Politisches Storytelling - Michael Müller - E-Book

Politisches Storytelling E-Book

Michael Muller

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Beschreibung

Wer sich mit Politik und gesellschaftlicher Meinungsbildung auseinandersetzen will, muss sich auch mit dem Thema "Storytelling" beschäftigen – sonst kann er einen wesentlichen Teil der Politik weder verstehen noch beeinflussen. Denn Geschichten und Narrative sind in gesellschaftlichen und politischen Diskussionen und Prozessen allgegenwärtig – ob auf der Oberfläche sichtbar oder auf den ersten Blick unsichtbar und in den Strukturen verborgen. Geschichten in der Politik können unterschiedlich eingesetzt werden: Man kann mit ihnen den Menschen ein Sinnangebot auf Faktenbasis machen oder versuchen, sie mit Fake Storys zu manipulieren. Das Buch ist ein Plädoyer für einen verantwortungsvollen Umgang mit dem politischen Storytelling.

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Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Michael Müller

Politisches Storytelling.

Wie Politik aus Geschichten gemacht wird

Schriften zur Rettung des öffentlichen Diskurses, 2

Köln: Halem, 2020

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme (inkl. Online-Netzwerken) gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

http://www.halem-verlag.de

© Copyright Herbert von Halem Verlag 2020

Print:

ISBN 978-3-86962-499-0

E-Book (PDF):

ISBN 978-3-86962-500-3

E-Book (EPUb):

ISBN 978-3-86962-501-0

ISSN 2699-5832

UMSCHLAGGESTALTUNG: Claudia Ott, Düsseldorf

UMSCHLAGFOTO: picture alliance / Reuters / Tobias Schwarz

LEKTORAT: Rüdiger Steiner

SATZ: Herbert von Halem Verlag

DRUCK: FINIDR, S.R.O., Tschechische Republik

Copyright Lexicon © 1992 by The Enschedé Font Foundery.

Lexicon ® is a Registered Trademark of The Enschedé Font Foundery.

Schriften zur Rettung des öffentlichen Diskurses

Michael Müller

Politisches Storytelling

Wie Politik aus Geschichten gemacht wird

Die Reihe Schriften zur Rettung des öffentlichen Diskurses

Warum ist der Lager übergreifende öffentlich-demokratische Diskurs gefährdet, ja geradezu ›kaputt‹? Weshalb ist der öffentliche Wettbewerb auf dem Marktplatz der Ideen ins Stocken geraten? Und welche Rolle spielen dabei Digitalisierung und Algorithmen, aber auch Bildung und Erziehung sowie eskalierende Shitstorms und – auf der Gegenseite – Schweigespiralen bis hin zu Sprech- und Denkverboten?

Die Reihe Schriften zur Rettung des öffentlichen Diskurses stellt diese Fragen, denn wir brauchen Beiträge und Theorien des gelingenden oder misslingenden Diskurses, die auch in Form von ›Pro & Contra‹ als konkurrierende Theoriealternativen präsentiert werden können. Zugleich gilt es, an der Kommunikationspraxis zu feilen – und an konkreten empirischen Beispielen zu belegen, dass und weshalb durch gezielte Desinformation ein ›Realitätsvakuum‹ und statt eines zielführenden Diskurses eine von Fake News und Emotionen getragene ›Diskurssimulation‹ entstehen kann. Ferner gilt es, Erklärungen dafür zu finden, warum es heute auch unter Bedingungen von Presse- und Meinungsfreiheit möglich ist, dass täglich regierungsoffiziell desinformiert wird und sich letztlich in der politischen Arena kaum noch ein faktenbasierter und ›rationaler‹ Interessensausgleich herbeiführen lässt. Auf solche Fragen Antworten zu suchen, ist Ziel unserer Buchreihe.

Diese Reihe wird herausgegeben von Stephan Russ-Mohl, emeritierter Professor für Journalistik und Medienmanagement an der Università della Svizzera italiana in Lugano/Schweiz und Gründer des European Journalism Observatory.

»In einer narrativen Gesellschaft, so meine Hoffnung, ließen sich quantitative Kriterien weniger leicht als qualitative verkaufen.«

Jonas Lüscher,

Ins Erzählen flüchten, 2020: 63

Inhaltsverzeichnis

EINLEITUNG:GESCHICHTEN? WELCHE GESCHICHTEN?

Warum man über Storys sprechen muss, wenn man über Politik spricht

Geschichten, Erzählungen, Narrative: Eine kurze Klärung der Begriffe

KAPITEL 1DIE WELT IST ALLES, WAS ERZÄHLT WIRD:WIE DER SINN IN DIE GESELLSCHAFT KOMMT

Die großen und die kleinen Erzählungen

Erzählt wird, was Sinn macht

Narrative Gebiete von Gesellschaften

Geschichten und Zeit: Geschichten machen Geschichte

Die Gegenwart und ihre Vergangenheit

Die Gegenwart und ihre Zukunft

Wenn Zukunfts-Narrative fehlen …

Varianten der Pro- und Contra-Geschichten

KAPITEL 2IM MASCHINENRAUM:DIE MECHANIK DES POLITISCHEN STORYTELLING

Geschichten und Frames

Stellschrauben des politischen Storytelling

Wer erzählt wie wovon?

KAPITEL 3WURZELWERKE:DER NARRATIVE HUMUS DES POLITISCHEN STORYTELLING

Die großen Erzählungen: Gesellschaftliche Meta-Narrative

Beispiele gesellschaftlicher Meta-Narrative

Beispiele für aktuelle Meta-Narrative

Der Resonanzraum politischer Geschichten

KAPITEL 4FAKE STORYS UND WAHRE GESCHICHTEN:DIE VERANTWORTUNG DES POLITISCHEN STORYTELLING

Fakten und Geschichten

Fakes und Facts: Was sind wahre Geschichten?

Zehn Postulate für ein verantwortungsvolles politisches Storytelling

KAPITEL 5NARRATIVE KOMPETENZ UND POLITISCHES HANDELN

Narrative Intelligenz und narrative Dummheit

Kleiner Werkzeugkoffer für narrative politische Arbeit

ANMERKUNGEN

LITERATUR

EINLEITUNG:GESCHICHTEN? WELCHE GESCHICHTEN?

Warum man über Storys sprechen muss,wenn man über Politik spricht

Geschichten, Erzählungen, Storys und Narrative sind in gesellschaftlichen oder politischen Diskursen, Diskussionen und Prozessen allgegenwärtig, ob auf der Oberfläche sichtbar oder auf den ersten Blick unsichtbar in den Strukturen. Wenn man sich, so meine These, mit Politik und gesellschaftlicher Meinungsbildung beschäftigen will, dann muss man sich auch mit Storytelling beschäftigen – sonst kann man einen wesentlichen Teil der Diskurse und Prozesse nicht verstehen.

Ich weiß: Viele Menschen haben eine emotional-wertende Haltung zu diesen Begriffen, seit Wörter wie ›Storytelling‹ oder ›Narrativ‹ Modebegriffe (›Buzzwords‹) geworden sind – eine Haltung mit positiver oder negativer Ausprägung, je nach den Bedeutungsinhalten, die man mit ihnen verbindet. Der Begriff ›Storytelling‹ hat vor allem im Unternehmens- und Marketing-Kontext Karriere gemacht, der des ›Narrativs‹ im Feuilleton und in den Geistes- und Gesellschaftswissenschaften. Die Ablehnung dieser Begriffe bezieht sich allein auf die Häufigkeit, mit der man diesen Begriffen begegnet; nicht selten hört man in den entsprechenden Kontexten den Seufzer »Ich kann’s nicht mehr hören! Alles ist heute Storytelling / alles sind auf einmal Narrative!« Der sich darin ausdrückende Überdruss ist natürlich auch einem inflationären und häufig nicht sehr reflektierten Gebrauch dieser Begriffe geschuldet.

Gerade im Unternehmenskontext, in dem ich unter anderem als Berater unterwegs bin, höre ich oft die abenteuerlichsten ›Definitionen‹ von ›Storytelling‹: Da sind dann emotionale Kommunikation, der Gebrauch von Metaphern oder ein Interview schon Storytelling. Man benutzt den schicken Begriff, um die eigene Kommunikation aufzuhübschen. Eine wirkliche Geschichte, die aus einem Anfang, einer Mitte, in der eine Veränderung geschieht und einem Ende besteht (wie schon Aristoteles wusste), ist da häufig nicht zu finden. Ähnlich im Feuilleton: Wenn zum Beispiel vom »Narrativ der Abstimmung« auf einem Parteitag geschrieben wird, dann ist beim besten Willen nicht zu sehen, wo da der aristotelische Dreiklang verborgen sein soll.

Aber: Auch scheinbar noch so berechtigter Überdruss sollte uns nicht davon abhalten, uns mit Geschichten und Narrativen zu beschäftigen. Der Grund ist einfach: Sie sind »immer und überall«, wie man frei nach dem bekannten Songtext der »Ersten Allgemeinen Verunsicherung« sagen könnte.

Über diesen einfachen Überdruss hinaus gibt es in unserer Kultur aber auch ein tiefer sitzendes Misstrauen gegen das Erzählen. Wieder einmal deutlich wurde dies im Dezember 2018 im Zuge des Relotius-Skandals. Dabei wurde aufgedeckt, dass Claas Relotius, ein mit Preisen überhäufter junger Reporter, der unter anderem für den Spiegel schrieb, sehr viele seiner Reportagen in Details oder zur Gänze gefälscht hatte. In die Aufarbeitung dieses Skandals mischten sich auch Stimmen, die dem Erzählen – für das Genre der Reportage ja fundamental – eine Mitschuld an den Fälschungen gab. So schrieb etwa die taz: »An Journalistenschulen lernt der Nachwuchs, dass Reportagen beim Leser ›Kino im Kopf‹ erzeugen sollen, dass ein guter Text starke ›Protagonisten‹ braucht und einen ›Konflikt‹, dass die ›Dramaturgie‹ des Textes wichtig ist. Man lernt, die Texte nicht Artikel zu nennen, sondern ›Geschichten‹. Journalistenschüler belegen ›Storytelling‹-Seminare, als schrieben sie für Netflix.«1 Ähnlich kritische Haltungen gegenüber einer zu starken Betonung des Erzählerischen im Journalismus wurde in vielen Medien geäußert; die Storytelling-Beraterin Petra Sammer hat auf der Online-Plattform LinkedIn eine kritische Zusammenfassung dieser Stimmen geschrieben.2

In bestimmten Kontexten – etwa im Journalismus oder auch in der Politik – ist offenbar das Geschichtenerzählen in Verruf geraten. Hinter vielen Reaktionen auf den Relotius-Skandal steht implizit die Forderung, das Erzählen solle zurückkehren zu den ihm angestammten Bereichen der Literatur, des Films und anderer Fiktionen, und es sei aus Bereichen, die es mit ›Wahrheit‹ und Argumenten zu tun haben, zu verbannen. Zu gefährlich scheint das Erzählen als eine Form, in der sich Wahrheit und Fiktion auf undurchschaubare Weise mischen und die einen dramaturgischen Schleier vor die argumentative Auseinandersetzung mit der Realität hängt. Der angestammte Bereich des Erzählens, so legen diese Haltungen nahe, sei die Unterhaltung im weitesten Sinne: Film, Roman, Kunst, etc. Wenn es ernst wird – in der Politik, in der Wirtschaft – habe das Erzählen allenfalls als ausschmückender Schnörkel seine Rechte, aber sonst gehe es eben um harte Fakten und sachliche Argumente.

Doch ganz so einfach ist es mit dem Erzählen nicht. Narrative Strukturen liegen sehr vielen Diskursen zugrunde, Narrative stecken, sichtbar oder verborgen, in zahlreichen Kommunikationen im Alltag und in den Medien. Narrative Strukturen bestimmen unser Denken sehr viel stärker, als die meisten von uns ahnen. Wir sind in gewisser Weise tatsächlich »Storytelling Animals«, wie es der amerikanische Autor Jonathan Gottschall behauptet (GOTTSCHALL 2012). Die narrative Psychologie, eine in den 1980er-Jahren entstandene, ständig an Gewicht gewinnende Forschungsrichtung, beschäftigt sich mit dieser fundamentalen Bedeutung, die Geschichten und narrative Strukturen für uns Menschen haben (vgl. z.B. BRUNER 1986; SARBIN 1986; LÁSZLÓ 2008), in den letzten beiden Jahrzehnten sekundiert von der Gehirnforschung (z.B. ROTH 2003). Die Art und Weise, wie wir Kausalitäten herstellen, Erlebnissen und Ereignissen einen Bedeutungsrahmen und damit Sinn geben, ist die der narrativen Strukturen, Geschichten, Erzählungen. Allein schon deshalb kann sich Politik nicht darum drücken, sich mit Storytelling zu beschäftigen. Und Storytelling zu betreiben, wenn sie die Menschen wirklich erreichen will.

Aber was bedeutet ›Storytelling‹ im politischen Bereich? Sieht man sich, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, einmal an, wie der Begriff ›politisches Storytelling‹ in Alltag und Medien verwendet wird, kristallisieren sich folgende drei Bedeutungen heraus:

•Politisches Storytelling als ein rein unterhaltendes Element, um damit Reden mit Anekdoten und launigen Schnurren zu würzen und unterhaltsamer zu machen. Politisches Überzeugen aber, so die Perspektive dieser Haltung, geschehe ›natürlich‹ immer noch mit Argumenten.

•Politisches Storytelling als ein rhetorisches Stilmittel, mit dessen Hilfe politische Programme und Argumente besser an die Frau / den Mann gebracht werden können. Diese Bedeutung ist, dank der Popularisierung des »Buzzwords« Storytelling, zurzeit die wohl am meisten verbreitete: Politiker, die von der Kraft des Erzählens gehört haben, hoffen, es genüge eine gute Geschichte, um Menschen dazu zu bringen, auf den Wahlzetteln das Kreuz an der richtigen Stelle zu machen. »Narration als Gleitmittel für trockene Zahlen«, wie es der Schriftsteller und Philosoph Jonas Lüscher ausdrückt (LÜSCHER 2020: 66).

•Politisches Storytelling als strategische Maßnahme, bei der ein bestimmter Strauß von Geschichten oder Geschichten-Formen geschnürt wird, der eine politische Haltung ausdrücken soll. In diesem Sinn wird der Begriff nicht selten von Agenturen verwendet, die Politiker oder Parteien im Wahlkampf unterstützen.

Natürlich drücken all diese Bedeutungen Qualitäten von Geschichten und Erzählen aus. Und doch greifen sie, isoliert betrachtet, zu kurz: Wer glaubt, es genüge, politische Argumente in eine schöne Geschichte zu verpacken, um die Herzen und Hirne der Menschen zu erreichen, wird schnell frustriert sein. Denn das Erzählen als Weise der Welt- und Sinnerzeugung steht in vielerlei Interdependenzen und Zusammenhängen, die es zu berücksichtigen gilt. Und dazu kommt natürlich, wie an der Diskussion der Relotius-Affäre deutlich wurde, auch noch eine ethische Komponente, ohne die schnell ›Fake Storys‹ oder stark manipulative Geschichten Terrain gewinnen.

Neben diesen gängigen Begriffen von Storytelling will sich dieses Buch jedoch mit weiteren Formen des politischen Storytelling, oder besser gesagt, mit der narrativen Ebene in der Politik beschäftigen, eben weil die gängigen Begriffe zu kurz greifen. Politische Geschichten funktionieren nämlich dann gut, wenn sie Narrative benutzen, die in der Gesellschaft entweder seit langem verwurzelt oder gerade im Trend sind. Ein Beispiel: Die antiislamischen Geschichten der Rechtspopulisten finden auch deshalb viel Anklang, weil sie an das alte europäische Trauma-Narrativ ›Die Türken vor Wien‹ anspielen. Und die Grünen stehen jetzt, da ich dies im Frühjahr 2020 schreibe, auch deshalb relativ hoch in der Wählergunst, weil sie – zumindest bis zur Corona-Krise – vom Trendnarrativ ›Fridays for Future / Klimaschutz‹ profitieren. Das heißt, es kommt nicht nur darauf an, welche Geschichten man als Politiker oder als Partei erzählt, sondern vor allem auch darauf, wie resonant die eigenen Geschichten – und die anderen Inhalte, die man kommuniziert, – in der Gesellschaft sind. Und um diesen Resonanzboden oder Humus kennenzulernen, muss man Zuhören lernen. Die drei oben genannten Begriffe von ›politischem Storytelling‹ greifen nämlich auch deshalb zu kurz, weil sie nur auf das ›Telling‹ starren. Das ›Listening‹ ist die zweite, wichtigere Seite der Medaille: Wer erfolgreich mit Geschichten und Narrativen in politischen und gesellschaftlichen Kontexten arbeiten will, muss sich die Zeit nehmen, den Geschichten und Narrativen zuzuhören, die in unserer Gesellschaft von Gruppen und Indivduen erzählt werden.

Die meisten Politiker glauben an Argumente und Fakten. Sie denken in guter aufklärerischer Tradition, dass man Menschen überzeugen kann, indem man ihnen die besseren Fakten präsentiert und auf deren Basis gut argumentiert. Das mag in Einzelfällen auch klappen, aber nicht in der Masse. Seit der Aufklärung im 18. Jahrhundert haben wir uns angewöhnt, unsere Vernunft heillos zu überschätzen. Wir haben seit Adam Smith immer wieder versucht, zu glauben, dass unsere Märkte und damit unsere gesamte Ökonomie über den rationalen Austausch von Informationen funktioniert, auch wenn die Wirklichkeit Gegenbeispiele am laufenden Band liefert: von der Tulpenspekulation in den Niederlanden des 17. Jahrhunderts bis zur Bankenkrise 2008, wo eher Emotionen und Affekte – Angst, Gier, Selbstüberschätzung – das Zepter führten, und nicht die Vernunft. Die Protagonisten dieser Beispiele verhielten sich eben nicht ›vernünftig‹ im klassischen Sinn, sondern agierten und agieren innerhalb bestimmter Narrative, etwa dem Narrativ vom unendlichen Wachstum, dem Narrrativ der eigenen Grandiosität (›Masters of the Universe‹), dem Narrativ der Belohnung von Leistung (Meritokratie-Mythos) etc. Auch in der Politik erreichen Argumente vielleicht einzelne Menschen – aber große Massen erreicht man mit Narrativen und Geschichten, die auf Resonanz stoßen. Übrigens liegt dahinter keine Unterscheidung nach Bildungsgraden, getreu dem Motto: Die tumbe Masse weiß es nicht besser, aber die Gebildeten erreicht man mit Argumenten. Wir Menschen sind ›Storytelling Animals‹ und wir denken in weiten Bereichen in narrativen Strukturen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass auch diejenigen, die Argumente verstehen und akzeptieren, dies im Wesentlichen tun, weil diese Argumente ein bevorzugtes Narrativ, eine Lieblingsgeschichte füttern. Wer grundsätzlich eher rückwärtsgewandten Narrativen anhängt (früher war alles besser), dem werden Argumente und Fakten, die zu belegen scheinen, dass Computernutzung Menschen dumm macht, eher einleuchten als Menschen, die einem technikoptimistischen Zukunfts-Narrativ glauben. Und Menschen, deren zentrales Narrativ ein umwelt-apokalyptisches Untergangsszenario ist, werden Fakten und Zahlen, die das Fortschreiten der Umweltzerstörung belegen, eher glauben als Argumenten, warum die Umwelt in Wahrheit gar nicht bedroht sei. Und umgekehrt. Das heißt: Mit Fakten und Argumenten erreicht man in der Regel diejenigen, die sich davon erreichen lassen wollen (oder können; denn manche Narrative sind auch Gefängnisse, in die man heillos verstrickt sein kann).

Nichts liegt mir ferner, als anti-aufklärerisch zu argumentieren. Die Entdeckung der Vernunft im 18. Jahrhundert und der Versuch, viele Lebensbereiche (auch) rational zu verhandeln, inklusive der Entstehung der modernen Wissenschaft, ist unschätzbar. Aber wir – die westliche Kultur – waren so froh über die Entdeckung der Vernunft, dass wir sie eben maßlos überschätzten. Nicht nur, aber auch und vor allem sichtbar wird diese Überschätzung in der Politik. Als in Deutschland ab 2015 rechtspopulistische Strömungen immer stärker wurden, war die Verwunderung vieler Politiker und Journalisten über die Tatsache groß, dass Anhänger von Bewegungen wie ›Pegida‹ und Parteien wie der AFD ganz offenbar Argumenten nicht zugänglich waren: Wenn man einem Pegida-Anhänger in Dresden vorrechnete, dass in seiner Stadt nur sehr wenige islamische Ausländer lebten, dort also von einer ›Islamisierung des Abendlandes‹ keine Rede sein konnte, führte dieses Argument in der Regel zu keinerlei Einsicht; die Islamisierung komme schon noch, in anderen Teilen Deutschlands sei sie schon viel weiter etc. In einer Dokumentation der Panorama-Redaktion des ZDF kann man diese ›Vernunft-Verweigerung‹ anschaulich miterleben.3 Das ist wie in dem alten Witz: Vier Männer sitzen am Stammtisch, trinken, schweigen. Nach längerer Zeit sagt der Erste: »Was stinkt denn da so?« Schweigen. Dann sagt der Zweite: »Das sind die Hunde.« Wieder Schweigen. Der Dritte schaut unter den Tisch: »Sind gar keine da!«. Wieder Stille, worauf der Vierte sagt: »Die werden schon noch kommen!«

Wenn man davon überzeugt ist, in einer Welt zu leben, in der Argumente und Fakten regieren, bleibt einem vieles unerklärlich. »Jetzt habe ich es schon tausend Mal erklärt, aber die kapieren es immer noch nicht!« Diesen Stoßseufzer vieler Lehrer kennen wohl auch zumindest diejenigen Politiker sehr gut, die an der Basis und ›vor Ort‹ unterwegs sind. Und sowohl die Lehrer als auch die Politiker (und auch viele Journalisten) erklären es dann noch einmal, und noch einmal, und versuchen immer wieder, mit Argumenten ihre Gegenüber von der Unvernunft ihrer Haltung zu überzeugen. ›Immer mehr vom Gleichen‹ heißt diese Strategie, die eine der erfolglosesten überhaupt ist und nur von jemandem gewählt werden kann, dessen Weltsicht keinen Ausweg erlaubt: Entweder man überzeugt rein rational oder gar nicht. Die tiefsitzende Überzeugung, dass ernstzunehmende Politik mit Vernunft und Argumenten gemacht werde, verhindert die Suche nach anderen Lösungen. Denn vielleicht könnte man es ja einmal mit einem neuen Narrativ oder mit einer Geschichte probieren?

Doch wie oben schon angeklungen ist, hat das Erzählen einen zweifelhaften Ruf. Oder besser gesagt: zweierlei Ruf. In Literatur und Film ist »Storytelling« zurzeit eher gut angesehen, nach den großen Zweifeln zwischen den 1970er- und den 1990er-Jahren, in denen im Literaturdiskurs oft sogar ein ›Ende des Erzählens‹ ausgerufen wurde. Die meisten jüngeren Romanautoren würden sich heute ohne große Hemmungen als Erzähler bezeichnen, während andere – wie zum Beispiel Lukas Bärfuss, dessen Ausruf »Hört auf mit euren Geschichten!« Jonas Lüscher kritisch in seinen Poetikvorlesungen zitiert (LÜSCHER 2020: 18) – immer noch ein gutes Stück Skepsis gegen das Erzählen kultivieren. Im Journalismus hat der Ruf des Erzählens, der auch hier in den letzten 10 bis 20 Jahren in Blüte stand, mit dem erwähnten Relotius-Sandal im Dezember 2018 einen Dämpfer erhalten. In Marketing und PR erlebt das Storytelling einen Boom, in den sich jedoch auch kritische Stimmen mischen: Wenn alle auf Teufel komm raus ihre Geschichten erzählen, ist Storytelling dann noch geeignet, einen Unterschied im Krieg um die Aufmerksamkeit zu machen? Über diese Formen eines reinen ›Storytelling‹ hinaus werden narrative Ansätze in der Medizin, in Psychotherapie und Coaching, in der Ökonomie, in der Organisationstheorie, in der gesellschaftlichen und politischen Diskursanalyse entdeckt. Die Aufmerksamkeit für das Erzählen, die Geschichten und die Narrative und was man damit alles machen kann, ist also in den letzten Jahren stark gestiegen – mit positiven wie negativen Ausprägungen. Die positiven Annahmen zum Erzählen berufen sich, wie erwähnt, auf neuere Erkenntnisse von Hirnforschung und narrativer Psychologie, die negativen neben dem ebenfalls erwähnten Überdruss vor der Ubiquität der ›Buzzwords‹ vor allem auf den Verdacht, Geschichten seien manipulativ, bzw. mit Geschichten könne man besonders gut manipulieren. Gerade an diesem Manipulationsverdacht machen sich wohl vor allem auch die Bewertungen von ›Storytelling‹ im politischen Raum fest: Einerseits das Unbehagen, sich des Verdachts der Manipulation ausgesetzt zu sehen, andererseits jedoch auch die Einsicht in die Notwendigkeit der Manipulation – wenn man diesen Begriff einmal als wertfrei betrachtet, als ein Mittel, Realitätskonzepte so zu konstruieren, dass sie Menschen anspricht. Ich werde in diesem Buch auch darauf eingehen, was ›Manipulation‹ im Zusammenhang mit dem Erzählen bedeuten kann. Nur soviel vorab: Die Vorstellung von einer Kommunikation, die absichtslos nur von ›Wahrheiten‹ handelt, ist pure Fiktion. Es gibt keine kontextlose Wahrheit, Annahmen über die Realität sind immer die einer bestimmten Person, einer bestimmten Gruppe. Eine Geschichte zu erzählen bedeutet daher immer, sie aus einer bestimmten Perspektive zu erzählen. Wenn mir das als Rezipient bewusst ist, habe ich Distanz zwischen die Geschichte und mich gelegt und bin weniger manipulierbar (wenn man Manipulation einmal so versteht, dass jemand unbemerkt zu einem Handeln gebracht wird, das er von sich aus so nicht ausführen würde).

Geschichten, Storys, Narrative – ich werde auf die unterschiedlichen Bedeutungen dieser Begriffe noch eingehen –, sind ein wesentlicher, unverzichtbarer Bestandteil menschlicher Gesellschaften, und zwar jeder menschlichen Gesellschaft, ob in der Antike oder heute – auch wenn es uns oft so vorkommt, als ob erst unsere ›Mediengesellschaft‹ nach Geschichten verrückt sei. Natürlich wurde immer erzählt: Klischeehaft denken wir an die Lagerfeuer der Höhlenbewohner oder an die bäuerlichen Kachelöfen an langen Winterabenden. Über dieses unterhaltende oder belehrende Erzählen hinaus bilden aber Geschichten, narrative Strukturen, auch eine wesentliche Klammer, die Gesellschaften, Gruppen, Völker oder Kulturen zusammenhalten. Mythische oder religiöse Erzählungen über die Entstehung der Welt, der eigenen Gruppe oder der Regeln, nach denen wir leben, definieren Gesellschaften oder Gruppen: Woher kommen ›wir, die Griechen‹ (im Gegensatz zu den Barbaren) warum sind wir das auserwählte Volk, wie eint uns der Glaube an einen Gott und die Geschichten, die sich um ihn ranken, oder wie entstand die Demokratie und mit der Aufklärung das Wertesystem, dem wir uns als kultureller ›Westen‹ verpflichtet fühlen? All dies beruht auf Geschichten, Erzählungen, Narrativen, die eine Gruppe oder Gesellschaft teilt und über die sie sich definiert. Dabei gibt es eher inkludierende narrative Systeme, die relativ offen sind für Menschen, die Teil davon werden wollen, und eher exkludierende, die eine starke Grenze etablieren und damit die meisten Menschen ausschließen. Das klassische Narrativ der USA als Einwanderungsland, in dem jeder sein Glück suchen kann, ist ein inkludierendes, das Trump in ein exkludierendes zu verwandeln sucht. Viele Religionen sind einerseits inkludierende Story-Welten, wenn es um die Missionierung ›heidnischer‹ Völker geht, und zugleich exkludierende, wenn es gilt, Häretiker, Abweichler, Regelbrecher im Inneren auszuschließen (historisch häufig final). Und es gibt eher offene gesellschafts-konstituierende Story-Welten und eher geschlossene. Offene narrative Systeme sind solche, die nur wenige Basis-Narrative oder Geschichten voraussetzen, um Gemeinsamkeit zu schaffen und ansonsten ganze Bündel inkludierender Sinn-Narrative zulassen, solange sie nur mit dem Basis-Narrativ kompatibel sind. Geschlossene Story-Welten dagegen sind solche, die den Glauben oder zumindest die Akzeptanz eines ganz genau festgelegten Geschichten-Systems voraussetzen, um Zugehörigkeit zu definieren. Das ›christliche Abendland‹ des Mittelalters war ganz klar ein geschlossenes narratives System (man musste genau die Geschichten (und ›Wahrheiten‹), die in der Bibel standen, für zutreffend (oder tatsächlich geschehen) halten, und zwar alle, und nur sie. Unsere Gesellschaft ist eher offen, ›offiziell‹ gibt es nur wenige grundlegende Werte, Auffassungen und Narrative, deren Akzeptanz tatsächlich vorausgesetzt wird, etwa die Menschenrechte, das Grundgesetz und die Tradition eines aufklärerischen Liberalismus (ich meine hier explizit nicht den Wirtschaftsliberalismus!). Von konservativer und vor allem von rechtspopulistischer Seite wird in den letzten Jahren verstärkt diskutiert, wie offen wir eigentlich sein wollen: Fragen wie die, ob der Islam zu Deutschland gehört, schließen potenziell nicht nur Menschen islamischen Glaubens aus, sondern implizieren – in der Aktivierung des alten europäischen Narrativs vom Kampf des Islam gegen das Christentum –, dass das Christentum dagegen zu Deutschland gehört, und letztlich eine Inklusionsvoraussetzung ist. Auch Begriffe wie die des »Biodeutschen« (Biofranzosen, Biopolens, etc.) implizieren, dass Dazugehören über ein historisches Narrativ der Abstammung definiert sei. Dies ist übrigens ein besonders exkludierendes Narrativ, da es für nicht Dazugehörende niemals einholbar ist: Eine deutsche Abstammungsreihe kann ich, anders als eine Religionszugehörigkeit, als Neubürger niemals erreichen.

Politisches Storytelling in einem weiten Sinn bedeutet also auch die Erkenntnis, dass Geschichten, Narrative immer schon da sind: Unsere Welt, unsere Gesellschaft ist alles, was erzählt wird. Es sind die Narrative und Geschichten, in die wir hineingeboren, mit denen wir aufgewachsen sind, die wir selbst erlebt oder über die Medien rezipiert und die wir vielleicht auch ein wenig selbst mitgestaltet haben. Und die unsere Gesellschaft, ihre Überzeugungen und Werte, ihre Sinnangebote und Zukunftsvorstellungen ganz wesentlich definieren. Wir sind In Geschichten verstrickt, wie es der Philosoph Wilhelm Schapp in seinem Buchtitel (SCHAPP42004) formulierte.

Politische Willens- und Meinungsbildung und gesellschaftliche Diskurse spielen auf dieser Klaviatur der Geschichten, Narrative und Meta-Narrative, ob sie wollen oder nicht, ob ihnen das bewusst ist oder nicht. Wesentlicher Teil jedes politischen Handelns ist der Umgang mit Geschichten und Narrativen. Auch wer glaubt, man könne rein mit Argumenten Gesellschaft verändern oder politische Willensbildung betreiben, arbeitet in Wirklichkeit auf dem Humus der Narrative und vielleicht lässt er mit seinen Argumenten eine Saite mitklingen, die die Melodie eines alten Narrativs oder eines, das gerade im Trend ist, spielen kann. Man kann all die Geschichten, in die wir verstrickt sind, wahrzunehmen und zu analysieren versuchen oder man kann sie ignorieren – da sind sie allemal.