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Mary Beard

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Beschreibung

Im Jahr 79 n. Chr. regnete glühende Asche auf Pompeji nieder. Lava überflutete Menschen, Tiere und Gebäude – und konservierte sie für die Ewigkeit. Jahrhunderte später ist Pompeji eine der wichtigsten Fundstätten der Archäologie. Die weltweit bekannte Historikerin Mary Beard nimmt uns mit auf einen faszinierenden Spaziergang durch die Geschichte Pompejis. Sie schildert, wie die Menschen dort gelebt und geliebt haben, beschreibt Häuser, Kneipen und Gärten, Kunstwerke und Dinge des Alltags. Zugleich entlarvt sie die Irrtümer, die Forschern immer wieder unterliefen, und zeigt, wie es wirklich war. Mit jedem faszinierenden Rätsel, das sie dabei präsentiert, wächst die Sehnsucht, diesen Ort mit eigenen Augen zu sehen. »Pompeji« wurde 2008 mit dem renommierten Wolfson History Prize ausgezeichnet. »Dieses fantastische Buch … ist ein Vorbild für ebenso scharfsinniges wie spannendes Erzählen über die Vergangenheit.« The Guardian

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Seitenzahl: 654

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MARYBEARD

POMPEJI

DAS LEBEN IN EINER RÖMISCHEN STADT

Aus dem Englischen von Ursula Blank-Sangmeister unter Mitarbeit von Anna Raupach

FISCHER E-Books

Inhalt

EinführungUnterbrochenes LebenEine paralysierte StadtDie beiden Leben von PompejiEine Stadt voller ÜberraschungenKapitel 1 Das Leben in einer alten StadtEinblicke in die VergangenheitVor RomPompeji wird römischPompeji in der römischen WeltKapitel 2 StraßenlebenUnter unseren FüßenWozu dienten die Straßen?Prachtstraßen und finstere SeitengässchenDie WasserversorgungEinbahnstraßenÖffentliche und private BürgersteigeDie Leute auf den StraßenDie Stadt, die niemals schläftKapitel 3 Heim und HerdDas Haus des tragischen DichtersDie Kunst der RekonstruktionUntergeschoss, ObergeschossRepräsentative HäuserNur für die Reichen: »das pompejanische Haus«Namen und Adressen79 n.Chr.: Alles ändert sichKapitel 4 Malen und DekorierenVorsicht: Maler bei der ArbeitPompejanische FarbenWas wohin gehörteMythen möblieren einen RaumEin Zimmer mit Aussicht?Kapitel 5 Seinen Lebensunterhalt verdienen: Bäcker, Bankier und garum-HerstellerGewinnspannenDie römische WirtschaftLandleben und ländliche ErzeugnisseStädtische GewerbebetriebeEin BäckerEin BankierDer garum-HerstellerKapitel 6 Wer regierte die Stadt?Wahl, Wahl, WahlDie Bürden des Amtes?Das Gesicht des ErfolgesJenseits der männlichen Elite?Kapitel 7 Die Freuden des Körpers: Speisen, Wein, Sex und ThermenSiebenschläfer als Vorspeise?Der Mensch ist, was er isstEine Gesellschaft von GaststättenbesuchernBordellbesucheEin schönes BadKapitel 8 Spaß und SpieleDas WürfelspielVon Stars fasziniert?Blutige SpieleLieblinge der FrauenKapitel 9 Eine Stadt voller GötterJene anderen EinwohnerKeine BuchreligionStädtische TempelDie Feier der Götter: öffentlich und privatPolitik und Religion: Kaiser, Kultdiener und PriesterMächtige IsisEpilog Stadt der TotenAsche zu AscheStreitigkeiten über den Tod hinausWie wär’s mit einer Besichtigung?LiteraturhinweiseAllgemeine LiteraturEinführungKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9EpilogFarbiger TafelteilDankVerzeichnis der Pläne und ZeichnungenAbbildungsverzeichnisFarbtafelnAbbildungenRegisterPlan 21. Die Stadt Pompeji

Einführung

Unterbrochenes Leben

In den frühen Morgenstunden des 25. August des Jahres 79 n.Chr. ließ der Bimssteinregen über Pompeji ein wenig nach. Anscheinend war dies ein günstiger Augenblick, um die Stadt zu verlassen und sich in Sicherheit zu bringen. Eine versprengte Gruppe von mehr als 20 Flüchtenden, die, als der entsetzliche Regen am heftigsten niederprasselte, innerhalb der Mauern Schutz gesucht hatten, strebte zu einem der östlichen Stadttore, weil sie hoffte, so dem Bombardement aus vulkanischen Gesteinsbrocken zu entkommen.

Ein paar andere hatten bereits einige Stunden zuvor versucht, diesen Weg einzuschlagen. Ein Paar hatte auf seiner Flucht nur einen kleinen Schlüssel bei sich (vermutlich in der Hoffnung, eines Tages zu dem zurückzukehren, was er verschloss – ein Haus, eine Wohnung, eine Truhe oder Kassette) sowie eine einzelne Bronzelampe (Abb. 1). Sie kann gegen die nächtliche Dunkelheit und die Schuttwolken kaum viel ausgerichtet haben, doch es handelte sich um ein teures und modisches Objekt in Gestalt des Kopfes eines Schwarzafrikaners – ein Hinweis auf die (uns) irritierenden einfallsreichen Formen, denen wir in Pompeji häufig begegnen werden. Das Paar hat es nicht geschafft. Vom Bimssteinregen überwältigt, wurden die beiden 1907 dort gefunden, wo sie zu Boden gestürzt waren, in der Nähe eines der großen Grabmäler, die diese wie andere Ausfallstraßen säumten. Sie brachen neben der aufwendigen Gedenkstätte einer Frau zusammen, die vermutlich 50 Jahre früher gestorben war, Aesquillia Polla, der Frau des Numerius Herennius Celsus. Mit ihren gerade einmal 22 Jahren (wie wir auf dem Stein noch lesen können) dürfte sie kaum halb so alt wie ihr reicher Ehemann gewesen sein, der als Angehöriger einer der prominentesten Familien Pompejis als Offizier in der römischen Armee gedient hatte und zweimal in das höchste Amt der Stadtregierung gewählt worden war.

Abb. 1. Kleine Lampen in Form menschlicher Köpfe (oder Füße) waren im 1. Jahrhundert n.Chr. in Mode. Bei dieser wurde das Öl in das Loch auf der Stirn gegossen, wobei die Flamme aus dem Mund kam. Mit den Blütenblättern, die den Griff bilden, misst die Lampe nicht mehr als zwölf Zentimeter.

Die Bimssteinschichten hatten schon eine Höhe von mehreren Fuß erreicht, als die andere Gruppe sich entschloss, denselben Fluchtweg zu wagen. Man kam nur langsam und unter großen Schwierigkeiten voran. Die meisten dieser Flüchtenden waren junge Männer, viele trugen nichts bei sich, entweder weil sie nichts hatten oder weil sie ihre Wertsachen nicht mehr an sich nehmen konnten. Ein Mann hatte sich vorsichtshalber mit einem in einer eleganten Scheide steckenden Dolch bewaffnet (er hatte auch noch eine zweite Scheide bei sich, die aber leer war, vielleicht weil er die zugehörige Waffe verloren oder verliehen hatte). Die wenigen Frauen in der Gruppe hatten schon etwas mehr. Eine führte eine kleine Silberstatuette der – auf einem Thron sitzenden – Glücksgöttin Fortuna mit sich, außerdem eine Handvoll goldener und silberner Ringe – an einem war, wohl als Talisman, ein winziger Phallus aus Silber (ein weiterer Gegenstand, dem wir im Laufe des Buches des öfteren begegnen werden) mit einer Kette befestigt. Andere hatten ihren eigenen kleinen Bestand an Kostbarkeiten mitgenommen: einen silbernen Medizinkasten, einen kleinen Sockel für eine (nicht erhaltene) Statuette und etliche Schlüssel, alles in einer Stofftasche verstaut; ein hölzernes Schmuckkästchen mit einer Halskette, mit Ohrringen und einem silbernen Löffel – und noch mehr Schlüsseln. Sie hatten auch alles Bargeld, das sie auftreiben konnten, mitgebracht. Die einen nur etwas Kleingeld, andere alles, was sie zu Hause versteckt hatten, oder auch die Einnahmen aus ihrem Laden. Es war jedoch nicht viel. Alles in allem verfugte die Gruppe über insgesamt knapp 500 Sesterze – nach pompejanischen Verhältnissen etwa der Gegenwert eines Maultieres.

Einige aus dieser Gruppe schafften eine etwas längere Strecke als die zuvor Geflüchteten. Ungefähr 15 hatten die nächste große Gedenkstätte, 20 Meter weiter stadtauswärts, erreicht, das Grabmal des Marcus Obellius Firmus, als sie von dem, was wir jetzt als den »pyroklastischen Strom« des Vesuvs kennen, dahingerafft wurden – einem tödlich brennenden Gemisch aus Gasen, Vulkanschutt und geschmolzenem Fels, das mit riesiger Geschwindigkeit dahinraste und dem nichts standhalten konnte. Ihre Leichname wurden teils in einem Gewirr von Ästen, die sie anscheinend noch immer umklammert hielten, gefunden. Vielleicht hatten die Agileren unter ihnen bei dem aussichtslosen Versuch, sich zu retten, unter den um die Grabmäler stehenden Bäumen Zuflucht gesucht. Es ist aber wahrscheinlicher, dass der Strom, der die Flüchtenden tötete, auch die Bäume auf sie niederkrachen ließ.

Dem Grabmal des Obellius Firmus selbst erging es um einiges besser. Obellius war ebenfalls ein pompejanischer Grande, der einige Jahrzehnte zuvor gestorben war und dessen Tod so lange zurücklag, dass die Wände seines Monumentes als lokales Anschlagbrett genutzt werden konnten. Hier können wir noch die Ankündigungen der einen oder anderen Gladiatorendarbietung entziffern sowie zahlreiche Kritzeleien von Leuten, die bei den Grabstätten herumstreunten: »Hallo Issa, von Habitus«, »Hallo Occasus, von Scepsinianus« usw. (Habitus’ Freunde antworteten offenbar mit einem großen Phallus samt Hoden und der Botschaft »Hallo Habitus, von deinen Kumpeln überall«). Weiter oben verkündete der Text des offiziellen Epitaphs von Obellius Firmus, dass seine Bestattung vom Rat der Stadt bezahlt worden sei und 5000 Sesterze gekostet habe – zusätzliche 1000 Sesterze hätten ein paar andere lokale Amtsträger für Weihrauch und »einen Schild« (wahrscheinlich ein Schild-Porträt, eine typisch römische Form des Gedenkens) ausgegeben. Diese Bestattungskosten überstiegen mit anderen Worten gut das Zehnfache dessen, was die gesamte Gruppe für ihre Flucht in die Sicherheit hatte aufbringen können. Pompeji war eine Stadt von Armen und Reichen.

Abb. 2. Die Gipsabgüsse der Körper der Opfer sind eine bleibende Erinnerung an ihre Menschlichkeit – sie waren genauso wie wir. Dieser eindrucksvolle Abguss eines sterbenden Mannes, der die Hände vors Gesicht hält, befindet sich aus Sicherheits- und Konservierungsgründen in einem Lagerraum der Ausgrabungsstätte. Jetzt scheint er seine eigene Gefangenschaft zu beklagen.

Viele andere Geschichten von Fluchtversuchen lassen sich nachzeichnen. Fast 400 Leichname wurden in den Bimssteinschichten entdeckt und an die 700 in den jetzt festen Überresten der pyroklastischen Flut – viele von ihnen konnten dank einer im 19. Jahrhundert ersonnenen Technik so anschaulich dargestellt werden, dass sie wie zum Zeitpunkt ihres Todes aussehen: Bei dieser raffinierten Technik wird der Hohlraum, der sich infolge des Zerfalls von Körper und Kleidung gebildet hat, mit Gips aufgefüllt. So kann man die hochgezogenen Tuniken, die zum Schutz verhüllten Gesichter und den trostlosen Gesichtsausdruck der Opfer erkennen (Abb. 2). Eine auf einer Straße beim Forum aufgefundene Vierergruppe deutet darauf hin, dass hier eine ganze Familie zu entkommen versuchte. An der Spitze ging der Vater, ein kräftiger Mann mit großen buschigen Augenbrauen (wie der Gipsabguss zeigt). Er hatte den Mantel über den Kopf gezogen, um sich vor den herabfallenden Asche- und Schuttmassen zu schützen, und trug etwas Goldschmuck (einen schlichten Fingerring und einige Ohrringe) bei sich sowie eine Reihe von Schlüsseln und, anders als oben, eine ordentliche Summe Bargeld, fast 400 Sesterze. Seine beiden kleinen Töchter folgten ihm, während die Mutter den Schluss bildete. Sie hatte ihr Kleid hochgezogen, um sich das Gehen zu erleichtern, und führte in einer kleinen Tasche wertvolle Haushaltsgegenstände mit sich: das Familiensilber (etliche Löffel, zwei Becher, ein Medaillon mit der Gestalt der Fortuna, einen Spiegel) und die gedrungene Figurine eines kleinen Jungen, der in einen Mantel gehüllt ist, unter dem seine nackten Füße hervorschauen (Abb. 3). Es ist ein plumpes Werkstück, gefertigt allerdings aus Bernstein, der von der nächstgelegenen Bezugsquelle im Baltikum eine Reise von vielen Hunderten von Kilometern zurückgelegt haben muss; das machte ihn so wertvoll.

Abb. 3. Ein wertvolles Besitztum? Diese gedrungene kleine Figurine aus rotem baltischem Bernstein wurde bei einem der gescheiterten Flüchtlinge gefunden. Sie ist acht Zentimeter hoch und sollte vielleicht einen der Standardcharaktere des römischen Mimus darstellen, einer populären Form der Unterhaltung in Pompeji (vgl. S. 351f.).

Andere Funde erzählen von anderen Leben. Da gab es den Arzt, der, seinen Instrumentenkasten umklammernd, die Flucht ergriff, um dann doch nur von dem tödlichen Strom erfasst zu werden, als er auf dem Weg zu einem der südlichen Stadttore die beim Amphitheater gelegene palaestra (großer freier Platz oder Trainingsgelände) überquerte; es gab den Sklaven, gefunden im Garten eines großen Hauses in der Stadtmitte, dessen Bewegungsfreiheit durch die Eisenketten an seinen Fußgelenken gewiss eingeschränkt war; da war der Priester der Göttin Isis (oder vielleicht auch ein Tempeldiener), der für die Flucht einige Wertobjekte des Tempels zusammengepackt und nicht mehr als 50 Meter zurückgelegt hatte, bevor er ebenfalls umkam. Und dann gab es natürlich jene mit Juwelen reich behängte Dame, die man in einem Raum der Gladiatorenkaserne entdeckte. Dies galt oft als nette Illustration der Vorliebe von Römerinnen der Oberschicht für muskelbepackte Gladiatorenkörper. Hier scheint eine von ihnen zur falschen Zeit am falschen Ort überrascht worden zu sein, vor den Augen der Geschichte des Ehebruchs überführt. Doch in Wahrheit ist dies eine sehr viel unschuldigere Szene. Höchstwahrscheinlich war diese Frau gar nicht verabredet, sondern hatte in der Kaserne Schutz gesucht, als ihr die Flucht aus der Stadt zu beschwerlich wurde. Falls sie sich tatsächlich mit ihrem Gespielen getroffen hatte, dann hatten sich zu diesem Rendezvous immerhin noch 17 andere Personen und etliche Hunde eingestellt – all deren Überreste wurden in demselben kleinen Raum gefunden.

Die Leichname von Pompeji gehörten schon immer zu den eindrucksvollsten Bildern und Attraktionen der in Trümmern liegenden Stadt. Bei den frühen Ausgrabungen des 18. und 19. Jahrhunderts wurden die Skelette in Gegenwart königlicher Besucher und anderer Würdenträger in geziemender Weise »entdeckt« (Abb. 4). Romantische Reisende gerieten außer sich beim Gedanken an die grausame Katastrophe, die über die armen Seelen, deren sterbliche Überreste sie betrachteten, hereingebrochen war; darüber hinaus führte das, was sie hier erlebten, zu allgemeineren Überlegungen über die prekäre Zerbrechlichkeit der menschlichen Existenz. Nachdem sie 1786 die Ausgrabungsstätte besucht hatte, beschrieb Hester Lynch Piozzi – die englische Schriftstellerin, die ihren Nachnamen der Ehe mit einem italienischen Musiklehrer verdankte – diese Reaktionen (und parodierte sie ein wenig): »Wie schrecklich sind die Gedanken, die einem bei einem solchen Anblick kommen! Wie entsetzlich die Gewissheit, dass sich eine solche Szene morgen wiederholen könnte; und dass heutige Betrachter möglicherweise zu Schauobjekten für Reisende eines späteren Jahrhunderts werden, die unsere Gebeine für die von Neapolitanern halten und sie vielleicht wieder in ihre vermeintliche Heimat zurückbringen könnten.«

Abb. 4. Berühmte Pompeji-Besucher ließen sich die Ausgrabungen noch einmal vor Augen fuhren. 1769 begutachtet hier der Kaiser von Österreich ein Skelett, das in einem Haus aufgefunden wurde, das nach ihm den Namen »Haus des Kaisers Joseph II.« trägt. Die Dame in der Gruppe bekundet ein deutlich größeres Interesse.

Eines der bekanntesten Objekte der ersten Ausgrabungsjahre war der Abdruck einer weiblichen Brust, den man in den 1770er Jahren in einem großen Haus (der sogenannten Villa des Diomedes) direkt vor der Stadtmauer entdeckt hatte. Fast ein Jahrhundert bevor die Technik der vollständigen Gipsabgüsse der Körperhohlräume perfektioniert worden war, konnten die Ausgräber hier in den festen Ablagerungen die in der Lava abgebildete komplette Gestalt der Toten, ihre Kleidung und sogar ihre Haare erkennen. Der einzige Teil dieses Materials, das sie mit Erfolg freilegen und erhalten konnten, war diese eine Brust, die, im nahe gelegenen Museum ausgestellt, rasch zu einer Touristenattraktion wurde. Über kurz oder lang wurde sie auch zur Inspirationsquelle von Theophile Gautiers berühmter Novelle Arria Marcella (1852). Diese handelt (in einer verwirrenden Kombination aus Zeitreise, Wunschdenken und Fantasie) von einem jungen Franzosen, der, betört von der Brust, die er im Museum gesehen hat, in die antike Stadt zurückkehrt, um seine Geliebte zu finden oder neu zu erfinden – die Frau seiner Träume, eine der letzten römischen Bewohnerinnen der Villa des Diomedes. Traurigerweise ist die Brust selbst, trotz all ihrer Berühmtheit, schlichtweg verschwunden, und eine größere Suche nach ihr in den 1950er Jahren erbrachte keinerlei Hinweis auf ihr Schicksal. Nach einer Theorie führte die Serie invasiver Tests, die von wissbegierigen Forschern des 19. Jahrhunderts durchgeführt wurde, schließlich zu ihrem Zerfall: Asche zu Asche, könnte man sagen.

Die Macht der pompejanischen Toten ist auch in unserer Zeit noch wirksam. Primo Levis Gedicht »Das Mädchen von Pompeji« bezieht sich auf den Gipsabguss eines kleinen Mädchens, das sich an seine Mutter klammert (»… Mädchen,/Das du dich krampfhaft an die Mutter klammerst,/Als suchtest du von neuem in sie einzudringen,/Zur Mittagsstunde, als sich der Himmel schwärzte«), um über das Schicksal der Anne Frank und eines namenlosen Schulmädchens von Hiroshima nachzusinnen – Opfer eher von menschengemachten als von natürlichen Katastrophen (»Uns genügen vollauf die Leiden, die der Himmel uns schenkt./Bevor ihr den Knopf drückt, haltet ein und sinnt nach.«). Zwei Abgüsse spielen auch in Roberto Rossellinis Film Reise nach Italien (1953) eine kleine Nebenrolle, einem Film, der als »das erste Werk des modernen Kinos« gefeiert wurde, aber kommerziell ein totaler Misserfolg war. In inniger Umarmung, Liebende noch im Tod, erinnern diese beiden Opfer des Vesuvs zwei moderne Touristen (Ingrid Bergman – deren Ehe mit Rossellini damals schon auf der Kippe stand – und George Sanders) auf schmerzliche und erschütternde Weise daran, wie distanziert und leer ihre eigene Beziehung geworden ist. Doch es gibt nicht nur menschliche Opfer, die durch solche Abgüsse erhalten sind. Einer der bekanntesten und eindrucksvollsten ist der eines noch immer an seinen Pflock angeketteten Wachhundes im Hause eines wohlhabenden Walkers (Wäschers und Tuchmachers). Noch im Sterben versuchte er verzweifelt, sich von seiner Kette loszureißen.

Gewiss tragen Voyeurismus und Pathos wie auch makabre Lüsternheit allesamt zur Anziehungskraft dieser Abgüsse bei. Selbst die abgebrühtesten Archäologen ergehen sich bisweilen in reißerischen Beschreibungen ihrer Todeskämpfe oder der Auswirkungen der pyroklastischen Flut auf den menschlichen Körper (»ihre Hirne müssen gekocht haben …«). Die Besucher der Ausgrabungsstätte, wo manche der Abgüsse noch in der Nähe der Fundorte ausgestellt sind, reagieren auf sie wie auf die ägyptischen Mumien: Kleine Kinder pressen mit Schreien des Entsetzens ihre Nase an die Glaskästen, während Erwachsene zu ihren Kameras greifen – wobei auch sie ihre grimmige Faszination über diese Überreste der Toten kaum verbergen können.

Doch Lüsternheit ist nicht alles. Die Wirkung dieser Opfer (ob vollständig in Gips gegossen oder nicht) hängt nämlich auch mit dem Eindruck zusammen, dass sie uns in unmittelbaren Kontakt mit der antiken Welt treten lassen. Dank ihrer können wir menschliche Geschichten ebenso rekonstruieren wie die Alternativen, Entscheidungen und Hoffnungen wirklicher Menschen, in die wir uns über die Jahrtausende hinweg einzufühlen vermögen. Wir müssen keine Archäologen sein, um uns vorzustellen, wie es wäre, wenn wir unser Heim nur mit dem, was wir tragen können, verlassen müssten. Wir können uns in den Arzt hineinversetzen, der sich dazu entschied, die Werkzeuge seines Metiers mitzunehmen, und teilen beinahe sein Bedauern über das, was er zurückzulassen hatte. Wir sind in der Lage, den vergeblichen Optimismus derjenigen zu verstehen, die den Haustürschlüssel in die Tasche steckten, bevor sie sich auf den Weg machten. Sogar jene hässliche kleine Bernstein-Figurine bekommt eine spezielle Bedeutung, wenn wir wissen, dass jemand sie besonders mochte und sie beim endgültigen Verlassen des Hauses schnell noch an sich nahm.

Die moderne Wissenschaft kann diese individuellen Lebensgeschichten ergänzen. Besser als frühere Generationen können wir alle möglichen persönlichen Informationen von den noch erhaltenen Skeletten ableiten: angefangen bei so relativ einfachen Messungen von Größe und Körperbau (die antiken Pompejaner waren, wenn überhaupt, etwas größer als heutige Neapolitaner) über aufschlussreiche Spuren von Kinderkrankheiten und Knochenbrüchen bis hin zu Hinweisen auf Familienbeziehungen und ethnische Herkunft, die sich jetzt durch DNA- und andere biologische Analysen nachweisen lassen. Wahrscheinlich treibt man die Interpretation zu weit, wenn man, wie manche Archäologen es getan haben, behauptet, der spezielle Entwicklungsstand eines jugendlichen Skeletts liefere genügend Indizien dafür, dass der junge Mann einen großen Teil seines kurzen Lebens als Fischer verbracht habe und dass der Verschleiß seiner Zähne auf der rechten Seite dadurch verursacht worden sei, dass er auf der Angelschnur, an der sein Fang hing, herumkaute. Anderswo bewegen wir uns allerdings auf sichererem Boden.

In zwei Hinterzimmern eines herrschaftlichen Hauses wurden z.B. die Überreste von zwölf Personen entdeckt, vermutlich der Eigentümer mit seiner Familie und seinen Sklaven. Sechs Kinder und sechs Erwachsene, darunter eine knapp zwanzigjährige junge Frau, die bei ihrem Tod im neunten Monat schwanger war – die Knochen des Fötus befinden sich noch in ihrem Leib. Möglicherweise war die fortgeschrittene Schwangerschaft der Grund dafür, dass sie alle, das Beste hoffend, beschlossen, lieber im Inneren des Hauses Schutz zu suchen, als eine überstürzte Flucht zu wagen. Die Skelette sind seit ihrer Auffindung im Jahre 1975 nicht allzu sorgfältig konserviert worden (wenn, wie ein Forscher kürzlich darlegte, »die unteren vorderen Backenzähne [eines der Schädel] irrtümlicherweise in die Höhlen der oberen mittleren Schneidezähne eingesetzt wurden«, ist dies kein Beleg für eine dilettantische antike Zahnbehandlung, sondern für eine dilettantische moderne Restaurierung). Fügt man jedoch die verschiedenen anderen Hinweise zusammen – das relative Alter der Opfer, den reichen Juwelenschmuck der schwangeren Frau, die Tatsache, dass sie und ein neunjähriger Junge an derselben genetisch bedingten leichten Rückgratverkrümmung leiden –, können wir uns durchaus ein Bild von der in diesem Haus lebenden Familie machen. Ein älteres Paar, er in den 60ern, sie um die 50 mit deutlichen Zeichen einer Arthritis, waren höchstwahrscheinlich die Hauseigentümer und die Eltern oder Großeltern der jungen Schwangeren. Aufgrund des reichen Schmucks können wir einigermaßen sicher sein, dass sie keine Sklavin war, und die gemeinsamen Rückgratprobleme deuten darauf hin, dass sie eine Blutsverwandte war und nicht in die Familie hineingeheiratet hatte – der neunjährige Junge war also ihr jüngerer Bruder. Wenn dies zutrifft, dann lebte die junge Frau mit ihrem Mann (er war wahrscheinlich in den 20ern und hatte, wie das Skelett zeigt, einen ausgeprägten, entstellenden und zweifellos schmerzvollen Schiefhals nach rechts) entweder bei ihrer Familie, oder die beiden waren für die Geburt in das Elternhaus der Frau zurückgekehrt. Natürlich können sie an dem verhängnisvollen Tag auch nur zufällig zu Besuch gewesen sein. Die anderen Erwachsenen, ein Mann in der 60ern und eine Frau in den 30ern, waren entweder Sklaven oder auch Verwandte.

Ein genauer Blick auf ihre Zähne, mögen sie nun wiedereingesetzt worden sein oder nicht, offenbart weitere Details. Die meisten von ihnen weisen eine Reihe von verräterischen Ringen im Zahnschmelz auf, hervorgerufen durch wiederholte kindliche Infektionskrankheiten – ein klarer Hinweis auf die Gefahren, denen Kleinkinder in der römischen Welt ausgesetzt waren, in der die Hälfte der Neugeborenen nicht einmal zehn Jahre alt wurde. (Die gute Nachricht ist, dass man, wenn man das Alter von zehn erreicht hatte, erwarten konnte, noch 40 oder mehr Jahre zu leben.) Die klar nachweisbare Karies, auch wenn sie nicht so verbreitet war wie in den modernen westlichen Ländern, deutet auf eine zucker- und stärkereiche Ernährung. Bei den Erwachsenen waren nur beim Ehemann der schwangeren Frau keine Zeichen von Karies festzustellen. Allerdings litt er, wie sich wiederum aus seinem Zahnstatus erschließen lässt, an einer Fluoridvergiftung, weil er vermutlich außerhalb von Pompeji aufgewachsen war, in einem Gebiet mit einem ungewöhnlich hohen Anteil an natürlichen Fluoriden. Am auffälligsten ist, dass alle Skelette, selbst die der Kinder, einen starken Zahnsteinbefall aufweisen – manchmal von mehreren Millimetern. Der Grund dafür liegt auf der Hand. Es mag Zahnstocher gegeben haben, sogar die eine oder andere raffinierte Mixtur zum Polieren und Aufhellen der Zähne (in einem Buch pharmakologischer Rezepturen beschreibt der Leibarzt des Kaisers Claudius die Mischung, die angeblich der Kaiserin Messalina zu ihrem schönen Lächeln verhalf: gebranntes Hirschhorn, Harz und Steinsalz). Doch es war eine Welt ohne Zahnbürsten. Pompeji muss eine Stadt mit einem sehr üblen Mundgeruch gewesen sein.

Eine paralysierte Stadt

Frauen vor der Niederkunft, noch immer an ihre Pflöcke angekettete Hunde und eine deutliche Wolke üblen Mundgeruchs … Das sind denkwürdige Vorstellungen vom normalen Alltag in einer römischen Stadt, der plötzlich mittendrin unterbrochen wurde. Und es gibt noch sehr viel anderes: die in einem Ofen gefundenen Brotlaibe, die man, während sie noch buken, dort zurückgelassen hatte; die Gruppe von Malern, die, als sie gerade einen Raum renovierten, das Weite suchten und ihre Farbtöpfe und einen Eimer mit frischem Gips hoch oben auf einem Gerüst stehen ließen – als dieses bei dem Vulkanausbruch einstürzte, verbreitete sich der Inhalt des Eimers über die sorgfältig präparierte Wand und hinterließ eine dicke Kruste, die man noch heute sehen kann (vgl. S. 167–172). Aber wenn man ein wenig an der Oberfläche kratzt, zeigt sich, dass die Geschichte Pompejis noch viel komplizierter und faszinierender ist. In vielerlei Hinsicht ist Pompeji nicht das antike Gegenstück der Marie Céleste, des im 19. Jahrhundert auf mysteriöse Weise verlassenen Schiffs, bei dem (angeblich) die gekochten Eier noch auf dem Frühstückstisch standen. Pompeji ist keine einfach nur jäh eingefrorene römische Stadt.

Zunächst einmal hatten die Menschen von Pompeji bereits Stunden, wenn nicht Tage vorher die Warnzeichen gesehen. Der einzige uns vorliegende Augenzeugenbericht des Vulkanausbruchs besteht aus zwei – 25 Jahre nach den Ereignissen verfassten – Briefen, die der Historiker Tacitus von seinem Freund Plinius, der zum Zeitpunkt der Katastrophe am Golf von Neapel weilte, erhalten hat. Diese Briefe, die erst im nachhinein geschrieben wurden und zweifellos fantasievoll ausgeschmückt sind, machen deutlich, dass eine Flucht sogar noch möglich gewesen wäre, nachdem sich die Wolke »in Form einer Schirmpinie« über dem Krater des Vesuvs gezeigt hatte. Plinius’ Onkel, das berühmteste Opfer des Vulkanausbruches, kam nur um, weil er Asthmatiker war und weil er den Mut – oder die Dummheit – besaß, im Interesse der Wissenschaft einen näheren Blick auf das, was vor sich ging, zu werfen. Und wenn es, wie manche Archäologen heute meinen, mehrere Erdstöße und kleinere Beben in den Tagen oder Monaten vor der endgültigen Katastrophe gegeben habe, dann müssen diese auch den Menschen nahegelegt haben, das Gebiet zu verlassen. Denn nicht nur Pompeji selbst wurde bedroht und schließlich verschlungen, sondern auch weite Landstriche südlich des Vesuvs, einschließlich der Städte Herculaneum und Stabiae.

Viele haben tatsächlich die Flucht ergriffen, wie die Zahl der in der Stadt gefundenen Leichname beweist. Etwa 1100 wurden bei den Ausgrabungen zutage gefördert. Wir müssen aber noch diejenigen hinzurechnen, die in den bisher nicht ausgegrabenen Teilen der Stadt ums Leben kamen (etwa ein Viertel des antiken Pompeji ist noch unerforscht) sowie die menschlichen Überreste derer, die bei früheren Ausgrabungen übersehen wurden (Kinderknochen können leicht für Tierknochen gehalten und folglich aussortiert werden). Aber selbst wenn man all dies berücksichtigt, dürften nicht mehr als 2000 Bewohner der Katastrophe zum Opfer gefallen sein. Wie hoch die Einwohnerzahl auch gewesen sein mag – die Schätzungen bewegen sich zwischen 6400 und 30000 (abhängig von der angenommenen Bevölkerungsdichte und dem gewählten modernen Vergleichsmaßstab) –, es war nur ein kleiner oder sehr kleiner Prozentsatz.

Die Menschen, die vor dem Bimssteinregen flohen, hatten wohl nur das, was sie an sich nehmen und tragen konnten, bei sich. Wer mehr Zeit hatte, konnte gewiss mehr von seinem Besitz retten. Als sich die Mehrheit der Bevölkerung auf den Weg machte, kam es, so müssen wir uns vorstellen, zu einem Massenauszug aus der Stadt mit Eseln, Wagen und Schubkarren, vollbeladen mit der größtmöglichen Menge an Hausrat. Weil sie zurückkehren wollten, wenn die Gefahr vorüber wäre, trafen manche die falsche Entscheidung und versteckten ihre wertvollsten Besitztümer. So lassen sich einige der herrlichen Schätze erklären – in Häusern in und um Pompeji hat man z.B. atemberaubende Sammlungen von Silbersachen gefunden (vgl. S. 299f.). Doch was den Archäologen heute hauptsächlich zu erforschen bleibt, ist eine Stadt nach dem Auszug der Bewohner, die in aller Eile ihre Sachen packten und die Flucht ergriffen. Teilweise mag dies der Grund dafür sein, wieso die Häuser von Pompeji so spärlich möbliert und so aufgeräumt zu sein scheinen. Die ästhetischen Vorlieben des 1. Jahrhunderts n.Chr. können unmöglich einer Art modernistischem Minimalismus entsprochen haben. Sehr wahrscheinlich waren ganze Wagenladungen mit Haushaltskrimskrams von den Eigentümern, die sich nicht davon trennen konnten, in großen Mengen abtransportiert worden.

Auf diesen eiligen Aufbruch könnten ebenfalls manche der Seltsamkeiten, denen wir in den Häusern der Stadt begegnen, zurückzuführen sein. Wenn man z.B. in einem Raum, der offenbar ein prächtiger Speisesaal war, auf eine Reihe von Gartengeräten stößt, könnte man annehmen – so überraschend das auch für uns sein mag –, dass sie üblicherweise dort aufbewahrt wurden. Es könnte aber auch sein, dass in der Aufregung des Abschieds, als die Habseligkeiten zusammengesucht wurden und man überlegte, was man mitnehmen solle und was nicht, der Spaten, die Hacke und die Schubkarre hier zufällig zurückgeblieben sind. Selbst wenn einige Bewohner ihren täglichen Geschäften weiter nachgingen, so als gäbe es ein Morgen, war dies keine normale Stadt mit ihrer normalen Betriebsamkeit. Es war eine Stadt auf der Flucht.

In den Wochen und Monaten nach dem Vulkanausbruch kamen auch tatsächlich viele Überlebende zurück, um die zurückgelassenen Dinge wieder an sich zu nehmen oder um wiederverwendbares Material, so wie Bronze, Blei oder Marmor, aus der verschütteten Stadt zu bergen (oder zu stehlen). Da man hoffte, sie später in Besitz zu nehmen, mag das Verstecken der Wertsachen nicht ganz so unklug gewesen zu sein, wie es heute scheint. In vielen Teilen Pompejis gibt es nämlich deutliche Hinweise auf ein erfolgreiches Eindringen in die Häuser, durch die vulkanischen Schuttmassen hindurch. Ob es nun die rechtmäßigen Eigentümer oder ob es Räuber und Schatzsucher waren, die hier ihr Glück versuchten: Sie gruben Tunnel in die Häuser der Reichen, wobei sie manchmal, da sie sich von einem verschütteten Raum zum nächsten vorarbeiteten, eine Spur von Löchern hinterließen. Einen erhellenden Einblick in ihre Aktivitäten geben zwei Wörter, die an den Haupteingang eines großen Hauses geritzt sind, das, als es von Ausgräbern des 19. Jahrhunderts gefunden wurde, fast leer war: Sie lauten: »Haus durchsucht« und können kaum von einem Eigentümer stammen. Also wollte vermutlich ein Plünderer dem Rest der Bande mitteilen, dass dieses Haus »erledigt« sei.

Wir wissen fast nichts über die Identität dieser Tunnelgräber (doch die Tatsache, dass die Nachricht zwar in lateinischer Sprache, aber in griechischen Buchstaben verfasst ist, beweist, dass sie zweisprachig waren und der griechisch-römischen Gesellschaft Süditaliens, mit der wir uns in Kapitel 1 befassen werden, angehörten). Ebenso wenig wissen wir, wann genau sie ihre Raubzüge durchführten: Römische Münzen, die nach dem Vulkanausbruch geprägt und in den Ruinen Pompejis aufgefunden wurden, datieren aus der Zeit zwischen dem ausgehenden 1. und dem Beginn des 4. Jahrhunderts n.Chr. Doch wann und warum auch immer spätere Römer den Entschluss fassten, sich einen Weg in die verschüttete Stadt zu graben – es war ein äußerst riskantes Unterfangen, getragen von der Hoffnung, größere Mengen des Familienvermögens wiederzufinden oder reiche Beute zu machen. Die Tunnel müssen gefährlich, düster und eng gewesen sein und teilweise konnten – wenn man nach der Größe der Löcher in manchen Wänden gehen kann – nur Kinder durch sie hindurchkriechen. Selbst wenn man sich in Hohlräumen, die von Vulkanschutt frei waren, einigermaßen ungehindert bewegen konnte, musste man immer mit dem plötzlichen Einsturz der Wände und Decken rechnen.

Ironischerweise sind einige der aufgefundenen Skelette mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht die Überreste von Opfern des Vulkanausbruchs, sondern von Menschen, die in den späteren Monaten, Jahren oder Jahrhunderten eine Rückkehr in die Stadt riskierten. So wurden z.B. in einem eleganten Raum an einem als Garten angelegten Innenhof des Hauses des Menander – ein moderner Name, abgeleitet von dem hier gefundenen Gemälde des griechischen Dramatikers Menander (vgl. Abb. 44) – die Überreste von drei – mit Pickel und Hacke ausgestatteten – Personen entdeckt, zwei Erwachsenen und einem Kind. Waren sie, wie manche Archäologen glauben, Bewohner, vielleicht Sklaven, die, als das Haus verschüttet wurde, versuchten, sich einen Weg aus dem Haus zu bahnen und bei dieser Aktion ums Leben kamen? Oder handelte es sich, wie andere vermuten, um eine Gruppe von Plünderern, die in das Haus eindringen wollten und vielleicht getötet wurden, als der unsichere Stollen über ihnen zusammenbrach?

Dieses Bild einer paralysierten Stadt ist durch eine frühere Naturkatastrophe noch komplizierter geworden. 17 Jahre vor dem Vesuvausbruch, im Jahre 62 n.Chr., wurde die Stadt durch ein Erdbeben schwer beschädigt. Nach dem Historiker Tacitus »stürzte ein großer Teil von Pompeji ein«. Und dieses Ereignis ist mit ziemlicher Sicherheit auf zwei Reliefplatten dargestellt, die im Hause eines pompejanischen Bankiers, Lucius Caecilius Iucundus, gefunden wurden. Sie zeigen zwei Örtlichkeiten der Stadt, die von dem Beben erschüttert wurden: das Forum und das Gelände um das nördliche in Richtung Vesuv gelegene Stadttor. Auf einem Relief neigt sich der Tempel des Iuppiter, der Iuno und Minerva auf beängstigende Weise nach links; die Reiterstatuen auf beiden Seiten des Tempels scheinen fast lebendig zu werden, die Reiter haben sich aus ihren Sätteln erhoben (Abb. 5). Auf dem anderen Relief schwankt die Porta Vesuviana verdächtig nach rechts und entfernt sich von dem großen Wasserturm zu ihrer Linken. Dieses Unglück wirft einige der kniffligsten Fragen in der Geschichte von Pompeji auf. Wie wirkte es sich auf das städtische Leben aus? Wie lange brauchte die Stadt, um sich wieder zu erholen? Erholte sie sich überhaupt? Oder lebten die Pompejaner im Jahre _79 noch immer in einem Trümmerhaufen, da das Forum, die Tempel und Thermen, ganz zu schweigen von zahlreichen Privathäusern, noch nicht wiederaufgebaut waren?

Abb. 5. Der Kupferstich zeigt eine von zwei fast einen Meter breiten Reliefplatten. Dargestellt ist das Erdbeben des Jahres 62 n.Chr. Auf der linken Seite sieht man den zur Seite schwankenden Tempel des Iuppiter, der Iuno und Minerva auf dem Forum. Rechts wird ein Opfer vollzogen. Ein Stier wird zum Altar gebracht, während um die Szene verschiedene Opferwerkzeuge verstreut sind – ein Messer sowie Schüsseln und Opferschalen.

Dazu gibt es jede Menge Theorien. So soll es z.B. in Pompeji nach dem Erdbeben zu einer sozialen Revolution gekommen sein. Viele der alteingesessenen Aristokraten hätten sich entschlossen, der Stadt für immer den Rücken zu kehren, höchstwahrscheinlich um sich in einem anderen Anwesen der Familie niederzulassen. Ihre Abreise habe nicht nur den Aufstieg von ehemaligen Sklaven und anderen Neureichen ermöglicht, sondern auch zum »Niedergang« von einigen der eleganteren Häuser Pompejis geführt, die umgehend in Walkereien, Bäckereien und Wirtshäuser umgewandelt oder für andere kommerzielle oder industrielle Zwecke genutzt worden seien. Tatsächlich könnten die Gartenwerkzeuge im Speisesaal auf eine solche Nutzungsänderung hindeuten: Einer einst exklusiven Villa war durch neue Bewohner, die aus ihr einen Gärtnereibetrieb gemacht hatten, ein dramatischer Abstieg beschieden.

Mag ja sein. Und hier könnte ein weiterer Grund dafür vorliegen, weshalb der Zustand der Stadt, als sie im Jahre 79 verschüttet wurde, keinesfalls als »normal« zu bezeichnen ist. Wir können jedoch nicht sicher sein, dass alle diese Veränderungen eine unmittelbare Folge des Erdbebens waren. Vermutlich wurden manche dieser Häuser bereits vor der Katastrophe einfach so zu Gewerbetrieben umfunktioniert. Einige – wenn nicht die meisten – dieser Umwidmungen sind höchstwahrscheinlich auf die üblichen Verlagerungen von Reichtum, Nutzung und Prestige zurückzuführen, die die Geschichte einer jeden – antiken wie modernen – Stadt kennzeichnen. Ferner sollte man die etwas dünkelhaften Vorurteile bei so manchen modernen Archäologen nicht übersehen, die soziale Mobilität und den Aufstieg eines neuen Geldadels ohne große Bedenken mit Revolution oder Verfall gleichsetzen.

Es wird auch gerne die Behauptung aufgestellt, im Jahre 79 seien die langwierigen Reparaturmaßnahmen in Pompeji noch nicht abgeschlossen gewesen. Soweit uns die archäologischen Befunde darüber Auskunft geben, war Tacitus’ Feststellung, dass »ein großer Teil Pompejis einstürzte«, eine ziemliche Übertreibung. Aber der Zustand etlicher öffentlicher Gebäude (79 war z.B. nur eine einzige öffentliche Thermenanlage voll betriebsfähig) und die Tatsache, dass, wie wir noch sehen werden, zum Zeitpunkt des Vulkanausbruchs in so vielen Privathäusern Dekorateure am Werk waren, deuten nicht nur auf beträchtliche Schäden, sondern auch auf ihre noch ausstehende Beseitigung. Wenn in einer römischen Stadt 17 Jahre lang die meisten öffentlichen Bäder außer Betrieb, etliche Haupttempel unbenutzbar und die Privathäuser in keinem ordnungsgemäßen Zustand sind, lässt dies entweder auf eine schwere Finanznot schließen oder auf einen beunruhigenden Grad institutioneller Unfähigkeit oder beides. Was um Himmels willen hatte der Stadtrat fast zwei Jahrzehnte lang gemacht? Hatte er sich zurückgelehnt und zugesehen, wie der Ort zerfiel?

Aber auch hier ist nicht alles so, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Können wir sicher sein, dass all die Reparaturen, die zum Zeitpunkt der Katastrophe durchgeführt wurden, durch das Erdbeben verursacht worden waren? Wenn man einmal von der offenkundigen Tatsache absieht, dass es in jeder Stadt fast immer eine ausgedehnte Bautätigkeit gibt (die Instandsetzungs- und Bauindustrie bildet das Zentrum des städtischen Lebens, in der Antike ebenso wie in der Moderne), stellt sich die Frage, ob es ein oder mehrere Erdbeben gegeben hat. In diesem Punkt sind die Archäologen, die Pompeji erforschen, heftig zerstritten. Manche sind noch immer fest davon überzeugt, dass es nur im Jahre 62 ein verheerendes Beben gegeben habe und dass die Stadt in der Tat ein solcher Trümmerhaufen gewesen sei, dass viele Reparaturen auch Jahre später noch nicht abgeschlossen waren. Die Mehrheit der Wissenschaftler weist jetzt daraufhin, dass es in den Tagen und vielleicht Monaten vor dem Vulkanausbruch zu etlichen Erdstößen gekommen sein müsse. Das wäre, wie uns Vulkanologen bestätigen, vor einem größeren Vulkanausbruch zu erwarten und stimmt auf jeden Fall mit der Darstellung des Plinius genau überein: »Vorangegangen waren mehrere Tage lang nicht eben beunruhigende Erdstöße.« Falls gerade so viele Malerarbeiten ausgeführt wurden, dann, so wird argumentiert, galten sie viel eher der Ausbesserung von unlängst aufgetretenen Schäden und waren kein verspäteter oder zeitlich unpassender Versuch, das Chaos von 17 Jahren endlich zu beheben.

Abb. 6. Der Isis-Tempel gehörte zu den Hauptattraktionen für frühe Touristen, Schriftsteller und Musiker. Sowohl der junge Mozart als auch Edward Bulwer-Lytton, der Autor von Die letzten Tage von Pompeji, ließen sich von ihm inspirieren. Dieser Kupferstich zeigt in der Mitte den Haupttempel und links die kleine gemauerte Einfriedung, in der sich ein Becken mit Wasser befand, das bei den Isis-Ritualen verwendet wurde.

Was den Zustand der Stadt im allgemeinen und besonders den der öffentlichen Gebäude betrifft, so wird auch hier wieder das Bild durch die späteren Plünderungen verkompliziert. Zweifellos lagen im Jahre 79 einige öffentliche Bauwerke in Trümmern. Ein mit Blick aufs Meer errichteter riesiger Tempel, nach verbreiteter Ansicht der Göttin Venus geweiht, war noch immer eine Baustelle – anscheinend sollte er in noch größerem Stile als der ursprüngliche Tempel wiederaufgebaut werden. Andere Heiligtümer waren wieder voll funktionsfähig. Im Isis-Tempel beispielsweise, der neu gebaut und mit Gemälden, die heute zu den berühmtesten der Stadt zählen, reich geschmückt worden war, nahm alles seinen gewohnten Gang (vgl. Abb. 6).

Die Beschaffenheit des Forums zur Zeit des Vesuvausbruchs stellt uns jedoch erst recht vor ein Rätsel. Nach Meinung mancher war es eine kaum restaurierte halbverlassene Ruine. Wenn dies zutrifft, würde es zumindest darauf hindeuten, dass die Prioritäten der Pompejaner, um es freundlich zu formulieren, nicht mehr dem kommunalen Leben galten. Schlimmstenfalls könnte man auf den völligen Zusammenbruch staatlicher Institutionen schließen, dem aber (wie wir noch sehen werden) andere Befunde eindeutig widersprechen. Vor nicht allzu langer Zeit hat man anklagend auf Bergungstrupps oder Plünderer verwiesen, die nach der Katastrophe hier ihr Unwesen trieben. Demnach wären große Teile des Forums wieder instandgesetzt und renoviert worden. Aber da sie von all den unlängst angebrachten teuren Marmorverkleidungen wussten, führten die Einheimischen Grabungen durch, um diese Platten kurz nach der Verschüttung der Stadt an sich zu bringen. Sie schlugen sie von den Mauern ab, die dann für alle Welt so aussahen, als seien sie nicht wieder aufgebaut worden oder einfach nur zerfallen. Die Marodeure dürften es natürlich auch auf die zahlreichen teuren Bronzestatuen, die diese Piazza schmückten, abgesehen haben.

Diese Debatten und Meinungsverschiedenheiten sorgen auf den archäologischen Kongressen weiterhin für Zündstoff. Sie führen zu Kriegen unter den Gelehrten und liefern den Studenten Stoff für ihre Referate. Aber zu welchen Ergebnissen man letztlich (wenn überhaupt) kommen mag, eines ist absolut klar: »Unser« Pompeji ist keine römische Stadt, die ihren normalen Tagesgeschäften nachging und die dann einfach »jäh eingefroren wurde«, wie so viele Reiseführer und Touristenbroschüren behaupten. Der Ort ist weitaus faszinierender und verlangt uns sehr viel mehr ab. Paralysiert und zerstört, evakuiert und geplündert, zeigt er die Merkmale (und Narben) von allen möglichen unterschiedlichen Geschichten, die wir in diesem Buch erzählen werden und die das unterstreichen, was wir als das »Paradox von Pompeji« bezeichnen könnten: Wir wissen über das antike Leben hier unendlich viel und zugleich sehr wenig.

Abb. 7. Diese aus Pompeji stammende antike Version unserer gynäkologischen specula erscheint uns auf unheimliche Weise vertraut. Obwohl einige Teile fehlen, ist klar, dass die »Arme« des Instruments durch das Drehen des T-förmigen Griffs geöffnet wurden.

Selbstverständlich gibt es kaum einen anderen Ort der römischen Welt, wo uns wirkliche Personen und ihre Lebensrealität so anschaulich vor Augen geführt werden wie in Pompeji. Wir treffen auf unglücklich Verliebte (»Der Weber Successus liebt Iris, die Magd der Schankwirtin, die sich aber nichts aus ihm macht«, wie ein hingekritzeltes Graffito lautet) und auf schamlose Bettnässer. (»Wir haben ins Bett gepinkelt, Wirt, ich gestehe, wir haben etwas falsch gemacht. Wenn du fragst: Warum? Es war kein Nachttopf da«, heißt es in einem großspurigen Vers an der Schlafzimmerwand einer Herberge.) Wir können die Spuren pompejanischer Kinder nachverfolgen. Da gibt es den Knirps, dem es großen Spaß gemacht haben muss, ein paar Münzen in den frischen Putz der großen Halle, des Atriums, eines eleganten Hauses zu stecken, wobei er mehr als 70 Abdrücke genau über dem Fußboden hinterließ (damit lieferte er unbeabsichtigt auch einen schönen Beleg für die Datierung der Dekoration); ferner die gelangweilten Kinder, die am Eingang zu einer Badeanlage eine Reihe von Strichmännchen auf Kinderhöhe zeichneten, als sie, vor sich hinkritzelnd, vielleicht darauf warteten, dass ihre Mütter aus dem Dampfbad kämen. Ganz zu schweigen von den Pferdegeschirren mit ihrem Glockengeläut, den schauerlichen medizinischen Instrumenten (vgl. Abb. 7), den merkwürdigen Küchengeräten von (falls unsere Interpretation stimmt) Eierpochiertöpfen bis hin zu Mousseformen (vgl. Abb. 78) oder jenen irritierenden Darmparasiten, deren Spuren sich noch nach 2000 Jahren am Rand eines Toilettenbeckens nachweisen lassen – all dies hilft uns nachzuvollziehen, was die Pompejaner sahen, hörten und fühlten.

Obwohl Details wie diese äußerst illustrativ sind, können wir uns von der Stadt insgesamt dennoch kein Bild machen, und viele der eher grundsätzlichen Fragen lassen sich nicht beantworten. Die Einwohnerzahl stellt nicht das einzige Rätsel dar. Ein anderes betrifft die Verbindung der Stadt zum Meer. Nach allgemeiner Überzeugung lag Pompeji in der Antike viel näher am Meer als heute (jetzt sind es zwei Kilometer). Doch trotz des Know-hows moderner Geologen ist die genaue Entfernung noch immer ungeklärt. Besonders verwirrend ist ein Mauerstück direkt am westlichen Stadttor, dem heutigen Haupteingang für Besucher. Die mit Löchern versehenen Steine wirken wie Vorrichtungen für das Vertäuen von Booten – so als habe das Meer hier bis an die Stadt herangereicht (vgl. Abb. 8). Das Dumme ist nur, dass man weiter westlich, d.h. in Richtung Meer, römische Bauten entdeckt hat, die ja schlecht unter Wasser errichtet worden sein können. Die beste Erklärung dafür bieten die immer wieder auftretenden seismischen Aktivitäten. In Pompeji – wie in der nahe gelegenen Stadt Herculaneum, wo sich die Erdbewegungen eindeutig nachweisen lassen – müssen sich die Küste und die Höhe des Meeresspiegels in den letzten 100 Jahren der Geschichte der Stadt dramatisch verändert haben.

Abb. 8. Diese Steine an der Mauer in der Nähe der Porta Marina sehen aus wie Vertäuungsringe für Boote. Mit ziemlicher Sicherheit hat sich die Küste in den letzten 100 Jahren der Stadtgeschichte verändert, was dazu führte, dass diese Ringe ihre Funktion verloren.

Was noch mehr überrascht: Es gibt auch eine Debatte über die grundlegenden Daten – nicht nur über den Zeitpunkt des großen Erdbebens (das 63 oder auch 62 stattgefunden haben kann), sondern auch über den des Vulkanausbruchs selbst. In diesem Buch werde ich mich an die übliche – in Plinius’ Bericht angegebene – Datierung auf den 24./25. August 79 halten. Es gibt allerdings gute Gründe für die Annahme, dass es erst später im Jahr, im Herbst oder Winter, zur Katastrophe gekommen ist. Zunächst einmal findet man in den verschiedenen mittelalterlichen Handschriften der Plinius-Briefe alle möglichen unterschiedlichen Daten für den Vulkanausbruch (römische Zeitangaben und Zahlen wurden nämlich von den mittelalterlichen Kopisten oft falsch abgeschrieben). Außerdem lässt sich eine verdächtig hohe Zahl herbstlicher Früchte in den Überresten nachweisen, und viele der Opfer tragen anscheinend schwere wollene Gewänder, kaum die passende Garderobe für einen heißen italienischen Sommer – obwohl die Wahl der Kleidung bei der Flucht durch die vulkanischen Schuttmassen nicht unbedingt über das jahreszeitliche Wetter Auskunft geben muss. Überzeugendere Hinweise liefert eine römische Münze, die in Pompeji an einer Stelle gefunden wurde, wo sie nicht von Plünderern verloren worden sein kann. Nach Auffassung von Spezialisten kann diese Münze frühestens im September 79 geprägt worden sein.

Tatsache ist, dass wir sowohl sehr viel mehr als auch sehr viel weniger über Pompeji wissen, als wir denken.

Die beiden Leben von Pompeji

Nach einem alten Scherz unter Archäologen ist Pompeji zweimal gestorben: das erste Mal einen plötzlichen Tod beim Ausbruch des Vesuvs, das zweite Mal einen langsamen Tod, der mit der Wiederentdeckung der Stadt in der Mitte des 18. Jahrhunderts begann. Ein Besuch der Stätte zeigt genau, was mit jenem zweiten Tod gemeint ist. Trotz der heroischen Anstrengungen des archäologischen Dienstes von Pompeji verfällt die Stadt, viele der für Besucher gesperrten Areale sind von Unkraut überwuchert, die einst leuchtenden Farben mancher an Ort und Stelle belassenen Malereien sind fast total verblasst. Der allmähliche Verfallsprozess wurde durch Erdbeben und den Massentourismus verstärkt und durch die rauhen Methoden der frühen Ausgräber zusätzlich beschleunigt (ehrlich gesagt, ist es jedoch vielen der herrlichen Fresken, die man von den Wänden genommen und im Museum ausgestellt hat, besser ergangen als denen, die in ihrer ursprünglichen Umgebung geblieben sind); hinzu kommen die Bombardierungen der Alliierten im Jahre 1943 (Abb. 9), die mehrere Stadtgebiete in Trümmer legten (die meisten Besucher haben keine Ahnung, dass man z.B. beträchtliche Teile des großen Theaters und des Forums ebenso wie einige der berühmtesten Häuser nach dem Krieg fast gänzlich neu aufgebaut und das Restaurant der Ausgrabungsstätte in einem Gelände errichtet hat, das besonders verheerende Bombenschaden davongetragen hatte); weiterhin zu nennen sind die Diebe und Vandalen, für die die – wegen ihrer Größe schwer zu kontrollierende – Stätte ein verlockendes Ziel darstellt (2003 wurden mehrere frisch ausgegrabene Fresken von der Wand gebrochen und drei Tage später im nahe gelegenen Hof eines Bauunternehmers aufgefunden).

Abb. 9. Im Jahre 1943 richteten Bomben der Alliierten in Pompeji fürchterliche Schäden an und zerstörten zahlreiche größere Gebäude. Hier sieht man das Haus des Trebius Valens nach den Angriffen. Viele der zerbombten Bauten wurden nach dem Krieg so perfekt wiederaufgebaut, dass man niemals auf die Idee käme, dass sie im Grunde genommen ein zweites Mal zerstört worden waren.

Doch die Stadt hat auch zwei Leben: eines in der antiken Welt, ein anderes in Form des modernen Wiederaufbaus des antiken Pompeji, das wir heute besuchen können. Diese Touristenstätte versucht noch immer, den Mythos einer »jäh eingefrorenen« Stadt aufrechtzuerhalten, einer Stadt, in die wir hineinspazieren können, als sei in der Zwischenzeit nichts passiert. Verblüffenderweise sind nämlich, obwohl das römische Pompeji viele Fuß unter dem heutigen Bodenniveau liegt, die Zuwege so angelegt, dass wir uns kaum merklich in sie hinunterbegeben; so verschmilzt unsere eigene Welt fast nahtlos mit der der Antike. Doch bei genauerem Hinsehen erkennen wir ein seltsames Niemandsland, angesiedelt zwischen Zerstörung und Wiederaufbau, Antike und Gegenwart. Zunächst einmal sind viele Teile stark restauriert worden, und dies nicht erst nach den Bombenschäden des Krieges. Man ist geradezu schockiert, wenn man die Fotos von den Ausgrabungen der Gebäude (Abb. 10) betrachtet und sieht, in welch erbärmlichem Zustand sich die meisten von ihnen damals befanden. Manche hat man zwar so gelassen, wie sie waren, andere hingegen wurden herausgeputzt: Die Mauern wurden ausgebessert und wieder aufgebaut und die Häuser bekamen neue Dächer, die vor allem die Bausubstanz und die Innendekoration schützen sollten, von den Besuchern aber für wundersam erhaltene Relikte aus römischer Zeit gehalten werden.

Darüber hinaus hat die Stadt eine neue Geografie bekommen. Heute orientieren wir uns in Pompeji anhand einer Reihe moderner Straßennamen. Dazu gehören die Via dell’Abbondanza (die wichtigste Ost-West-Durchgangsstraße, die direkt zum Forum führt und nach der an einem der Straßenbrunnen dargestellten Göttin Abundantia benannt ist), die Via Stabiana (sie kreuzt die Via dell’Abbondanza und führt in südlicher Richtung verlaufend zur Stadt Stabiae) und der Vicolo Storto (»gewundener Weg«, aus naheliegenden Gründen so genannt). Wir haben kaum Informationen darüber, wie diese Straßen in der römischen Welt bezeichnet wurden. Eine noch erhaltene Inschrift scheint darauf hinzudeuten, dass die heutige Via Stabiana damals Via Pompeiana hieß, und sie erwähnt auch noch zwei andere Straßen (Via Iovia, d.h. Iuppiter-Straße; Via Dequviaris, vielleicht eine Assoziation mit dem Stadtrat oder den decuriones), die sich aber nicht lokalisieren lassen. Möglicherweise hatten viele Straßen gar keine speziellen Namen nach heutigem Muster. Mit Sicherheit gab es keine Straßenschilder, und es war auch nicht üblich, bei einer Adresse den Straßennamen oder die Hausnummer anzugeben. Stattdessen bezog man sich auf örtliche Wahrzeichen: Ein Gutsherr z.B. ließ seine Weinkrüge zustellen (wie wir noch auf dem Deckel von einem von ihnen lesen können) »An Euxinos [was sich etwa als »Herr Gastfreundschaft« übersetzen lässt], den Gastwirt, in Pompeji, in der Nähe des Amphitheaters«.

Abb. 10. Eine Ausgrabung in den 1930er Jahren. Pompejanische Häuser kommen nicht in ihrem ursprünglichen Zustand wieder ans Tageslicht, sondern sehen infolge der starken Erschütterungen so aus, als seien sie bombardiert worden. Hier ist der bemalte Putz des Obergeschosses in die unteren Räume abgesackt.

Auch die Stadttore tragen jetzt moderne Namen, je nachdem, zu welchem Ort oder in welche Richtung sie führten: Porta di Nola, Porta Herculanea, Porta Vesuviana, Porta Marina (in Richtung Meer) usw. Hier haben wir schon eher eine Vorstellung von ihren möglichen antiken Namen. Was wir als Porta Herculanea bezeichnen, war z.B. für die römischen Bewohner die Porta Saliniensis oder Porta Salis, d.h. »Salztor« (nach den nahe gelegenen Salinen). Unsere Porta Marina könnte durchaus Forumstor geheißen haben, wie sich aus den modernen Deutungen einiger antiker Bruchstücke erschließen lässt; immerhin führte es nicht nur zum Meer, sondern lag auch dem Forum am nächsten.

In Ermangelung antiker Adressangaben verwenden heutige Stadtpläne ein im 19. Jahrhundert entwickeltes System, um einzelne Gebäude zu bezeichnen. Derselbe Archäologe, der die Technik der Gipsabgüsse der Opfer perfektionierte, Giuseppe Fiorelli (ein ehemals revolutionärer Politiker und in Pompeji der einflussreichste Ausgrabungsleiter aller Zeiten), unterteilte die Stadt in neun verschiedene Gebiete oder regiones; dann numerierte er alle Häuserblöcke in diesen Arealen und gab jeder Haustür ihre eigene individuelle Nummer. Nach dieser heute üblichen archäologischen Stenografie bezeichnet »VI.XV.1« die erste Tür des 15. Blocks der im Nordwesten der Stadt gelegenen Regio 6.

Für die meisten Leute ist VI.XV.1 aber das Haus der Vettier. Denn außer mit der nüchternen modernen Nummer werden zumindest die größeren Häuser, ebenso wie Gasthöfe und Kneipen, mit markanteren Namen bezeichnet. Einige gehen auf die Begleitumstände bei ihrer ersten Ausgrabung zurück: So wurde etwa das Haus der Jahrhundertfeier (Casa del centenario) genau 1800 Jahre nach der Zerstörung der Stadt freigelegt; das Haus der silbernen Hochzeit (Casa delle nozze d’argento), 1893 ausgegraben, wurde zu Ehren des im selben Jahr gefeierten 25jährigen Hochzeitstages des italienischen Königs Umberto so genannt – paradoxerweise ist das Haus heute bekannter als die königliche Hochzeit. Andere Namen verweisen auf besonders denkwürdige Funde: Das Haus des Menander ist ein Beispiel dafür, ein anderes das Haus des Fauns, benannt nach der hier gefundenen berühmten Bronzestatue eines tanzenden Satyrs oder »Fauns« (vgl. Abb. 12). (Sein früherer Name »das Haus Goethes« ging zurück auf den Sohn des Dichters, der ganz kurz vor seinem Tod einem Teil der Ausgrabung beiwohnte – aber diese traurige Geschichte erwies sich als weniger denkwürdig als die koboldartige Skulptur.) Sehr viele jedoch wurden, so wie das Haus der Vettier, nach ihren römischen Bewohnern benannt – im Rahmen jenes viel größeren Projektes, das darin bestand, die antike Stadt wieder zu bevölkern und die materiellen Überreste den realen Menschen zuzuordnen, die sie einst besaßen, nutzten oder bewohnten.

Dabei handelt es sich um eine spannende, bisweilen aber auch recht vertrackte Angelegenheit. In manchen Fällen können wir uns der richtigen Zuschreibung sicher sein. Das Haus des Bankiers Lucius Caecilius Iucundus etwa lässt sich aufgrund der Bankunterlagen, die in der Dachkammer aufbewahrt wurden, recht eindeutig identifizieren. Aulus Umbricius Scaurus, der erfolgreichste lokale Produzent von garum (jenem typisch römischen Gebräu aus vor sich hin faulenden Meerestieren, euphemistisch als »Fischsoße« übersetzt), gab seinem eleganten Anwesen sein Gepräge und hinterließ seinen Namen – eine Reihe von Mosaiken zeigt garum-Krüge, die mit Slogans wie »Fischsoße, erste Güteklasse, aus Scaurus’ Fabrik« beschriftet sind (vgl. Abb. 57). Das Haus der Vettier mit seinen erlesenen Fresken wurde kurzerhand zwei (vermutlich) ehemaligen Sklaven zugeordnet, Aulus Vettius Conviva und Aulus Vettius Restitutus. Grundlage dafür waren zwei in der Vorhalle gefundene Siegelstempel und ein Siegelring mit ihren Namen, dazu etliche Wahlplakate, zumindest deren antike Gegenstücke, die auf die Außenmauer des Hauses aufgemalt waren (»Restitutus unterstützt … Sabinus bei seiner Wahl zum Ädil«) – und weil man annahm, dass ein in einem anderen Teil des Hauses entdecktes weiteres Stempelsiegel, diesmal mit dem Namen Publius Crustius Faustus, einem Mieter gehörte, der im Obergeschoss wohnte.

In vielen Fällen sind die Beweise weitaus dürftiger und stützen sich unter Umständen nur auf einen Siegelring (den ein Besucher schließlich genauso leicht verloren haben kann wie der Eigentümer), auf den Namen auf einem Weinkrug oder auf einige von derselben Person signierte Graffiti – als ob Graffiti-Künstler sich für ihre Mitteilungen immer ihre eigenen Hauswände aussuchten. Ein besonders verzweifelter Versuch, einen Namen herzuleiten, betrifft den Betreiber des städtischen Bordells, der Hauptattraktion für viele moderne wie gewiss auch antike Besucher. Der Mann heißt angeblich Africanus. Dabei verweist man vor allem auf die traurige Nachricht, die höchstwahrscheinlich von einem Kunden in der Kammer eines der Mädchen an die Wand gekritzelt wurde: »Africanus ist tot« (oder wörtlich »stirbt«). »Dies schreibt der junge Rusticus, sein Schulkamerad, der um Africanus trauert.« Natürlich kann Africanus ein Bürger der Stadt gewesen sein: Dafür spricht zumindest, dass auf einer Mauer in der Nachbarschaft jemand dieses Namens verspricht, bei den örtlichen Wahlen Sabinus (es ist derselbe Kandidat, der Restitutus’ Stimme gewonnen hatte) zu unterstützen. Aber es gibt überhaupt keinen Grund anzunehmen, dass der junge Rusticus in seiner post-koitalen Verstimmung, falls er denn in einer solchen war, überhaupt den Bordellbesitzer gemeint hat.

Das Ergebnis dieser und anderer allzu optimistischer Versuche, die antiken Pompejaner ausfindig zu machen und sie wieder ihren Häusern, Kneipen und Bordellen zuzuordnen, liegt auf der Hand: Nach moderner Vorstellung sind fürchterlich viele Pompejaner am falschen Ort umgekommen. Oder, allgemeiner gesagt: Es klafft eine tiefe Lücke zwischen »unserer« und der im Jahre 79 n.Chr. zerstörten antiken Stadt. In diesem Buch werde ich mich stets an die Wahrzeichen, Orientierungsmittel und Terminologien »unseres« Pompeji halten. Es wäre verwirrend und irritierend, die Porta Herculanea mit ihrem antiken Namen als »Porta Salis« zu bezeichnen. Dank der von Fiorelli eingeführten Numerierung können wir eine Örtlichkeit auf einem Plan rasch lokalisieren, und ich werde dieses System bei den Verweisen im Anhang verwenden. Mögen einige von ihnen auch historisch falsch sein, mit Hilfe der bekannten Namen wie Haus der Vettier oder Haus des Fauns usw. lässt sich ein spezielles Gebäude oder eine spezielle Örtlichkeit am leichtesten identifizieren. Dennoch werde ich mich auch mit jener Lücke ausführlicher befassen, indem ich mir darüber Gedanken mache, wie die antike Stadt zu »unserem« Pompeji wurde, und indem ich die Prozesse reflektiere, die unserer Deutung der zutage geförderten Überreste zugrunde liegen.

Wenn ich mich auf jene Prozesse besonders konzentriere, geschieht dies einerseits aus einer aktuellen Sicht heraus, gleichzeitig versetze ich mich in gewisser Weise in das Pompeji des 19. Jahrhunderts zurück. Natürlich genossen die Menschen, die im 19. Jahrhundert die Stadt besuchten, die Illusion einer Zeitreise in die Vergangenheit, ebenso wie sich ihre Kollegen des 21. Jahrhunderts heute daran ergötzen. Aber sie waren auch fasziniert von der Art und Weise, wie ihnen das römische Pompeji erschlossen wurde: Bei den Funden ging es sowohl um das »Wie« als auch um das »Was«. Dies können wir den üblichen Darstellungen in ihren Lieblingsreiseführern entnehmen, allen voran in Murrays Handbook for Travellers in Southern Italy, das, 1853 zum ersten Mal publiziert, auf den Massentourismus (weniger den Grande-Tour-Tourismus) ausgerichtet war. Die Eisenbahnlinie war 1839 eröffnet worden und der Zug wurde zum beliebtesten Transportmittel der Besucher. Gute Dienste leistete ihnen eine Taverne neben dem Bahnhof, wo sie nach der anstrengenden Besichtigung der Ruinen zu Mittag essen konnten. Dieser Ort erlebte ein ständiges Auf und Ab (im Jahre 1853 gab es dort angeblich »einen sehr höflichen und zuvorkommenden Wirt«, während 1865 den Lesern empfohlen wurde, erst zuzugreifen, wenn man sich »vorher mit dem Herrn Wirt über den Preis geeinigt habe«). Dies war der Anfang des riesigen Marktes mit Snacks, Obst und vor allem Tafelwasser, der nun das Umfeld der Stätte beherrscht.

Murrays Handbook lenkte die Aufmerksamkeit dieser viktorianischen Besucher immer wieder auf Interpretationsprobleme und präsentierte ihnen die verschiedenen konkurrierenden Theorien über die Zweckbestimmung etlicher großer öffentlicher Gebäude, die man ausgegraben hatte. War der Bau auf dem Forum, den wir als macellum (Markt) bezeichnen, wirklich ein Markt? Oder ein Tempel? Oder aber war es eine Kombination aus Heiligtum und Café? (Wie wir noch sehen werden, sind zahlreiche solcher Fragen nach der Funktion noch nicht gelöst; moderne Reiseführer tendieren jedoch dazu, ihren Lesern die Probleme und Kontroversen vorzuenthalten – sie wollen sie damit verschonen, wie sie sagen würden.) Das Handbook beschreibt nicht nur jedes antike Bauwerk, sondern verzeichnet auch sorgfältig die Zeit und Umstände seiner Wiederentdeckung. Jene frühen Besucher sollten anscheinend zwei unterschiedliche Chronologien gleichzeitig in ihrem Kopf speichern: zum einen die Chronologie und Entwicklung der antiken Stadt, zum anderen die Geschichte von Pompejis allmählichem Wiederauftauchen in der modernen Welt.

Wir könnten uns sogar vorstellen, dass die berühmten Reinszenierungen – wenn irgendwelche Würdenträger gerade auf der Durchreise waren, wurden Leichname oder andere bemerkenswerte Funde in geziemender Weise »entdeckt« – einen anderen Aspekt derselben Bestrebungen darstellten. Heute sind wir geneigt, über die Plumpheit dieser Farcen und die Leichtgläubigkeit des Publikums zu lachen (können königliche Besucher wirklich so naiv gewesen sein zu glauben, solch mirakulöse Entdeckungen seien zufällig genau zum Zeitpunkt ihrer Ankunft gemacht worden?). Doch wie so oft enthüllen die Tricks der Tourismusbranche die Hoffnungen und Erwartungen der Besucher und entlarven zugleich die Gerissenheit der Einheimischen. Hier wollten die Besucher nicht nur die Funde selbst betrachten, sondern auch Zeugen der Ausgrabungsprozesse sein, die die Vergangenheit wieder ans Licht brachten.

Dies sind einige der strittigen Fragen, die ich wieder ins Blickfeld rücken möchte.

Eine Stadt voller Überraschungen

Pompeji steckt voller Überraschungen. Dies veranlasst selbst die abgebrühtesten und bestens informierten Spezialisten, ihre Vorstellungen über das Leben im römischen Italien zu überdenken. Ein großer Tonkrug, dessen Etikett den Inhalt als »koscheres garum« ausweist, erinnert uns daran, dass Männer wie Umbricius Scaurus vielleicht die Marktnische der ortsansässigen jüdischen Gemeinde bedienen wollten (mit der Garantie, dass zu den inzwischen undefinierbaren Zutaten dieses fauligen Gebräus keine Schalentiere gehörten). Eine wunderschöne indische Statuette aus Elfenbein, 1938 in einem Haus gefunden, das jetzt nach ihr »das Haus der indischen Statuette« heißt, fordert uns auf, noch einmal über die Verbindungen Roms mit dem Fernen Osten nachzusinnen (vgl. Abb. 11). War es ein pompejanischer Händler, der sie als Reiseandenken mitgebracht hatte? Oder ist sie vielleicht den Nabatäern zuzuordnen (ihr Stammland ist das heutige Jordanien), einem Handelsvolk, das sich in der Nähe von Puteoli niedergelassen hatte? Fast ebenso unerwartet war der Fund eines Affenskeletts, dessen Teile, von früheren Ausgräbern übersehen, vor kurzem unter den Knochen im Magazin der Stätte entdeckt wurden. Möglicherweise ein exotisches Haustier – oder wohl doch eher ein dressiertes Tier, das in einem Straßentheater oder Zirkus die Menschen erheitern sollte.

Abb. 11. Diese indische Statuette aus Elfenbein liefert uns einen Einblick in die weit gestreuten multikulturellen Verbindungen von Pompeji. Zeigt diese – fast nur mit reichem Schmuck bekleidete – Figur (wie allgemein angenommen) Lakshmi, die Göttin der Fruchtbarkeit und Schönheit? Oder stellt sie bloß eine Tänzerin dar?

Diese Stadt der Überraschungen ist uns sehr vertraut und zugleich sehr fremd. Als Stadt in der italienischen Provinz, deren Horizont am Vesuv endete, war sie gleichzeitig Teil eines Imperiums, das sich von Spanien bis nach Syrien erstreckte und die gesamte kulturelle und religiöse Vielfalt aufwies, die große Reiche so häufig mit sich bringen. Die berühmten Worte »Sodom« und »Gomorra«, in großen Buchstaben an die Esszimmerwand eines relativ bescheidenen Hauses in der Via dell’Abbondanza geschrieben, sind (vorausgesetzt, es handelt sich nicht um die düstere Bemerkung irgendeines späteren Plünderers) mehr als ein Augenzeugenkommentar – oder Scherz – über die Moral der pompejanischen Gesellschaft. Sie erinnern uns daran, dass in diesem Ort zumindest einige Bewohner mit den Worten aus dem Buch Genesis (»… ließ der Herr auf Sodom und Gomorra Schwefel und Feuer regnen, vom Herrn, vom Himmel herab«) ebenso wie mit den Werken Vergils etwas anfangen konnten.

Diese Kleinstadt zählte – wenn wir die Frauen, Kinder und Sklaven nicht mitrechnen – nur ein paar tausend Bürger; sie war nicht größer als ein Dorf oder die Studentenschaft einer kleinen Universität und hat trotzdem die gängige Darstellung der römischen Geschichte stärker beeinflusst, als wir uns vorstellen können, wie wir in Kapitel 1 sehen werden.

Kapitel 1Das Leben in einer alten Stadt

Einblicke in die Vergangenheit

In einer ruhigen Nebenstraße Pompejis, nicht weit von der nördlichen Stadtmauer und nur ein paar Minuten Fußweg von der Porta Herculanea entfernt, steht ein kleines unscheinbares Haus, das jetzt als das »Haus der etruskischen Säule« bekannt ist. Von außen unauffällig und sowohl in der antiken wie der heutigen Welt etwas abseits gelegen, birgt es, wie der moderne Name andeutet, eine rätselhafte Sehenswürdigkeit. In die Wand zwischen zwei Haupträumen ist nämlich eine antike Säule eingelassen, die an die Architektur der Etrusker erinnert – diese gehörten im 6. und 5. Jahrhundert v.Chr., vor dem Aufstieg Roms, zu den Großmächten Italiens; ihr Einfluss und ihre Siedlungen erstreckten sich weit über ihre Heimat in Norditalien hinaus bis ins Gebiet um Pompeji. Die Säule stammt höchstwahrscheinlich aus dem 6. Jahrhundert v.Chr. und ist damit mehrere 100 Jahre älter als das Haus.

Sorgfältige Grabungen unter dem Haus haben einiges Licht in dieses Rätsel gebracht. So hat sich herausgestellt, dass sich die Säule an ihrem ursprünglichen Standort befindet und dass das Haus um sie herum gebaut ist. Als Teil eines religiösen Heiligtums des 6. Jahrhunderts hatte sie keine stützende Funktion, sondern stand frei, möglicherweise neben einem Altar, und trug einst eine Statue (ein Arrangement, das man von anderen frühen religiösen Stätten Italiens kennt). Griechische Töpferwaren des 6