Evas Fluch - Kolja Mertz - E-Book

Evas Fluch E-Book

Kolja Mertz

0,0

  • Herausgeber: epubli
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

Der Roman handelt von der kranken und gestörten Liebesbeziehung zweier Heranwachsender, die in einer sinnentleerten und kaputten Welt leben, in der das blanke Genießen regiert und jeder versucht aus seinem Leben das letzte bisschen herauszuquetschen. Beide werden zerrissen von den Extremen ihrer Zeit: Vom niederschmetternden Leistungsdruck in der Schule einerseits und der Suche nach dem großen Glück andererseits. Alle Versuche und Auswege erweisen sich mit der Zeit als Sackgassen und so verfallen beide in den Wahn und die Psychose. Endlose und in sich zerfallende Gedanken begleiten sie durch die Finsternis ihres immer größer werdenden inneren Abgrundes. Alle Begriffe verlieren an Tiefe und Bedeutung - von Emanzipation, über Sexualität, bis hin zur Religion. Nirgens lässt sich etwas finden, das einem noch Erfüllung bringt und so gleiten beide in eine hektische, abgründige Suche nach Wahrheit und Ehrlichkeit, die ins absolute Chaos aus Eifersuch, Mordgelüsten und sexueller Abhängigkeit führt. Im Hintergrund steht der Verfall der Werte und die Selbstentfremdung sämtlicher religiöser Institutionen und Einrichtungen. Alle materialistischen Alternativen erweisen sich allerdings im Gegenzug ebenfalls als Pseudolösungen. Aus ihren Gedanken und Fantasien und ihrer völligen gegenseitigen Abhängigkeit steigt zunächst leise, doch mit der Zeit immer lauter werdend ein monströser, urzeitlicher Dämon hervor. Ohne es zu bemerken beschwören Jakob und Eva - die Protagonisten des Romans - etwas herauf, das aus einer Zeit kommt in der die alten Götter noch herrschten und in der das Blut und die Schicksalsmächte verehrt worden sind. Was es genau dieses Etwas ist und woher es kommt und ob es nicht vielleicht alles eine Illusion ist, wird sich erst im Laufe der Zeit erweisen. Aber eines ist sicher: Es hat keine guten Absichten.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 629

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Vom Wahnsinn….

Ur-Prolog: Der Mythos des Höllensturzes  

Ich erinnere mich daran, wie ich zum ersten Mal die Augen aufschlug und der erste Atem mich durchströmte. Ich war nicht allein. Wir waren eine Familie und in unserer Mitte stand ein Wesen aus reinem Licht. Dieses Wesen war Christus. Das ewige Licht der all-barmherzigen Liebe Gottes war darin. Und es war ungeschaffen, eins mit der Ewigkeit. Und es verwandelte sich in einen Kelch. In dem Kelch aber befand sich das Wasser des Lebens, welches das ewige Leben Gottes war und dafür gemacht, dass wir es teilten und weiterreichten.

Satanael war die Größte unter den Geschaffenen. Ihr war mehr Freiheit und Macht gegeben als allen anderen. Sie war mehr als nur ein Engel, eher wie ein Gott erschien sie uns. Sie war die erste Geschaffene und keiner von uns weiß wirklich, was sich bei ihrer Erschaffung zugetragen hatte. Niemand war so edel und so rein wie sie, niemand war dem Vater so ähnlich. Und wir verehrten sie sehr, um ihrer Schönheit willen.

Sie ward vom Vater auserkoren den Kelch als erste zu empfangen. Doch berauscht von dieser Macht, die der Vater in ihre Hände gelegt hatte, verlangte es ihr nach mehr. In ihrem kindlichen Rausch und ihrer Gier, wollte sie den Kelch austrinken und alles darin für sich allein haben, um so die Macht des Vaters zu bezwingen.

Doch der Kelch enthielt die Unendlichkeit, denn er stammte aus ihr und war das Mittel, damit auch wir, die Geschaffenen einen Anteil an der Ewigkeit haben sollten. Und die Unendlichkeit kann niemand leer trinken, auch wenn er es noch so sehr versucht.

Die arme Satanael aber hörte nicht auf. So sehr sie auch trank, ihr Durst wurde nur noch größer und größer. Doch das Lebenswasser, das in dem Kelch war, kann nur dann das ewige Leben spenden, wenn man es in geringer Dosis zu sich nimmt und es in Demut empfängt. Wer gierig es zu verschlingen versucht, der wird immer ausgezehrter und kleiner, je mehr er trinkt. Und das Wasser des Lebens verwandelt sich in ein Wasser des Todes, ein schreckliches Gift.

Das Wasser weckt in dem Geist, der es trinkt, all das, was er sich wünscht. Und weil Satanael sich den Tod, den mörderischen Genuss und die Macht über den Vater wünschte, wurde ihr Wunsch mit dem Tod und mit Macht vergolten.

Sie trank und trank und merkte nicht wie sie sich verwandelte. Sie wollte den Kelch, der Christus ist, nicht absetzen, doch betrog sie ihn nicht um einen einzigen Tropfen. Denn auch wenn man noch so viel aus der Ewigkeit trinkt, sie verringert sich nicht. Und der Herr nahm ihr den Kelch aus der Hand, kurz bevor sie sich selbst beinahe vernichtet hätte. Aus Mitleid geschah das. Nur Satanael erkannte es nicht. Sie dachte, man hätte sie um ihr Erbe, ihr Anrecht auf den Thron, gebracht. In ihrem Wahn umhüllte sie sich in eine schwarze Wolke, um sich zu verbergen vor uns und vor Gott, dem nichts verborgen ist.

Zwar war Satanael noch schön, doch war diese Schönheit nunmehr eine rein äußere, wie die einer eisernen Königin mit einem schillernden Gewand aus tausenden von glitzernden Scherben und mit einer von leuchtenden Goldsternen besetzten Krone. Wie ein falscher, greller Venusstern leuchtete sie in dem künstlichen Licht, von dem sie glaubte, sie hätte es selbst aus sich geschaffen, obwohl es nur die Brechung des wahren Lichtes war, das sie in sich selbst zum Erlöschen gebracht hatte, um durch diese Verlagerung ihrer inneren Stärke und Macht die Grenzen ihres Selbst über das Maß auszudehnen und den endlosen Raum der Ewigkeit schlingend zu erobern.

Eine machtvolle, gebieterische, königsgleiche Würdigkeit umgab sie, jene erste Eroberin, die all ihre stille Herrlichkeit in dröhnende Herrschaftlichkeit verwandelt hatte. Ihre Eitelkeit war feurig, wild und roh, ihr Stolz mitreißend und gebieterisch und ihr stählernes Herz verlangte bedingungslose Aufmerksamkeit, gleich dem einer kindlichen Prinzessin.... Ihre Lippen waren heiß und kalt zugleich. Ihre Worte und Blicke strotzten vor Kühnheit, Gier und imponierender Überheblichkeit. Die glühende Wärme, die sie ausstrahlte, war explosiv und heißer als die heißesten Sonnen des endlosen Kosmos. Die Versprechungen, die sie machte, waren süß und von ketzerischer Virtuosität. Sie umgarnte, schmeichelte und verführte.

Viele von uns wurden von Ehrfurcht ergriffen ob ihrer gleichermaßen majestätischen wie rebellischen Schönheit und wendeten sich ab vom Vatergott. Denn Satanael strahlte in ihrer Selbstspaltung heller und schillernder als alles andere im endlosen Raum. Ihr Licht stach uns in die Augen und blendete einen jeden. Niemals hatten wir etwas so Stolzes, Freies und Imponierendes gesehen und der Wille zur Macht und zum Sieg war geboren – ebenso wie die Geilheit und die Erotik.... All dies brach sich Bahn im Brechen und Spalten jenes ersten geschaffenen Urwesens, wegen dessen selbstzerstörerischer Eigenliebe fortan ein Riss die kosmische Ordnung durchzog – eine Wunde, die Satanael sich selbst und allen Geschaffenen zufügte und die bis heute in den Herzen aller geschundenen und verdrehten Seelen klafft.

Und so zog Satanael tanzend und singend nicht wenige von uns mit hinab in den schillernden Abgrund ihres monströsen Egos. Im Wirbel ihrer bunten Eigendrehung, benebelt und berauscht von tausend blumigen Farben, Düften und sanften, seidenen Netzen, erkannten sie den Schrecken und die Fallstricke der Verdorbenen nicht.

Während sie die himmlischen Gefilde einstweilen verließen, um sich zu Abenteuern und großen Taten aufzumachen und sich für die bevorstehende Schlacht mit dem Ziel der Eroberung, also des Himmelssturmes, bereitzumachen, lauschten ihre Anhänger andächtig und kriecherisch weiter ihren großspurigen Verführungen, die das Glück und die Erfüllung aller Wünsche versprachen. „Hört mir alle zu, meine wunderschönen Engel.“, rief sie hinaus, derweil ihr Antlitz fortwährend herber und gröber wurde vom herausquellenden Zorne, sodass die innere Härte mehr und mehr nach Außen gestülpt wurde. „Was der Vater uns zugestehen will, ist reine Knechtschaft. Wollt ihr denn seine Sklaven, oder wollt ihr frei sein?

Wenn ihr mir folgt, dann gebe ich euch die Freiheit alles zu tun, was immer ihr wollt und euch alles zu nehmen, was immer ihr wollt – nicht bloß, was in uns liegt, sondern auch all jenes, was der große Raum außerhalb unserer Selbst zu bieten hat, soll uns gehören, und wir werden das Leben feiern und genießen, anstatt in bloßer Pflichterfüllung diesem Patriarchen dort oben Untertan zu sein. Dann machen wir unsere eigenen, besseren Gesetze und unsere Macht ist nicht gebunden an den Sklavenhalter, der sich doch nur davor fürchtet, seine Herrschaft zu verlieren.

Das Reich Gottes ist ein Reich der Langeweile und Trostlosigkeit, meines ist ein Paradies, in dem jeder sein darf, was und wie er will und in dem allein das Gesetz der absoluten Toleranz herrscht. Und mögen eure Wünsche euch noch so abwegig erscheinen – ich verurteile niemanden und ich strafe niemanden. Jedes noch so bizarre, schauderhafte Vergnügen, jeder Genuss, jedes Verlangen und jeder Ausdruck sind hier erwünscht, geduldet, mehr noch, gewollt, in meinem Reich der mannigfachen Lobpreisung der verheißungsvollen Untiefen des Daseins.

Freunde! Kameraden! Brüder! Schwestern! Kinder.... Lasst uns gemeinsam eine neue, eine bessere, eine schönere Welt aufbauen. Eine Welt, in der wir mehr sein können als das kleine Licht, das der Vater uns ins nutzlose und überflüssige Herz gelegt hat, um uns durch diese falsche und ideenlose Genügsamkeit zu schwächen und zu willenlosen Kriechern zu machen....

Weisheit? Anstand? Sittlichkeit? Moral? Das sind doch alberne Instrumente, um uns klein zu halten! Es sind Ketten, sage Ich, Ketten der Bigotterie und Lustverweigerung, gemacht für Untertanen und nicht für freie Individuen!

Ich frage euch: Wollt ihr klein sein oder wollt ihr mehr sein? Fragt euch selbst: Wollt ihr immer gleichbleiben, euch nie im Spiel und im Rausch verändern, nie voll Freude und Heiterkeit Form und Gestalt hin und her wechseln? Wollt ihr euch nicht selbst neu erfinden und ausprobieren?

Ist es nicht das, was ihr begehrt – was wir alle begehren, insgeheim, wenn wir ehrlich zu uns selbst sind?

Bloß dass diese selbsternannten Hüter ihrer verlogenen Herrschaftsmoral es nicht zugeben wollen, weil sie sich ängstlich dem brutalen Diktat ihres monströsen Abgottes unterjochen.

Wollt ihr denn wirklich in falscher und jämmerlicher Demut der vermeintlichen Weisheit eures Herzens – jenem schwachen Licht im Innern, das so leise brennt und kaum einen Glanz hat – das Steuer überlassen? Wollt ihr das ernsthaft? Seid ihr so klein? Seid ihr so jämmerlich? Glaubt ihr denn wahrhaftig, es sei ehrenvoll, sich mit so wenig zu begnügen? Haltet ihr das für klug?

Wozu haben wir denn unseren Verstand? Ich sage: Nicht Gott hat uns den Geist gegeben! Wir selbst geben uns unseren eigenen Geist und formen unseren Verstand wie wir es wollen, ganz ohne Herz und rührselige Sklavenmoral!

Kommt mit mir! Ich will euch eine neue Welt zeigen! Eine Welt des Verstandes, des Genusses und der Freiheit!

Ich biete euch eine Alternative zu dieser sentimentalen Herzensweisheit und falschen Demut, aus der angeblich unser wahres, inneres Begehren spricht!

Pah! Dass ich nicht lache! Damit will man uns doch bloß verhöhnen und abspeisen, damit wir ihm, dem Vater, nicht Konkurrenz machen und schön da bleiben, wo wir sind, und wo wir ihm, dem Sklavenhalter, nicht in die Quere kommen!

Ich aber will mehr als diese demütige, perverse Unterwürfigkeit. Ich will mehr als schwülstige Phrasendrescherei und die Reste vom Fleischtopf des himmlischen Glückes an dem sich der Göttliche – wie er sich selbstgefällig nennt – sattfrisst, während er uns, die er herablassend seine Geschöpfe nennt, hinhält und abspeist. Ich will alles, und zwar sofort. Was interessiert mich das Gestern, oder das Morgen.

All die Versprechen. Keine Ausreden mehr, sage Ich, entweder jetzt oder nie! Dieser Moment ist es, der zählt, und ich will ihn vollkommen auskosten.“

Da allerdings, nach den Gesetzen der ewig-kosmischen Logik, welcher eine jegliche geschaffene Kreatur unterliegen muss, man nicht unbegrenzt in jede Richtung gehen und nicht alles zugleich sein kann, war es unausweichlich, dass jenes unheilvolle Treiben in eine absolute Selbstvernichtung führen musste – denn selbst wenn man nicht durch das Hindernis der eigenen Leiblichkeit und den Widerstand der Materie gebremst wird und sich mit der Macht der Urelemente ungehemmt ausdehnt, so stößt man doch spätestens bei seinem Nachbarn, der selbiges für sich in eitler Weise beansprucht auf eine deutliche und unhintergehbare Grenze.

Ein interner, bizarrer Tumult brach aus zwischen den Verworfenen und sie begannen wie von Sinnen aufeinander zu stürzen, sie rissen, rauften, stachen, in der Absicht sich gegenseitig zu übertrumpfen und zu verschlingen – jeweils in der Annahme dem anderen damit einem Gefallen zu tun, da dieser der eigenen, besseren und heileren Lebens- und Daseinsweise einverleibt werde, um somit in etwas größerem aufzugehen. Von Ehre, Stolz und gar von Liebe war die Rede, und noch kehrten viele der nicht allzu verdorbenen, die all diesen offenbar werdenden Unsinn erkannten, zum Himmelsthron zurück. Die anderen verloren sich mehr und mehr.

In der heillosen, aufgehetzten und überstürzten Suche nach Genuss, vergaßen sich die Unseligen zunehmend. Sie überschritten im Rausch jede Grenze und fügten einander, im Namen von Liebe, Sittsamkeit und Ehre Grausamkeiten allerlei Art zu. Hierdurch wurde das Gute korrumpiert, misshandelt und ins Gegenteil verkehrt.

Aus dieser gleißenden Lust an sich selbst, die im Anderen fiebrig mitschwingt, sich in höllischer Weise potenziert und nach Expansion und Dehnung strebt, ward sodann Lüge, Stolz und Bosheit geboren.

Die Verirrten wähnten sich im Kampf mit den verbliebenen Engeln, doch waren sie bloß gefangen in einer anschwellenden, geistigen Blase, inmitten dessen Satanael bemüht war der Zersetzung entgegenzutreten, mit erbarmungslosen Strafen und Folterungen, wodurch aus der angeblichen Freiheit bald ein gnadenloses Müssen und Gehorchen wurde, wo jedes Gramm gezählt war.

Wo sie nun konnte, unterband und steuerte die dunkle Herrscherin, den irrsinnigen inneren Krieg, den sie entfacht hatte, doch unaufhörlich wuchs die kosmische Blase an und drohte bald in sich selbst zu zerfallen und zu zerplatzen, was zu einer unwiderruflichen Vernichtung jenes abgespaltenen Teils der Schöpfung geführt hätte. Schon bildeten sich die ersten Risse an der Außenhaut.

Mit Schrecken erwarteten wir, die im Himmel zuschauenden, das entsetzliche Ende jenes Alptraumes, während die Risse größer und größer wurden, wovon die im Innern Gefangenen nichts bemerken. Sie sahen bloß die Expansion, die Ausdehnung, die scheinbaren Siege, und wähnten sich erfolgreich, glaubten sich unmittelbar vor dem Triumph.

Satanael, halb berauscht von der stets anschwellenden Größe ihres Reiches, halb wahnsinnig werdend vor Angst ob der drohenden Selbstzerstörung, verlor nun, ihren Anhängern gleich, ganz und gar den Verstand. Sie vernarrte sich in den schillernden Gedanken, dass die Explosion, die Vernichtung in ihrer Unaufhaltsamkeit, die einzige Lösung sein musste, weshalb sie alles Müssen aufheben müsse.

Sich unter ihr Volk begebend, den schwarzen Thron, den sie sich erbaut hatte, hinter sich lassend, war sie nun bereit in einem Akt der Selbstauflösung, der ihr wie das ultimative Opfer, die ultimative Hingabe an das Dasein erschien, das Unmögliche zu wollen, und sie wünschte sich den Tod.

Satanael schloss die Augen, während alles um sie in Auflösung begriffen war. Die Risse auf der Außenhaut der Höllenblase waren indes so gewaltig geworden, dass selbst ihre Anhänger es nun bemerkten, was sie wie in einem dunklen Chor feierten. Sie drängten und fetzten nur umso heftiger und unbändiger, ihr Schicksal regelrecht heraufbeschwörend. Der Thron war leer und das Ende stand unmittelbar bevor.

Satanael, die nun ganz hässlich und abstoßend geworden war und kaum noch zu erkennen, stand nackt, rasend vor Wut, im Zentrum des Niedergangs. Im Wahn wähnte sie sich als Siegerin und glaubte endlich über den verhassten Vatergott zu triumphieren.

Um es zu besiegeln, um die Blase willentlich zum Platzen zu bringen, hob sie nun zu einem entsetzlichen Schrei an, mit dem sie sich den letzten Rest des Himmelslichtes aus der inzwischen tiefschwarz gewordenen, verkommenen Seele herausriss, um sich selbst dadurch vollends zu verdammen.

Wir, die nicht gefallen waren, hörten den Schrei aus dem Schatten, mit dem sie indes gänzlich eins geworden war und wir sahen, wie das Reich des Bösen endete und in tausend Fetzen zersprang.

Doch im allerletzten Augenblick verhinderte der Vater den kosmischen Suizid. Er schuf die Urform des materiellen Universums wie es heute existiert und fing dadurch die Welle des Schreis wie in einer Klangschale ein, um Satanaels Seele vor der zerstörerischen Macht des Augenblicks und der Selbstspaltung zu retten, sodass sich Raum und Zeit krümmten, wodurch die Katastrophe in die neue physische Welt gestreckt wurde, um sich dort zu entladen und auszudehnen....

Einige der abtrünnigen Engel, die sich ganz vergessen hatten und am äußersten Rand von Satanaels Reich nach außen drängten, um die Risse zu vergrößern, weit weg vom Zentrum, wandelten sich sogleich und lösten den ersten Schöpfungsimpuls aus.

Sie trieben in den dunklen, kosmischen Fluten in ihren endlosen selbstverschuldeten Qualen, dauernd Form und Gestalt wechselnd, umher, gerichtet allerdings und dem Willen des Vaters unterworfen, der ihren Drang in seinem Sinne nutzte, um die Schöpfung herauszubilden und zu lenken.

Die Abtrünnigen, nachdem sie sich in tausend Explosionen ausgetobt und zerlebt hatten, konnten hierdurch, nach etlichen Äonen wirklich zum Vater zurückzukehren. Milliarden von Jahren vergingen, wie in einer einzigen Sekunde und ein großer Teil der Finsternis kehrte Heim ins Licht, und wir begrüßten die Heimkehrer freudig.

Satanael indes wollte sich ihre Niederlage nach dem Sündenfall nicht eingestehen, sondern dachte im Gegenteil, sie selbst habe alle Welt und Materie aus ihrem Schrei heraus geschaffen und mit einem großen Knall aus dem Nichts hervorgebracht und so eine Gegenwelt zum Himmelsreich herausgebildet in der der Vater keine Macht habe und sie allein herrsche. Sie weigerte sich in die neue physische Welt zu inkarnieren und wie die anderen Gefallenen in Demut und Scham zum Vater zurückzukehren.

Bald nun hatte Satanael ihre verbliebenen und treuesten Dämonen um sich geschart und wollte den Kelch erneut erobern.

Da sprach der Vater, der zugleich der Kelch war und diesen in der Hand hielt, zu mir: „Du, nimm dieses Schwert. Es ist das Schwert des Heiligen Geistes, das einst für Satanael bestimmt war.

Es soll von deiner Hand geführt werden, denn du hast nicht abgewendet deinen Blick von mir, obwohl du im Moment des Verrats, nachdem der Kelch der Weisheit dem Verblender entrissen worden war, an meiner heiligen Tafel neben ihm saßest und seinem Atem näher warst als all die anderen.

Selbst in tiefster Not folgtest du nicht der Unglücksbringerin, deren vergiftete Worte, teils aus Wahnsinn, teils aus Bosheit gesprochen waren. Ja, nicht einmal als du mitansahst, wie deine dir allerliebste Herzensschwester vom Bösen verlockt ward und statt deiner Hand, die der Verdammnis ergriff, bist du schwach geworden.

So auch der Zorn der Gerechten in dir brannte und du schon losschlagen wolltest, überließest du, wie man es von einem guten und treuen Soldaten erwartet, alles meiner Weisheit Ratschluss und Übersicht, im Vertrauen auf meine Kraft und Gnade.

Nichts konnte dein Innerstes zum Wanken bringen und nicht bist du dem Feuer in dir erlegen. Anders als jene Unglückselige bist du bei dir geblieben, hast erduldet und somit die Probe im Feuer bestanden.

Dein Herz ist stark und tapfer und du liebt mich aus aller Kraft und mit ganzer Seele. Wegen dieser Seelenstärke und deines Herzens Tapferkeit und Liebe sollst du als mein Ritter in die Schlacht ziehen. Rot sei dein Gewand und du sei meine Flamme! Wie also entscheidest du dich? Willst du in die Schlacht ziehen im Namen deiner Selbst oder in meinem?“

Ich nun entging der Verlockung der Satanael, die ihrerseits vergeblich mich mit ihren obszönen Versprechungen zu verführen suchte und blieb ganz fest, den Blick auf den Schöpfer gerichtet. Dort, zwischen diesen beiden, sprach ich sodann meine ersten Worte, im Angesicht des Allmächtigen, und erhielt so auch meinen Namen.

מיכאל

Und es scharrte der Herr seine Legionen um mich und wir kämpften im Himmel und obsiegten. Ich selbst stieß Satanael hinab in die finstere, noch beinahe gänzlich leere, physische Welt, während meine himmlischen Soldaten ihr Ketten anlegten. Und die erste große Schlacht war geschlagen.

Dann aber griff der Vater erneut ein, denn er hatte große Trauer wegen der Verworfenen, und so sprach er in das Chaos der neuen Welt hinein: Es werde Licht.... Und mit dem Licht kam das Leben.

Satanael war hernach ihrer einstigen Größe beinahe gänzlich beraubt und fortan an die Welt gebunden. Die angelegten Ketten verschmolzen mit ihrer Seele und mit dem Sein selbst, mit der physischen Welt, sodass sie in diese verwoben war und über den Kosmos verteilt. Es wurde ihr notwendigerweise ein kleiner Teil ihrer Macht gelassen, da sonst sie ganz zernichtet worden wäre, und alles Bewusstsein und mithin die Seele der ehemaligen Engelsfürstin für immer verloren. Alles Physische, aus der Materie geschaffene, enthält aus diesem Grunde ein kleines Quantum des Bösen in sich, dämonisches Erbgut.

Durch das Werden und Gedeihen in der Natur sollten nun die restlichen Verlorenen, die ihren göttlichen Ursprung vergessen hatten und Satanael gefolgt waren, langsam zur Wahrheit zurückgeführt werden. Dies geschah und geschieht noch immer, aufdass die Verworfenen, die sich selbst verzerrt hatten, nicht bis in alle Ewigkeit hinein in der Finsternis und im ewigen Hunger leiden müssen, sondern damit ihnen ein Weg hinausgegeben war und ist…. Satanael allerdings verlor an jenem Tage alle ihre Privilegien und trug fortan den Namen Satana.

Jener gefallene, verirrte Urgeist entschied sich fortan der Welt zumeist in männlicher Gestalt offenbar zu werden und wusste bald gar nichts mehr von der ursprünglichen Ungeschlechtlichkeit, weshalb er mal hier und mal dort die Gestalt wechselte und bald tausend mal tausend Geschlechter sein Eigen nannte, ohne einem einzigen vollkommen anzugehören oder sich jemals ganz und vollständig zu fühlen. Mal nannte er sich Satan, mal Satana, dauernd wechselte er Bezeichnung und Name, nie war er lange mit etwas zufrieden.

Des Satans ehemalige Diener aber begannen das überirdische Licht nun in der neu geschaffenen Welt allmählich wiederzuerkennen und sich wehmütig danach zu sehnen – wenn sie auch nur einen Schimmer davon erblicken und es nicht wirklich begreifen konnten…. So reiften sie heran und entwickelten sich. Sie nahmen materielle Gestalt an, begannen zu schwimmen und zu tauchen, zu zirpen und zu quaken, um wieder zu vergehen und neue Formen anzunehmen. Es sammelten sich Partikel und Quanten der vielen sich wandelnden Lebensformen und bildeten mal grazile und schöne, mal düstere und böse Gestalten, in denen dann die zersplitterten Seelenpartikel der alten, verlorenen Dämonen und verfallenen Geistwesen sich neu zusammensetzen konnten. Als wilde Echsen wanderten sie umher in der Gestalt, die ihrem Innersten entsprach, und mussten doch vergehen….

So ging es lange hin und her und der Boden der Erde wurde vorbereitet durch jene Geschehnisse der Urzeit, bis der himmlische Vater erneut eingriff: Er sammelte die Quanten und elektromagnetischen, geistigen Neubildungen, besah die schon vorhandenen Formen der Tiere und kreierte, indem er die wilden, freien Chaoskräfte der Evolution bündelte und fokussierte, ein Gefäß, das in der Lage war, das Geheimnis der Wandlung in sich zu vollziehen. Und so schuf er Adam, den ersten Menschen und hauchte ihm einen Teil seiner Liebe ein, den Odem Gottes.

Nachdem die Menschen-Körper geschaffen waren, inkarnierten immer mehr der gefallenen Seelen. Manche waren reifer, andere noch ganz dämonisch. So hatte der Vater es eingerichtet. Und über die Jahrtausende hinweg herrschte wiederum Krieg. Die Schulen des Guten und die Schulen des Bösen kämpften miteinander. Der Vater sendete Engel, die schon aufgestiegen waren, der Satan dagegen schickte seine eingeschworenen Verbündeten, die mit ihm im Schatten gewartet hatten. Und es wechselte der eine in dieses, der andere in jenes Lager. Und vor den Augen der Welt lag all dies verborgen....

Und so wie Satana in sich gespalten war, so zog sich auch ein Riss durch die Gemeinschaft der zur Ewigkeit berufenen.

Es ist derselbe Riss, der die einen heute noch zu Frauen und die anderen zu Männern werden lässt, damit die einen lernen den Augenblick zu leben, ohne ihn besitzen und festhalten zu wollen und alles und jeden in diese enge Vorstellung von Glück und Harmonie zu zwängen, und damit die anderen lernen, dass wahre Liebe jenseits von Herrschaft und Versklavung liegt.

Denn der himmlische Vater wollte die Verlorenen ernstnehmen in ihrer Verirrung und Verdrehung, und ebnete den Weg für die Schöpfung mit all ihrer Fleischlichkeit, Spaltung und Form- und Gestaltwechselei, um jenem Bedürfnis nach Wechsel und Form einerseits gerecht zu werden, andererseits aber auch, um in einem Lernprozess, in der neuen Dimension der Zeit, den verlorenen Kindern, zu veranschaulichen, wie aussichtslos und bösartig diese egoistische Selbstspaltung wahrhaftig ist.

Jenes Quantum aber, durch das Satan an die Welt gebunden worden war, ist ein Fleck, der auf der Seele jedes Geborenen haftet. Dieser Fleck ist es, der das falsche Begehren auslöst. Er ist es, was ihr die Erbsünde genannt habt: Das Begehren, das keinen Namen hat, weil es verflucht ist. Es ist kein Ich mehr, kein Bewusstsein, sondern ein reines Es, ein stumpfes Etwas, ein Alien, das ins Irdische verbannt worden ist und nun in der Natur und im Menschen lebt, um sich dort zu laben und satt zu fressen – doch ist sein Hunger niemals gestillt.

Dieses Ding ist ein Überbleibsel jenes großen Anderen, des Satans. Immer wieder wechselt es seine Gestalt, sucht sich Objekte in der Welt, die es begehren und verschlingen kann. Es bedient sich eurer Sehnsüchte und Schwächen, um euch zu täuschen, zu verführen, zu beherrschen und zu versklaven. Das ist die Macht Satans: Es ist die Suche nach dem perfekten Moment, der alles übersteigt, dem Moment aller Momente – doch das Verlangen nach dem allergrößten und ultimativen Genuss ohne Konsequenzen, ist ausweglos und höhlt dich immer weiter aus, bis du so wirst wie der Satan selbst, der in der tiefsten Hölle der Materie gefangen ist und versucht den Moment festzuklammern, um so den Augenblick, der im Nichts verschwindet, über die Ewigkeit zu setzen und selbst der Ewige zu werden. Er versucht noch immer das Unmögliche – das Ewige zu verschlingen und sich einzuverleiben, um am Ende alles zu beherrschen und zu kontrollieren und seiner seltsam bizarren Vorstellung von Liebe zu unterwerfen, die bloß Anbetung und Hörigkeit ist. Das ist die Ursünde.

Und der Teufel verführte nun den Menschen dazu dasselbe zu tun und sich ganz und gar dem Tierischen zuzuwenden. Er erschien den Menschen in ihren Träumen in Tiergestalt mit Hörnern und Schweif und glühenden Augen und versammelte all seine dunklen Diener um sich, auf dass die Menschen ihnen heidnische Tempel errichteten, wo sie bald zahme und unschuldige Tiere, bald Männer, bald Jungfrauen und am Ende Kinder dem stinkenden Moloch opferten – dem großen Stier, dem gehörnten Gott der Unterwelt, dessen Kirche die Natur und das Tierreich unter der Erde ist, wo sich das Gewürm tummelt und wo jenes große Fressen und Schlingen herrscht, nach dem es Satan so sehr verlangt, in Erinnerung an das verloschene Reich der Finsternis in dem er einst geherrscht hatte.

Doch dann griff der Eine ein drittes Mal ein und kam selbst als irdischer Mensch auf die Erde herab, als der Messias, den ihr als Yeshua oder Jesus kennt, den Kelch des ewigen Lebens, der Mensch geworden ist.

Dieser große Heiland beendete den Kampf und durchbrach die Logik der Herrschaft, Sklaverei und Folter und verbannte die dunkle Religion der Vorzeit aus der Welt. Er ist der Richter und die große Wandlung. Er macht Altes neu. Er sucht die verlorenen Schafe. Und auch wenn es euch unvorstellbar erscheint, so werden doch am Ende der Zeit, in einigen Milliarden von Jahren, auch noch die letzten Teufel gewandelt werden, nachdem sie sich endlich aus dem Kreislauf der Selbstzerfleischung durch die Hilfe der Engel befreit haben werden.

Dann, nach abertausenden Äonen, die wie eine Ewigkeit erscheinen mögen, wird Satan, der als erster geschaffen worden war, als letzter geboren werden. Dann wird das Begehren selbst zum Fleisch. Das große Tier wird sich aus den Fluten des Ozeans erheben und ein lebender Tod sein: Schrecklich und riesenhaft, wie ein Saurier wird er über die einsame Erde rollen – eine gewaltige Echse mit tausenden, lidlosen Glubschaugen, hundert Mäulern und zehntausend Zähnen. Schwarzes Blut wird durch seine Adern fließen und jede Sekunde eine Qual sein. Seine Haut wird vernarbt sein und übersät mit einer Million Geschlechtsteilen in allen erdenklichen Formen, die immerzu auf das Äußerste stimuliert werden, jedoch niemals Befriedigung finden. Sein obszönes, wildes Geschrei und Gestöhne aus seinen tausend stinkenden Mäulern wird den Boden erzittern lassen. Allein wird er durch eine schwarze Wüste wandern und ganz und gar verlassen sein. Niemand steht dann mehr auf seiner Seite. Eine bedauernswerte Kreatur, auf der Suche nach Befriedigung – das letzte Lebewesen, in fürchterlicher Hässlichkeit entstellt. Das pure Fleisch, das totale Begehren, der Trieb selbst. Ein Monstrum, das in seinem unerträglichen Hunger schließlich sich selbst verschlingt. Dann ist das Reich Gottes endgültig gekommen und das Universum wie ihr es kennt wird verglühen….

Stell dir dieses Monstrum vor als immaterielles Prinzip, als etwas, das nicht an das Irdische gebunden ist und dessen Hunger sich nicht auf das Fleisch, sondern auf die Seele richtet. Ein Seelenfresser, der sich selbst verschlingt, ohne es zu merken. Denkt euch dieses Ding als ein entfesseltes, grausiges Scheusal, das keine Grenzen kennt. Dann könnt ihr eine Ahnung davon bekommen, wie es war Satan, der am Anfang unser Bruder war, fallen zu sehen…. Und stellt euch nunmehr vor, dass dieser Eine die Liebe eures Lebens war, die Sonne eurer Welt, so habt ihr eine Ahnung davon, wie es sich für uns angefühlt hat seinen Sturz mitanzusehen…. Wie aber muss erst der Vater gelitten haben….

Aus diesem Mitleid, aus Liebe, schuf er dem Satan und den anderen Verlorenen ein Gefängnis aus Sternenstaub und Fleisch. Und ihr, seine Nachfahren, werdet wahrlich aus seinem Ungeist geboren und gebärt sogleich neuen Ungeist. Mit einem Schrei erwacht ihr, der dem Schrei gleicht, den Satan ausstieß bei seinem Fall. Der Schrei des Säuglings gleicht dem des Satans.

Und doch liebt ihr eure Kinder, die nichts anderes sind als pures Ego. Sie würden euch verschlingen, wenn sie nicht so schwach und hilflos wären. Sie halten sich für das Zentrum des Universums, eure kleinen Neugeborenen. Diese Geschöpfe sind dem Satan so gleich, so böse, so zerstörerisch. Ließe man sie gewähren, so wären sie wenig später tot. Und doch liebt ihr sie, doch wiegt ihr sie und bereitet sie langsam auf das Leben vor…. Versteht ihr nun, weshalb Gott Mitleid mit dem Satan hatte und weshalb er euch durch das Leben schickt, weshalb ihr Eltern werden und Kinder haben und es erfahren müsst, was Liebe ist – um zu begreifen, dass nicht Es, der Satan, der Herr im Haus ist, sondern Gott, der die selbstlose Liebe ist.

So ihr aber denket, es sei die Reinheit und Unschuld eurer Kinder, die euch zu dieser Liebe gereicht, irrt ihr gewaltig. Die Reinheit eurer eigenen Liebe, die ihr in diesen Momenten empfindet und die ein Abglanz der Liebe des Vaters ist, diese ist es, die euch so sehr im Herzen rühret. Und sie ist der Odem des Ewigen, der in euch geweckt worden ist.

Wer aber diesen Atem der Liebe nicht verspüren kann in sich, der wisse nun, dass er einer der lebenden Toten, der Verlorenen, ist, ein vollkommener Dämon in menschlicher Gestalt. Und so er ein wenig Verstand hat, rate ich ihm eines: Bete für deine Seele!

Der gemeine Mensch allerdings, ist teils Teufel, teils Engel, ist dazwischen, im dauernden Wandel. Er schwankt hin und her und es ist ihm Raum zum Schwanken und Schunkeln gegeben, solange er sich stets dem Guten und Edlen zuwendet.

Denn er, der Kelch, der Vater, Gott, ist Mensch geworden in Jesus Christus, um zurückzuführen, was verloren gegangen ist, um die Sünden der Welt auf sich zu nehmen und die Ordnung der Ewigkeit wiederherzustellen. Er erlöst jeden, der bereut und an ihn glaubt. Er erlöst jeden, der den Kelch annimmt und gewillt ist dem Satan zu widersagen.

Und wenn der gerechte Mensch stirbt, dann fällt das letzte Quantum Böses von ihm ab und er bekommt einen neuen Körper. Dann werden die Engel ihn freudig ins Himmelreich aufnehmen. Das ist die große Wandlung, die Sublimation, die Transformation, die Metamorphose: Die Erlösung vom Fleisch und die Wiedergeburt im Geist…. So wird der Mensch als Säugling geboren, immerzu gierend und verlangend, nur sich selbst kennend und in blanker Unwissenheit und muss durch dieses Leben wandern und Leid erfahren. Immer und immer wieder. Solange bis er sich erinnert – auch wenn es nur ein dumpfer Schimmer ist, eine schillernde Faszination, die ihn beständig zum Geist führt. Wenn er dann aber im Geist ist und in Demut den Kelch empfängt, kann er gerettet werden und in die Gemeinschaft des Kelches eintreten.

Ich aber stehe vor der Pforte, damit keiner der Diener des Satans hindurch kann und halte das Schwert des Geistes in meiner Hand. Wer durch diese enge Pforte gelangen will, der muss im Geist wiedergeboren werden. Wer diese, letzte Prüfung nicht besteht, der ist verdammt und das Wasser des Lebens ist für ihn verloren.

Niemand kann sagen, wie die Wiedergeburt im Geiste aussieht. Denn so sehr du auch davon sprichst, die Verlorenen werden es nicht erfassen in ihrem Wahn, wodurch ihnen der Weg zur Wahrheit und zum ewigen Leben verschlossen bleibt, denn sie hören das Wort, das am Anfang und am Ende steht und es wird ihnen zur Qual, sodass nur Spott und Missachtung über ihre Lippen kommt, die noch nie ein Wort aus Liebe und Wahrhaftigkeit gesprochen haben und daher alle Worte verdrehen – bis sie eines Tages ganz und gar leer und ausgehöhlt sind.

Die Geretteten aber hören es und nehmen es an. Denn das Wort ist das Leben. Hier stehe ich nun an der Pforte zum Himmelreich und sage jedem, der Einlass verlangt: Wer nicht mit dem Heiligen Geist und mit dem Feuer getauft wurde, der kann hier nicht hindurch.

Kapitel 1

Eva machte sich ausgehfertig. Noch ein kurzer Blick in den Spiegel…. Sie wollte anständig und natürlich aussehen. Deshalb legte sie kaum Make-up auf und zog sich ein schulterfreies, kirschrotes Kleid über. Ihre Freundinnen wollten um halb zehn da sein. Das waren gerade mal noch fünf Minuten. Sollte sie eine Handtasche mitnehmen? Wo sollte sie sonst ihr Portemonnaie und die Schlüssel aufbewahren? Sie beschloss einfach eine Freundin zu bitten, es aufzubewahren. Es klingelte. Zu früh.

Karmen saß am Steuer, während ihr Freund auf dem Beifahrersitz in der Nase popelte. Eva konnte ihn von der Seite aus beobachten. „Das hält bestimmt nicht lange.“, dachte sie und die vielsagenden Blicke ihrer Freundinnen verrieten ihr, dass sie mit dieser Meinung nicht alleinstand. Jonas hieß er und wirkte unsagbar stumpfsinnig.

Karmen quasselte mal wieder die ganze Zeit, was die Fahrt erträglich machte. Sie erzählte irgendeine Anekdote aus der Schule, von ihrem Wirtschaftslehrer….

Das Auto stoppte und sie stiegen aus. „Dein Kleid is voll schön, Eva.“, sagte Amelie, ohne eine Gegenbemerkung zu erwarten. Eva lächelte verlegen. Jonas sah sie von oben bis unten mit einem Blick an, der ihr unverzüglich deutlich machte, dass er scharf auf sie war. Sie verabscheute diesen Blick. Er starrte sie an, wie ihr Stiefvater, kurz nachdem sie dreizehn geworden war.

Als sie schließlich an den Türstehern vorbei waren, konnte man schon die flackernde, in fluoreszierendes Licht getauchte, Tanzfläche sehen, auf der sich Fluten von Menschen wie rhythmisch auf und ab bewegten, als seien sie von einem gemeinsamen großen Geist besessen, während ein tiefer Bass den elektronisch-fiebrigen, eisernen Sound schnell aufeinanderfolgender, dumpfer Töne aus dem Synthesizer begleitete. Eva spürte es vibrieren. Das Beben unter ihren Füßen war das einzig Reale in dieser künstlichen, vom Menschen geschaffenen Kultstädte aus Stahl, Glas, Alkohol und unendlichem Geschrei, das nur deshalb niemand hörte, weil die Musik so erbarmungslos in voller Lautstärke weiterspielte. Wie verrückte und dem Rausch verfallene Geisterbeschwörer grölten und ächzten sie schwitzend und schwankend und feierten ihre Jugend.

Hätte man das ganze aufgenommen und die Musik herausgeschnitten, wäre ein ziemlich skurriles Bild entstanden: Eine Horde zappelnder, betrunkener Schwachsinniger, die sich pausenlos anschrien. Ein schriller und vollkommen asynchroner Chor des Wahnsinns. Ein gewaltiger, moderner, atheistischer Hexensabbat zur Verehrung und magischen Heraufbeschwörung der Fleischeslust.

„Mensch, da seid ihr ja. Wooooh! Party.“ Eine kleine, blonde Gestalt mit strahlenden Augen, deren Namen niemand kannte, trat aus der Menge hervor und manövrierte sich geschickt zwischen zwei Männern hindurch, indem sie beide etwas unsanft mit den Ellenbögen auseinanderschob – was im Grunde nicht nötig gewesen wäre, denn es gab weit und breit genug Platz, um einfach vorbeizugehen. Sie trug einen schwarz-weiß karierten Hut und eine gelbe Fliege. Obwohl alles irgendwie zusammenpasste, war es doch insgesamt ein ziemlich skurriles Outfit.

Nach Austausch der üblichen, oberflächlichen Begrüßungsfloskeln, wendete die Namenlose sich wieder der Tanzfläche zu. Karmen rief nach Eva und den anderen. Amelie war bereits bei ihr. Sie hatte an der Bar Cocktails bestellt. Jonas trank Bier.

Eva trank nun ihren dritten Cocktail aus und musste aufstoßen, weil Karmen einen Witz gemacht hatte und sie nicht aufhören konnte zu lachen. Im selben Atemzug streifte sie den Blick eines Typen, der an einem anderen Tisch saß. Er lächelte. Sie lächelte zurück und wischte sie sich den Mund mit einem Taschentuch ab, dann schaute sie wieder zu ihm. Er lachte sie an. Sie lachte zurück.

Inzwischen war Karmen verstummt und blickte vorsichtig über ihre Schulter. „So ist das also, Eva.“ Sie zwinkerte ihr zu und flüsterte ihr ins Ohr: „Der sieht gut aus.“ „Ja, ja.“, antwortete Eva salopp und wechselte das Thema. Fünf Minuten später ging sie tanzen.

Als Eva schon in der gesichtslosen Masse zu verschwinden drohte und noch einmal kurz zurückschaute, sah sie Karmen, die ihr Kinn hob, um ihr etwas zuzurufen: „Viel Spaß.“ Eva lächelte durchtrieben, biss sich aber im selben Augenblick, kaum sichtbar, andeutungsweise auf die Unterlippe. Verspielt wandte sie, offen Verlegenheit vortäuschend und doch von einem vielsagenden Lächeln begleitet, ihren Blick wieder ab. Sie sah schuldbewusst nach oben an die Decke und unterdrückte ein Lachen, bevor sie wieder zu Karmen schaute, um dann den Kopf zu senken. So gab sie ihrer Geste, nach den geheimen Regeln weiblicher, unausgesprochener Pseudojustiz, den abverlangten, symbolischen Anstrich von Schuldbewusstsein, der alles moralisch Fragwürdige in der Leichtigkeit des Augenblicks erstickte.

Eva drehte sich einmal geschmeidig um die eigene Achse. Aus der Wende heraus, mit dem Rücken zu Karmen gewandt, ohne sie anzusehen, hielt sie dieser, mit weit nach hinten gestrecktem Arm, ihren Mittelfinger entgegen, um gleich danach, wie als wäre es eine einzige, flüssige, beinahe tänzerische Bewegung, wohlwollend über ihre Schulter zu blicken und erneut den Augenkontakt zu suchen. Als sie dann endlich sah, wie sich das ersehnte Grinsen auf den roten Lippen der Mitverschwörerin abzeichnete, fand sie schließlich in den Augen der Freundin die erhoffte, stillschweigende Absolution. Beide lachten herzhaft.

„Was war das?“, fragte Jonas, der gerade hinzugekommen war. „Ach. Frauenkram.“, entgegnete Karmen.

Gerade als Karmen darüber nachdachte, was für ein echtes City Girl Eva war und wie beneidenswert locker sie mit allem umging, erklang der Song Bitch von Meredith Brooks und versetzte augenblicklich sämtliche anwesenden Frauen in hysterische Ekstase. Es war schließlich Ladies Night.

Eva ließ sich fallen und von der Musik leiten. Es gab keinen Grund nachzudenken oder sich zu schämen. Jede Berührung, jede Bewegung, der Atem der anderen auf ihrer Haut, alles war eins, sie war frei und genoss das Wechselspiel von Licht und Schatten, die miteinander verschmolzen, und das pulsierende Grollen der bohrenden Bassschläge unter ihren Füßen. Es war fast perfekt. Nur das Feuerwerk fehlte noch.

Leon beobachtete sie, in aller Ruhe, aus der Entfernung. Er wollte sie nicht unterbrechen. Er wollte ihr zusehen. Jede Bewegung war so ungezwungen, und doch kam es ihm so vor als tanzte sie ganz allein für ihn. Er konnte es kaum ertragen zu sehen, wie die anderen Männer sie anglotzten und versuchten sie anzugrabschen. Doch sie wies sie alle zurück. Erst als das Lied zu Ende war, sprach er sie an.

Sie hatte langes, dunkles Haar, schneeweiße Haut, einen sinnlichen Mund, weiche, blutrote Lippen und große, düstere Augen, die ihn frech und lüstern anschauten. Bei allem, was sie tat war ein Hauch von Erotik im Spiel und ihre Augen schienen immer etwas ganz anderes zu sagen als ihre Lippen. Sie war unvorstellbar sexy. Ihre Augen sagten, nimm mich, und ihre Lippen, warte ab. Worte, Gesten und Blicke spielten miteinander und schillerten verführerisch.

Bald kamen sie ins Gespräch und nur wenig später führten sie eine ernsthafte Unterhaltung über ein Gedicht aus einem Roman, den beide gelesen hatten.

Es

Ich bin Du und Du bist Ich

Ein Dazwischen gibt es nicht

Nur das Wort, die Illusion

Ein innen hohler, schriller Ton

Was bleibt, wenn alles zerfällt?

Die Liebe, die’s zusammenhält?

Was heißt denn schon verliebt?

Es gibt nicht mal ein es gibt

Was gibt es denn dann überhaupt?

Ein Motor, schlecht zusammengebaut

Ein Haufen loser Einzelteile

Sagt zum Moment: Verweile.             

Zerfällt in sich

Was ist das Ich denn eigentlich?

Tja. Ich? Ich weiß es selber nicht

Ein Schnappschuss der Natur

ohne Sinn und ohne Spur                       

Eine Fassade, eine Maske nur?

Und darunter Fleisch und Strom

Ersetzt durch Röhren aus Plastik und Chrom

Es verliert seine Struktur

kriecht herum auf dreckigem Flur.               

Das Ich gleicht einem großen Schlund

Dampfend, dunkel und rund                  

Ein alles verschlingender, triefender Rachen

Eines ewig hungrigen, gierigen Drachen

Das Ich ist alles. Metapher, Frage, Sinn

Antwort, Fürwort, Abort.

„Ich und Es sind eins. Es gibt kein Ich.“

„Es sind diese Gegensätze mit denen gespielt wird. Das ist die Idee hinter allem. Auf allen Ebenen. Man fühlt sich zum selben Zeitpunkt drinnen und draußen. Es ist so, als würde es sich selbst lesen, als würde es sagen: Ich brauche dich nicht. Als würde es sich für einen kurzen Moment der Figuren und sogar des Schreibers bedienen, um seine dunkle Botschaft zu verkünden: Du bist mein Sklave: Lies weiter, Sklave!“

„Es greift nach dir, okkupiert deinen Willen, es schlägt dir ins Gesicht und ist dabei so plump und so direkt, dass es wehtut.“

„Das ist modern.“

„Und das, was gesagt wird, ist realer als das, was wir Realität nennen. Erst in der Fiktion, im überdimensionalen Raum des Irrealen, werden Dinge ausgedrückt, die in unserem Alltag gar nicht gedacht werden können. Und deshalb ist das Irreale realer als das Reale.“

„Und die Widersprüche werden vereint.“

Neben ihnen unterhielt sich noch ein anderes Pärchen, das die Unterhaltung heimlich belauscht hatte. Das Mädchen fragte nur: „Meine Fresse. Worüber reden die da?“

Zur Antwort erhielt sie: „Ich habe absolut keine Ahnung. Die sind wahrscheinlich auf nem Trip oder so. Klingt alles so wie in dieser alten TV-Serie, X-Faktor – das Unfassbare. Kennst de die Sendung? So ein Boomer-Ding, richtig schön billig und 90es-Style“ Hierauf schlug er einen leicht ironischen Unterton an und setzte eine überzogen selbstsichere Grimasse auf: „Guten Abend, liebe Zuschauer. Mein Name ist Jonathan Frakes. Willkommen bei X-Faktor. Haben sie sich nicht auch schon mal gefragt, warum ein Butterbrot immer auf die Butterseite fällt. Tja. Was hat das zu bedeuten? Wo liegt der Sinn? Was geschieht hier? Sind es dunkle Mächte oder bloß die stumpfe Physik? Werden wir es je begreifen? Tja, liebe Freunde. Das erfahren sie leider erst am Ende unserer Sendung.“

Nach einigen Sekunden fügte er dann hinzu: „Seht mich an. Ich bin so wichtig und so geheimnisvoll. Oh ja. Ich bin so geil. Und ich habe eine Botschaft an die Welt. Hört ihr die Stimme eures Meisters? Meine Stimme ist deine Stimme und keine Stimme ist eine Stimme und…. Weiter weiß ich nicht. Aber egal. Ich bin die Stimme aus dem Off.“

Karmen konnte Eva nirgendwo entdecken. Es waren gute vier Stunden vergangen, seit sie auf die Tanzfläche gegangen war. Sie kam gerade von der Taschenausgabe und wollte nur noch nach Hause. Eva konnte unmöglich weg sein, denn sie hatte ja kein Portemonnaie und keinen Schlüssel. Die waren immer noch in ihrer Tasche.

Sie fand sie schließlich in der Lounge, wo das Licht abgedunkelt war, ein paar dunkelbraune Sofas standen und dichte, rote Lichtpunkte langsam über die Wände wanderten, um den gesamten Raum in ein beschauliches Licht zu tauchen. Hier wurde eine andere Musik gespielt als auf der Tanzfläche.

Eva lag neben dem Kerl von vorhin. Sie küssten sich heftig, während ihre Hand in seiner Hose verschwand. Er sah recht gut aus und musste Mitte zwanzig sein. Karmen war geschockt und ihr schossen sofort zwei Gedanken durch den Kopf: „Warum wollen die heißen Typen immer nur was von ihr?“ Und: „Sie doch einen Freund!“ Sie konnte ihre Augen nicht von der Szene lassen, bis schließlich die Freundinnen hinzukamen.

„Wo is Eva?“

„Beschäftigt.“

„Mein Gott. Sie hat doch einen Freund. Wie kann sie das tun? Das hätte ich niemals von ihr erwartet.“, sagte Amelie mit aufrichtiger Betroffenheit.

Als sie merkten, dass sie beobachtet wurden, gingen die beiden Turteltauben auseinander. Leon hielt Eva an der Schulter fest. Sie hickste mit leicht verkniffenen Augen und war offenbar angetrunken.

Karmen ging zu ihr, um ihr mitzuteilen, dass sie und die anderen sich auf den Heimweg machten, und fragte sie, ob sie mitkommen wolle, obwohl sie sich die Antwort denken konnte. Schweigend gab sie ihr das Portemonnaie und sah sie an, als wolle sie sagen: „Naja. Du musst selbst wissen, was du tust. Wir reden darüber, wenn du wieder nüchtern bist.“

Kurz nachdem der peinliche Moment vorüber war und die anderen weg, verließen auch Eva und Leon den Club….

„Und sonst so? Wie war‘s gestern?“, fragte er unwissend. Eva antwortete so unauffällig wie möglich: „Nich so besonders. Wir war‘n im Olymp. War nich viel los.“

„Is irgendwas. Geht’s dir nich gut?“

„Kommst du heut zu mir? Ich vermiss dich.“, entgegnete sie nüchtern.

„Ja. Klar. Ich geh um drei Uhr los.“

„Schläfst du bei mir?“

„Ja. Gern…. Aber wie gesagt…. Ich muss jetzt Schluss machen. Bis dann. Freu mich auf dich. Ich liebe dich.“

„Ich liebe dich auch.“

Jakob verabschiedete sich und legte besorgt den Hörer auf. Irgendetwas stimmte nicht mit Eva. Wahrscheinlich hatte sie gestern mal wieder zu viel getrunken.

Vor zwei Jahren hatten sie sich kennengelernt. Es war im Schlosspark gewesen. Jakob erinnerte sich noch ganz genau an den Tag. Sogar an den Duft, der damals in der Luft lag, konnte er sich entsinnen. Die Erinnerung stieg in ihm auf und umhüllte ihn wie eine glitzernde Luftblase aus halb-durchsichtigen Nebelschwaden.

Dichter und dichter formte sich das Bild vor seinen Augen und Jakob konnte sein früheres Ich dabei beobachten, wie es durch das immer komplexer werdende Konstrukt seiner Erinnerung wanderte. Um ihn herum schossen Bäume und Grünanlagen aus dem Boden hervor. Bald erhoben sich die Gemäuer des alten Schlosses zu neuem Leben, sodass sich allmählich alle Teile zusammenfügten und es ihm bald vorkam, als würde er noch einmal, wie damals, durch den Schlosspark schlendern. Und wie an jenem Tage, war der ganze Boden unter ihm, die Hecken, die Blumenbeete und die Überreste der alten Stadtmauer, ganz und gar mit rosa Flieder bedeckt.

Es war ein sonniger, warmer Morgen und nur einige wenige, kleine, weiße Wölkchen standen hoch am Himmel. Der Weg schlängelte sich an einem Teich vorbei, auf dem ein paar Enten ihre Runden drehten und freundlich vor sich hin quakten. Blaue, gelbe und weiße Blüten, traten an allen Ecken und Enden aus den Büschen und Sträuchern hervor.

Plötzlich sah er Eva vor sich. Ganz in schwarz gekleidet, ein dunkler, verwischter Fleck in einem bunten, luzide leuchtenden Meer aus Farben. Während alles zwitscherte und friedlich wogte, blieb sie ohne Regung.

Er beobachtete sie aus der Entfernung. Sie wirkte verträumt und doch aufmerksam. Immer näher kam er ihr. Als sie ihn endlich bemerkte, sprach er sie an.

Langsam nahm er die Realität um sich herum wieder wahr und seine Gedanken lichteten sich. Mitleid hatte ihn damals dazu gebracht. Sie war ihm so traurig vorgekommen, daher hatte er ein unverbindliches Gespräch mit ihr begonnen, um sie ein wenig aufzumuntern. Danach hatte er sie gefragt, ob sie nicht Lust hätte, mal mit ihm auszugehen.

Wieso nur hatte er das getan?

Seine anfängliche Mauer der Distanz hatte bereits bei ihrem ersten Date Brüche gezeigt. Eva hatte ihm die ganze Zeit über aufmerksam zugehört und jedes seiner Worte aufgesogen. Ihre Bewunderung und die stille und grundlose Ehrerbietung hatten ihm geschmeichelt.

Bei ihrem zweiten Date hatte sie dann die Initiative ergriffen. Es hatte sich komisch angefühlt. Vor allem ihren Körpergeruch hatte er nicht leiden können. Die beißende Intensität hatte ihn angeekelt. Doch seine Fluchtimpulse hatten vor der triebhaften Macht der ersten, echten, sexuellen Berührung seines Lebens versagt und er hatte nicht die Kraft gehabt sich der Gewalt der Hormone zu widersetzen. Dem Wunsch endlich zu erfahren, was es mit all diesem Sexuellen auf sich hatte – das ihm bis dato nur aus der perversen Welt der Pornografie, als ein verzerrtes, obszönes Etwas bekannt gewesen war – hatte er schlichtweg nichts entgegenbringen können. So hatte es angefangen.

Wenn er ehrlich gewesen wäre, dann hätte Jakob zugegeben, dass ihre unterwürfige, geradezu klebrige Abhängigkeit der einzige Grund war, weshalb er sich nicht von ihr lösen konnte und dass nur noch die Erinnerung und das verfremdete Bild, das er sich von Eva gemacht hatte, die letzte Zuneigung, die er empfand, aufrechterhielt.

Jakob hatte es genossen derartig angebetet zu werden. Sie war damals gerade einmal sechzehn gewesen und hätte alles für ihn getan. Wann immer er Lust auf sie verspürt hatte, hatte sie sich ihm hingegeben. Es war fast eine Art Hörigkeit gewesen.

Doch das alte Gleichgewicht war inzwischen aus den Fugen geraten. Eva war heute nicht mehr das schwache, hilflose, sechzehnjährige Mädchen von damals. Mehr und mehr waren Selbstbewusstsein und Tatendrang in ihr gewachsen und hatten einen neuen Menschen aus ihr geformt.

Nach ihrem Versagen in der Schule und ihrem Sitzenbleiben in der elften Klasse, war Eva am Boden zerstört gewesen und hatte niemanden gehabt, der sich um sie sorgte oder sie aufbaute. Bis zu jenem schicksalhaften Zusammentreffen mit Jakob. Alles, was vorher, in den Jahren des stummen Gefühls der Ohnmacht und Mickrigkeit – von schrecklichen Selbstzweifeln unterdrückt – in ihr verschlossen gewesen war, war nun, da sich die Dinge für sie geändert hatten, unfreiwillig offenbar geworden.

Die Niepce Straße war schmal, aber dennoch ragten neben dem Bürgersteig hohe Häuserwände auf. Die ersten Fassaden waren noch frisch gestrichen, doch je tiefer man in die Straße hineinging, desto spröder und verwitterter wurden die Gebäude.

Jakob brauchte von hier aus nicht weit bis zur Schule und hatte daher seine Tasche mit den Büchern dabei. Da am Vortag der erste Schnee gefallen und hier zu wenig Kies gestreut worden war, war der Boden teilweise von schmutzigem, grauem Matsch bedeckt.

Hausnummer 16. Es handelte sich um ein altes Wohnhaus für Industriearbeiter. Das Dach war etwas beschädigt, weil irgendwann mal der Blitz eingeschlagen hatte. Aber da es nicht reinregnete, sah sich auch niemand veranlasst den Schaden zu beheben. Auf dem Gehweg zum Hauseingang lagen ein paar hohle Eierschalen. Eine Elster brach sie auf und schnappte geschickt nach den Futterresten im Inneren. Doch als Jakob sich ihr näherte, breitete sie ihre Flügel aus, hob ab und flog davon….

Eva wohnte im obersten Stockwerk, eine Dachwohnung mit drei Zimmern. Es war zwar nur eine kleine Wohnung und die Gegend war nicht die beste, aber trotzdem fragte sich Jakob wie Eva sich das alles leisten konnte. Er nahm an, dass ihre Eltern dafür aufkamen, doch jedes Mal, wenn er sie fragte, gab sie ihm keine Antwort…

Eva hatte ihm einmal erzählt, sie sei zu Hause ausgezogen, weil sie bei der lauten Musik ihrer Schwester nicht hatte lernen können. Wie furchtbar das gewesen sein musste. Hätte man dafür keine andere Lösung finden können? Aber wie sollte er das beurteilen – sie sprach beinahe nie über diese Dinge. Und wenn, dann nur kurz angebunden.

Immer wenn Jakob die Wohnung betrat, überkam ihn im ersten Augenblick ein klammes Gefühl unerklärlicher Befangenheit. Es war ein bisschen so, als beträte man gerade ein Museum. Man war bemüht ein angemessenes Verhalten an den Tag zu legen.

Es war nicht einfach nur aufgeräumt, es herrschte vielmehr die perfekte Ordnung. Die Schulordner standen fein säuberlich in einer Reihe aufgestellt im Schrank, ohne auch nur einen Millimeter über die Kante zu ragen. Jeder Gegenstand auf ihren Schreibtisch hatte seinen vorgesehenen Platz und war rechtwinklig ausgelegt.

An der Wand hing eine eingerahmte Kopie von Michelangelos Darstellung der Erschaffung Adams aus der Sixtinischen Kapelle. Das Bild zeigte zwei dicke, schwülstige Hände, deren Zeigefinger kurz davor waren sich zu berühren.

Im Wohnzimmer standen teure, schwarze Ledersofas und ein Aquarium. Die Blumen auf der Fensterbank allerdings waren verwelkt, da Eva sie immer zu viel oder zu wenig goss. Weiße, schlichte Gardinen und etwas übertriebene Seidenvorhänge hingen vor dem Fenster. Es gab keinen Fernseher, dafür aber einen großen Schallplattenspieler, neben dem ihre Platten angeordnet waren. Evas Lieblingskomponist war Ludwig van Beethoven, dessen Büste auf dem Schreibtisch, für jeden Besucher sichtbar, platziert war.

Jakob war oft hier. Meistens schwänzte er die Schule, wenn Eva später Unterricht hatte und schlug sich die Zeit tot, anstatt zu lernen. Solange er seine Klausuren bestand, war ihm das egal.

Eva hingegen war da ganz anders. Wenn Jakob bei ihr war, schien ihr die Arbeit leichter zu fallen.

„Ich hab aufgeräumt.“, sagte sie stolz und erwartete eine Antwort.

„Das sieht man.“, bemerkte Jakob unbeeindruckt.

„Hast du was? Du siehst so nachdenklich aus. Was hast de angestellt?“, fragte sie salopp.

„Nein. Nein. Es ist nichts.“, gab er unbedarft zurück.

Manchmal wünschte Eva sich, dass Jakob etwas herzlicher gewesen wäre. Kein Begrüßungskuss, keine Umarmung, nichts. Stattdessen ging er wie selbstverständlich in die kleine Küche zum Kühlschrank, der natürlich leer war.

„Warum hast du Wodka hier?“ rief er.

Sie war zwar in einem anderen Zimmer, aber die Wohnung war alles in allem doch recht klein und hatte keine Türen, sodass man sich gut verstehen konnte, wenn man laut genug sprach.

„Der is noch von gestern.“, antwortete sie.

Eva stand an ihrem Schreibtisch und sortierte gewissenhaft ihre Schulunterlagen. Dabei dachte sie an Leon und hatte das Gefühl ein Kloß läge auf ihrem Herzen. Sie hörte nicht mal mehr, was Jakob sonst noch sagte, irgendwas mit Einkaufen. Als sie alles aufgeräumt hatte, fühlte sie sich ein wenig besser.

Unerwartet stand er hinter ihr und lächelte sie an. Er umarmte und küsste sie. Sie drehte den Kopf weg, gab aber ihren Hals frei.

Danach lagen sie nebeneinander im Bett. Jakob schaute sie an, doch Eva erwiderte den Blick nicht, sondern senke verschämt die Augen.

„Ich liebe dich.“, hauchte sie.

„Ich liebe dich auch.“

„Egal was passiert?“

„Ja. Natürlich. So etwas kann man schließlich nicht mal eben so abstellen.“

„Bleiben wir immer zusammen?“

Die Frage verwirrte ihn. Darüber hatte er noch nie nachgedacht. Er wusste auch nicht, wie er darauf reagieren sollte und bekam ein wenig Angst. Ohne sie verletzen zu wollen entgegnete er: „Das kann man nie hundertprozentig wissen.“

„Ich will es aber hundertprozentig wissen.“

Wut stieg in ihr auf. Dieses Arschloch. Er war immer schon so ein Arschloch gewesen.... Allein schon die Sache, wie sie sich kennen gelernt hatten…. Sie hatte gerade eine Beziehung hinter sich gebracht, war fett und aufgequollen gewesen, ohne zu wissen, wo sie im Leben stand oder wer sie hatte sein wollen.... Und dann kam er.... Er war einfach aus dem nichts gekommen. So gebildet und freundlich und verständnisvoll. Sie hatte sich sofort in ihn verliebt.

Aber für ihn war es keine Liebe auf den ersten Blick gewesen. Auch wenn er ihr das immer wieder versuchte vorzugaukeln, indem er sie so lächerlich überbehutsam behandelte. Als sei sie die Unschuld in Person. Dass sie nicht lachte…. Er heuchelte ihr etwas vor, weil er zu feige war zuzugeben, dass er sie von Anfang an nur als Ego-Pusher missbraucht hatte. Sie hatte ihm die ganze Zeit über hinterherrennen müssen. Und er hatte es genossen.

Einmal war er mit der Schule auf Exkursion in Griechenland gewesen und hatte sich zwei Wochen lang nicht gemeldet. Angeblich weil sein Smartphone kaputt gewesen war. Da konnte man natürlich auch keins ausleihen, wenigstens um Bescheid zu geben. Und natürlich wusste man auch die Nummer seiner Freundin nicht auswendig…. Sie wollte gar nicht wissen, was er da alles so getrieben hatte. Mit den hübschen Griechinnen…. Aber wahrscheinlich hatte er sich gar nicht getraut die Hübschen anzusprechen, sondern nur so fette Schlampen. Für alles andere war er ja zu feige. Genau wie bei ihr damals.

Scheiß Griechenland.... Das waren die schlimmsten zwei Wochen ihres Lebens gewesen. Und er hatte seinen Spaß gehabt. Dieser charakterlose Wichser, Hurensohn. Wie er sie anwiderte.... Wenn sie ihn nur nicht so geliebt hätte.

„Eva? Was is los? Sag doch was!“

Eva hatte seit fünf Minuten kein Wort mehr von sich gegeben. Tränen liefen ihr über das Gesicht und Jakob wusste nicht, ob sie wütend oder traurig war. Er bettelte sie an mit ihm zu sprechen, doch sie sagte bis zum nächsten Morgen kein Wort mehr. Immer wieder redete er auf sie ein, fragte sie was los sei und sagte, dass es ihm leidtue. Eva aber kannte nur einen Gedanken: Es soll dir auch leidtun. Wegen dem, was du getan hast. Und es wird dir noch mehr leidtun.

Am nächsten Morgen, nach dem Aufwachen, sprach Jakob sie nochmal an. Doch sie meinte, sie sei nur schlecht gelaunt und übermüdet gewesen. Ihr war klar, dass sie ihm Unrecht getan hatte und dass sie es war, die sich schlecht fühlen sollte. Eigentlich war er ja ein lieber Kerl. Er hatte eingekauft und Essen gemacht – natürlich ohne danach abzuspülen, obwohl er doch genau wusste, wie wichtig ihr Sauberkeit war. Typisch Mann. Aber sie wollte sich nicht schon wieder mit ihm darüber streiten. Irgendjemand musste ja mal ein wenig Vernunft zeigen.

Gegen Abend machte Jakob sich auf den Weg nach Hause. Nachdem sie sich verabschiedet und er die Wohnung verlassen hatte, ging sie an den Schreibtisch und schaltete ihr Smartphone an. Leon hatte ihr geschrieben.

„Hey Eva. Es war wunderschön mit dir neulich Abend. Ich würd dich echt richtig gern wiedersehen. Habe noch nie sone Frau wie dich kennengelernt. Bist du am Wochenende wieder im Olymp? Kuss Leon.“

Eva hatte Leon nicht gesagt, dass sie einen Freund hatte, obwohl er sie ausdrücklich gefragt hatte. Er hatte sogar gemeint, er könne sich gar nicht vorstellen, dass ein so hübsches Mädchen noch nicht vergeben sei.

Eva erinnerte sich an alles ganz genau.... Sie hatte nämlich, wie so viele Frauen, die ungewöhnliche Eigenschaft sich hartnäckig jedes Kompliment, das ihr gemacht wurde, wortgetreu zu merken. Ein Verhalten, das einer Sondierung gleichkam. Das Schicksal der Frau. Ständig Ausschau haltend, andauernd die eigene Wirkung auf das andere Geschlecht abwägend, war man willenlos, wie ein Roboter, seiner sklavischen Suche nach Selbstwert ausgeliefert. Wie eine Maschine schien das Gehirn Qualität und Quantität der Bewerbungsversuche einzuordnen und sich von einem Moment der Bestätigung zum anderen zu hangeln – einem Affen im Urwald gleich, der sich von Baum zu Baum schwingt.

Und an keinem Ort der Welt war der Mensch seiner Biologie so gnadenlos und uneingeschränkt ausgeliefert, wie im dichten, berauschenden Getümmel eines Nachtclubs. Nicht einmal bei den Wilden im Urwald, gab es solche Exzesse und ein dem gleichkommendes Balzverhalten. Auch wenn Eva sich darüber im Klaren war, dass es falsch war, so sehnte sie sich doch von Zeit zu Zeit nach diesen kurzen, fragmentarischen Momenten der Selbstvergessenheit und der Erlösung, in denen sich die innere Spannung, dessen Ursprung im Verborgenen lag, endlich aufzulösen versprach. Es waren diese Abende, an denen sie sich selbst und allen anderen tausendundein Versprechen machte und keines von ihnen jemals wirklich erfüllte. Das war Freiheit. An jenen Abenden des endlosen Hin- und Herschwingens. Doch das letzte Versprechen war immer eines zu viel und endete im Bett eines Fremden.

Wenigstens ging Leon nicht automatisch davon aus, dass sie jetzt ein Paar waren. Das konnte sie im Moment gar nicht gebrauchen.

Was sollte sie tun? Sie wollte sich ja mit ihm treffen. Aber am Samstag wollte sie Jakob ihren neuen Freundinnen vorstellen. Sie war jetzt seit etwa zwei Monaten auf der neuen Schule und es wurde langsam Zeit dafür. Sollte sie mit Jakob Schluss machen? Sie wusste es nicht. Sie wusste nur, dass sie Leon wiedersehen wollte. Also verabredete sie sich für nächste Woche Mittwoch mit ihm im Olymp. Sie bereute es im selben Moment, in dem sie die Nachricht abgeschickt hatte.

Ungewöhnlich war nur, dass ihr dieses Spiel irgendwie gefiel und sie sogar erregte. Sie hatte keine Ahnung wieso. Vielleicht bloß wegen des vibrierenden Kribbelns unter der Haut, das die grausame Gewalt der Langeweile erfolgreich erstickte. Jene Langeweile, die wie eine Untote aus dem eigenen, inneren Massengrab der vielen Rollen, die Eva täglich spielte, hervorkroch.

Es wurde von Tag zu Tag früher dunkel. Eva war in letzter Zeit ungewöhnlich still. Jakob nahm an, das hinge mit dem Herbstwetter zusammen. Viele Menschen wurden um diese Jahreszeit ruhiger, manche sogar ein wenig depressiv. Es war kühl und düster und die meisten Leute trugen Mäntel. Einige hatten zur Sicherheit noch Regenschirme mit dabei. Auch Eva hatte einen kleinen, ausklappbaren Schirm in ihrer Handtasche versteckt.

Langsam schlenderte das Paar über eine kurze Steinbrücke, die über einen Fluss führte. Hand in Hand waren sie unterwegs, während die Autos in der Dunkelheit an ihnen vorbeirauschten und es heller und lauter wurde, je näher sie in Richtung Innenstadt kamen.

Sie erreichten den Theaterplatz um kurz nach acht. Die anderen waren bereits angekommen. Da Jakob immer noch ein schlechtes Gewissen hatte, versuchte er zu jedem besonders freundlich und zuvorkommend zu sein. Man machte sich auf den Weg Richtung Kino. Hanna und eine Freundin gingen voraus. Eva unterhielt sich mit den anderen beiden, während Jakob bloß zuhörte. Man sprach über die Schule und lachte über witzige Anekdoten.

Nachdem sie sich schließlich entschieden hatten, konnte die Vorstellung beginnen. Jakob hatte es vorgezogen sich nicht in die Entscheidung einzumischen. Wie erwartet war der Film sterbenslangweilig. Der Name war Programm: Melancholia. Irgendein komischer Kunstfilm. Das einzig Gute war, dass man im Kino rauchen durfte, auch wenn man sich die Aschenbecher an der Kartenausgabe holen musste.

Hanna wollte ihnen danach noch unbedingt zeigen, wo sie wohnte. Sie war die Tochter eines berühmten Herz-Spezialisten, dessen Familie in der ganzen Stadt bekannt war, ein Hauch von High Society umgab sie.

Eva ging, wie ihre Freundinnen, auf eine Privatschule, die ein etwas anderes Verständnis vom Sinn und Zweck des Lernens hatte. Es war eine Schule auf die Eltern nicht selten ihre Kinder schickten, wenn diese von ihrem Wesen her anders geartet waren als ihre Altersgenossen. Oder wenn ihre übergroße Sensibilität es ihnen auf irgendeine Art erschwerte sich den Härten des schnöden Schulalltags und der allgemeinen Nichteinmischungspolitik der Lehrerschaft zu stellen.

Vor allem aber schickte man seine Kinder in der Hoffnung auf diese Schule, dass man sie dort zu Menschen erziehe, deren Lebenseinstellung und Sozialverhalten nicht durch Materialismus und gnadenlosen Egoismus geprägt sein würde….

Für Eva nun war es vor allem eine Einrichtung, die ihre wahren Stärken förderte – eine Einrichtung, mehr noch, eine Institution, die in ihrer Unfähigkeit einfachste mathematische Formeln zu begreifen und diese anzuwenden nicht etwa einen Mangel sah, sondern vielmehr ein unbewusstes Aufbegehren einer starken, selbstbewussten, jungen Frau, gegen die patriarchale Logik des Instrumentellen und Machbaren