzögerte. Arbeitskraft war billig – warum mechanisieren? Der Fortschritt wurde blockiert, weil er bestehende Machtverhältnisse unterlaufen hätte.“

„Ja eben. Das ist wieder dieses Strukturelle.“

„Aber Rom hat auch reagiert. Die Heeresreform des Marius um 107v.Chr. (ich hatte es erwähnt) war eine tektonische Verschiebung. Marius hob das Prinzip auf, dass nur Landbesitzer zum Militärdienst verpflichtet waren, und öffnete das Heer für besitzlose Proletarier. Damit stieg die Bedeutung des Feldherrn, denn dieser sorgte nun für Sold, Beute und Versorgung im Alter. Die Loyalität der Legionäre verschob sich vom Staat zur Person des Generals.“

„Und das war der Anfang vom Ende der Republik.“

„Wie gesagt: Es bereitete den Boden für Figuren wie Sulla, aber auch für Marcus Licinius Crassus – Multimilliardär der Antike, Förderer des Julius Caesar – und für Caesar selbst, der die Erbmasse dieser Verschiebungen aufnahm oder genauer, an sich riss. Seine Macht war irgendwann so groß, dass er ermordet wurde – worauf sich die Mörder zerstritten und die Machtfrage Jahre lang ungeklärt blieb – bis Augustus sich durchsetzen konnte.“

„Ein Vorfahre des irren Commodus.“

„Nach Caesars Tod wurde das Kaisertum zur neuen Ordnungsform. Es stabilisierte nicht nur die politische Struktur, sondern ermöglichte zeitweise enorme Blüten: Zentralisierte Bildung, systematischer Straßenbau, infrastrukturelle Durchdringung – all das war nur möglich durch die extreme Konzentration von Macht und Reichtum.“

„Die Superreichen haben keine Reflexion – niemand fordert sie heraus, da sie nur von Jasagern umgeben sind. Damals wie heute. Sie handeln wie Götter – und denken wie Steuerberater. Zwanzig Unternehmen sind für 35% der weltweiten CO₂-Emissionen verantwortlich. Alles Öl-, Gas- und Kohlekonzerne. Komisch eigentlich, dass ausgerechnet Öl so zentral für die Kriegsindustrie ist. Kein Windrad treibt einen Panzer an.“

„Das stimmt. Und das Ergebnis ist bitter. Entwicklungszusammenarbeit, Schuldenerlasse, echter Klimaschutz – alles bleibt aus. Währenddessen steigen die Todeszahlen im globalen Süden: Hunger, Dürren, Flutkatastrophen. Und das perfide: Weil so viele Arme sterben, sinkt in der Statistik die absolute Zahl der Armen. Das Elend verschwindet – indem es stirbt.“

„Und wir feiern uns für unseren Erfolg.“

„Und das ist eben nicht bloß Struktur – das ist Natur. Der Mensch ist so. Frauen und Kinder sterben laut UN 14-mal häufiger bei Naturkatastrophen als Männer. Warum?“

„Weil sie zuletzt fliehen, weniger Schutz haben, strukturell abhängig sind. Das hat nichts mit individuellem Fehlverhalten zu tun.“

„Es ist eingebrannt in ein globales System der Sünde, das die Einzelnen geschaffen haben.“

„Sünde?“

„Ja. Die Sünder der Lüge – vor allem des Selbstbetrugs: Alles ist Lüge – aber die Menschen wollen die Lüge. Sie wählen sie. Sie verteidigen sie. Erst wenn der äußere Impuls stark genug ist, kommt Bewegung. Heute lebt in Deutschland jedes sechste Kind in Armut – das sind Millionen. Früher haben sich die Kinder in der Schule für ihren Mangel an Ressourcen noch geschämt. Heute ist es einfach zu groß, um noch zu schockieren: Wenn jedes dritte Kind sich die Klassenfahrt nicht mehr leisten kann, kippt e bald und die anderen zwei Drittel schämen sich – der Mittelstand als Puffer fehlt.“

„Aber was passiert stattdessen? Die Armen und die Migranten werden zusammengefasst. Zusammengedrückt. Auf denselben Raum, in dieselben Schulbezirke, mit denselben Kürzungen.“

„Und das wird nicht von Rechten organisiert – sondern von denen, die sich für den Klimaschutz einsetzen. Die gleichen grünen und linken Gemeinderatsmitglieder, die für emissionsfreie Stadtbusse kämpfen, stimmen auf kommunaler Ebene der Unterbringung von Geflüchteten in Vierteln zu, in denen die höchste Armutsquote herrscht. Weil dort der Widerstand am geringsten ist – und weil man sich dort nicht wehrt.“

„Die moralische Energie geht nach oben – die strukturelle Gewalt nach unten.“

„Ja. Die öffentliche Erzählung ist: Wir kämpfen für das Klima. Die Realität ist: Wir verteilen Migrantenkinder auf Problemschulen mit überforderten Lehrern, überfüllten Klassen, leerem Frühstückstisch. Weil es einfacher ist, strukturelle Verantwortung moralisch zu übermalen. Man will gut sein – aber nicht um jeden Preis.“

„Und das nennt sich dann Gerechtigkeit.“

„Die Welt ist nicht nur nicht gerecht – schlimmer, wäre sie gerecht, so würde sie brennen.“

„Die Bundestagswahlen sind vielleicht ein Indikator dafür, dass wir wieder an einem historischen Kipppunkt stehen – wie 1939. Wirtschaftskrisen, Disparitäten, politische Ratlosigkeit. Das führt nicht zu echten Lösungen, sondern zu Verschärfungen.“

„Man muss doch den historischen Hintergrund bedenken: Der Osten Deutschlands wurde nach der Wende nicht integriert, sondern an den Meistbietenden verkauft. Die Treuhand hat 85% der DDR-Betriebe an westdeutsche Investoren übergeben. Rücklagen, Immobilien, industrielle Infrastruktur – alles abgezogen. Der Osten blieb entwertet zurück – ökonomisch wie kulturell.“

„Und dennoch lässt sich in dieser Entwertung eine Struktur erkennen: Es gibt heute eine funktionale Ausfächerung der Eliten. Wirtschaftseliten, Medieneliten, Beamtenapparate, politische Klasse – mit zum Teil überlappenden Interessenfeldern. Diese überlagern sich, beeinflussen sich gegenseitig, sichern sich Zugänge.“

„Aber genau dort liegt das Problem: Der Konflikt wird verdrängt – aber nicht gelöst. Arbeitslose schieben ihre Wut auf Migranten. Geringverdiener schimpfen auf Bürgergeldempfänger. Der Kleinunternehmer auf den Beamten, der Beamte auf den Klimakleber. Niemand attackiert das System – also attackiert man sich gegenseitig. Hans-Eberhard Richter hat das einmal so beschrieben: Wer nicht leiden will, muss hassen.“

„Und dieser Hass wird kanalisiert – auch medial. Die Deutungshoheit liegt bei einer Elite, die den Ton der Berichterstattung bestimmt. Schau dir die aktuelle Debatte um das Bundesverfassungsgericht an – wie schnell sich die öffentliche Meinung kippen lässt, wenn es um die Berufung einzelner Richterinnen geht.“

„Aber auch innerhalb dieser Elite gibt es Dynamik. Macht ist nicht monolithisch. Es gibt Spannungen, Verschiebungen, Loyalitätswechsel – gerade im Zusammenspiel von Politik, Wirtschaft und Medien. Die Netzwerke funktionieren wie organische Systeme, nicht wie starre Blöcke.“

„Und doch bleiben diese Systeme strukturell geschlossen. Luhmanns Theorie beschreibt das klar: Jedes Teilsystem folgt seiner eigenen Logik – das Recht dem Code legal/illegal, die Politik dem Code Macht/Ohnmacht, die Wirtschaft dem Code zahlen/nicht zahlen. Diese Codes sind nicht kompatibel – deshalb gibt es systematische Übersetzungsfehler.

Zum Beispiel wenn die Politik ein Gesetz beschließt, das rechtlich nicht durchsetzbar ist – weil es dem juristischen System widerspricht. Oder wenn ökonomische Rationalität mit ökologischer Verantwortung kollidiert und die Verwaltung dazwischen zerrieben wird.

Luhmann sagt, das Rechtssystem sei das wichtigste System in der Demokratie – nicht das Parlament. Weil es die politischen Entscheidungen in Gültigkeit übersetzt. Ohne diese juristische Codierung bleibt Politik nur Symbolhandlung.“

„Und deshalb ist es kein Zufall, dass heute de facto die Reichen politische Entscheidungen beeinflussen. Sie haben nicht nur mehr Kapital, sondern auch mehr Wissen, mehr Zugang, mehr strategische Bildung. Die Regierung steuert nicht mehr gegen – weil sie längst Teil dieser Überlappung ist. Merz, Trump, Trudeau, Musk, Starmer – das ist alles dieselbe Person. Irgendein Protegé – und ob der männlich oder weiblich ist, ist eigentlich egal dabei.“

„Aber das war nicht immer so. Es gab Zeiten, in denen der öffentliche Dienst ein Ort des Gemeinwohls war – nicht des Lobbyismus. Doch mit der Zeit wurde der Beamtenstatus zu einer Plattform für Absicherung und Einfluss. Und der Mensch folgt der Versuchung: Wenn das System Selbstbedienung erlaubt, wird es genutzt.“

„Dann ist es also wieder beides: Struktur und Natur.“

„Ja. Und das ist das Tragische. Wir delegieren Verantwortung nach unten – und gleichzeitig wächst oben die Immunität. Es ist ein sich selbst stabilisierendes Ungleichgewicht.“

„Ja. Und genau dadurch bleibt es stabil.“

„Hegemonie entsteht durch Einflussnahme – der Zwang kommt erst später. Wenn man diesen Schritt heute überspringt, etwa mit Wokeness-Programmen, wird es scheitern. Die Eliten versuchen über Narrative den Status quo zu legitimieren und Zwangsmaßnahmen rational erscheinen zu lassen. An der Spitze steht eine Vision vom selbstständigen Schöpfer oder der Trickle-down-Economy – obwohl empirisch längst widerlegt.“

„Genauer: Die Idee funktioniert nicht. Kein Reichtum ist irgendwann einfach zu den Armen durchgedrungen. Und Deutschland hat seinen Wachstums-Peak – über 12% – in den 1960er Jahren erreicht: Im Wirtschaftswunder stieg das BIP pro Kopf um über 7% jährlich – danach ging es konstant runter: 1960–70 waren es 4,4%, in den 70er nur noch 2,9% .

„Die Erklärung ist einfach: Nach dem Krieg wurde die Steuerpolitik als Ausgleichs-Instrument eingesetzt – nicht als Trickle-down-Format. Adenauer und Erhard senkten vorsichtig Marginalsteuersätze, aber gleichzeitig stand der Wiederaufbau im Mittelpunkt. Hoher Konsum- und Investitionsdruck plus Marshall-Hilfen schufen Wachstum – ein echtes Modell der Verteilung, nicht der Reichtumsumleitung.

Die historische Verteilungskurve ist U-förmig. Vor dem Zweiten Weltkrieg gab es, wie heute, viele Arme und wenige Reiche. Dann kam die große Zerstörung und das Kapital war im Wahrsten Sinne des Wortes verfeuert und zerbombt. In den 1980er Jahren schlagen die Reichen zurück – mit steuerlichen Deregulierungen. Viele Studien zu dem Thema belegen, dass man zunächst aus dem Weimarer Debakel gelernt hatte und dementsprechend die soziale Marktwirtschaft konzipierte: 1952 wurde der Lastenausgleich eingeführt, mit einer Vermögensabgabe, die effektiv eine jährliche Vermögenssteuer von etwa 2% entsprach – verteilt auf 30 Jahre. Fast drei Millionen Menschen zahlten, insgesamt wurden ca.60 Milliarden Euro umverteilt.“

„Was würde das heute bringen? Nehmen wir 2% auf Supervermögen ab einer Million Euro: Laut DIW läge das Aufkommen bei 11–25 Milliarden Euro pro Jahr.“

„Eine Simulationsrechnung des Ifo-Instituts über acht Jahre zeigt, dass bei einer Vermögenssteuer von 1 Prozent die Investitionen der inländischen Unternehmen um 11 Prozent zurückgingen, die der ausländischen um 20 Prozent.“

„Schöne Simulation. Nur dass das eben nicht passiert. Und umgekehrt ist auch nicht mehr investiert worden, als man die Vermögenden bevorteilte – siehe: Corona Krise. Das Geld, was die Unternehmen bekommen haben, haben sie verwendet um ihre eigenen Aktien zurückzukaufen und ihr Eigenkapital zu erhöhen – wodurch die Dividenden stiegen und man sich als Anleger noch ein hübsches Häuschen auf Mallorca leisten konnte.“

„ChatGPT schreibt (Zitat): Ein Blick auf vergleichbare Studien verdeutlicht die Größenordnung:

Ein Gutachten des DIW für das Bundesfinanzministerium aus dem Jahr 2016 kam bei einer moderaten Vermögenssteuer von 1% auf große Vermögen – und bei gleichzeitig deutlich höheren Freibeträgen – auf ein Aufkommen von rund 14 bis 20 Milliarden Euro jährlich.

Thomas Piketty wiederum schätzte in einer Analyse für VoxEU (2014), dass eine progressive Vermögenssteuer von 1 bis 2% in Frankreich etwa 2% des Bruttoinlandsprodukts hätte generieren können. Übertragen auf Deutschland würde das rund 70 Milliarden Euro bedeuten – bei vergleichbarer Vermögensverteilung.

Historisch besonders relevant ist auch der Lastenausgleich von 1952, den Albers et al. (2020) als Reaktion auf die Erfahrungen der Weimarer Republik einordnen. Er mobilisierte über Jahrzehnte hinweg eine ähnliche Kapitalmenge – und das in einem Deutschland, das wirtschaftlich deutlich schwächer war. Er entsprach im Kern einer Vermögensabgabe von etwa 2% jährlich über 30 Jahre – und finanzierte damit Wohnraum, Wiederaufbau und Integration der Geflüchteten aus den Ostgebieten.“

„Sehr schön. Diese Beispiele zeigen: Die Besteuerung großer Vermögen war historisch nicht nur möglich, sondern auch wirksam – und sie wäre es heute wieder. Die Gegenargumente sind genauso idiotisch wie die, dass es zu aufwendig wäre die Vermögen der Erichen zu prüfen.

Wir können hier pro Jahr – wenn wir die Erbschaftssteuer ein bisschen anpassen und das Schenkungsrecht ändern – pro Jahr problemlos 100 Milliarden rausholen – und niemand hätte einen Schaden. Denn das sin sehr, sehr moderate Vorschläge, die hier im Raum stehen – es geht nicht um Enteignungen, sondern um ein paar Prozent.

Damit ließen sich Bildung, soziale Förderung, Infrastruktur finanzieren – genau dort, wo seit Jahrzehnten Kürzungen stattfinden: Schulen, Kitas, kommunale Investitionen, Digitalisierung. Stattdessen fehlt es an Einnahmen.

Wir müssen nur formal-logische, wissenschaftliche Prinzipien anwenden, um das zu verstehen. Gemäß Occam's Razor ist diejenige Erklärung, die am meisten erklärt und dafür die wenigsten unbeweisbare Annahmen benötigt die beste. Es ist recht simpel: Weil wir keine Vermögenssteuer haben, bleiben die Haushalte für Bildung und Gesundheit leer. Das schadet allen in der Wirtschaft, da es das Leistungsprinzip untergräbt – und darum haben wir ein geringeres Wirtschaftswachstum als früher (wo es das gab).

Wir können das in etlichen Ländern beobachten, sowohl in Frankreich als auch in Deutschland, den USA und England – tatsächlich ist es in England besonders sichtbar, weil die Politik Thatchers das Land völlig ruiniert hat und das Gefälle von arm und reich derartig groteske Züge annimmt, dass es einem das Blut gefrieren lässt.“

„Und warum haben wir keine mehr?“

Seit 1997 wurde sie nicht mehr erhoben – das Bundesverfassungsgericht erklärte sie für verfassungswidrig.“

„Tja. Wer bestimmt eigentlich, wer ins Bundesverfassungsgericht kommt und wie hier Güter abgewogen werden.“

„Die Eliten.“

„Eben.“

„Politisch will niemand, der von der Hegemonie profitiert, diesen Zugriff auf die Vermögen zulassen. Deshalb gibt es Family Offices, Trusts, Stiftungen – damit exponentielles Vermögenswachstum ungehindert weiterläuft. Das ist die Eigenlogik der Krise, die Ungleichheit strukturell verschärft.“

„Vielleicht ist es aber auch ganz anders und die Eliten würden mehr abgeben, wenn das Volk nicht so verkommen wäre und sich als Führer notgeile, linke Irre gewählt hätte, die allem geilen und faulen Rumtrebern den Freibrief ausstellt und den Hedonismus zur Lebensart erklärt: Spotwetten, Onlyfans und Verfall familiärer Eliten – wer will das alles finanzieren?“

„Das ist nicht ganz falsch – aber die heutigen Eliten, die durch all die Kaufentscheidungen der kleinen Leute an die Macht gekommen ist, lebt doch ebenso für den Hedonismus.“

„Natürlich. Das hat womöglich alles angefangen, mit der Einführung der Pille. Wir haben da schließlich massiv in etwas Fundamentales im menschlichen Beziehungsleben eingegriffen und die Behauptung, das würde schon gut gehen und den Menschen befreien, war womöglich etwas voreilig – gelinde gesagt.“

„Thomas Piketty sagt: Wenn Kapitalrendite höher ist als Wachstum (r > g), konzentriert sich Vermögen – es braucht daher eine höhere Steuer auf Einkommen, Aktien, Erbschaften. Der Reiche macht 7% Rendite und das Wirtschaftswachstum liegt bei 2%. Die Differenz der 5% potenziert sich über Zeit. Schon nach drei Jahren führt die Differenz von 5% zwischen Kapitalrendite und Wirtschaftswachstum zu einem Vermögenszuwachs von rund 16%, nach fünf Jahren fast 30% und nach sieben Jahren über 45% – das ist der stille Motor wachsender Ungleichheit.“

„ChatGPT schreibt (Zitat): Die durchschnittliche Kapitalrendite der Reichen liegt deutlich über dem, was Normalverdiener je erreichen können. Thomas Piketty spricht von einer realen Rendite auf Kapital von 4 bis 5% – bei besonders Vermögenden sogar 6 bis 7% oder mehr. Und das ist konservativ gerechnet. Der UBS/PwC-Billionaires Report zeigt, dass Family Offices – also die professionellen Vermögensverwaltungen reicher Familien – im Schnitt 6 bis 8% Rendite jährlich erzielen: mit Beteiligungen, Immobilien, Private Equity.

„Das ist alles kein Firmenbesitz und auch kein Anlagevermögen.“

„Nein. Ha! Natürlich nicht. Piketty fordert darum etwa 60% Erbschaftssteuer auf Supervermögen. Doch unsere Regierung macht genau das Gegenteil – indem sie Reiche bevorzugt: keine Vermögensteuer, lax beim Erben, Aktienprivilegien. Es ist eine Rückkehr zur sozialen Frage des 19. Jahrhunderts – mit einer kommunistischen Idee als Gegengewicht: Staatliche Enteignung als Antwort auf Privateigentum in extremen Händen.“

„Das erinnert an ein neues Römisches Reich 2.0 – mit Soldatenkaiser-Mentalität: Stabilität durch Militarisierung auf allen Seiten zwecks Sicherung der Ressourcen, bei zunehmender Verarmung. Das Instrument zur Steuerung wird am Ende zu Anstoßstein der Revolution: Wenn ein Soldatenkönig den anderen totschlägt, gehen alle Ressourcen dabei verloren und es ist am Ende nicht genug übrig, um sich nach außen und innen hin stabil zu halten. So ging das römische Reich unter, und so gehen auch wir unter.“

„Am Ende bleibt das Erbe der größte Ungleichheitsfaktor. 80% des Vermögens in Deutschland sind ererbt. Das stellt das liberale Leistungsprinzip infrage. Ulrich Beck nannte das den Fahrstuhleffekt – er beschreibt den starren sozialen Auf‐ und Abstieg, den wir heute haben. Martyna Linertas hat darüber vielfach geschrieben – über Familienstrukturen, über Family Offices und über die vermeintliche Selbstständigkeit des Einzelnen. Ihr Beispiel, das wir hier auch angesprochen haben, als Sentenz des kapitalistischen Grauens: Jeder ist seines Glückes Schmied. Das ist reines ideologisches Narrativ. Es dient der Selbstlegitimierung derjenigen, die alles haben und nichts abgeben wollen.“

„Die vielbeschworene spätrömische Dekadenz betrifft uns alle: Den Reichen, den Armen, den Starken und den Schwachen. Alles ist durch und durch korrumpiert.

Ich will aber für niemand Partei ergreifen und keinem Menschen schmeicheln.

Hiob 32, 21

Eine Vermittlerin kam hinzu, eine dritte Stimme, und sprach: „Ihr habt lange geredet. Klug, gebildet, zornig – ja. Aber euer Streit bewegt sich im Kreis: Ihr sprecht von Besitz, als sei er das Ziel. Von Struktur, als sei sie das Wesen. Von Gerechtigkeit, als sei sie messbar.

Aber ihr redet nicht vom Menschen. Ihr redet nicht vom Staub, aus dem er gemacht ist. Nicht von seiner Angst. Nicht von seinem Stolz.“

Die Dynamik: „Wir reden von Fakten, nicht von Seelen. Der Wandel ist das, was zählt – aus dessen Zauber die tosende Welt stets neu und neu geboren wird. “

Die Vermittlerin: „Und doch geht Wandel nur aus den vorherigen Strukturen hervor – und diese Dialektik muss vermittelt sein durch das Eigensein des in den Staub geworfenen Menschen, der sich entscheidet an das Gute und Gerechte, an den Wandel und das Glück, mit ganzem Herzen zu glauben und dafür zu brennen.

Das eine bedarf stets des anderen. Ein Gesetz ohne Bindung ist eine bloße Form ohne stofflichen Gehalt. Eine Steuer ohne Vertrauen ist Gewalt. Eine Elite ohne Opfermut und Freigeist ist leere Fassade vor der hedonistischen Leere.

Ihr diskutiert, als hättet ihr Zeit. Aber draußen brennt der Wald.“

Die Struktur: „Dann sag uns, was du willst. Was fehlt – außer Pathos? Was muss gesetzt und festgelegt werden. Welch goldener Stoff muss in die Form hineinfließen und sich verfestigen, um ein glänzendes, strahlendes Zeitalter hervorzubringen und den Menschen nicht bloß wieder, sondern erstmals zum wahren Menschen werden zu lassen.“

Die Vermittlerin: „Euer Denken ist gerecht. Aber eure Richtung ist falsch. Ihr fragt, wie man rettet, was bereits im Zerfall ist – im notwendigen Zerfall womöglich. Ich frage dagegen: Wer will überhaupt retten? Wer glaubt noch? Wer liebt noch? Wer gibt, ohne zu rechnen? Nicht die Bewussten, nicht die Geläuterten, nicht die Systemkritischen fehlen euch. Es fehlen die Gerechten.“

Beide Gegenstimmen: „Das ist doch Mystik. Was soll das bringen?“

Der Vermittler: „Wahrheit ist kein Kalkül. Wer nur das Rechnen lehrt, erzeugt keinen Mut.

Ihr braucht keine neue Steuerform. Ihr braucht eine neue Seele.“

Die Dynamik: „Das sag ich doch.“

Die Vermittlerin: „Du willst eine Seele ohne Körper.“

Die Struktur: „Er will die reine Form. Er will die himmlischen Gefilde.“

Die Dynamik: „Und er will sich im Staub wälzen und das Paradies auf Erden statt im Herzen.“

Die Vermittlerin: „Die Männer und ihre Extreme. Gibt es auch eine Lösung irgendwo zwischen Himmel und Erde? Eine Lösung der Vernunft?“

Die Vermittlerin:

„Die Männer und ihre Extreme. Gibt es auch eine Lösung irgendwo zwischen Himmel und Erde? Eine Lösung der Vernunft?“

Die Dynamik: „Unsinn. Dann lohnt sich doch kein Risiko mehr. Kein Unternehmer wird investieren, wenn Kapital nicht mehr wächst. Wer setzt sich dann noch durch, wer bringt Neues hervor? Wenn R nicht über G liegt, dann stirbt die Dynamik. Dann friert das System. Dann gibt es Stillstand.“

Die Vermittlerin: „Und wieder sprecht ihr in Entweder-oder. Als wären Systeme Maschinen. Aber Volkswirtschaften sind keine Maschinen. Sie sind lebendige Organismen.

R muss ein wenig höher bleiben als G – ja. Damit Anreiz, Innovation, Bewegung entstehen. Aber nur so viel höher, dass die Unterschiede über den Ausgleich vermittelt werden können. Es braucht Korrektive – intelligente, sanfte, faire. Wie als würde man einen Garten pflegen oder ein Haus in Schach halten. Was in der Ökonomie geboten ist und als höchste Tugend gelen muss ist vor allem die Mäßigkeit.“

Beide schweigen. Die Vermittlerin spricht weiter: „Private Hedgefonds mit exklusivem Zugang zu zweistelligen Renditen – das muss enden. Es kann nicht sein, dass Kapitalmärkte Gewinne abschöpfen, während Reallöhne stagnieren. Der Binnenmarkt wird nicht durch Entbehrung gestärkt, sondern durch Beteiligung. Durch Kaufkraft, nicht durch Knappheit.

Die Reallöhne müssen steigen – mehr als das Produktivitätswachstum. Ein kleines bisschen mehr, und immer über der Inflation. Jedes Jahr, zuverlässig, für Unternehmen kalkulierbar. So entsteht sanfter Druck – nicht gegen die Menschen, sondern gegen die Strukturen, die Arbeit und Kapital auseinanderreißen, wenn man sie nicht ein bisschen anstupst.

Wenn eine Frau an der Supermarktkasse durch eine Automatisierung ersetzt wird – was ein notwendiger Prozess ist, denn Fortschritt ist Leben, meine Herren – dann muss das Kapital, das dort aufgebaut wird, wieder irgendwie den Menschen zugutekommen. Das Geld, das durch die Maschine frei wird, sollte sodann in Bildung, Qualifikation und neue Arbeitsformen zurückfließen. In Transformation. Nicht in Dividenden.

Wenn Unternehmen sich da weigern, dann gibt es Maschinensteuern und hohe Abgaben – so werden sie schon bald mehr in ihr Personal investieren und ganz schnell neue Arbeitsplätze schaffen, im IT oder in der Kundenbetreuung.

Wo es Reibungsverluste und Externalitäten gibt, da muss der Staat freilich eingreifen. Das Arbeitslosengeld muss höher und länger gezahlt werden – beim Bürgergeld muss man ein bisschen strenger sein. Doch nicht zu streng, da man sonst den Bürgerkrieg ihn die Verrohung der Institutionen riskiert – was schwerlich irgendjemand wollen kann.

Und auch die Kommunikation verändert die Ökonomie. Wenn Bürgergeldempfänger nicht mehr verachtet, sondern in ihrer biografischen Wirklichkeit ernst genommen werden, entsteht Raum für andere Diskussionen. Nicht mehr: Oh weh, die Löhne steigen – das treibt die Preise!

Sondern: Wenn die Löhne steigen, steigt die Kaufkraft. Wenn die Kaufkraft steigt, wächst der Binnenmarkt. Wenn der Binnenmarkt wächst, investieren Unternehmen. Und auch werden die Menschen nicht ihr Geld zurückhalten nur weil die Preise durch den Lohndruck beim Friseur höher werden: Wer verzichtet schon auf den Friseur, nur weil der Haarschnitt 2 Euro mehr kostet – da muss man erneut ganz pragmatisch, mit einem Augenzwinkern und realitätssinn herangehen.“

Die Dynamik: „Und wer investiert, verwandelt. Aus Geld wird Arbeit. Aus Arbeit wird Würde.“

Die Struktur: „Und die ist und bleibt unantastbar.“

Beide: „In Ewigkeit.“

Die Vermittlerin: „Amen.“ Sie setzt fort: „Die dialektische Wahrheit ist nicht: entweder Gerechtigkeit oder Wachstum. Die Wahrheit liegt in der Verwandlung. In einem wohlwollenden Spannungsverhältnis – wie Yin und Yang. Ein Gleichgewicht – eine dynamische Struktur, die balanciert werden muss. R muss tanzen – aber nicht entgleiten. G muss tragen – aber nicht ersticken. Und dazwischen gedeihen Vertrauen, was Struktur schafft, und Transparenz, was Dynamik ermöglicht. Und zum Schluss wird daraus das Wichtigste gewonnen, sowohl für die Elite als auch für das Prekariat, für die Armen wie die Reichen, die Mächtigen wie die Ohnmächtigen, die Weisen wie die Suchenden: Verantwortungsbewusstein – Accountability.“

Die Vermittlerin schwieg. Niemand bemerkte, wann sie gegangen war. Nur das Licht hatte sich leicht verändert.

Die Struktur: „Vielleicht hatte sie recht. Vielleicht sind wir es, die in Extremen denken. Wir wollten Ordnung, doch schufen ein Ungleichgewicht. Der behauptet, jeder bekäme, was er verdient. Aber was ist das anderes als ein Euphemismus für die Reproduktion der Verhältnisse? Wenn Kapital schneller wächst als die Realwirtschaft, dann wird Reichtum erblich. Und Klassen werden zu Kasten."

Die Dynamik: „Wir wollten Freiheit. Und bekamen Märkte. Aber Märkte ohne Richtung, ohne Mäßigung, ohne Gemeinwohlorientierung. Dabei hat der Wohlfahrtsstaat, trotz aller Mängel, bewiesen, dass er Produktivität erhöhen, soziale Spannungen abfedern und Innovation stützen kann. Auch wirtschaftlich. Gerade wirtschaftlich."

„Deshalb sind Steuern kein bloßes Finanzinstrument. Sie sind ein demokratisches Werkzeug. Ein Ordnungsprinzip. Ein Mittel, den Gini-Koeffizienten zu senken. Sie können den strukturellen Vorteil des Besitzes begrenzen und die Voraussetzungen für fairem Wettbewerb erst schaffen."

„Und doch muss das Leistungsfähigkeitsprinzip gelten. Artikel 3 des Grundgesetzes verpflichtet uns zur Gleichheit vor dem Gesetz, ja. Aber nicht zur Gleichmacherei. Es muss Unterschiede geben dürfen, wenn sie begründet sind. Sonst wird der Staat selbst ungerecht."

„Nur weil etwas formell offen ist, ist es noch lange nicht zugänglich. Nur weil wir Demokratie sagen, herrscht noch keine Gerechtigkeit."

„Sieh dir OnlyFans an. Die erfolgreichste Plattform der Gegenwart. Dreimal so viele Nutzer wie Disney+. Mehr als Netflix. Was sagt das über die Gesellschaft?"

„Eben. Das müssen wir eingreifen. Regulieren. Verbieten. Der Staat darf nicht zuschauen, wenn sich Menschen selbst ausbeuten, wenn sich das Ökonomische über das Würdevolle legt. Die Leute sind Opfer, auch wenn sie sich selbst für frei halten."

„Aber sie haben das gewählt. Niemand zwingt sie. Es ist ihre Entscheidung."

„Manchmal braucht es keine Mäßigung. Manchmal braucht es ein Durchgreifen. Wie am D-Day Manchmal muss man Rechtgüter nicht abwägen, sondern der Fall ist klar: Gerade dann wenn es um Würde geht – niemand darf die Würde des Menschen verletzen: Auch die eigene nicht. Das ist das höchste und niemals antastbare, vom Himmel offenbarte und durch die Erfahrung der Kriegs-Greul bitter erlernte Lektion der Geschichte. Die Würde de Menschen muss bewahrt werden, an der Spitze der Wertehierarchie."

„Also keine Abtreibung – weil ja mit der Befruchtung das Leben des Menschen dann logisch einsetzen würde.“

„Ich bin gegen Abtreibung. Grundsätzlich und immer.“

„Es ist keine schöne Sache, klar: Aber wir sagten ja, dass man steuern und pragmatisch das Machbare abwägen sollte – diese Sache mit dem Yin und Yan.“

„Da stimme ich zu. Juristische, finanzpolitische oder auch verhaltensbestimmende Steuerung durch die Organe des Staates ist in dem Sinne kein Feind der Freiheit – sondern Bedingung der Möglichkeit von Freiheit. Sie muss nur angepasst sein und dem höheren Ideal folgen, das die guten Verfassungen der Moderne abbilden wollen – bei allen Fragen des Rechtes. Im Kindergarten braucht es mehr Steuerung. Auf dem Aktienmarkt weniger."

„Aber vielleicht ist der Aktienmarkt heute der Kindergarten. Und bedarf daher der – wie sagtest du – Anpassung."

„Vielleicht ist da wirklich etwas dran. Der Staat ist immer Symptom und Ursache zugleich."

„Wir haben den Naziterror und die Reformversuche der frühen Weimarer Zeit bereits angesprochen: Erzberger wollte Ordnung durch Gerechtigkeit. Aber sein Geist hat sich nicht durchgesetzt. Nicht aus Mangel an Mut, sondern an Bindung im Volk."

„Er hat gegen eine monarchisch geprägte Besitzelite gekämpft. Und deren Deutung seines Anliegens als Angriff auf das Vaterland und als kommunistische Bedrohung hat den bürgerlichen Nationalstolz reaktiviert. Die Nazis konnten das für sich nutzen. Sie sprachen vom Blut und vom Boden, zu einer im Krieg gebrochenen und traumatisierten Generation – und füllten das Vakuum, die innere ideologische und persönliche Leere, mit Mythos."

„Und mit Institutionen. Sie übernahmen den Apparat. Viele Gesetze – Steuerstrukturen, Eigentumsverhältnisse, Verwaltungslogiken – wurden nie wirklich reformiert. Die Besitzenden blieben. Die Ideen Erzbergers aber wurden verdrängt."

Die Struktur: „Erzberger war kein Revolutionär. Er war ein Reformer. Und gerade deshalb wurde er gehasst. Weil er Ordnung durch Umverteilung schaffen wollte – nicht durch Umsturz, sondern durch Strukturreform. Weil er das Alte nicht zerstören, sondern es verwandeln wollte.“

Die Dynamik: „Und das war sein Fehler. Die Besitzenden spürten den Wandel und sahen in ihm Verrat. Die Untertanen hingegen sahen keinen Mythos, kein Feuer, kein neues Königreich. Nur Tabellen, Steuerpläne und Sparanreize. Seine Sprache war zu nüchtern für eine Zeit, die nach Sinn und Opfer verlangte.“

„Er versuchte, einen gerechten Staat zu schaffen. Ein bürgerliches Ethos jenseits der Monarchie. Aber das alte Denken – in Stand, in Ehre, in Blut – war stärker. Die Steuerpolitik wurde als Enteignung empfunden. Der republikanische Ausgleich als Demütigung. Der Tod kam schnell. Der Bruch kam schleichend.“

„Und dieser Bruch hat sich nie wirklich geschlossen. Die Besitzenden sahen sich verteidigt, als Hitler kam. Die Entrechteten sahen sich befreit. Der Nationalsozialismus war kein Aufstand der Armen – er war die Wiederverzauberung der Enttäuschten. Die Rache derer, die glaubten, etwas verloren zu haben, obwohl sie nie verzichten mussten.“