5,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 5,99 €
Ein Urlaub in Cornwall mit tödlichem Zwischenfall ...
Britischer Cosy Crime für Fans von Ellen Barksdale
Nach arbeitsreichen Jahren im Antiquariat machen Poppy und ihr Mann Barney endlich einmal Urlaub, und zwar in Wythcombe Manor, dem Hotel ihrer Freundin an der Küste Cornwalls. Als Barney etwas vor ihr zu verbergen scheint und plötzlich der Führer der Wandergruppe einen tödlichen Unfall erleidet, merkt Poppy, dass sie hier wohl doch nicht die wohlverdiente Erholung erwartet. Poppy ist entschlossen herauszufinden, was auf Wythcombe Manor wirklich vor sich geht. Vielleicht können ihr die seltsamen Träume dabei helfen, die sie seit ihrer Ankunft begleiten ...
Erste Leserstimmen
„Ein sehr vergnüglicher Cornwall-Krimi vor wunderschöner Kulisse.“
„Die spezielle Atmosphäre und die skurrilen Figuren haben mich immer bei Laune gehalten.“
„Spannend, rätselhaft und lustig – absolute Empfehlung für alle Fans von britischen Whodunit-Krimis!“
„Es hat mir sehr großen Spaß gemacht, der sympathischen und einfallsreichen Poppy Dayton bei ihren Ermittlungen zu folgen.“
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 423
Veröffentlichungsjahr: 2021
Nach arbeitsreichen Jahren im Antiquariat machen Poppy und ihr Mann Barney endlich einmal Urlaub, und zwar in Wythcombe Manor, dem Hotel ihrer Freundin an der Küste Cornwalls. Als Barney etwas vor ihr zu verbergen scheint und plötzlich der Führer der Wandergruppe einen tödlichen Unfall erleidet, merkt Poppy, dass sie hier wohl doch nicht die wohlverdiente Erholung erwartet. Poppy ist entschlossen herauszufinden, was auf Wythcombe Manor wirklich vor sich geht. Vielleicht können ihr die seltsamen Träume dabei helfen, die sie seit ihrer Ankunft begleiten …
Erstausgabe Februar 2021
Copyright © 2024 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten
E-Book-ISBN: 978-3-96817-207-1 Taschenbuch-ISBN: 978-3-96817-536-2 Hörbuch-ISBN: 978-3-98778-259-6
Covergestaltung: Grit Bomhauer unter Verwendung von Motiven von shutterstock.com: © vitek3ds, © Inna Sinano, © auralaura, © ivangal, © Helen Hotson, © VikaSuh Lektorat: Lektorat Reim
E-Book-Version 28.03.2024, 12:15:16.
Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.
Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Unser gesamtes Verlagsprogramm findest du hier
Website
Folge uns, um immer als Erste:r informiert zu sein
Newsletter
TikTok
YouTube
Ein Urlaub in Cornwall mit tödlichem Zwischenfall …Britischer Cosy Crime für Fans von Ellen Barksdale
„Darling, ich gebe eine Malstunde.“ Poppy Dayton war schon am Ausgang, ihre glockenhelle Stimme konkurrierte mit der Türschelle. „Nimmst du bitte die Post an?“
„Werden wieder bloß Rechnungen sein“, brummte ihr Barney hinterher. „Aber ich erwarte einen Interessenten für die Defoe-Erstausgabe, drück die Daumen!“
„Mach ich! – Verkauf nicht unter fünftausend!“, rief Poppy und warf ihm eine Kusshand zu. Sie eilte die Marylebone High Street hinauf in Richtung Madame Tussauds. Gleich dahinter, am Allsop Place, wartete Liu auf sie, die Tochter aus dem Haus reicher chinesischer Kaufleute, der sie seit einem halben Jahr Zeichenunterricht gab.
Poppy dachte an ihren Laden – „Bromley Books & Art“ litt an seiner ausgezeichneten Lage. Die Miete, astronomisch, wie alles in der Londoner City, war gerade wieder erhöht worden. Die Geschäfte liefen eigentlich gut, aber der Internethandel hatte die Preise für antiquarische Bücher einbrechen lassen. Nur für besondere Exemplare ließen sich noch angemessene Erlöse erzielen. Zum Glück hatte Barney eine gute Hand, Einzelstücke von herausragender Provenienz zu ergattern, sein Ruf reichte weit über London hinaus.
Deshalb konnte sich Poppy ab und zu ein Extra leisten: Sie schlug den Kragen ihres Vivienne-Westwood-Mantels nach oben. Der Kauf des exklusiven Teils hatte die Augenbrauen ihres Mannes in die Höhe schnellen lassen. Ein Wintermantel, deshalb war er nun, im Mai, relativ günstig gewesen.
In Wahrheit passte er sehr gut zum Wetter. Kalter Nordwestwind blies die belebte Einkaufsstraße herunter, und die Sonne hatte sich seit Frühlingsanfang eher rar gemacht.
Der Wollmantel in Gingham-Karo, mit dem breiten Gürtel und Revers, stand der eher kleinen, sehr weiblich geformten Poppy ausgezeichnet. Nachdem er den Wintersales-Preis geschluckt hatte, fand ihr Mann das auch, obwohl das Stück nicht ganz seinen Geschmack traf.
„Barnabas Aloysius Dayton …“, hatte sie sein Unbehagen kommentiert, „du bist und bleibst konservativ, und ich liebe dich, so wie du bist, in deinem abgewetzten Tweed. Aber ich will mich nicht kleiden wie für eine Fuchsjagd.“
Barney, wie sie ihn in weniger kritischen Augenblicken nannte, schien das nicht so stehen lassen zu wollen, besann sich dann aber eines Besseren. Zwei Köpfe größer, schlang er seine langen Arme um sie, hob sie hoch und küsste sie auf den Mund. Nur in ihren Augen ging die Auseinandersetzung weiter: Seine blau, ihre grün, veranstalteten ein spöttisch funkelndes Duell.
In den zehn Jahren ihrer Ehe hatten sie ihre Unterschiedlichkeit immer reizvoll empfunden, nie wurde es langweilig zusammen. Sie war damals fünfundzwanzig und hatte gerade das Kunststudium am Royal College of Art abgeschlossen, als sie ihre Zuneigung für den zwölf Jahre älteren Professor der Kunstgeschichte nicht länger verbergen wollte. Überrumpelt von der wirbeligen Poppy und von seinen eigenen Gefühlen reduzierte er kurz darauf seine Professur auf einen kleinen Lehrauftrag. Sie heirateten und übernahmen das traditionsreiche Geschäft in Marylebone von Peter Bromley, einem alten Freund von Barney. Die Erbschaft ihrer Eltern, die bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren, gab Poppy die Mittel dazu.
In dem Laden konnten beide ihre Arbeitsfelder kombinieren: Er das Buchgeschäft und sie die Galerie mit den fein ziselierten Zeichnungen, Skulpturen und Installationen, die ihre künstlerische Arbeit charakterisierten.
Trotzdem kamen sie finanziell immer wieder an ihre Grenzen, und deshalb nahm Poppy gerne die lukrativen Unterrichtsstunden an. Nicht alle ihre Schüler waren talentiert, und Poppy hielt mit dieser Einschätzung nicht hinter dem Berg, was den Kundenkreis gleich wieder einschränkte. Aber die Guten hielten ihr die Treue, und es machte ihr Freude, die Fortschritte zu begleiten. Liu war eine davon. Sie hatte allerdings auch berühmte chinesische Tuschezeichner unter ihren Ahnen.
Heute übten sie Perspektive und Landschaftszeichnen.
„Dazu müssen wir nicht draußen sein, Liu. Schau einfach aus dem Fenster auf die Bäume und Häuser an der Ecke. Das Sprossenfenster nutzen wir als Hilfsraster.“ Poppy skizzierte erste Anregungen, die Liu dann weiterführte. Plötzlich hielt sie inne. Die Schülerin schien zu merken, dass sie mit ihren Ideen und Umsetzungen die Lehrerin übertrumpfte. Befangen legte sie ihren Aquarellpinsel zur Seite.
„Liu, was ist los? Mach weiter! Es ist normal, dass sich Schüler und Lehrer gegenseitig überholen! Du bist einfach gut!“
„Meinst du? Schaffe ich die Aufnahmeprüfung am Royal College?“
„Das ist noch ein weiter Weg, und dafür musst du intensiv an deiner Mappe arbeiten. Die wollen nicht nur deine hübschen Landschaften sehen, sondern auch Portraits!“
Liu lächelte, legte den Kopf schräg und sah Poppy an. „Darf ich?“
Schüchtern näherte sich ihre kleine Hand Poppys Kinn. Im ersten Moment wollte Poppy zurückzucken, aber dann verstand sie. Sanft, aber bestimmt steuerte Liu Poppys Kopf in Richtung des hohen Fensters. Das dunstgefilterte Londoner Mittagslicht sorgte für eine gleichmäßige Ausleuchtung. Poppy hielt still und sah zu, wie das Mädchen in wenigen energischen Strichen ihr Gesicht auf das Aquarellpapier brachte.
Sie betrachtete das Ergebnis: Die großen Augen, deren leuchtend meergrüne Farbe sie zum dominanten Element machten. Die hohen Wangenknochen, das zarte Kinn und die schmale Nase. Die sinnlichen Lippen, die, leicht geöffnet, den Blick auf die kleine Lücke zwischen den beiden Vorderzähnen zuließ.
Die dunkelbraunen Haare mit dem burgunderroten Schimmer, die bis zur Schulter herabfielen. Und sie vergaß das kleine Muttermal oberhalb ihres rechten Mundwinkels nicht, das Poppys offenem Gesicht eine zusätzliche heitere Note verlieh. „So wird das was.“ Poppy nickte beeindruckt. „Darf ich es behalten?“ Sie wollte nach dem Bogen greifen, aber Liu war schneller.
„Das kommt in die Mappe!“ Sie zwinkerte ihrer Lehrerin zu.
Auf dem Rückweg ging Poppy bei ihrem Lieblingskonditor vorbei. Garry stellte ihr ein Sortiment von Macarons zusammen.
„Willst du deinen Mann überraschen?“, fragte er, legte noch ein mit Blattgold geschmücktes Exemplar obenauf und sah dabei verstohlen zu seinem Freund und Geschäftspartner Alex hinüber. Der war in ein Kundengespräch vertieft.
Poppy grinste. Sie wusste, dass er Barney heimlich verehrte, und dass Alex sehr eifersüchtig war. „Ich sag ihm, dass du die Auswahl getroffen hast.“
„Lovely!“ Garry errötete ein wenig und zupfte an seinem weißen Halstuch. „Kommt bald mal zu uns zur Tea Time. Ich habe eine neue Sorte Earl Grey zusammengestellt – Alex hat sie nach mir benannt, Earl Garry!“
„Das ist sehr süß von ihm!“ Sie seufzte. „Ich bespreche es mit Barney. Wir könnten tatsächlich eine Auszeit vertragen, und wenn es nur eine kleine ist. In letzter Zeit sind wir ein bisschen am Kämpfen.“
Garry beugte sich zu ihr vor. „Wir auch, ehrlich gesagt. Die Ladenmiete bringt uns um. Ich staune, dass die Kunden unsere hohen Preise …“
„Das wundert dich? Ihr seid die Besten südlich von Kensington Gardens!“
„Nur südlich?“
„Hochmut kommt vor dem Fall!“
„Dann fallen wir gemeinsam …“
„… immer auf die Füße. Bye!“
„Bye, Poppy, tolle Schuhe, übrigens. Melvin & Hamilton?“
Sie sah zu den rot-weißen Stiefeletten hinunter. „Du hast ein gutes Auge.“
„Vielleicht ein wenig mehr Absatz?“
„Sei nicht so frech!“ Poppy stand zu ihrer Körpergröße. Ein Meter sechzig passte prima zu ihr, fand sie.
Die Pappschachtel mit den Macarons auf einer Hand balancierend, stieß sie die Tür zu „Bromley Books & Art“ auf.
Barney sah hoch. Sie liebte die blauen Augen, den ruhigen, leicht verträumten Blick, der sich unter dem kräftigen Schopf blonder Haare hervorwagte.
Deshalb fiel ihr das Flattern der Lider sofort auf. Auch die Hände mit den schlanken Fingern, die sonst ruhig auf dem Tresen lagen, schienen miteinander zu ringen.
Der Kunde, mit dem er gesprochen hatte, hielt in seinem Satz inne. Er drehte sich zu Poppy um und blickte dann wieder Barney an. Mit den kurzgeschnittenen weißen Haaren und dem dunkelblauen zweireihigen Mantel sah er aus wie ein alter Marineoffizier. Er griff nach dem in braunes Papier eingewickelten Paket vor sich. „Gut, Herr Professor – wir verfahren wie besprochen. Ich gehe davon aus, dass Sie sich an Ihre Zusage halten“, fügte er leise hinzu. Dann verließ er den Laden, Poppy ignorierte er.
Sie schaute ihm hinterher, dann setzte sie die Macarons vor Barney ab. Seine Miene, eben noch ernst und nachdenklich, hellte sich auf.
„Was hast du ihm denn zugesagt, Darling?“, fragte sie nonchalant.
„Nichts Besonderes, nur eine Recherche. Ein komischer Kauz. Kommt aus dem Süden, irgendwo bei Land’s End, glaube ich.“
„Cornwall? Wie herrlich! Das klingt nach Urlaub, da möchte ich auch gern mal wieder hin. Ich mache uns Tee!“
Sie ging nach hinten in die kleine Küche. Barney war bei ihr und sah ihr über die Schulter. „Mhm – Macarons mit goldenen Tupfen? Du warst bei Garry und Alex.“
„Garry lässt grüßen – ich soll dich beim nächsten Mal mitbringen!“
„Eine Teepause ist wunderbar. Ich habe gut verkauft! Siebentausend für jede der beiden Defoe-Erstausgaben. Und eben zweitausend für A general history of the robberies and murders of the most notoriuos pyrates – von 1731, ebenfalls von Defoe! An den alten Seebären von eben. Ich hatte das Buch erst letzte Woche bei der Auktion in Bristol ersteigert.“
„Wow, gratuliere! Dann mache ich die Flasche Champagner auf, die uns Gina zum Hochzeitstag geschenkt hat!“
Poppy und Barney hatten Anfang des Monats ihr Zehnjähriges gefeiert, ein Fest, das beide sehr genossen – bis auf die eine oder andere Bemerkung, wann denn endlich der Nachwuchs käme. Poppy fand nicht unbedingt, dass ihr das fehlte. Sie war sich darin mit Barney einig, der schon immer einen etwas linkischen Umgang mit Kindern hatte.
„Meine Schüler sind meine Kinder“, reagierte Poppy auf entsprechende Fragen.
Sie stießen an.
„Das hat wirklich was von Urlaub.“ Barney verschlang ein rosafarbenes Himbeer-Macaron mit einem Happs. Für das Vergoldete ließ er sich mehr Zeit und ging vom Champagner zum Tee über. „Deine Bemerkung vorhin, mit dem Urlaub, war das ernst gemeint?“
Poppy sah ihn groß an. „Von mir aus auf jeden Fall. Wir arbeiten seit fast einem Jahr durch. Aber du bist ja nicht wegzukriegen von deinen Büchern.“
Barney schaute in seine Tasse, in der der grüne chinesische Tee allmählich die Farbe zu braun wechselte. „Lass uns drei Wochen zu machen. Zwischen Ostern und Pfingsten ist sowieso tote Saison. Hast du nicht deine adelige Freundin da unten, irgendwo zwischen Penzance und Falmouth?“
„Du meinst Patricia? Du kennst sie auch, sie hat mit mir zusammen studiert.“
Barney spitzte die Lippen und tat so, als ob er angestrengt nachdachte. Er hatte nie wirklich Augen für seine Studentinnen gehabt, Poppy war die große Ausnahme.
„Pat ist seit fünf Jahren mit Bruce zusammen, sie wohnten in einem schönen Loft in der Canary Row. Aber dann hat er den Stammsitz der Familie geerbt, und sie sind da runtergezogen. Wythcombe Manor ist ein kleines Hotel, glaube ich.“
„Das passt doch!“
„Das sagst gerade du tiefverwurzelte Stadtpflanze? Wythcombe liegt am Ende der Welt, Felsen vorne, Klippen links und rechts und hinten einige magere Felder, so hat Pat mir das wenigstens beschrieben.“
„Klingt nach frischer Luft, nach Erholung und ein bisschen Langeweile.“ Auf der Straße knallte die Fehlzündung eines vorbeifahrenden Sportwagens. Barney zuckte zusammen und hüstelte. „Können wir alles gut gebrauchen.“
„Du versetzt mich immer wieder in Erstaunen, Darling, das liebe ich an dir! Ich rufe Pat gleich an!“
Vierzehn Tage später, am Wochenende, fuhren sie los.
Das moosgrüne Morris Minor Cabriolet mit dem beigen Verdeck war Barneys ganzer Stolz. Er hatte den Oldtimer, Jahrgang 1949, während seines Studiums in Oxford bei einer Kneipenwette gewonnen.
Poppy beobachtete beinahe eifersüchtig, wie behutsam, ja zärtlich, Barney das Steuer hielt, die Kupplung trat, die Gänge wechselte, ohne dass es knirschte, um dann wieder langsam Gas zu geben, damit der kleine Motor nicht überfordert wurde.
Da die beiden in der Stadt ihr Auto fast nie benutzten, war so eine Landpartie etwas Besonderes. Vor allem an einem Tag wie diesem, an dem die Wolkendecke aufriss, kaum dass London hinter ihnen lag.
Unterwegs durch die hügelige Landschaft Südenglands hatten sie in einem kleinen Fährhaus am Truro River zu Mittag gegessen und waren jetzt nur noch eine Stunde von ihrem Ziel entfernt.
Barney drückte die breiten Schultern in den Sitz und reckte die Nase in den Wind. Unter geschlossenem Verdeck wäre es für seine ein Meter neunzig eng geworden. Poppy freute sich, dass ihr Mann Spaß am offenen Fahren und der freien Zeit hatte. In den Tagen vor ihrer Abreise war Barney ihr noch abwesender und stiller vorgekommen als sonst.
Ein winziger Aussetzer unterbrach das gleichmäßige Schnurren des Motors. Barney klopfte auf die Tankanzeige mitten im flügelförmigen Armaturenbrett, das an den äußeren Dritteln beige lackiert war, passend zum Verdeck, und in der Mitte grün wie die Wagenfarbe. Aber jetzt war die Anzeige plötzlich auf Dunkelrot gesprungen.
„Mist, ich habe geträumt und vergessen zu tanken.“
„Aber der Zeiger stand eben noch auf halb voll!“
„Du weißt, er bleibt manchmal hängen, und die kurvigen Straßen hier verlangen nach einer Menge Sprit.“
Der Motor stotterte erneut, und nach weiteren hundert Metern ließ Barney den Morris am Straßenrand ausrollen. Entschuldigend sah er Poppy an. „Ich habe mich verschätzt …“
Sie legte den Arm hinter Barneys Kopf, kraulte ihn im Nacken und blinzelte in die Sonne. „Das muss dir nicht leidtun. So ein herrlicher Tag. Ich gebe uns erst mal einen Kaffee aus.“
Sie langte hinter sich und förderte eine riesige mit Hibiskusblüten bedruckte Thermoskanne zu Tage. „Garry hat mir Sandwiches mitgegeben. Mortadella, sagte er, die würdest du lieber mögen als Lachs oder Gurke.“
Beide versuchten, sich so wenig wie möglich über die Panne zu ärgern und die unfreiwillige Pause zu genießen.
„Nur wenig Verkehr hier“, nuschelte Barney mit vollem Mund.
„Das ist mir auch aufgefallen. Angenehm für uns, so am Straßenrand.“ Poppy schob die Sonnenbrille hoch und ließ die vom Winter blassen Beine aus der offenen Tür baumeln.
„Aber unpraktisch, wenn man weiter will.“
Statt der überfüllten A39 hatten sie die ruhige Landstraße genommen, und nun saßen sie irgendwo zwischen Newbridge und Sparnock fest, ohne Handyempfang.
Nach einer Stunde waren nur zwei Lieferwagen an ihnen vorbeigefahren und ein Porsche inklusive aufgetakelter Blondine, die immerhin einen abschätzigen Blick für sie übrighatte. Barney beschloss gerade, nach Newbridge zurückzulaufen – dort meinte er eine Tankstelle gesehen zu haben – als ein Volvo Kombi an ihnen vorbeifuhr und plötzlich stoppte.
Ein junger Mann stieg aus. Er schüttelte die dichten schwarzen Locken und kam auf sie zu. „Hey guys, kann ich euch helfen?“ „Sind Sie Amerikaner?“, entfuhr es Barney.
Poppy stieß ihn in die Seite. „Was spielt das denn jetzt für eine Rolle?“, zischte sie.
Der Mann lachte und streckte die Hand aus. „Ich bin Micah, Micah Morgan. Und nein, ich komme von hier. Aber ich habe zwei Jahre in Kalifornien gelebt und bin gerade erst wieder zurück.“
„Poppy Dayton – und das ist mein Mann Barnabas.“
Er hatte einen kräftigen Händedruck, warm und trocken, aber nicht zu fest. Fast ein wenig zu rasch zog Poppy die Hand wieder weg.
„Ihr steht hier bestimmt nicht zum Vergnügen, oder?“, kam Micah auf seine Frage zurück.
„Das stimmt“, knurrte Barney, „ich hab den Benzinverbrauch falsch eingeschätzt.“
„Das nenne ich Glück im Unglück! Mein Volvo ist fast so alt wie euer Cabrio, nur nicht so hübsch …“
„Finde ich nicht“, meinte Poppy andächtig und erntete einen kritischen Blick von ihrem Mann.
„Der Vorteil ist, dass unsere Kisten beide den gleichen bleihaltigen Sprit schlucken, und davon hab ich immer eine Reserve dabei.“ Er öffnete knarrend die Heckklappe und kam mit einem ölig glänzenden Kanister zurück. „Von einem amerikanischen Jeep – unschlagbar im Volumen!“
Barney hatte den Tankdeckel abgeschraubt und befüllte vorsichtig den Stutzen. „Wie viel können Sie denn entbehren, Mister?“
„Micah für euch! Schütte nur alles rein, ich hab’s nicht mehr weit nach Hause, nach Lizard.“
„Lizard? Da wollen wir auch hin. Zumindest in die Nähe, nach Wythcombe Manor.“
„Zu Pat? – Pardon, Lady Patricia! Wenn das kein Zufall ist! Sie ist meine neue Chefin. Sie veranstaltet Wanderreisen in ihrem Hotel und hat mich als Führer engagiert!“ Seine Züge verdüsterten sich das erste Mal. „Ich bin dankbar für den Job. So leicht ist hier draußen nichts zu finden. Ich bin froh, dass ich noch unsere Fischerkate habe.“
„Im Dorf?“
„Nein, ein Stück weg, kurz vor Lizard Point. Ziemlich einsam. Und zu allem Übel wurde in die alte Bude eingebrochen – deshalb treibe ich mich hier herum! Ich musste zur Kriminalpolizei nach Plymouth.“
„Ganz schön weit.“
Micah zuckte die Achseln. „Nach dem Brexit sparen sie jetzt überall. In Falmouth gibt es nur noch eine normale Polizeistation.“
Barney reichte ihm den leeren Kanister zurück und wollte ihm ein paar Pfundnoten in die Hand drücken.
Micah schüttelte den Kopf. „Hier hilft man sich.“ Er zwinkerte Poppy zu. „Dann sehen wir uns ja bald wieder!“
Die strahlte zurück, bis Barney sie in Richtung Auto schob.
Hinter Falmouth bogen sie nach Süden ab. Die Sonne setzte sich durch, je näher sie der Küste kamen, und eine frische Brise fegte die letzten Dunststreifen vom dunkelblauen Himmel.
„Ich glaube, ich rieche die See!“, rief Poppy. „Wenn wir als Kinder in die Ferien fuhren, machten Gwen und ich immer ein Spiel: Wer zuerst das Meer sah, dem gab Papa ein Eis aus.“
„Du denkst an deine Familie?“, fragte Barney sanft.
Poppy nickte und wischte sich eine Haarsträhne aus der Stirn.
Auch nach zwanzig Jahren überwältigte sie die Erinnerung. Damals kamen nicht nur ihre Eltern ums Leben, sondern auch ihre jüngere Schwester Gwen. Am „Girls Day“ wollte Gwen einen Tag bei der Arbeitsstelle der Eltern verbringen, als ein LKW ihnen die Vorfahrt nahm. Erst der Abschluss ihres Studiums und vor allem die Liebe zu Barney hatten Poppy Halt gegeben. Trotzdem hatte sie den Schmerz, plötzlich ohne ihre Familie weiterleben zu müssen, nie verwinden können.
Die Landstraße war wie ein grüner Tunnel mit blauem Dach. „In Rosamunde Pilchers Cornwall fährt man immer über malerische Wege mit Blick aufs Meer“, wechselte sie das Thema. „In Wirklichkeit sind die Straßen hier eingezwängt zwischen haushohen Hecken.“ Haselnuss, Weißdorn, Flieder und Brombeeren schlossen die Lücken zwischen den Bäumen.
Kurz vor Lizard nahmen sie die Abzweigung in Richtung Ruan Minor.
„Ist es das?“ Barney bremste und bog in eine schnurgerade kiesbedeckte Auffahrt ein, die in einer großzügigen Parklandschaft mündete.
Über akkurat ausgerichteten Blumenbeeten und Obstspalieren erhoben sich die Mauern einer prachtvollen Residenz. Erst auf den zweiten Blick fielen Zeichen der Vernachlässigung auf. Hinter den Dachrinnen blätterte der Putz, und Moos breitete sich an den schattig gelegenen Teilen der Hauswand aus. Feine Risse zogen sich von den Dachbalken zu den Fenstereinfassungen aus Sandstein.
„Wythcombe Manor!“, rief Poppy. „Das elisabethanische Herrenhaus wurde im sechzehnten Jahrhundert gebaut …“
„… mit fünf Giebeln im holländischen Stil.“
„Du kennst deine Kunstgeschichte, Darling. – Da geht’s lang, glaube ich.“ Poppy hatte die kaum erkennbare Parkbucht entdeckt. Gras und Unkraut wucherten durch den Belag.
„Was für ein Brocken, bestimmt nicht leicht zu unterhalten.“ Barney brachte den Wagen auf dem knirschenden Kies zum Stehen und unterbrach die Zündung. Für einen Augenblick war nur das Singen einer Amsel und das Knistern des Motorblocks zu hören. „Nicht viel los hier.“
„Haben wir uns das nicht gewünscht?“ Poppy stieg aus und reckte sich, Barney folgte ihr und zog das Gepäck aus dem Kofferraum.
Zwischen kurzgeschnittenen Rosenhecken gingen sie auf den Vorbau in der Mitte des E-förmigen Gebäudes zu. Noch immer war niemand zu sehen.
Poppy zögerte, dann folgte sie Barney durch den Portalbogen.
War der äußere Eindruck eher düster und behäbig, empfing sie hell und leicht die zweistöckige Halle. Durch ein riesiges, vielfältig senkrecht und waagrecht unterteiltes Fenster schien die Nachmittagssonne. Die gelblichen Scheiben tauchten den Raum in ein sanftes Licht. Das milderte die hochherrschaftliche Atmosphäre des Saals mit der raumhohen Kaminstelle, dem in Sandstein gehauenen Wappen darüber und den dunklen Ahnenbildern an den Wänden.
„Der hier sieht aus wie Bruce.“ Poppy blieb vor einem Gemälde stehen. Es zeigte einen Edelmann in leichter Rüstung, auf sein Schwert gestützt. Das martialische Äußere konkurrierte mit dem weichen Gesichtsausdruck, dem schulterlangen, leicht gewellten Haar und dem gestutzten Bart.
„Oder wie der junge Albrecht Dürer. Sein Selbstportrait …“ Barney wurde unterbrochen. „Das ist Lord Terence Wythcombe. Mein ich-weiß-nicht-wie-viel-Urgroßvater und Hofmeister von Königin Elisabeth – der Ersten, natürlich!“
Vom oberen Treppenabsatz kam ihnen ein Mann entgegen. Die Ähnlichkeit war tatsächlich verblüffend, sogar das Haar und der Bart stimmten überein.
„Bruce!“ Poppy lief ihm entgegen und beide schlossen sich in die Arme.
Aus der Nähe änderte sich der Eindruck. Das sympathische, leicht spöttische Lächeln, das den sinnlichen Mund umspielte, blieb, aber die Augen wirkten gestresst.
„Poppy, Barnabas! Wir hatten euch schon früher erwartet.“
„Es gab eine kleine Panne. Ein netter junger Mann hat uns geholfen. Morgan hieß er, oder so ähnlich.“
„Micah Morgan?“ Die Frau, die jetzt auf dem Treppenabsatz erschien, verstärkte den Déja-vu-Effekt. Im gleichen Alter wie ihr Mann, hätten die beiden Geschwister sein können: die gleichen ebenmäßigen Gesichtszüge, nur trug sie das dunkle Haar nicht offen, sondern zu einem Zopf geflochten. Und statt des fliehenden Kinns, das sich bei Bruce unter dem Bart versteckte, war ihres keck nach vorne gestreckt. Auch hier waren es die Augen, die den harmonischen Eindruck störten: gerötet, als ob sie geweint hätte.
Poppy sah nach oben und wunderte sich, dass sie nicht richtig begrüßt wurde, als Pat weiter fragte: „Ihr habt Micah getroffen? Was für ein Zufall. Hat er etwas erzählt?“ Sie schaute dabei Bruce an, und Poppy entging der warnende Ausdruck in seinen Augen nicht.
„Nicht viel, nur dass er froh ist, für euch zu arbeiten.“
„Das kann er auch sein“, meinte Bruce mürrisch. Er fuhr sich über die Stirn, als ob er einen unangenehmen Gedanken loswerden wollte, fing sich aber wieder und ging auf Barney zu. „Kommt erstmal richtig an! Ist der Parkplatz okay? Ich habe gesehen, wie du dein Cabrio unter den Holunderbüschen abgestellt hast. Vergiss nicht, das Verdeck zu schließen, sonst klebt dir der ganze Blütenkram an den Polstern!“
„Mach ich, aber lasst euch erstmal drücken!“ Barney, fast zwei Köpfe größer, nahm Pat und Bruce gleich zusammen in die langen Arme.
Bevor Poppy zum Zuge kam, hörte sie noch, wie Bruce Barney leise fragte: „Warum hast du mich gestern nicht angerufen?“
Barney schüttelte leicht den Kopf. Poppy war überrascht. Telefoniert? Warum? Die beiden hatten seit Jahren keinen Kontakt mehr.
Sie sah Barney an, aber da war Pat bei ihr und küsste sie auf beide Wangen.
„Hauptsache, ihr seid da! Poppy, wie lange ist das her? Bruce, zeigst du den beiden ihr Zimmer?“ Pat durchquerte die Halle in Richtung der Rezeption. „Ihr müsst mich entschuldigen, meine Geschäftsführerin hat gekündigt, und ich muss telefonieren.“
Bruce griff nach den Rollkoffern, aber Barney kam ihm zuvor. „Seid ihr im Stress?“
„Ein bisschen.“
„Verzeih mir, wenn ich das sage, aber nach viel Betrieb sieht es nicht aus.“
„Wir sind nur ein kleines, privates Hotel, Barney. Heute reisen vier Gäste ab, aber übermorgen kommen zwei Gruppen, dann sind wir gut ausgelastet.“
Sie folgten Bruce die breite Treppe hinauf. „Ihr habt die Queen’s Chamber im Westflügel.“
Er öffnete eine Doppeltür und trat zur Seite. Vor ihnen erstreckte sich ein Saal von einem Schlafzimmer. Schilfgrüne Tapeten gaben den Rahmen, zusammen mit Möbeln aus Rosenholz und Walnuss. Alles führte auf das Bett zu, welches, leicht erhöht auf einem Podest, eine erhabene Position einnahm. Verziert durch Girlanden, Blumen und vergoldete, fein geschnitzte Bänder, wirkte das hohe Kopfteil wie die Tür zu einer anderen Welt.
Aber Poppy hatte keine Augen für diese Pracht. Sie zwinkerte geblendet und packte Barney am Arm. Drei hohe, nach Südwesten gehende Fenster zeigten auf den Park. Eine halbe Meile dahinter lag das Meer, und im Licht der tief stehenden Sonne glitzerte das Weiß der Schaumkronen.
Poppy strahlte, triumphierend sah sie Barney an. „Jetzt möchte ich mein Eis!“
Blauregen und Bougainvillea schoben die Äste über der Terrasse zusammen wie die Finger zweier gefalteter Hände. Zu dieser Jahreszeit war ihr Grün noch nicht so dicht und ließ ein Mosaik aus Lichtflecken auf die zwei Frühstücksgäste fallen.
Pat hatte den Tisch mit appetitlich arrangierten Häppchen und Gerichten gedeckt. Deftiger kornischer Schinken, französischer Ziegenkäse, gebratener Hering, verschiedene Marmeladen, Joghurt und Obstsalat besetzten das strahlend weiße Tischtuch bis zum letzten Winkel.
Pat goss ihnen noch Kaffee und Orangensaft ein, dann war sie verschwunden, ohne dass es Poppy gelungen wäre, ein Gespräch mit ihr anzufangen. Barney zuckte die Achseln und konzentrierte sich auf den Teller vor ihm. Poppy sah ihm zu. „Du gibst dem Tag mit deinen zwei Eggs Benedict eine solide Grundlage.“
Sie nahm eine halbe Gabel voll von ihrem vergleichsweise winzig kleinen Kräuteromelette.
„Nur kein Neid!“ Barney grinste und goss reichlich Sauce Hollandaise über die pochierten Eier. „Ich kann es mir leisten.“
Poppy seufzte still. Er hatte recht. Bei seiner Größe und der athletischen Konstitution brauchte er sich keine Gedanken zu machen; selbst seine Schwäche für Garrys Macarons hinterließen keinerlei Spuren. Bei ihr war es anders.
Barney schien zu merken, dass er mit seiner Bemerkung danebengegriffen hatte und versuchte hastig, Boden gut zu machen. „Du siehst wunderbar aus heute Morgen, als ob wir schon eine Woche lang in Urlaub wären!“ Er traf damit ihren natürlichen Vorzug: Ein Tag im Cabrio hatte genügt, um die erste Bräune auf Gesicht und Arme zu zaubern.
„Das lässt sich noch ausbauen.“ Poppy griff nach kurzem Zögern nach einem Croissant.
„Ich freue mich auf unseren ersten Strandspaziergang.“ Sie belud die Spitze mit Himbeergelee und betrachtete nachdenklich das glitzernde Häufchen. „Dann stören wir auch unsere Gastgeber nicht.“
Barney nickte, und beide blickten verstohlen in Richtung Salon. Hinter den halb geöffneten Fensterflügeln konnten sie erkennen, wie Pat und Bruce miteinander redeten. Ihren erregten Gesten nach war es mehr als nur ein ruhiges Gespräch.
Barney lehnte sich zurück. Da sie immer noch allein waren, schien er keine Hemmungen zu haben, eine Schachtel Senior Service aus der Weste zu angeln. Mit seinem alten Sturmfeuerzeug zündete er sich eine Zigarette an. Genüsslich erzeugte er Rauchkringel, die von der Meeresbrise fortgetragen wurden.
Hastig wischte er ein paar Aschekrümel von der neuen Hose. Poppy musste schmunzeln. Entsprach die dunkelblaue Weste aus Sommertweed und das Leinenhemd mit Stehkragen noch dem konservativen Muster, war die Baumwollhose in modischem burnt orange vergleichsweise kühn. Ausnahmsweise hatte sie die für ihn ausgesucht, und sie hatte sich gefreut, dass er sich das überraschend leicht gefallen ließ.
Mit der Aussicht auf den Strand hatte Poppy für sich die Kombination aus blau-weiß geringeltem Bretagne-Shirt und ausgewaschenen Jeans gewählt, und jetzt hielt sie nichts mehr auf ihrem Stuhl.
Sie sprang auf, und Barney konnte gerade noch seine Zigarette ausdrücken, da waren sie schon unterwegs auf dem gewundenen Weg in Richtung der Klippen.
Es gab keinen Zaun zwischen dem Anwesen und der zum Meer hin offenen Heidefläche, nur geschickt angeordnete Azaleen und Rhododendron-Büsche erzeugten eine natürliche Abschirmung.
Jenseits davon griff der Wind ungehindert nach ihnen, und das Geräusch der Brandung war deutlich zu hören.
Ein tiefer Einschnitt durchbrach die gerade Felslinie.
Poppy blieb stehen und blinzelte. Auf der heidebewachsenen Ebene war die Vegetation eher eintönig gewesen. Jetzt gerieten sie in eine Farbenflut.
Zwischen Klippen und Strand floss ein weiß, pink und orange funkelnder, fast metallisch anmutender Strom von Mittagsblumen. Sie bedeckten den Boden lückenlos und klammerten sich mit kräftigen Wurzelsträngen in den sandigen Grund.
Ein gewundener Pfad führte zum Strand.
Poppy zog ihre Sneakers aus und lief zur Brandungszone. Die Flut war auf dem Rückzug, so dass die Spaziergänger einen immer breiter werdenden Sandstreifen nutzen konnten.
An einem Felsbrocken, den das Wasser freigegeben hatte, hielt sie an. „Gibst du mir dein Taschenmesser?“
Barney reichte es ihr. Poppy klappte die Klinge auf, die sonst zum Öffnen von Kronkorken da war, und traktierte den Felsen. Triumphierend hielt sie zwei unansehnliche Brocken hoch. „Austern!“ Mit dem gleichen Werkzeug knackte sie die Muscheln und hielt sie Barney hin. Der zögerte einen Moment zu lange, und so schlürfte Poppy gleich beide Schalen aus. „Köstlich! Schmeckt nach mehr!“
Sie schielte nach dem Felsen, aber ihr Mann zog sie weiter. Er küsste sie und kräuselte die Nase. „Mir genügt die Ahnung von Meeresfrüchten auf deinen Lippen.“
„Oh, mein Poet! Versuch mich mal zu fangen!“
Poppy rannte über den feuchten Sand, Barney ihr dicht auf den Fersen; mit den großen Füßen löschte er ihre zierlichen Spuren aus.
Als sie gegen Mittag zum Manor zurückgingen, kamen sie an einem Transparent vorbei, das zwischen den Wildrosenbüschen aufgespannt war: HÄNDE WEG VON UNSERER KÜSTE!
Poppy blieb stehen. „Vorhin war das noch nicht da. Was bedeutet es? Hier steht doch alles unter Naturschutz.“ „Das denke ich auch. Vielleicht übereifrige Ökos?“
Poppy sah ihn schräg an. „Es wird bestimmt seinen Grund haben. Ich werde Pat fragen.“
Das Haus schien leer zu sein, und das Mittagessen fiel offenbar aus.
Poppy grinste über Barneys missmutigen Ausdruck. „Selbst schuld. Du hättest ja ein paar von meinen Austern nehmen können.“
Seine Antwort, ein Magenknurren, ging in lautem Klirren unter. Sie folgten dem Geräusch in Richtung Küche und stießen auf Pat und Bruce, die zwischen Glassplittern in Grün- und Blautönen standen.
„Die Lalique-Vase! Die hätten wir gut verkaufen können!“, brüllte Bruce. Pat schien noch wütender zu sein, denn sie trampelte auch noch auf den Scherben herum.
Poppy blieb in sicherer Entfernung stehen. „Was ist denn hier los?“
Die beiden fuhren herum und starrten sie an.
„Ihr seid schon da?“ fragte Pat.
„Wir hatten Hunger“, brummte Barney und Poppy stieß ihn in die Seite.
„Entschuldigt bitte.“ Pat schien sich zu fangen. Wortlos holte Bruce ein Kehrblech und sammelte das Glas auf. „Das ist mehr als peinlich.“
Poppy sah, wie ihr eine Träne die Wange herunterrollte und war in zwei Schritten bei ihr. „Was ist denn los? Können wir euch helfen?“
Bruce schüttelte den Kopf und brachte die Scherben hinaus, Pat blickte mit geballten Fäusten hinterher. Poppy schob sie auf einen Stuhl, was sie sich widerstandslos gefallen ließ. Sie versuchte jetzt nicht mehr, ihre Tränen zu verbergen, und griff nach Poppys Hand.
„Ich weiß nicht mehr weiter. Euch ist gestern ja sofort aufgefallen, dass wir leer sind. Ich musste meiner Geschäftsführerin kündigen, nicht sie hat gekündigt.“ Sie starrte auf den Boden, atmete tief durch und sah dann Poppy direkt an. „Das Hotel steht kurz vor der Pleite.“
„So schlimm?“
„Die meisten Gäste kommen nur aus dem Inland. Es gibt viel zu viele kleine Hotels an der Küste, und fast allen geht es genauso wie uns.“ Pat wischte sich über die Augen.
„Deshalb musstet ihr ans Tafelsilber gehen?“
Überrascht blickte sie Poppy an. „Wie kommst du darauf?“
„Im Salon ist mir ein heller Fleck auf der Seidentapete aufgefallen, und im Garten gibt es ein paar Marmorsockel mit runden Aussparungen im Moos.“
„Dir entgeht wirklich nichts, Poppy.“ Pat seufzte. „Und Barney hatte auch schon eine Ahnung davon bekommen.“
Poppy zog die Augenbrauen hoch. Barney zuckte mit den Schultern. „Bruce bat mich, ein paar der antiken Bücher aus der Bibliothek zu verkaufen. Aber er hat mich schwören lassen, nichts zu verraten.“
„Schluss mit der Geheimnistuerei! Wir sind doch Freunde. Ihr seid allein und könnt euch unmöglich um alles kümmern. Ich frage dich nochmal: Können wir euch irgendwie unterstützen?“
Pat richtete sich auf und straffte die Schultern. „Das ist lieb von dir, Poppy. Wir brauchen tatsächlich Hilfe. Ich habe nur Angst, euch euren wohlverdienten Urlaub zu verderben.“
„Papperlapapp! Bloß den Strand auf und ab zu gehen, ist langweilig. Und die ganze Zeit im Liegestuhl, wie sollen wir dann die Pfunde der wunderbaren Schlossküche wieder loswerden?“
„Ich habe heute eher abgenommen“, ließ sich Barney vernehmen, und bevor Poppy einschreiten konnte, sprang Pat auf und lief zum Kühlschrank.
„Bitte verzeiht mir, ihr müsst ja sterben vor Hunger. Ich habe noch französische Gänseleber, da mach ich ein paar Toasts!“
„Meine Austern wollte er nicht.“
Zum ersten Mal lächelte Pat. „Von den Felsen? Ich war ewig nicht mehr da unten. Ich hab auch noch Radieschen aus dem Garten und frische Butter.“ Rasch kreierte sie einen Imbiss und stellte Obst, Käse und eine Karaffe mit Rosé dazu. Sie setzte sich zu den beiden, rührte aber selbst nichts an.
„Zu deinem Angebot, Poppy. Vielleicht nehme ich es an.“
„Nur zu!“ Poppy positionierte eine Flocke salziger Butter auf ihrem Radieschen.
„Es gibt keine Angestellten, weil ich sie nicht bezahlen kann. Ich habe nur den Wanderführer. Ich selbst kann nicht weg, weil im Hotel so viel zu tun ist. Denn eigentlich geht es gerade aufwärts. Ab morgen haben wir zwei Gruppen im Haus. Eine Art Heimatverein hier aus der Gegend. Vormittags kommt aber eine Gruppe Ausländer an. Deutsche! Die sind wichtig für uns. Wenn sie so regelmäßig kommen wie früher, können wir wieder etwas optimistischer sein.“
„Na also! Dann lass uns gleich die Ankunft vorbereiten!“
„Das wäre wunderbar!“ Pat strahlte jetzt. „Ich muss auch noch den neuen Guide in das Programm einweisen.“
„Micah? Den kannst du gerne mir überlassen.“ Poppy lachte und registrierte befriedigt, wie Barney sich an einem Stückchen Toast verschluckte und hustete.
„Seine Fischerkate scheint inzwischen halbwegs bewohnbar zu sein, jedenfalls ist er meistens dort. Nachdem er aus den USA zurückkam, hat er eine Weile hier im Kutscherhaus gewohnt. Dafür hat er mir versprochen, die Gruppen anzuleiten, bis ich mir wieder einen professionellen Führer leisten kann.“
„Nimm mich einfach mit in dein Büro und zeig mir die Unterlagen.“ Poppy stand auf.
Barney tat es ihr nach. „Ich sehe mal nach Bruce.“
Poppy zwinkerte ihm dankbar zu.
Pat schnaubte sich geräuschvoll die Nase. „Euch schickt der Himmel.“
„Im Management braucht ihr vielleicht Hilfe, aber in der Küche seid ihr unübertroffen!“
Barney nahm den letzten Rest Rotweinsauce mit einem Stückchen Weißbrot auf.
Pat und Bruce hatten ihren Streit beigelegt und zusammen ein opulentes Abendmenü kreiert: Hummerconsommé, kornischer Schinken in Petersiliengelee und Boeuf Bourguignon.
Mit seligem Ausdruck nippte Barney am Portwein, den er sich statt eines Desserts gewünscht hatte. Bruce stieß mit ihm an. „Pat hat mir erzählt, wie schnell ihr ein Gefühl für unsere Situation bekommen habt.“ Er prostete auch Poppy zu. „Und das Büro sieht schon ganz anders aus, nachdem du zwei Stunden drin warst.“
Poppy lachte. „Eigentlich wollte ich immer nur Künstlerin sein, aber ich manage für mein Leben gern.“
„Und wenn ich an unseren eigenen Laden denke, viel besser als so ein verschrobener Professor wie ich“, brachte Barney einen Toast auf sie aus.
„Ich bin auch nicht gerade der Macher, im Gegensatz zu meinen Vorfahren“, stellte Bruce fest. „Das waren herausragende Führer, die Reichtum und Landbesitz mehrten.“
„Und dabei über Leichen gingen“, ergänzte Pat mit rollenden Augen. „Sogar ein Vorfahre von Micah musste dran glauben. Caedmon Morgan verwaltete für die Wythcombes ihren Grundbesitz und fiel in Ungnade …“
„Das ist dreihundert Jahre her“, unterbrach Bruce seine Frau. „Aber du hast recht, Pat. Das sind nicht gerade Vorbilder für eine moderne Betriebsführung.“
Dabei sah er Barney an. Der wechselte das Thema, indem er Bruce zu einer Zigarre auf die Terrasse einlud.
Poppy kam aus dem Bad. Barney hatte sich auf die Seite gedreht. Das Schlafzimmer lag im Dunkeln.
Energisch zog sie die geschlossenen Vorhänge zurück. Mondlicht flutete den Raum.
„Ich will das Glitzern auf den Wellen sehen“, stellte sie klar, „und zwar von meinem Bett aus!“
Sie schlüpfte zu Barney unter die Decke und kitzelte ihn. „Aber zuerst werden wir dieses stille royale Gemach mit bürgerlicher Liebe beleben. Und morgen erzählst du mir, was die vielsagenden Blicke zwischen dir und Bruce bedeuten!“ Sie freute sich, als Barney alle Anzeichen von Schläfrigkeit ablegte und seine Arme um sie schlang.
Poppy schlief unruhig. Die Ereignisse des ersten Ferientags, das Rauschen der Brandung, der salzige Geschmack von Barneys Haut auf ihren Lippen, das alles ließ sie zwischen Traum und Wachen hin und her pendeln.
Als der Mann neben ihrem Bett auftauchte, raffte sie erschrocken das Nachthemd zusammen, das Barney ihr abgestreift hatte.
„Mylady, verzeihen Sie, ich schaue weg.“
„Sind Sie etwa …“
„Ein Gespenst? Nein!“ Er kicherte. „Oder glauben Sie an Geister?“
„Natürlich nicht, aber wie kommen Sie …“
„In Ihr Zimmer? Da bin ich gar nicht. Ich bin in Ihrem Kopf, Madame.“
„Ein Traum?“
„Wenn Sie so wollen. Sie haben von mir gehört, vorhin, beim Abendessen.“
„Caedmon?“
„Derselbe.“ Es folgte eine vollendet höfische Verbeugung. „Caedmon Morgan, Chamberlain des Hauses Wythcombe, im Jahre des Herrn Siebzehnhundertzwanzig – zu Ihren Diensten, Mylady.“ Er richtete sich auf und rückte seine weiß gepuderte Perücke zurecht. „Nein, ich fürchte, es ist andersherum. Ich bin es, der Sie um einen Gefallen bitten muss.“
Bestürzt sah Poppy, wie aus den ausdrucksvollen Augen Tränen über die eingefallenen Wangen liefen und sich zitternd am Kinn sammelten.
„Wie soll ich einem Traum einen Gefallen tun?“
Caedmon schenkte ihr ein verhangenes Lächeln. „Ihr stellt die richtigen Fragen, Mylady, das muss ich sagen. Aber die Dinge sind etwas komplizierter.“ Er kam näher und schien den ganzen Raum über dem Himmelbett auszufüllen. Poppy zog die Bettdecke bis zum Kinn hoch.
„Ich wollte immer nur das Beste für die Wythcombes. Aber sie haben es mir böse vergolten und ich kann keine Erlösung finden. Es sei denn, Sie helfen mir dabei, die Dinge zu richten.“
Caedmon wich ein Stück zurück, und Poppy entspannte sich.
Seltsame Träume waren bei ihr keine Seltenheit, und sie hatte die Erfahrung gemacht, dass sie durchaus steuerbar waren. Dieser Traum machte sie neugierig.
„Sehen wir uns jetzt öfter?“
„Vernehme ich da ein wenig Koketterie?“ Caedmon zupfte an seinem Halstuch. „Nur, wenn Sie es wollen und mich in Ihre Träume lassen … Ich entdecke in Ihnen eine verwandte Seele, sonst könnte ich gar nicht zu Ihnen vorstoßen. Und es gibt noch jemanden davon.“
„Micah?“
„Ihren Scharfsinn werden wir wahrhaftig noch gut gebrauchen können. In der Tat ist mein Nachfahre in die Sache involviert. Er ist sogar der Schlüssel. Nur will er sich nicht ins Schloss stecken lassen, wenn ich so sagen darf. Er ist störrisch wie seine Vorfahren, aber ich versuche, ihn zu überzeugen. Das wird ein wenig dauern, und wenn nicht – dann darf ich wieder bei Ihnen vorsprechen, Mylady?“
„Ich bin gespannt.“
„Auf was bis du gespannt, Poppy?“
Sie schlug die Augen auf. Statt Caedmons Perücke war Barneys zerzauster Kopf über sie gebeugt. „Du hast im Schlaf gesprochen“, stellte er gelassen fest. Er kannte die Angewohnheit seiner Frau. „Wer war es denn diesmal?“
Poppy blinzelte schlaftrunken. „Ein charmanter Edelmann.“
Sie schloss die Augen wieder und versuchte vergeblich, in den Traum zurückzufinden.
Beim Frühstück schilderte Poppy ihre nächtliche Begegnung.
„Und ich habe sie bei ihrem Rendezvous gestört!“, stöhnte Barney übertrieben zerknirscht.
„Wir haben gestern Abend wohl zu viele Schauergeschichten erzählt“, sagte Pat, und Bruce meinte nur: „Das Boeuf Bourguignon kann einem schwer im Magen liegen.“
Poppy schwieg. Sie hatte schon ähnliche Träume gehabt, in denen jemand versuchte, sie in sein Schicksal zu verwickeln. Deshalb wäre sie nicht überrascht, wenn Caedmon erneut auftauchen würde. Und dann war da noch Micah, dachte sie und häufte genüsslich Strawberry Jam und Clotted Cream auf ihr Scone.
Als ob Pat ihre Gedanken gelesen hätte, sah sie auf die Uhr. „Gleich kommt unser neuer Wanderführer. Führst du ihn in den Routenplan für die Woche ein?“
Poppy nickte eifrig.
„Dann bin ich ja überflüssig.“ Barney zog die Mundwinkel nach unten.
Poppy grinste. „Wer schmollt, kann nicht küssen.“
Barney tat es trotzdem und stand auf. „Ich bin in der Bibliothek. Ich habe einen Atlas von der Region hier entdeckt.“
„Gestern hing ein Transparent über der Steilküste, Hände weg oder so ähnlich“, sagte Poppy. „Was soll das denn bedeuten?“
Bruce zuckte zusammen. „Das sind irgendwelche Spinner“, wiegelte er ab. Pat stand hastig auf und stapelte lautstark das Geschirr auf ein Tablett.
Poppy sah die beiden stirnrunzelnd an. Als nichts kam, sagte sie: „Irgendwie treffe ich heute nicht die richtigen Themen.“
Von der Halle her läutete die kleine Glocke an der Rezeption.
„Das ist Micah!“ Poppy lief los, froh, der Frühstücksrunde entronnen zu sein.
Sie bat ihn, ihr gegenüber im Büro Platz zu nehmen. Zügig gingen Poppy und Micah die Anmeldungen der deutschen Gäste durch, in denen auch bisherige Wandererfahrungen vermerkt waren. Im nächsten Schritt stellten sie aus verschiedenen Karten und Wegbeschreibungen die passenden Routen zusammen.
Die Begegnung auf der Landstraße war nur flüchtig gewesen; deshalb freute sich Poppy umso mehr, wie vertraut und leicht ihr Umgang miteinander war und wie schnell sie bei der Arbeit auf den Punkt kamen.
„Zwei davon scheinen echte Lauffreaks zu sein.“ Micah deutete auf ein Ehepaar aus Hamburg. „Ich bin gespannt, ob ich mit denen mithalten kann. Aber es gibt auch Anfänger.“
Poppy betrachtete ein Aquarell, das über dem Schreibtisch hing. Es zeigte die Bucht von St. Yves, blaugrünes Wasser mit bunten Fischerbooten darauf. „Du musst bloß ein paar schöne Pausen einbauen, am besten am Meer.“
Micah fuhr sich durch die Locken. In den braunen Augen blitzte es. „Du liebst das Meer auch?“ fragte er und legte die Hand auf ihre.
Das geht aber schnell, dachte Poppy. Aber es fühlte sich gut an, freundschaftlich und ein klein wenig prickelnd, und so gab sie dem Impuls, sie zurückzuziehen, nicht nach.
„Sehr sogar.“ Sie machte eine Pause. „Es erinnert mich an meine Kindheit, an sorgenfreie Ferien mit meiner Schwester und meinen Eltern.“
„Leben sie nicht mehr?“
„Wie kommst du darauf?“
„Deine Augen sahen traurig aus, als du das sagtest.“
„Stimmt. Ein Autounfall.“
„Das tut mir leid.“ Jetzt war er es, der die Hand wegzog. „Ich weiß, wie du dich fühlst. Meine Eltern sind lange tot. Die Morgans gehören zu den alten Familien hier. Aber mein Ast ist fast ausgestorben. Ich bin der letzte der Morgans vom Lizard Point.“
„Jetzt schaust du aber traurig.“
„Egal. Was zählt, ist das Hier und Heute.“ Seine Stimmung hellte sich wieder auf. „Als Pat mir gesagt hat, dass du meine Vorgesetzte bist, fand ich das super!“
Poppy gähnte plötzlich herzhaft, und Micah sah sie überrascht an. „Langweile ich dich?“
Sie schüttelte den Kopf. „Entschuldige, nein, im Gegenteil. Ich habe nur etwas unruhig geschlafen.“
„Verstehe. Lag es bei dir an der Matratze? Als ich hier war, habe ich mich auch oft im Bett gewälzt, weil die Dinger so durchgelegen sind.“
„Stimmt, da könnte investiert werden.“ Sie zögerte. „Nein, bei mir hatte es einen anderen Grund.“ Sollte sie ihm von ihrem Traum erzählen? Klang das nicht zu verrückt? Sein Urahn auf ihrer Bettkante?
Die Nähe, die sie zu ihm fühlte, ließ sie sich ein Herz fassen. Sie betrachtete Micah und lächelte. „Die gleichen braunen Augen … Sagt dir der Name Caedmon etwas?“
„Mein Vorfahre?“
„Er scheint gerne in den Traumwelten anderer Leute herumzuspazieren“, formulierte Poppy behutsam und wartete ab, wie er reagieren würde.
Micah ließ die Landkarte sinken. „Poppy, jetzt verblüffst du mich wirklich.“
Er sah sich um, als ob er sich davon überzeugen wollte, dass keiner mithörte. „Jedenfalls verliert der alte Knabe keine Zeit. Bei mir war er gestern Nacht auch. Er war bester Laune und sprach von einer hübschen Lady, die er gerade besucht habe. Die bereit wäre, ihn zu unterstützen, wenn ich weiter so stur bliebe. Wenn ich geahnt hätte, dass du es bist …“ Er stockte. „Das Ganze ist mir ebenso peinlich wie lächerlich.“
„Das muss es nicht sein.“ Poppy grinste. „Du denkst wenigstens nicht, dass ich ein komisches Mädchen mit Verdauungsstörung bin, wie Pat und Bruce vorhin.“ Sie wurde wieder ernst. „Caedmon fabulierte etwas von Seelenverwandtschaft.“
„Ein netter Begriff. Keine Ahnung, wie er es schafft, sich in unsere Träume zu stehlen. Bisher dachte ich, das sei auf unsere Familie beschränkt. Nicht alle fanden das lustig. Meine Mutter stürzte es in regelrechte Depressionen. Hat er dich erschreckt?“
„Nein, bloß überrascht. Träume sind spannend. Aber es stimmt. Nicht immer gehen sie gut aus.“
Sie dachte an nächtliche Begegnungen mit ihrer jüngeren Schwester. Auch mit ihr führte sie im Traum Zwiegespräche. Meist waren es friedliche Begegnungen, aber manchmal endeten sie in dem unbeschreiblichen Schmerz des Autounfalls.
„Was wollte Caedmon von dir?“ fragte Micah.
„Er sprach von einem Fluch. Aber leider hat Barney mich geweckt, bevor er richtig loslegen konnte. Was meinte er denn damit?“
„Die Wythcombes waren schon immer etwas chaotisch. Männer wie Caedmon haben über Generationen Haus und Hof zusammengehalten. Aber Caedmon ging zu weit. Er hat einen Deal um Grund und Boden verhindert, der das Machtgleichgewicht hier in der Region aus den Fugen gebracht hätte.“
„Das ist doch gut.“
„Die Wythcombes sahen das anders. Sie warfen ihn in den Kerker, und er starb kurz darauf.“
„Wie furchtbar. Aber was können wir jetzt noch für ihn tun?“
Micah lächelte. „Ich merke, du willst ihm wirklich helfen, das ist lieb von dir. Aber ich rate dir, lass dich nicht darauf ein.“ Er seufzte. „Es geht um eine Bodenurkunde, die Caedmon damals verschwinden ließ. Wenn sie wieder auftaucht, wäre er erlöst. Aber dann entstünden neue Begehrlichkeiten. Es geht um ein besonders schönes Stück Land, direkt an der Küste.“
„Die Öffentlichkeit scheint auch aufmerksam geworden zu sein. Wir haben das Transparent gesehen, über dem Strand.“
„Das sind Umweltschützer aus Falmouth, sie wehren sich. Aber es ist kompliziert.“
„Das sagte Caedmon auch.“
Micah stöhnte. „Ehrlich gesagt, wäre ich froh, wenn Caedmon mich mit der Sache in Ruhe ließe und dich auch. Wenn ich ihn das nächste Mal treffe, sage ich ihm das. Du hast Urlaub und brauchst deinen Schlaf. Da ist kein Platz für alte Männer und ihre Heimsuchungen.“ Er sah auf die Uhr und griff wieder nach der Karte. „Lass uns jetzt mit der Routenplanung weitermachen. Ich muss wieder auf die Baustelle in meiner Wohnung.“
Am Nachmittag traf die Wandergruppe ein. Poppy wartete draußen auf sie. Sie war ein wenig nervös, fühlte sich aber gut vorbereitet. Sie legte sich sogar ein paar Sätze auf Deutsch zurecht. Während ihres Studiums hatte sie ein Semester an der Kunstakademie in Düsseldorf verbracht und musste ihre Sprachkenntnisse nur ein wenig aufpolieren.
Der Minibus mit der Aufschrift Bristol Airport bremste vor dem Portal. Poppy trat aus der Staubwolke hervor. Sie atmete tief ein und hustete. Der Fahrer öffnete die Schiebetür, und sieben Personen stiegen aus.
„Willkommen!“, begrüßte sie Poppy. „Folgen Sie mir bitte zur Rezeption. Ich bin Mrs Dayton. Lord und Lady Wythcombe werden Sie später noch persönlich begrüßen.“
„Ein echter Lord?“, kiekste eine zierliche junge Frau mit langen blonden Locken und bekam von ihrer Begleiterin einen Stoß in die Rippen. Sie war hochgewachsen, die kurzen dunklen Haare betonten die mit Ringen und Piercings behängten Ohren. „Ich weiß, du bist die Herrin“, reagierte die Kleinere halblaut.
Ein Mann mittleren Alters im karierten Hemd und einer beigen Windjacke sagte zu der Frau im Partnerlook neben ihm: „Hochadel? Du hast mir legere Wanderferien versprochen.“
„Wir sind in England und nicht im Sauerland, mein Schatz!“
„Sag nichts gegen das Sauerland. Das Essen …“
„Lady Patricia steht hier selbst in der Küche“, schritt Poppy ein. „Lassen Sie sich überraschen!“
„Und wir sind überrascht, dass Sie so gut Deutsch sprechen“, kam es auf Englisch zurück. Der Versuch, galant zu sein, klang etwas hölzern, was vielleicht an dem starken deutschen Akzent lag. Trotzdem lobte Poppy den Herrn in der Windjacke. „Vielen Dank! Aber Ihr Englisch ist mindestens genauso gut. Damit werden Sie beim Bier in unseren Pubs großen Erfolg haben!“
Die Gruppe ließ sich in Richtung Rezeption dirigieren, und Poppy verteilte die Schlüssel. „Die Honeymoon-Suite für Herrn Bäcker und Frau.“
Die Angesprochenen, die sich bisher im Hintergrund gehalten hatten, schienen nur widerwillig ihre Umarmung zu lösen. Die kräftige Brünette sah zu dem Mann mit dem roten Kopf und Bürstenhaarschnitt hoch. „Honeymoon? Soll das ein Antrag sein? Wie süß von dir!“
Beide verschlungen sich wieder ineinander, bis Poppy mit dem altmodischen Schlüsselbund klimperte.
Er guckte betont schuldbewusst. „Entschuldigen Sie bitte“, sagte er augenzwinkernd. „Wir sind noch gar nicht verheiratet.“
„Das kann ja noch werden, Herr Bäcker. Würden Sie sich bitte hier eintragen?“
Allmählich leerte sich die Rezeption. Ein Schlüssel lag noch auf dem Tresen.
Poppy sah sich suchend in der Halle um. An der Stirnseite des langen Eichentisches, fast verdeckt durch die Vase mit den weißen Lilien in der Mitte, saß eine Frau. Als sich ihre Blicke trafen, stand sie auf.
Sofort war Poppy gefangen. Ihre Größe und der athletische Körperbau, ihre fließenden, aber beherrschten Bewegungen und die stolze Haltung des Kopfes imponierten ihr. Poppy schätzte sie auf Anfang vierzig, aber ihre schönen, leicht schräg gestellten Augen und der blonde Pony ließen sie jünger wirken und machten sie sehr attraktiv.
„Frau Andersen?“
„Brigid Andersen. Sie können Brigid zu mir sagen.“ Sie sprach hervorragendes Englisch mit einem schwer definierbaren Akzent.
„Gerne! Ich bin Poppy.“ Sie gab ihr die Schlüssel in die Hand, und augenblicklich legte Brigid die langen schmalen Finger darüber.
„Der Kleine ist für die Haustür, nach 22 Uhr abends, und der Große ist für das Zimmer. Es ist im ersten Stock, gleich das erste links. Sie sind keine Deutsche, oder?“
„Danke. Ich bin in Schweden geboren“, sagte sie und ging die Treppe hinauf. Poppy sah ihr hinterher. Für Plaudereien schien Brigid nichts übrig zu haben. Überraschend blieb sie auf dem Treppenabsatz stehen und drehte sich nochmal um. „Sehen wir unseren Wanderführer Micah heute noch?“
„Ja. Aber woher kennen Sie …?“
Brigid nickte nur, dann war sie verschwunden.
Das Willkommensdinner fand für alle gemeinsam am großen Tisch in der Halle statt. Brigid saß an der Stirnseite. Das passt zu einer Alleinreisenden, dachte Poppy.
Es war auch der Platz, von dem man den Eingang am besten im Auge behalten konnte.
Sie hatte das Essen kaum angerührt, und Poppy wollte gerade ihren Teller abräumen, als Brigid zusammenzuckte. Micah war hereingekommen und winkte fröhlich in die Runde.
„Guten Appetit! Lasst euch nicht stören. Ich bin Micah Morgan, euer Wanderführer. Den Kaffee bekommt ihr nachher im Salon. Da warte ich auf euch, und wir sprechen über unsere erste Tour morgen.“
Er durchquerte die Halle und zog dabei alle Blicke auf sich. Poppy, die hinter Brigid gestanden hatte, entging nicht, dass Micahs Blick an ihr hängen blieb. Sie schien diesen Augenblick gesucht zu haben und hob leicht die Hand. Er nickte, freundlich, aber nicht besonders engagiert.