Zwölf Cäsaren - Mary Beard - E-Book

Zwölf Cäsaren E-Book

Mary Beard

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Beschreibung

Wie sieht das Gesicht der Macht aus? Und wie reagieren wir auf Statuen von Politikern, die wir fürchten oder gar hassen? Vor dem Hintergrund der aktuellen Denkmalstürze erzählt die Bestsellerautorin Mary Beard von den römischen Kaisern und ihrem Nachleben in späteren Generationen. Mary Beard nimmt uns mit auf eine Reise durch zwei Jahrtausende Kunst- und Kulturgeschichte: Ausgehend von den kaiserlichen Porträts und Skulpturen der römischen Politik, erzählt sie von fluiden Identitäten, beabsichtigten und unbeabsichtigten Verwechslungen und grotesken Fälschungen. Sie rekonstruiert Tizians verlorenes Kaiserzimmer und erkundet die berühmten Cäsarenteppiche Heinrichs VIII. Sie macht sichtbar, wie die römischen Kaiser in den Kunstwerken der Renaissance fortleben und in welcher Form sie in den Arbeiten einer afroamerikanischen Bildhauerin im 19. Jahrhundert auftauchen. Beards Reise führt bis in die Gegenwart: Warum gilt der Lorbeerkranz siegreicher Cäsaren noch immer als Erfolgssymbol? Wieso werden glücklose Herrscher als Neros karikiert, die fiedeln, während Rom darnieder brennt?

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Das Buch

Mary Beard nimmt uns mit auf eine Reise durch zwei Jahrtausende Kunst- und Kulturgeschichte: Ausgehend von den kaiserlichen Porträts und Skulpturen der römischen Politik, erzählt sie von fluiden Identitäten, beabsichtigten und unbeabsichtigten Verwechslungen und grotesken Fälschungen. Sie rekonstruiert Tizians verlorenes Kaiserzimmer und erkundet die berühmten Cäsarenteppiche Heinrichs VIII. Sie macht sichtbar, wie die römischen Kaiser in den Kunstwerken der Renaissance fortleben und in welcher Form sie in den Arbeiten einer afroamerikanischen Bildhauerin im 19. Jahrhundert auftauchen. Beards Reise führt bis in die Gegenwart: Warum gilt der Lorbeerkranz siegreicher Cäsaren noch immer als Erfolgssymbol? Wieso werden glücklose Herrscher als Neros karikiert, die fiedeln, während Rom darnieder brennt?

»Was studieren wir, wenn wir die antike Welt erkunden? Wir studieren uns selbst. Die Antike liefert uns eine Metapher für die Gegenwart.« MARY BEARD

Die Autorin

MARY BEARD, geboren 1955 in Much Wenlock/Shropshire, lehrt an der Cambridge University Alte Geschichte. Sie ist Herausgeberin des Bereichs Altertumswissenschaften für das Times Literary Supplement sowie Autorin und Moderatorin der berühmten BBC-Serie Meet the Romans. Für ihre große Geschichte Pompejis erhielt sie den Wolfson History Prize. Sie ist Fellow of the British Academy und gilt in der angelsächsischen Welt als bekannteste lebende Althistorikerin, zugleich ist sie eine der streitbarsten. Zuletzt erschienen von ihr die Bestseller SPQR. Die tausendjährige Geschichte Roms und Frauen und Macht.

Der Verlag

Propyläen wurde 1919 durch die Verlegerfamilie Ullstein als Verlag für hochwertige Editionen gegründet. Der Verlagsname geht zurück auf den monumentalen Torbau zum heiligen Bezirk der Athener Akropolis aus dem 5. Jh. v. Chr. Heute steht der Propyläen-Verlag für anspruchsvolle und fundierte Bücher aus Geschichte, Zeitgeschichte, Politik und Kultur.

Mary Beard

ZWÖLF CÄSAREN

Gesichter der Macht von der Antike bis in die Moderne

Aus dem Englischen von Ulrike Bischoff

Propyläen

Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel Twelve Caesars bei Princeton University Press, Princeton und Oxford.

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein.de

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ISBN: 978-3-8437-2749-5

© 2021 by Board of Trustees, National Gallery of Art, Washington© der deutschsprachigen Ausgabe2022 Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinUmschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, HamburgUmschlagmotive: ANSA Xll 823 Unbek. Meister / Jan Vermeyen, Kameo, zwölf römische lmperatoren, Julius Cäsar: KHM-MuseumsverbandShutterstock / Crista Verona; Shutterstock / Putthipong Wiriya-apaE-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

Alle Rechte vorbehalten

In Dankbarkeit und erfüllt von schönen Erinnerungen der American Academy of Rome gewidmet

DIE ZWÖLF CÄSAREN

INHALTSVERZEICHNIS

Über das Buch, die Autorin und den Verlag

Titelseite

Impressum

Widmung

Die zwölf Cäsaren

Vorwort

Kapitel 1

Ein römischer Kaiser und ein amerikanischer Präsident

Vom Sarg zu Porträts

Eine Welt voller Cäsaren

Antik-modern

Imperiale Verknüpfungen: von Napoleon und seiner Mutter bis zum letzten Abendmahl

Sueton und seine zwölf Cäsaren

Der Blickwinkel der römischen Kaiserzeit

Anmerkungen zum Kapitel

Kapitel 2

»Es ist Cäsar!«

Julius Cäsar und seine Statuen

Für und Wider

Cäsars »Aussehen«

Vorausplanung

Cäsar Augustus und die Kunst der Dynastie

Der Schädel des Vitellius

Anmerkungen zum Kapitel

Kapitel 3

Münzen im Bild

Münzporträts

Kaiser darstellen

Die Römer und wir

Die Renaissance und die Römer

Anmerkungen zum Kapitel

Kapitel 4

Silberne Cäsaren

Das perfekte Set?

Neuerfindungen, unscharfe Ränder und in Arbeit befindliche Werke

Neue Kleider für die Kaiser von Rom bis Oxford

Die umgruppierten silbernen Cäsaren

Anmerkungen zum Kapitel

Kapitel 5

Glücksfunde?

Das »Cäsarenkabinett«

Offene Fragen, Erklärungen und das Erbe der römischen Kaiserzeit

Von Mantua nach London und Madrid

Die Kunst der Replikation

Die Schrift an der Wand

Anmerkungen zum Kapitel

Kapitel 6

Die Cäsaren auf der Treppe

Mantegnas Cäsar

Die gewebten Cäsaren in Hampton Court

Lukan auf Tapisserien

Negative Reaktionen

Laster und Geschichte der Cäsaren

Vitellius 1847

Mord

Das Ende Neros

Anmerkungen zum Kapitel

Kapitel 7

Agrippina und die Asche

Frauen und Macht?

Große und kleine Skulpturen

Mütter, Matriarchinnen, Opfer und Huren

Die Agrippinas

Agrippina die Dritte

Anmerkungen zum Kapitel

Kapitel 8

Rückblick

Cäsarenbildnisse heute

Anmerkungen zum Kapitel

Danksagung

Anhang

Die Verse unter Aegidius Sadelers Kupferstichreihe der Kaiser und Kaiserinnen von Rom

Bibliografie

Liste der Illustrationen

Feedback an den Verlag

Empfehlugnen

VORWORT

Noch immer sind wir von römischen Herrschern umgeben. Seit annähernd zweitausend Jahren ist Rom nicht mehr die Hauptstadt eines Imperiums, aber noch heute kennt – zumindest im Westen – fast jeder den Namen und manchmal sogar das Bild Cäsars oder Neros. Ihre Gesichter begegnen uns nicht nur in Museen und Galerien, sondern auch in Filmen, Werbung und Zeitungskarikaturen. Ein Karikaturist braucht sehr wenig (einen Lorbeerkranz, Toga, Lyra und ein paar Flammen im Hintergrund), um aus einem modernen Politiker einen »Nero, der fiedelt, während Rom brennt«, zu machen, und die meisten von uns verstehen die Pointe. In den vergangenen gut fünfhundert Jahren wurden diese Kaiser und manche ihrer Ehefrauen, Mütter, Söhne und Töchter unzählige Male in Gemälden, Tapisserien, Silberzeug, Keramiken, Marmor und Bronze abgebildet. Nach meiner Einschätzung gab es vor dem »Zeitalter der mechanischen Reproduktion« in der westlichen Kunst mehr Darstellungen römischer Kaiser als von allen anderen Persönlichkeiten, abgesehen von Jesus, der Jungfrau Maria und einer Handvoll Heiliger. Caligula und Claudius finden über die Jahrhunderte und die Kontinente hinweg mehr Resonanz als Karl V. oder Heinrich VIII. Ihr Einfluss reicht weit über die Bibliothek oder den Hörsaal hinaus.

Mit diesen antiken Herrschern habe ich mich in meinem Leben mehr befasst als die meisten Menschen. Seit nunmehr vierzig Jahren machen sie einen wesentlichen Teil meiner beruflichen Tätigkeit aus. Ich habe ihre Äußerungen von ihren Rechtsurteilen bis hin zu ihren Scherzen genauestens studiert. Ich habe ihre Machtbasis analysiert, ihre Nachfolgeregelungen (oder deren Fehlen) zerpflückt und oft genug ihre Dominanz bedauert. Ich habe mir ihre Köpfe auf Kameen und Münzen angesehen, und ich habe Studenten beigebracht, sich an dem zu erfreuen, was römische Schriftsteller über sie zu sagen hatten, es aber auch eingehend zu hinterfragen. Die Schauergeschichten über Tiberius’ Eskapaden in seinem Swimmingpool auf Capri, die Gerüchte über Neros Begierde nach seiner Mutter und über Domitians Umgang mit Fliegen (die er mit seinem Schreibgriffel quälte) kommen in der modernen Vorstellungswelt gut an und verraten uns sicher eine Menge über die Ängste und Fantasien der alten Römer. Aber wie ich allen, die solche Berichte gern für bare Münze nehmen, immer wieder sage, sind sie nicht unbedingt »wahr« im üblichen Sinne des Wortes. Ich bin von Beruf Altertumsforscherin, Historikerin, Professorin, Skeptikerin und gelegentlich Spaßverderberin.

In diesem Buch richte ich meine Aufmerksamkeit auf die modernen Kaiserbilder, die uns umgeben, und stelle einige der grundlegendsten Fragen dazu, wie und warum sie produziert wurden. Warum haben Künstler seit der Renaissance diese antiken Charaktere in so großen Mengen und auf so vielfältige Weise dargestellt? Warum haben Kunden diese Werke gekauft, seien es nun aufwendige Skulpturen oder billige Plaketten oder Drucke? Was bedeuten die Gesichter längst verstorbener Autokraten, von denen weitaus mehr für ihre Schurkereien als für ihr Heldentum berühmt sind, einem modernen Publikum?

In den folgenden Kapiteln spielen die antiken Kaiser eine herausragende Rolle, besonders die ersten »zwölf Cäsaren«, wie sie häufig genannt werden (siehe Tafel 1) – von Julius Cäsar (ermordet 44 v. Chr.) über Tiberius, Caligula, Nero und weitere bis hin zum Fliegen quälenden Domitian (ermordet 96). Nahezu alle modernen Kunstwerke, die ich bespreche, entstanden im Dialog mit den römischen Darstellungen ihrer Herrscher und mit all den antiken Berichten über deren Taten und Missetaten, so weit hergeholt sie auch sein mögen. In diesem Buch teilen sich die Cäsaren das Rampenlicht jedoch mit einer großen Bandbreite moderner Künstler: Manche wie Mantegna, Tizian oder Alma-Tadema sind in der westlichen Tradition wohlbekannt, andere gehören Generationen von mittlerweile anonymen Webern, Kunsttischlern, Silberschmieden, Druckern und Keramikern an, die einige der beeindruckendsten Bildnisse dieser Cäsaren geschaffen haben. Sie teilen sich das Rampenlicht wiederum mit einer Auswahl von Humanisten der Renaissance, Altertumsforschern, Gelehrten und modernen Archäologen, die viel Energie darauf verwandt haben, diese antiken Gesichter der Macht – richtig oder falsch – zu identifizieren oder zu rekonstruieren, und mit einer noch größeren Bandbreite von Menschen, von Reinigungskräften bis hin zu Höflingen, die von dem, was sie sahen, beeindruckt, aufgebracht, gelangweilt oder verwirrt waren. Mit anderen Worten: Mich interessieren nicht nur die Herrscher und die Künstler, die sie in Bildnissen wieder aufleben ließen, sondern auch wir, die wir sie uns anschauen.

Ich hoffe, dass uns einige Überraschungen und unerwartet »extreme« Aspekte der Kunstgeschichte erwarten. Wir werden Kaiser an äußerst überraschenden Orten begegnen, von Schokolade bis hin zu Tapeten des 16. Jahrhunderts und schrillen Wachsfiguren aus dem 18. Jahrhundert. Wir werden über Statuen rätseln, deren Datierung bis heute so umstritten ist, dass die Experten sich nicht einigen können, ob es sich um antike römische Werke, moderne Pastiches, Fälschungen, Repliken oder kreative Renaissance-Beiträge zur Tradition der römischen Kaiserzeit handelt. Wir werden der Frage nachgehen, warum so viele dieser Bildnisse jahrhundertelang fantasievoll anderen Personen zugeordnet oder durcheinandergebracht wurden: Ein Herrscher wurde für einen anderen gehalten, Mütter und Töchter verwechselt, Frauengestalten der römischen Geschichte als männlich (fehl)gedeutet oder umgekehrt. Und wir werden anhand erhalten gebliebener Kopien und anderer schwacher Hinweise eine verloren gegangene Reihe von Porträts aus dem 16. Jahrhundert rekonstruieren, die Menschen aus der römischen Kaiserzeit zeigten und heute nahezu in Vergessenheit geraten sind, obwohl sie damals so bekannt waren, dass sie die in ganz Europa gängige Vorstellung der Cäsaren prägten. Mein Ziel ist, aufzuzeigen, warum Bildnisse dieser römischen Kaiser – obwohl sie vielleicht Autokraten und Tyrannen waren – nach wie vor in der Kunst- und Kulturgeschichte eine Rolle spielen.

Die Ursprünge dieses Buches gehen auf die A.W. Mellon Lectures in the Fine Arts zurück, die ich im Frühjahr 2011 in Washington, D. C., gehalten habe. Seitdem habe ich neues Material entdeckt, neue Kontakte geknüpft und einige meiner Fallstudien eingehender (und in unterschiedliche Richtungen) erforscht. Aber das Buch beginnt und endet ebenso wie die Vorlesungen mit einem merkwürdigen Objekt, das früher nur einen Steinwurf vom Vortragssaal der National Gallery of Art entfernt stand, in dem ich meine Vorträge hielt: kein Kaiserporträt, sondern ein großer römischer Marmorsarg oder Sarkophag, der – wie manche glaubten und in einem entsprechenden Hype verbreiteten – einst als letzte Ruhestätte eines Kaiser gedient hatte.

KAPITEL 1

Der Kaiser an der Mall. Eine Einleitung

EIN RÖMISCHER KAISER UND EIN AMERIKANISCHER PRÄSIDENT

Jahrelang stand ein imposanter Marmorsarkophag als Blickfang und Kuriosität auf dem Grünstreifen vor dem Smithsonian Arts and Industries Building an der Mall in Washington, D. C., (Abb. 1.1). Es war einer von zwei Sarkophagen, die man 1837 zusammen am Stadtrand von Beirut im Libanon entdeckt hatte und die Kommodore Jesse D. Elliott, der Kommandeur des US-Marinegeschwaders, das im Zuge der Barbareskenkriege im Mittelmeer patrouillierte, zwei Jahre später in die Vereinigten Staaten gebracht hatte. Der Legende nach waren darin einst die sterblichen Überreste des römischen Kaisers Alexander Severus beigesetzt, der von 222 bis 235 regierte.1

Abb. 1.1: Besucherinnen lesen in den ausgehenden 1960er-Jahren die Informationstafel am römischen Sarkophag vor dem Arts and Industries Building auf der Mall in Washington, D. C.: Präsident »Andrew Jackson lehnte es ab, in diesem Grabmal beigesetzt zu werden.«

Der Name dieses Kaisers ist vielen nicht mehr geläufig, obwohl Händel sein Leben in einer recht schwülstigen Oper – Alessandro Severo – erzählte und er in einigen Teilen Europas in der Frühmoderne den überzogenen Ruf eines vorbildlichen Herrschers, Kunstmäzens und öffentlichen Wohltäters genoss (vor allem Karl I. von England verglich sich gern mit ihm). Alexander Severus, ein gebürtiger Syrer und Mitglied einer zu seiner Zeit ausgesprochen multiethnischen römischen Elite, bestieg mit 13 Jahren den Thron, nachdem sein Vetter Elagabalus einem Mordanschlag zum Opfer gefallen war – Elagabalus’ legendäre Exzesse stellten selbst die von Caligula und Nero in den Schatten, so gehörte es zu seinen Partytricks, seine Gäste unter Bergen von Rosenblättern zu ersticken, was der Maler Lawrence Alma-Tadema, der das antike Rom im 19. Jahrhundert wiederauferstehen ließ, in seinem Gemälde (Abb. 6.23) brillant darstellte. Alexander war der bis dahin jüngste römische Kaiser, und die meisten der etwa 20 erhalten gebliebenen antiken Porträts, die (mutmaßlich) ihn zeigen, stellen ihn als recht verträumten, beinahe verletzlichen Jugendlichen dar (Abb. 1.2). Ob er jemals so vorbildlich war, wie man in späteren Epochen glaubte, ist fraglich. Dennoch hielten antike Schriftsteller ihn für relativ zuverlässig, weitgehend dank des Einflusses seiner Mutter, Julia Mamaea, der »Macht hinter dem Thron«, die in Händels Oper eine erwartungsgemäß finstere Rolle spielt. Letzten Endes wurden Mutter und Sohn während eines Feldzugs von rebellierenden römischen Truppen ermordet. Ob Alexanders wirtschaftliche Vorsicht (oder Geiz), sein mangelndes Können als Feldherr oder der Einfluss Julia Mamaeas Auslöser für die Wut der Soldaten war, hängt davon ab, welcher Darstellung man Glauben schenkt.2

Abb. 1.2: Büste des Alexander Severus in einer Reihe römischer Kaiser im »Kaisersaal« der Kapitolinischen Museen in Rom. Die Identifizierung einzelner Kaiser ist nur selten gesichert, aber bei dieser Büste sind die vertieften Pupillen und die Darstellung der kurzen Haare typisch für Skulpturen aus dem frühen 3. Jahrhundert, zudem besteht eine plausible Ähnlichkeit mit einigen Bildnissen des Alexander Severus auf Münzen.

All das passierte über hundert Jahre nach diesen ersten, bekannteren zwölf Cäsaren. Aber Alexander Severus war nach wie vor weitgehend ein Herrscher in ihrem Stil, bis hin zu den schäbigeren Anekdoten und Behauptungen (der etwas zu engen Beziehung zu seiner Mutter, der Bedrohung durch die Soldaten, dem empörenden Vorgänger und der brutalen Ermordung). Tatsächlich sahen moderne Historiker in ihm häufig den letzten Vertreter jener traditionellen Reihe römischer Kaiser, die mit Julius Cäsar begonnen hatte, und ein Drucker und Verleger aus dem 16. Jahrhundert schaffte es sogar, mit kreativer Zählweise und strategischen Auslassungen die ursprünglichen Zwölf zu verdoppeln und ein Diagramm der Abfolge von Kaisern zu erstellen, in dem Alexander Severus passenderweise als Nummer 24 stand.3 Was nach seiner Ermordung folgte, war etwas völlig anderes: eine jahrzehntelange Herrschaft von militärischen Abenteurern, von denen viele nur wenige Jahre an der Macht blieben und manche kaum je einen Fuß in die Stadt Rom setzten, obwohl sie »römische« Kaiser waren. Ein passendes Symbol für diesen Wandel im Wesen römischer Macht ist die häufig aufgestellte – wahre oder unwahre – Behauptung über Alexanders unmittelbaren Nachfolger Maximinus, den Thraker, der von 235 bis 238 regierte und in die Geschichte als erster römischer Kaiser einging, der weder lesen noch schreiben konnte.4

Die Geschichte des Sarkophags bildet einen anschaulichen Einstieg in einige der Drehungen und Wendungen, Debatten, Meinungsverschiedenheiten und heiklen politischen Kontroversen, die die von mir geschilderte umfassendere Geschichte moderner wie auch antiker römischer Kaiserbildnisse prägen. Der Name Alexander Severus war nirgendwo auf dem Sarkophag zu finden, in dem man ihn angeblich beigesetzt hatte, auch sonst gab es keine für eine Identifizierung aufschlussreichen Hinweise. Allerdings stand auf dem zweiten Sarkophag deutlich der Name »Julia Mamaea«. Das machte es für Jesse Elliott nahezu unwiderstehlich, die beiden Sarkophage, die er erworben hatte, mit dem unglücklichen jungen Kaiser und dessen Mutter in Zusammenhang zu bringen. Da man sie zusammen ermordet hatte, musste man sie Seite an Seite in angemessen imperialer Pracht in der Nähe von Alexanders Geburtsort im heutigen Libanon beigesetzt haben. Zumindest schaffte er es, sich davon zu überzeugen.

Er hatte unrecht. Schon bald machten Skeptiker darauf aufmerksam, dass die Ermordung gut 3000 Kilometer von Beirut entfernt in Germanien oder gar in Britannien stattgefunden haben soll (eine geografische Verknüpfung, die dem Hof Karls I. gefiel, wenngleich das für den Mord nicht galt) und ein antiker Schriftsteller behauptet hatte, man habe den Leichnam des Kaisers zur Beisetzung nach Rom gebracht.5 Falls das noch nicht ausreichte, um der Vermutung den Boden zu entziehen, so ging aus der Inschrift eindeutig hervor, dass die »Julia Mamaea«, der dort gedacht wurde, im Alter von 30 Jahren gestorben war, somit konnte es sich unmöglich um die Mutter des Alexander Severus gehandelt haben – es sei denn, sie hätte »ihren Sohn geboren, als sie kaum drei Jahre alt war, was, gelinde gesagt, ungewöhnlich wäre«, wie einer von Elliotts Untergebenen später spitz anmerkte. Vermutlich war die Frau, die einst in diesem Sarkophag beigesetzt wurde, eine der vielen anderen Einwohnerinnen des Römischen Reiches, die diesen verbreiteten Namen trug.6

Keinem der Beteiligten an diesen Debatten war offenbar klar, dass es noch mindestens einen rivalisierenden Kandidaten um den Beisetzungsort des Kaisers und seiner Mutter gab, oder falls sie es wussten, schwiegen sie darüber. Etwa 7200 Kilometer von Washington, D. C., entfernt gab es in den Kapitolinischen Museen in Rom einen kunstvoll gestalteten Marmorsarkophag, von dem man annahm, dass Alexander Severus und Julia Mamaea gemeinsam darin beigesetzt worden waren, da sie halb liegend auf dem Deckel abgebildet waren – diesen Sarkophag hatte Piranesi in einem berühmten Kupferstich dargestellt, und den begeisterten Reisenden im 18. und 19. Jahrhundert dürfte er wohlbekannt gewesen sein (Abb. 1.3). Es gab sogar eine Verbindung zur »Portlandvase«, die heutzutage zu den Highlights des British Museum gehört. Diese Amphore aus blauem Glas ist berühmt, weil sie mit exquisiten weißen Kameen in Überfangtechnik verziert ist und weil ein betrunkener Museumsbesucher sie 1845 zertrümmerte. Falls es stimmt (und das ist ein großes »Falls«), dass diese Vase im 16. Jahrhundert tatsächlich in diesem Sarkophag wiederentdeckt wurde, dann handelte es sich möglicherweise um das Originalgefäß, das einst die Asche des Kaisers enthalten hatte (obwohl es merkwürdig wäre, eine kleine Urne mit Asche in einem großen Sarg beizusetzen, der offensichtlich dafür gedacht war, einen nicht kremierten Leichnam aufzunehmen). In diesem Fall passt der Begräbnisort am Stadtrand Roms besser zu einigen der historischen Indizien. Aber alles in allem war auch diese Identifizierung eine Kombination aus Wunschdenken und bloßer Fantasie, wie die gewissenhafteren Reiseführer des 19. Jahrhunderts einräumten.7

Abb. 1.3: Ein Alternativkandidat für die letzte Ruhestätte des Alexander Severus: Piranesis Kupferstich dieses Sarkophags aus den Kapitolinischen Museen in Rom (1756) zeigt auf dem Deckel die halb liegenden Figuren der Verstorbenen und in den Reliefs darunter Szenen aus der Geschichte des griechischen Helden Achill.

So unbegründet sie auch war, hielt sich die Verknüpfung der von Elliott erworbenen Sarkophage mit dem Kaiser und seiner Mutter noch länger. Das lag überwiegend an der seltsamen, ein wenig gruseligen Geschichte dieser Trophäen nach ihrem Eintreffen in Amerika. Elliott hatte nicht vor, sie zu Museumsstücken zu machen. Den Sarkophag der »Julia Mamaea« wollte er als letzte Ruhestätte des Philanthropen Stephen Girard aus Philadelphia wiederverwenden; aber da dieser bereits einige Jahre zuvor verstorben und beerdigt worden war, wurde der Sarkophag in die Sammlung der Girard Collection aufgenommen und 1955 als Leihgabe an das Bryn Mawr College vergeben, wo er bis heute im Innenhof steht. Nach vergeblichen Bemühungen, »Alexanders« Sarkophag für die sterblichen Überreste von James Smithson (dem Wissenschaftler, Stifter und Mitbegründer der Smithsonian Institution und unehelichen Sohn eines englischen Aristokraten) wiederzuverwenden, schenkte Elliott ihn 1845 dem National Institute, einer bedeutenden Sammlung amerikanischen Kulturerbes, die im Patentamt untergebracht war, in der »inständigen Hoffnung«, er möge demnächst »alles Sterbliche des Patrioten und Helden Andrew Jackson« beherbergen.

Trotz seiner nachlassenden Gesundheit (er starb einige Monate später) war Präsident Jacksons Antwort auf Elliotts Schreiben, in dem er dieses Angebot unterbreitete, von berühmt-berüchtigter Eindeutigkeit: »Ich kann nicht einwilligen, dass meine sterblichen Überreste in einem Behältnis beigesetzt werden, das für einen Kaiser oder König gemacht wurde – das verbieten meine republikanischen Einstellungen und Prinzipien – das verbietet die Schlichtheit unseres Regierungssystems. Jedes Monument, das errichtet wird, um die Erinnerung an unsere Helden und Staatsmänner lebendig zu erhalten, sollte von der Sparsamkeit und Schlichtheit unserer republikanischen Institutionen und der Einfachheit unserer republikanischen Bürger zeugen. […] Ich kann nicht zulassen, dass meine Überreste als erste in diesen Vereinigten Staaten in einem Sarkophag beigesetzt werden, der für einen Kaiser oder König gemacht wurde.« Jackson befand sich in einer heiklen Lage. Die gegen ihn vorgebrachten Anschuldigungen, er führe sich auf wie ein »Cäsar« – in einem autokratisch populistischen Stil, den einige seiner Nachfolger kopierten –, mögen zu seiner vehementen Ablehnung beigetragen haben. Er wollte eindeutig nicht riskieren, sich eine kaiserliche Beisetzung zu verschaffen.8

Da sich keine praktische Verwendung für den Sarkophag finden ließ, brachte man ihn in den 1850er-Jahren von seinem vorübergehenden Standort im Patentamt in die Smithsonian Institution, wo er vor dem Gebäude an der Mall stand, bis er in den 1980er-Jahren schließlich ins Depot wanderte. Doch obwohl die archäologische Verbindung zu Alexander Severus durchweg widerlegt wurde (tatsächlich handelte es sich um ein typisches Objekt aus dem östlichen Mittelmeerraum des Römischen Reiches, das jedem gehört haben könnte, der über das nötige Geld verfügte), ging Jacksons Ablehnung des Sarkophags als »für einen Kaiser oder König gemacht« in dessen Geschichte und Mythologie ein. In den 1960er-Jahren fanden sich seine Worte auf einer neuen Informationstafel, die neben dem Sarkophag angebracht wurde. Die Überschrift (die die beiden Besucherinnen auf Abb. 1.1 aufmerksam lesen) lautete: »Andrew Jackson lehnte es ab, in diesem Grabmal beigesetzt zu werden.«9 Er diente also als Symbol für den nüchternen Charakter des amerikanischen Republikanismus und seiner Abneigung gegen das vulgäre Brimborium der Monarchien und Autokratien. Ganz gleich, mit welchem Makel des Cäsarentums Präsident Jackson auch behaftet gewesen sein mag, fällt es schwer, sich nicht auf seine Seite zu schlagen und gegen Elliotts »inständige Hoffnung« zu stellen, sein berühmter Sarkophag möge für eine Berühmtheit Verwendung finden.

VOM SARG ZU PORTRÄTS

Mit solchen Geschichten von Entdeckungen, Falschzuordnungen, Hoffnungen, Enttäuschungen, Kontroversen, Interpretationen und Umdeutungen befasst sich dieses Buch. Der Rest dieses Kapitels geht über zwei Marmorsarkophage, einen übereifrigen Sammler und einen kompromisslosen Präsidenten hinaus und bietet einen ersten Einblick in die große und erstaunliche Bandbreite von Cäsarenporträts (aus Gebäck, Farbe, Marmor oder Bronze), die einst die antike römische Welt zierten, und vermittelt einen ersten Eindruck von Kunstwerken und Künstlern, die diese Cäsarenbildnisse seit der Renaissance neu interpretiert und nachempfunden haben. Es wird einige der gängigen Gewissheiten über diese Porträts infrage stellen – indem es die äußerst verschwommene Grenze zwischen antiken und modernen Werken auslotet (was unterscheidet eine vor 2000 Jahren angefertigte Marmorbüste von einer, die vor 200 Jahren entstanden ist?) und einen Vorgeschmack auf die politisch und religiös provozierenden Aspekte dieser antiken Herrscher in der modernen Kunst bietet. Zudem führt es Gaius Suetonius Tranquillus (kurz: Sueton) ein, den antiken Schriftsteller, der unserer modernen Welt die Kategorie der »Zwölf Cäsaren« hinterlassen hat und über den folgenden Kapiteln schwebt.

Aber die Anekdote von Elliotts Trophäe hat bereits einige Leitlinien aufgezeigt, die für mein gesamtes Thema von Bedeutung sind. Erstens dient sie als Erinnerung, wie wichtig es ist, Dinge richtig zu erkennen – so offenkundig das auch erscheinen mag. Seit der Antike kursierten Bildnisse römischer Herrscher durch die gesamte damals bekannte Welt, gingen verloren, wurden wiederentdeckt und miteinander verwechselt; wir sind keineswegs die erste Generation, der es schwerfällt, Caligulas von Neros zu unterscheiden. Marmorbüsten wurden überarbeitet oder sorgsam angepasst, um das Bild eines Herrschers in das eines anderen zu verwandeln, und selbst heute noch werden weiterhin neue produziert in einem endlosen Prozess halbwegs akkurater Kopien, Adaptionen und Neuschöpfungen. Und in mehr Fällen, als zuzugeben uns lieb sein mag, haben moderne Gelehrte und Sammler seit der Renaissance Porträts anonymer Würdenträger tendenziös als authentische Cäsaren identifiziert und Allerweltssarkophagen und gewöhnlichen römischen Villen eine zweifelhafte Verbindung zu Herrschern zugeschrieben. Der Sarkophag »Alexanders« ist ein typisches Beispiel für den komplexen Weg aus unnötiger Falschheit und Fantasie, der damit einhergeht, den falschen Namen mit einem Objekt zu verknüpfen.

Die Anekdote ist zugleich aber auch eine Mahnung, dass Fehlzuschreibungen sich nicht so leicht beiseiteschieben lassen und man archäologischen Purismus zu weit treiben kann. Die falsche Zuordnung, die im Zentrum der Geschichte des »Alexander«-Sarkophags steht, ist an sich schon historisch bezeichnend (ohne sie gäbe es gar keine Geschichte). Und sie ist nur eine von vielen ähnlichen fehlerhaften Identifizierungen – von »Kaisern« in Anführungszeichen –, die im Laufe der Jahrhunderte zu einem wesentlichen Teil für uns das Gesicht römischer Macht repräsentierten und der modernen Welt dabei halfen, die antiken Dynasten und Dynastien zu verstehen. Dass Piranesi den Sarkophag in den Kapitolinischen Museen voller Überzeugung benannte, stellte eine Verbindung zu Alexander Severus und seiner Mutter her, die durch die Tatsache, dass sie schlichtweg »falsch« war, nicht vollständig beseitigt wurde. Nach meiner Einschätzung haben eine ganze Reihe der in diesem Buch thematisierten bedeutenden und einflussreichen Bildnisse mit ihren historischen Subjekten auch keine engere Verbindung als der echte Alexander Severus mit »seinem/seinen« Sarkophag/en. Aber deshalb waren sie keineswegs weniger bedeutend oder einflussreich. In diesem Buch geht es sowohl um Kaiser als auch um »Kaiser« in Anführungszeichen.

Der auffallendste Aspekt an dieser Anekdote über den amerikanischen Präsidenten und den Sarkophag ist jedoch, dass dieses antike Marmorstück für Jackson offenkundig eine Bedeutung besaß. Durch die vermeintliche Verbindung zu einem römischen Kaiser war es ein Symbol für Autokratie und ein politisches System, das in Widerspruch zu den republikanischen Werten stand, die er zu vertreten behauptete, und das löste bei ihm eine so heftige Reaktion aus, wie er sie als Sterbender noch aufzubringen vermochte. Selbst heute noch ist das für uns ein starker Anstoß, die Darstellungen römischer Kaiser nicht als allzu selbstverständlich hinzunehmen. Schließlich vereinnahmte Benito Mussolini nicht einmal 100 Jahre nach Jacksons Tod die Bildnisse Julius Cäsars und seines Nachfolgers, Kaiser Augustus, für seine faschistische Sache und ließ das imposante Augustus-Mausoleum im Zentrum Roms – zumindest indirekt – als Monument für sich selbst restaurieren. Das war keine bloße Augenwischerei.

Die meisten von uns (gelegentlich auch ich, wie ich zugeben muss) gehen an den Reihen von Kaiserköpfen auf Museumsregalen vorbei, ohne mehr als einen flüchtigen Blick darauf zu werfen (Abb. 4.12). Selbst heute, da die Bedeutung mancher öffentlicher Statuen zunehmend – und teils heftig – umstritten ist, sieht man in den Bildnissen der zwölf Cäsaren, die seit dem 15. Jahrhundert Häuser und Gärten der europäischen (und später trotz Jackson auch der amerikanischen) Elite zierten, häufig kaum mehr als ein Statussymbol von der Stange, eine lockere Verbindung zum angeblichen Ruhm der römischen Vergangenheit oder eine teure »Tapete« für Adelshäuser und aufstrebende Bürgerhäuser. Manchmal waren sie buchstäblich genau das. Bereits um die Mitte des 16. Jahrhunderts wurden Kaiserköpfe auf Papier gedruckt, die man ausschneiden und auf ansonsten mittelmäßige Möbel oder Wände kleben konnte, um ihnen einen vorgefertigten Anstrich von Klasse und Kultur zu geben (Abb. 1.4). Noch heute kann man bei Innenausstattern der gehobenen Klasse ganz ähnliche Tapeten von der Rolle kaufen.10

Abb. 1.4: Deutsche Tapete, um 1555. Zwei Rundbilder mit Kaiserköpfen sind von Fantasiewesen in üppigem Blattwerk umgeben. Die (etwa 30 Zentimeter hohe) Tapete war dazu gedacht, sie in Streifen zu schneiden und als Bordüre an Wänden oder Möbeln anzubringen, um ihnen eine gewisse Klasse zu verleihen.

Während ihrer gesamten Geschichte warfen Bildnisse antiker Herrscher – ebenso wie die einiger Soldaten und Politiker aus jüngerer Zeit – heiklere und stärker befrachtete Fragen auf. Sie waren nicht nur reine Statussymbole, sondern gaben auch Anlass zu Kontroversen. Weit davon entfernt, lediglich eine harmlose Verbindung zur klassischen Vergangenheit herzustellen, wiesen sie auch auf unbequeme Fragen zu Politik und Autokratie, Kultur und Moral und natürlich zu Verschwörungen und Morden hin. Die Reaktion Andrew Jacksons (dessen Statuen, während ich dies schreibe, ebenfalls drohen, wegen seiner Verbindungen zur Sklaverei, nicht wegen seines Cäsarentums, von ihren Sockeln gestürzt zu werden) gibt uns Anlass, auf die destabilisierenden Aspekte dieser Kaisergestalten zu achten, auch wenn sie sich häufig in scheinbar vertrauten Machtklischees präsentieren.

EINE WELT VOLLER CÄSAREN

Römische Herrscher darzustellen war für antike Künstler und Handwerker über Jahrhunderte hinweg inspirierend, lukrativ und sicher zuweilen auch langweilig und abstoßend. In Massenproduktion stellten sie Tausende und Abertausende Bildnisse her, die weit über die Marmorbüsten und die kolossalen Bronzestatuen hinausreichen, die man mit dem Begriff »Kaiserporträt« gemeinhin verbindet.11 Es gab sie in allen Formen, Größen, Materialien, Stilrichtungen und Ausprägungen. Einige der faszinierendsten archäologischen Funde, die an zahlreichen Orten der römischen Welt entdeckt wurden, sind Bruchstücke von einfachen Backformen. Auf den ersten Blick sind die Darstellungen schwer zu erkennen, aber bei genauerem Hinsehen sind Bilder von Kaisern und ihren Familien auszumachen. Sie gehörten einst zur Ausstattung römischer Küchen und Bäckereien und dienten zur Herstellung von Gebäck und Süßwaren, die das Abbild imperialer Macht geradewegs in den Mund römischer Untertanen beförderten (Kaiser zum Anbeißen).12 Außerdem gab es exquisite Kameen, preiswerte Wachsbilder und Holzmodeln, Wandgemälde, Tafelbilder (ähnlich modernen Porträtgemälden), ganz zu schweigen von all den Miniaturköpfen auf Münzen in Gold, Silber und Bronze.

Antike Künstler stellten sich auf diverse Märkte und eine große Bandbreite von Mäzenen und Kunden ein. Sie füllten Kaiserresidenzen und Grabmale mit den Gesichtern dynastischer Macht, lieferten Bildnisse des Kaisers und seiner Familie an römische Behörden, damit diese sie in weit entfernte Gebiete an Untertanen schicken konnten, die den Herrscher niemals in Fleisch und Blut sehen würden; sie arbeiteten für lokale Gemeinden, die Herrscherstatuen in Tempeln und auf öffentlichen Plätzen errichten wollten, um ihre Loyalität (und ihre Unterwürfigkeit) gegenüber Rom zu demonstrieren; und sie belieferten all die einfachen Bürger, die Miniaturherrscherbilder als Andenken kauften oder um sie zu Hause auf dem antiken Äquivalent zum Kaminsims oder Esstisch zur Schau zu stellen.13

Von diesen Bildnissen ist nur ein verschwindend kleiner Teil erhalten geblieben, obwohl dank der Bemühungen von Antikenforschern und Archäologen bis zum 21. Jahrhundert erheblich mehr als bis zum 15. Jahrhundert zutage gefördert wurden. Dennoch sind die reinen Zahlen beeindruckend und sollten uns mehr überraschen, als es meist der Fall ist. Die Gefahr der Vertrautheit ist so groß, dass wir dazu neigen, die Möglichkeit, nach 2000 Jahren die Gesichter so vieler dieser antiken Herrscher zu sehen, für selbstverständlich zu halten. Die etwa 20 Porträts von Alexander Severus (sowie weitere 20 von Julia Mamaea) sind nur ein kleiner Teil davon. Im Fall von Kaiser Augustus, der 45 Jahre lang von 31 v. Chr. bis 14 n. Chr. regierte, gibt es außer den Münzen und Kameen und zahlreichen Falschzuordnungen über 200 recht zuverlässig identifizierte zeitgenössische oder nahezu zeitgenössische Marmor- oder Bronzebildnisse, die im gesamten Römischen Reich von Spanien bis Zypern gefunden wurden, sowie etwa 90 von seiner Frau Livia (die noch länger lebte) (Abb. 2.9; 2.10; 2.11; 7.3). Nach einer plausiblen Vermutung – mehr als eine Vermutung kann es nicht sein – gab es möglicherweise insgesamt zwischen 25000 und 50000 Augustus-Bildnisse.14

Unabhängig davon, ob diese Schätzung grob zutrifft oder nicht, stellen die erhalten gebliebenen Stücke sicher keine repräsentative Stichprobe dessen dar, was es früher einmal gab. Verfall und Zerstörung treffen keineswegs alle Bildnisse gleichermaßen. Statuen aus Metall laufen immer Gefahr, zur Wiederverwendung des Materials eingeschmolzen zu werden, und je vergänglicher das Medium ist, umso schwächer sind definitionsgemäß die archäologischen Spuren, die es hinterlässt. Augustus spricht in seiner Autobiografie von »etwa achtzig« silbernen Statuen, die es allein in Rom von ihm gab. Heutzutage nehmen allerdings Marmorbüsten einen unverhältnismäßig großen Raum unter den Cäsarenporträts ein, weil alle Exemplare aus Gold und Silber, die existierten, sowie viele aus Bronze früher oder später recycelt wurden. Sie endeten als neue Kunstwerke, Münzgeld oder im Fall der Bronzen als Militärgerät und Munition.15

Andere Materialien wie Farben verschwanden ohne derart aggressives Eingreifen. Generell gehören gemalte Porträts zu den größten Opfern der klassischen Kunst und sind nur unter seltenen Bedingungen erhalten geblieben – etwa im trockenen Sand Ägyptens, in dem die lebendig und häufig verblüffend »modern« anmutenden Gesichter überdauert haben, die auf den dekorativen Särgen römischer Mumien an die Verstorbenen erinnerten.16 Ebenfalls aus Ägypten stammt ein erstaunliches Bildnis von Kaiser Septimius Severus und seiner Familie, das um 200 n. Chr. gemalt wurde. Man könnte es ohne Weiteres für ein ungewöhnliches Einzelstück halten, wenn nicht einige Schriftquellen darauf hindeuteten, dass es Teil einer weiter verbreiteten, aber mittlerweile nahezu völlig verloren gegangenen Tradition war (Abb. 1.5). So listet ein antikes Inventar, das auf einem Papyrusfragment erhalten geblieben ist, mehrere »kleine Gemälde« von Kaisern auf, die im 3. Jahrhundert in einer Gruppe ägyptischer Tempel ausgestellt waren; und der Lehrer von Kaiser Mark Aurel erwähnte einmal die »schlecht gemalten« und lächerlich unkenntlichen Porträts seines Schülers, die er bei »den Geldverleihern, in Läden und an Ständen […] und überall sah«. Damit offenbarte er nicht nur seine snobistische Verachtung für Volkskunst, sondern bot auch einen flüchtigen Einblick, dass Kaiserporträts einst allgegenwärtig waren.17

Abb. 1.5: Die Familie des Septimius Severus, des ersten römischen Herrschers, der vom afrikanischen Kontinent stammte (reg. 193–211): Septimius (hinten rechts); seine Frau Julia Domna, die Großtante von Alexander Severus (hinten links); sein ältester Sohn Caracalla (unten rechts); und sein jüngerer Sohn Geta (unten links). Das Tafelbild erlebte eine wechselvolle Geschichte. Heute misst es etwa 30 Zentimeter im Durchmesser, wurde aber aus einem größeren Werk ausgeschnitten. Das Gesicht Getas, der auf Caracallas Befehl 211 ermordet wurde, wurde bewusst ausgelöscht.

Die meisten Bildnisse dieser Herrscher, die wir heute sehen, stammen jedoch im chronologischen Sinne nicht aus »römischer« Zeit, sondern entstanden viele Jahrhunderte nach dem Zusammenbruch des Römischen Reiches im Westen. Dazu gehören einige erstaunliche Porträts aus dem Mittelalter: Die Darstellung Kaiser Neros mit einem kleinen blauen Teufel auf dem Rücken in einem Buntglasfenster der Kathedrale in Poitiers (Abb. 1.6) ist eine bemerkenswerte Vignette aus dem 12. Jahrhundert, und um das Jahr 1000 hauchten die Künstler des »Lotharkreuzes« einer Augustus-Kamee in einem wunderbaren Neuschöpfungsprozess neues Leben ein, indem sie ihr einen völlig neuen Rahmen gaben und sie in Beziehung zu einem weiter unten angebrachten Porträt des karolingischen Königs Lothar setzten (daher der Name des Kreuzes), der im 9. Jahrhundert regierte (Abb. 1.7).18 Aber erst ab dem 15. Jahrhundert wurden Cäsarenbildnisse zunächst in Europa und später auch darüber hinaus in Mengen nachgebildet, imitiert und neu interpretiert, die nicht weit hinter den antiken Produktionszahlen zurückblieben und doch eine weitaus buntere Vielfalt aufwiesen.

Abb. 1.6: Ein kleines Detail aus einem (8,50 m hohen) Buntglasfenster aus dem 12. Jahrhundert an der Ostseite der Kathedrale in Poitiers, Frankreich, zeigt Nero, gekleidet wie ein mittelalterlicher König. Die Inschrift darunter (in einer modernen Restaurierung der ursprünglichen Lettern) weist ihn als »Nero Imperator« (Kaiser Nero) aus. Offenbar ist er sich des Teufels auf seinem Rücken nicht bewusst. Er deutet in die Mitte des Fensters, wo der heilige Petrus auf seinen Befehl hin gekreuzigt wird.

Abb. 1.7: Dieses kostbare (50 cm hohe) Kreuz wird an hohen Festtagen nach wie vor in der Liturgie im Aachener Dom verwendet. Es besteht aus einer komplexen Kombination: Der Fuß stammt aus dem 14. Jahrhundert. Das Kreuz entstand um das Jahr 1000 und enthält im unteren Teil einen etwas älteren Siegelstein König Lothars und im Zentrum eine Kamee des Kaisers Augustus aus dem 1. Jahrhundert.

Dazu gehörten sicher auch Reihen von Marmorbüsten. Bildhauer und Kunstmäzene orientierten sich an einigen der bekanntesten erhalten gebliebenen Beispiele römischer Kaiserporträts und statteten Paläste, Villen, Gärten und Landhäuser mit ihren eigenen Cäsaren aus Stein aus: von den pompösen Porphyrkreationen mit Goldstaffage, die die Empfangsräume Ludwigs XIV. in Versailles schmückten (Abb. 1.8), bis hin zum bescheideneren Rahmen der Long Gallery in Powis Castle in Wales (Abb. 1.9), wo das Zurschaustellen von Cäsarenbüsten offenbar auf Kosten von grundlegenden Annehmlichkeiten wie Teppichen, ordentlichen Betten und Wein ging (»ich würde die Cäsaren gegen ein bisschen Komfort tauschen«, stellte ein mürrischer Gast 1793 fest); oder bis zur skurrileren Umgebung von Bolsover Castle in Nordengland, wo auf dem Rand eines großen Brunnens aus dem 17. Jahrhundert acht feierliche Cäsaren eine nackte Venus und vier urinierende Putti bewachten (oder beäugten).19

Abb. 1.8: Die zwei Büstenreihen der zwölf Cäsaren in Versailles galten einst als authentische antike Werke, entstanden aber erst im 17. Jahrhundert. Links: Die Augustus-Büste aus einer dieser Serien erwarb Ludwig XIV. aus der Sammlung des Kardinals Mazarin; rechts: Der mit seiner vergoldeten Draperie noch prunkvollere Domitian gehört zu der anderen Serie.

Abb. 1.9: Über 300 Jahre nachdem die Cäsarenbüsten erstmals in Powis Castle aufgestellt wurden, holte man sie zu Beginn des 21. Jahrhunderts zur Restaurierung von ihren Sockeln. Hier stehen die über einen Meter hohen, massiven Marmorbüsten zum Transport bereit. Es besteht ein erstaunlicher Kontrast zwischen den Cäsaren, wenn sie als Kunstobjekte ausgestellt werden oder sich auf diesen »Bahren« in beinahe menschliche Krankenhauspatienten verwandeln.

Um die gleiche Zeit schmückten Maler Wände und Decken in den Häusern Wohlhabender mit Cäsarenporträts auf Leinwand oder in Fresken – von denen keine, wie wir im Kapitel 5 noch sehen werden, so einflussreich waren wie Tizians elf Cäsaren, die er in den 1530er-Jahren für Federico II. Gonzaga in Mantua schuf. Sie interpretierten Schlüsselmomente der Geschichte imperialer Herrschaft völlig neu und schöpften nicht aus einem antiken visuellen Repertoire. Die erhalten gebliebenen römischen Kunstwerke stellten einen Herrscher selten anders als in einer standardisierten Opferungs-, Triumph-, Wohltätigkeits- oder Jagdszene dar. Zu den wenigen Ausnahmen gehören die narrativen Szenen auf der Trajans- und der Mark-Aurel-Säule, die Einzelheiten aus den Feldzügen dieser Kaiser erzählen. Dagegen verliehen moderne Künstler den Geschichten, die sie in der antiken Literatur über die Cäsaren fanden, eine visuelle Form. Zu den Klassikern zählten: Vergil liest Augustus die ›Änäis‹ vor; Die Ermordung Caligulas oder der immer schaurige Nero betrachtet den Leichnam seiner Mutter, deren Ermordung er angeordnet hatte (Abb. 6.24; 7.12–13; 7.18–19).

Zumindest bis ins 19. Jahrhundert gehörten diese römischen Kaiser zum Standardrepertoire eines Malers: Praktische Abhandlungen über Kunst gaben Anweisungen, wie man sie am besten darstellen sollte (neben biblischen Figuren, Heiligen, heidnischen Göttern und Göttinnen und diversen späteren Monarchen); Studenten verbesserten ihre Zeichentechniken, indem sie Gipsabdrücke berühmter Kaiserbüsten kopierten (Abb. 1.10); und Sujets aus dem Leben der Cäsaren lieferten die Themen für Kunstprüfungen und Wettbewerbe.20 Die aufstrebenden Künstler, die sich 1847 um den begehrten »Prix de Rome« (Rompreis) und das damit verbundene Stipendium bewarben, sollten ihr Talent unter Beweis stellen, indem sie den »Tod des Kaisers Vitellius« malten, der gefoltert und an einem Haken in den Tiber geschleift wurde. Dieser grausige Lynchmord an einem berüchtigten kurzzeitigen Inhaber des Kaiserthrons während eines Bürgerkriegs, der auf den Sturz Neros im Jahr 68 folgte, mochte mit der revolutionären europäischen Politik der 1840er-Jahre in Einklang gestanden haben, war aber dennoch umstritten, denn manche Kritiker des Wettbewerbs fanden diese Themenstellung schädlich für den Geist und die Talente der jungen Maler (Abb. 6.20).

Abb. 1.10: Michael Sweerts Gemälde Junge zeichnet vor der Büste eines römischen Herrschers (um 1661) ist annähernd 50 Zentimeter hoch. Bei dem abgebildeten Kaiser handelt es sich um Vitellius (Abb. 1.24), der für seine Völlerei, seine Unmoral und seinen Sadismus berüchtigt war. Möchte der Künstler uns ein unbehagliches Gefühl vermitteln, dass man diesem unschuldigen Kind ein solches Monstrum als Objekt für seine Zeichenübungen gegeben hat?

Abb. 1.11: Ein Bronzetintenfass aus dem 16. Jahrhundert kopiert die Reiterstatue Mark Aurels (reg. 161–180), die jahrhundertelang auf der Piazza auf dem Kapitol in Rom stand und sich heute in den Kapitolinischen Museen befindet. Die Figurine ist lediglich 23 Zentimeter hoch, als Tintenbehälter diente das kleine muschelförmige Gefäß zu Füßen des Pferdes.

Cäsaren fanden ihren Platz jedoch nicht nur in Gemälden und Skulpturen, sondern nahezu überall und in jedem Material von Silber bis Wachs. Sie dienten als Tintenfass und Kerzenständer (Abb. 1.11), prangten auf Tapisserien, Dekorationen für Renaissance-Feste und sogar auf den Rückenlehnen einer bemerkenswerten Stuhlgruppe aus dem 16. Jahrhundert (welcher der Gäste auf dem Stuhl Caligulas oder Neros platziert wurde, muss der Sitzordnung einen besonderen Reiz verliehen haben) (Abb. 1.12).21 Ein Kameensatz der zwölf Cäsaren, den ein Offizier der Spanischen Armada um den Hals hängen hatte, als er mit seinem Schiff, der Girona, 1588 unterging (Abb. 1.13), unterscheidet sich erheblich von den großen Majolikabüsten der Kaiser, die eine italienische Firma berühmter Keramiker im 19. Jahrhundert produzierte (Abb. 1.14).22 Ich vermute, kein Herrscher der Weltgeschichte wurde jemals farbenprächtiger dargestellt.

Abb. 1.12: Ein Stuhl aus einer Gruppe, die um 1580 für den Kurfürsten von Sachsen angefertigt wurden. Jede Rückenlehne ist mit dem Porträt eines der zwölf Cäsaren verziert. Hier hebt sich Caligula von einem aufwendig mit Goldstaffage und Halbedelsteinen gestalteten Hintergrund ab.

Abb. 1.13: Mehr als 1000 Menschen verloren ihr Leben, als das spanische Schiff Girona1588 vor der irischen Küste sank. Unterwasserarchäologen bargen die prächtige Halskette eines der reicheren Opfer; sie besteht aus zwölf jeweils über vier Zentimeter hohen Cäsarenporträts (wie dem hier abgebildeten) aus Lapislazuli in einer goldenen Fassung mit Perlen.

Abb. 1.14: Farbenprächtige Cäsaren: Die Büste des Tiberius (auf dem Sockel namentlich ausgewiesen) ist eines von mindestens 14 Bildnissen römischer Herrscher, die eine italienische Keramikmanufaktur, Minghetti aus Bologna, im ausgehenden 19. Jahrhundert aus glasiertem Steinzeug anfertigte. Die überwältigenden, einen Meter hohen Schaustücke sind heute auf der ganzen Welt vom Vereinigten Königreich bis nach Australien verteilt.

Cäsarenporträts waren auch nicht nur im prestigeträchtigen Besitz hochrangiger Mäzene zu finden, sondern schmückten als massenhaft produzierte Drucke und bescheidene Plaketten die Häuser der Mittelschicht ebenso wie die Paläste der Elite. Es gab sie satirisch und verspielt, aber auch beeindruckend ernst. William Hogarth dekorierte in seinem Gemäldezyklus A Rake’s Progress(Lebenslauf eines Wüstlings) die Wände der Taverne mit Bildern römischer Kaiser (angesichts der dargestellten Dekadenz ist es nur passend, dass nur das Gesicht Neros deutlich erkennbar ist: Abb. 1.15). Bereits im 14. Jahrhundert hinterließ ein witziger oder verärgerter Künstler in Verona eine wunderbare Cäsarenkarikatur im Putz unter einer Reihe von Kaiserporträts, die zu den ältesten erhalten gebliebenen der modernen Welt gehören (Abb. 1.16).23

Abb. 1.15: Kupferstich nach William Hogarths Gemälde Tavern Scene (Tavernenszene) oder Orgy (Orgie) aus den 1730er-Jahren. Es gehört zu seinem Zyklus A Rake’s Progress (Der Lebenslauf eines Wüstlings), in dem er den Niedergang von Thomas Rakewell schildert (ganz links hingestreckt auf einem Stuhl). Oben an der rückwärtigen Wand hängen Porträts römischer Kaiser: Der verkommene Nero, der Zweite von rechts an der Rückwand (zwischen Augustus und Tiberius), ist offenbar der Einzige, dessen Gesicht erkennbar ist – ein Sinnbild für das, was darunter vorgeht.

Abb. 1.16: Diese kleine Skizze eines Kaisers mit der ausgeprägt »römischen« Nase entdeckte man im Palazzo degli Scaligeri in Verona im Putz unter Wandgemälden aus den 1360er-Jahren, die unter anderem Porträts römischer Herrscher und ihrer Ehefrauen enthielten (Abb. 3.7g). Ganz gleich, ob sie von dem leitenden Künstler Altichiero oder von einem seiner Mitarbeiter stammt, ist sie weniger eine Vorzeichnung als vielmehr eine Satire auf das ernste Thema der Dekoration.

Diese Cäsarenpersönlichkeiten spielten in einer weitaus größeren Bandbreite kultureller, ideologischer und religiöser Debatten eine Rolle, als wir ihnen häufig zugestehen. Dass Nero in dem Buntglasfenster der Kathedrale in Poitiers auftauchte, war in erster Linie darauf zurückzuführen, dass er als Kaiser im Zuge seiner Christenverfolgung angeblich auch die Heiligen Petrus und Paulus in den Tod schickte. In dieser Funktion ist er am Petersdom in Rom auch auf dem riesigen Bronzeportal markant dargestellt, das der Bildhauer, Architekt und Theoretiker Filarete im 15. Jahrhundert für den alten Dom anfertigte und das als eines der wenigen Elemente in den Neubau einbezogen wurde.24 Obwohl Kaiser Nero nach wie vor Besucher an einer der heiligsten Stätten des Christentums als Antichrist begrüßt, gab es doch auch konstruktive Bestrebungen, die Geschichte Jesu mit der der Cäsaren zu versöhnen. Eines der populärsten Sujets in der Malerei der Frühmoderne – in nahezu jeder größeren Kunstgalerie des Westens gibt es bislang unerkannte Beispiele – ist die Vision, in der Kaiser Augustus den neugeborenen Jesus sah. Nach dieser wunderbaren frommen Legende konsultierte Augustus am Tag der Geburt Jesu eine heidnische Seherin zu der Frage, ob auf der Welt jemals jemand geboren werde, der mächtiger sei als er selbst, und ob er sich als Gott verehren lassen solle. Die Antwort erhielt er, als er wundersamerweise die Jungfrau Maria mit ihrem Sohn am Himmel über Rom erblickte (Abb. 1.17).25

Abb. 1.17: Paris Bordone, Die Seherin Sibylle erscheint dem Cäsar Augustus (um die Mitte des 16. Jahrhunderts). Auf dem (über zwei Meter breiten) Gemälde kniet der Kaiser im Zentrum einer grandiosen Architektur, während die Seherin (»die Sibylle«) neben ihm steht. Am Himmel ist die Vision der Jungfrau Maria mit dem Jesuskind zu sehen. Das Gemälde kam in der europäischen Elite weit herum: Es gehörte einst Kardinal Mazarin, ging später in den Besitz von Sir Robert Walpole auf Houghton Hall in England über (siehe Seite 148) und wurde dann an Katharina die Große von Russland verkauft.

Noch heute werden Cäsarenbildnisse geschaffen und wiederbelebt. Obwohl die meisten der von mir bislang erwähnten Beispiele vor dem 20. Jahrhundert entstanden, sind Cäsaren nach wie vor eine erkennbare Ausdrucksform der modernen Kultur. Immer noch werden prachtvolle Cäsarenbüsten hergestellt, und sie haben nach wie vor eine Bedeutung (Federico Fellini verwendet in seinem Film La dolce vita wiederholt antike und moderne Cäsarenbüsten, um auf einen Zusammenhang zwischen der Dekadenz des zeitgenössischen Rom und seiner dekadenten Vergangenheit hinzuweisen.26) Und selbst heutzutage spielen Cäsaren noch eine Rolle in der modernen Bildersprache. Heutige politische Karikaturen, die ihre unglückliche Zielfigur mit Lorbeerkranz und Lyra vor einer brennenden Stadt darstellen, machen nur einen Teil aus. Die kommerzielle Zugkraft der Cäsaren wirkt nach wie vor in Pub-Namen und Biermarken wie »Emperor« nach, und Scherze wie Streichholz- oder Boxershorts-Marken, die »Nero« heißen, zeugen von einem beträchtlichen Maß an Selbstironie. Unterdessen produzieren Andenkenhersteller immer noch Schokoladenmünzen mit Cäsarenköpfen, wie römische Konditoren einst ihre Cäsarenkekse herstellten. Noch immer sind Cäsaren zum Anbeißen (Abb. 1.18g).

ANTIK-MODERN

Dieses Buch hat unweigerlich einen doppelten Fokus. Es befasst sich vor allem mit modernen Darstellungen römischer Cäsaren in den letzten gut 600 Jahren, behält aber stets auch antike Bildnisse im Blick – weil ein moderner Julius Cäsar, Augustus oder Nero sich niemals völlig von seinen antiken Vorläufern trennen lässt. Das hat mehrere Gründe.

Zum einen beeinflussen sich das Alte und das Neue wechselseitig. Moderne Cäsarenbildnisse entstanden, kaum überraschend, fast immer als Nachahmung antiker römischer Prototypen (oder als Reaktion darauf). Das gilt natürlich für viele klassische Sujets in der Kunst. Jede moderne Version des Jupiter oder der Venus, der arglosen Najaden oder eines lüsternen Satyrs ist das Produkt eines Dialogs mit der Kunst der Antike. Allerdings ist dieser Dialog im Fall der römischen Kaiser besonders intensiv. Moderne Konventionen zum »Aussehen« vieler Cäsaren – vom kühlen klassischen Profil des Augustus bis hin zum struppigen Bart Hadrians – sind häufig aus eingehenden Studien erhalten gebliebener römischer Kunst und Literatur abgeleitet. Aber diese modernen Darstellungen der Cäsaren beeinflussen auch, wie wir ihre antiken Pendants sehen und erkennen. Sogar unter den gelehrtesten Archäologen und Kunsthistorikern sind die meisten heutzutage schon in Comics wie Asterix oder in Filmkomödien (Ist ja irre – Cäsar liebt Cleopatra war es bei mir) dem Gesicht Julius Cäsars begegnet, bevor sie je auch nur ein einziges antikes Porträt von ihm gesehen haben (Abb. 1.18h und 1.18i). Vor 300 Jahren waren es vermutlich Tizians Gemälde der Cäsaren (oder einer der zahlreichen darauf basierenden Drucke), die eine ähnlich populäre mentale Bezugsgröße für ihr Erscheinungsbild lieferten (siehe Kapitel 5). Dementsprechend haben die meisten modernen Betrachter eine bestimmte Vorstellung von den berühmtesten Persönlichkeiten der römischen Kaiserzeit im Kopf, bevor sie je einen Blick auf eine römische Skulptur, Kamee oder Münze werfen. Wir sehen die Antike durch die Brille der Moderne.27

Abb. 1.18:

(a) Kaiser Titus, wie er in Fellinis Film La dolce vita (1960) erschien.

(b) Chris Riddell, Karikatur des britischen Premierministers Gordon Brown als Nero (2009).

(c) Pub-Schild in Cambridge, basierend auf einer Statue von Nicolas Coustou (in Auftrag gegeben 1696).

(d) Augustus-Bier der Milton Brewery, Cambridge.

(e) Werbung für Nero-Boxershorts (1951).

Abb. 1.18:

(f) Streichhölzer aus den Kapitolinischen Museen: »Nerone’s matches«.

(g) Augustus-Kopf auf einer Schokoladenmünze.

(h) Kenneth Williams als Julius Cäsar in dem Film Ist ja irre – Cäsar liebt Cleopatra (1964).

(i) Cäsar in der Comic-Reihe Asterix von R. Goscinny und A. Uderzo.

Aber die Verknüpfungen zwischen Antike und Moderne reichen noch tiefer und drücken dem gesamten Thema ihren Stempel auf. Besonders bei Marmorskulpturen lässt sich häufig nicht unterscheiden, ob ein bestimmtes Stück im antiken Rom oder irgendwann im Laufe der folgenden 2000 Jahre hergestellt wurde. Bereits vor über 250 Jahren beklagte der Gelehrte Johann Joachim Winckelmann (der als Erster eine nachvollziehbar plausible Chronologie der antiken Kunst erstellte), dass es schwer sei, »das neue vom alten, und das wahre von den Zusätzen zu unterscheiden«, und zwar besonders bei den Köpfen. Auch noch so viele moderne technische Errungenschaften und wissenschaftliche Versiertheit haben diese Aufgabe nicht einfacher gemacht.28 Aus diesem Grund gibt es neben den gut 200 Augustus-Porträts, die allgemein als antik anerkannt sind, noch mindestens 40 weitere, die ständig zwischen den Kategorien »antik« und »modern« hin- und hergeschoben werden und in meine quälend hybride Kategorie »antik-modern« fallen.

Ein bemerkenswertes Beispiel dafür ist eine berühmt-berüchtigte Skulptur im Getty Museum, die nach wie vor einer endgültigen, schlüssigen Datierung trotzt, obwohl sich eine Expertentagung 2006 und eine Sonderausstellung 2008 dieser Frage widmeten. Es handelt sich um eine Büste des Kaisers Commodus (eines begeisterten Amateurgladiators, der 192 ermordet wurde und als Antiheld in dem Film Gladiator von Ridley Scott erschien). Nachdem sie sich etwa 200 Jahre lang in der Sammlung eines englischen Aristokraten befunden hatte, erwarb das Getty Museum sie 1992. Damals galt sie als italienisches Werk aus dem 16. Jahrhundert, das antike Cäsarenporträts nachahmte. Seitdem wurde sie mehrfach neu eingestuft, und zwar sowohl als späteres Stück aus dem 18. Jahrhundert als auch radikaler als Originalporträt aus dem 2. Jahrhundert oder als unbestimmtes Zwischending zwischen diesen drei Möglichkeiten (Abb. 1.19).29

Abb. 1.19: Der »Getty-Commodus«. Trotz der Schauergeschichten, die über Commodus erzählt werden, ist er hier annähernd in Lebensgröße als durchweg konventioneller Kaiser des ausgehenden 2. Jahrhunderts in Militärkleidung und mit dem für viele Herrscher seiner Zeit typischen Bart dargestellt (im Gegensatz zu seinen glatt rasierten Vorgängern). Ob es sich jedoch um eine antike oder eine moderne Büste oder um eine Mischung aus beidem handelt, ist nach wie vor ungeklärt.

Es gibt so gut wie keine Kriterien, an denen sich die Datierung zweifelsfrei festmachen ließe. Handwerkszeug und Techniken der Bildhauer blieben vom 2. bis zum 18. Jahrhundert nahezu gleich und brachten häufig mehr oder weniger gleichartige Ergebnisse hervor (besonders in diesem relativ kompakten Format, das weniger Möglichkeiten für verräterische Zeichen der Entstehungszeit bietet als eine Ganzkörperstatue). Das Material liefert auch keine Anhaltspunkte, da der Marmor der Büste aus einem italienischen Steinbruch stammt, in dem seit dem späten 1. Jahrhundert v. Chr. nahezu durchgängig Gestein abgebaut wurde. Zudem gibt es keine Unterlagen, aus denen hervorginge, wie, wann oder woher das Stück nach England gebracht wurde. Die Argumentation basiert derzeit auf impressionistischen Vermutungen und auf Mikroskopuntersuchungen. Spuren mineralischer Ablagerungen in den Rissen (die darauf hindeuten, dass die Büste zeitweise vergraben war) und Anzeichen, dass die Oberfläche möglicherweise irgendwann einmal »überarbeitet« wurde (was wahrscheinlicher ist, wenn sie sehr alt ist), werden derzeit als Hinweise gedeutet, dass sie wohl aus der antiken römischen Welt stammt. Das ist jedoch nicht mehr als eine Vermutung. Obwohl der gegenwärtige Konsens den Getty-Commodus in die Antike gerückt hat (während ich dies schreibe, wird er stolz in der römischen Galerie des Museums präsentiert), ist er seit dem Erwerb mehrfach durch das Museum gewandert: Mal war er neben antiken Werken zu sehen, mal neben modernen, abhängig von der jeweils vorherrschenden Meinung der Kuratoren; und zuweilen blieb er im Dämmerlicht des Magazins den Blicken entzogen.

Fälschungen und Täuschungen – also eindeutig betrügerische Versuche, ein neu geschaffenes Werk antik erscheinen zu lassen – ergänzen diese Rätsel um eine weitere Dimension. Der sogenannte »Getty-Commodus« ist jedoch keine Fälschung in diesem Sinne. Selbst wenn man davon ausgeht, dass er im 16. Jahrhundert, inspiriert von römischen Vorbildern, entstand, gibt es keinerlei Hinweis darauf, dass damals jemand versucht hätte, ihn als antik auszugeben (falls doch, wäre dieser Versuch extrem erfolglos gewesen, da eine mögliche Datierung auf das 2. Jahrhundert, soweit wir wissen, erst in jüngerer Zeit ins Gespräch gebracht wurde). Aber unter den etwa 40 Augustus-Porträts, deren gutgläubig angenommene antike Herkunft bestritten wurde, gibt es wahrscheinlich einige, die unter Vorspiegelung falscher Tatsachen verkauft wurden und in die Kategorie der »modernen« Werke fallen. Man nimmt gemeinhin an, dass die meisten zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert in Italien von gewieften Unternehmern hergestellt wurden, weil sie es auf das Geld reicher Sammler und leichtgläubiger (meist, aber nicht ausschließlich englischer) Adeliger abgesehen hatten, die auf der Jagd nach antiken Porträts für ihre Herrenhäuser und Privatmuseen waren. Diese Kunden waren Männer, die »mit den Ohren sehen«, wie ein berühmter Restaurator, Bildhauer und Kunsthändler des 18. Jahrhunderts in seinem Rat an potenzielle Käufer die bedauerliche Anfälligkeit für das Gerede der Verkäufer nannte.30

Aber so einfach ist es nicht. Fälschungen sind erheblich schwieriger auszumachen, als häufig angenommen wird – wie eine bekannte Serie von Cäsarenköpfen im Miniaturformat anschaulich illustriert. Sie sind auf Repliken römischer Münzen und Medaillen zu finden, die im 16. Jahrhundert von Giovanni da Cavino in Padua hergestellt wurden (Abb. 1.20). Viele von ihnen galten früher als authentische antike Stücke, aber in diesem Fall können wir im Gegensatz zu vielen Marmorbüsten sicher sein, dass dies nicht der Fall ist: Diese »Paduaner«, wie sie zuweilen genannt werden, haben ein anderes Gewicht als ihre antiken Vorläufer, bestehen aus einer anderen Legierung und sind feiner gearbeitet. Und falls noch Zweifel bestehen sollten, sind einige der Prägestempel aus dem 16. Jahrhundert, mit denen sie hergestellt wurden, erhalten geblieben. Über die Motive für ihre Produktion besteht nach wie vor Uneinigkeit. War Giovanni da Cavino ein Fälscher mit betrügerischen Absichten? Oder produzierte er ohne Vorspiegelung falscher Tatsachen kunstvolle Imitationen, vielleicht für Sammler, die die von ihnen gewünschten Originale nicht erwerben konnten? Letztlich hängt alles davon ab, unter welchen Bedingungen sie präsentiert oder verkauft wurden, und die mögen je nach Gelegenheit variiert haben. Ob Skulptur, Münze, Kamee oder Medaille, eine ehrliche »Replik« wird nur zu einer unehrlichen »Fälschung«, wenn sie bewusst als etwas ausgegeben wird, was sie nicht ist. Die schäbige Fälschung des einen mag für einen anderen durchaus ein wertgeschätztes Faksimile sein.31

In anderen Fällen erschweren weitere, unterschiedliche Gründe die Unterscheidung zwischen antik und modern. Trotz ihrer bezeichnenden Museumsetiketten sind die meisten antiken Marmorskulpturen, die vor dem ausgehenden 19. Jahrhundert entdeckt wurden, buchstäblich Hybriden oder »in Arbeit befindliche Werke«. Ihr römischer Ursprung ist zwar authentisch, aber sie wurden lange nach ihrer Herstellung aggressiv gereinigt, verändert, angepasst und fantasievoll restauriert. Von der ursprünglichen Oberfläche dürfte wohl nicht viel übrig geblieben sein, wenn man die zur »Reinigung« antiker Marmorskulpturen in einem Künstlerhandbuch des 19. Jahrhunderts empfohlenen Verfahren anwandte – unter anderem Säurebäder, Abmeißeln und Bimsstein.32 Abgesehen von jüngeren archäologischen Funden (die allerdings auch nicht immun sind) wurden nur sehr wenige Marmorskulpturen der Cäsaren solchen »Arbeiten« nicht unterzogen. Dafür mag der Getty-Commodus nur ein relativ unbedeutendes Beispiel sein: ein Werk aus dem 2. Jahrhundert, dessen Oberfläche 1500 Jahre später überarbeitet und neu poliert wurde, um ein neues, glattes Finish zu schaffen – was es natürlich umso schwieriger macht, es auf einen bestimmten Zeitraum zu datieren.

Weitere Beispiele sind die zahlreichen strengen römischen Kaiserköpfe, die man im 16. Jahrhundert und später in neue, opulente Skulpturen mit aufwendigen Draperien einsetzte, damit sie insgesamt einen prachtvolleren Eindruck machten (als Faustregel gilt, je prunkvoller und farbenfroher die Büste unter einem römischen Porträtkopf ist, umso geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie vollständig aus der Antike stammt). Manchmal nahm man noch fantasievollere Anpassungen vor. Eine umstrittene Marmorbüste einer jungen Frau, die sich heute im British Museum befindet, wurde häufig als Antonia, Mutter des Kaisers Claudius identifiziert (Abb. 1.20). Eine Frage lautet: Ist sie antik oder modern? Vermutlich beides. Höchstwahrscheinlich hat man eine ursprünglich aus dem 1. Jahrhundert stammende Skulptur im 18. Jahrhundert »attraktiver gemacht«, indem man die Kleidung so nachbearbeitete, dass sie viel dünner wirkte und einen tiefen Ausschnitt bekam (auch wenn es modernen Käufern gefiel, stellten die Römer die Frauen des Kaiserhauses nicht so dar).33

Abb. 1.20: Einer der bronzenen »Paduaner« von Giovanni da Cavino aus dem 16. Jahrhundert mit einem Durchmesser von knapp über drei Zentimetern. Eine Seite zeigt das Porträt Antonias, der Mutter von Kaiser Claudius, die andere ihren Sohn, den Kaiser, gekleidet für ein religiöses Ritual und umgeben von seinem Namen (Ti[berius] Claudius Caesar) und seinen Titeln. »SC«, die Abkürzung für »senatus consulto«, steht für die Genehmigung des Senats, römische Münzen dieser Art zu prägen.

Kritiker und Restauratoren debattierten seit dem 16. Jahrhundert über die Rolle der Restaurierung bei der Vervollständigung fragmentarischer antiker Skulpturen. Wie viele moderne Ergänzungen und Verbesserungen waren legitim? Inwieweit durfte der Restaurator als Künstler aus eigenem Recht gelten?34 Bei manchen Porträts wurde der Hybridcharakter jedoch zum Selbstzweck. In den Kapitolinischen Museen in Rom steht (seit Jahrhunderten in einem großen Saal im ersten Stock des Palazzo dei Conservatori) eine Ganzkörperstatue aus Marmor in der Rüstung eines römischen Cäsaren und mit ausgestrecktem Arm, als wende sie sich an ihre Legionen; dagegen scheint der Kopf, nach Art eines Dynasten des 16. Jahrhunderts gestaltet, aus einem anderen Zeitalter zu stammen (Abb. 1.21). Das ist tatsächlich der Fall. Es ist eine Statue des Feldherrn Alessandro Farnese (Il Gran Capitano, »der Große Kapitän« oder sogar »Big Boss«, wie er genannt wurde), errichtet 1593, ein Jahr nach seinem Tod. Der Körper stammte von einer antiken römischen Statue, die damals angeblich Julius Cäsar darstellte, während man den Kopf vollständig durch einen mit den erkennbaren Zügen des Gran Capitano ersetzte.