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Das Künstler-Seminar auf einer abgelegenen Insel – Cornwallsche Idylle oder doch tödliche Falle?
In ihrem zweiten Fall gerät Poppy Dayton in mörderische Gefahr
Als Poppy Dayton von einem einflussreichen Londoner Galeristen gebeten wird, ein Kunst-Retreat auf einer abgelegenen Insel vor Cornwall zu leiten, kann sie einfach nicht nein sagen. Doch schon bald wird ihr klar, dass ihr Aufenthalt auf Arwen Island alles andere als ein entspannter Ferienjob wird. Die Kursteilnehmer sind exzentrisch und streitsüchtig und sogar die Insel selbst scheint sich gegen die Besucher zu wehren. Als nach mehreren seltsamen Ereignissen eine der Künstlerinnen tot und in ein Fischernetz gewickelt aufgefunden wird, bleibt Poppy nichts anderes übrig, als wieder zu ermitteln. Schafft sie es, herauszufinden, ob sie und ihre Künstler mit einem Mörder auf der Insel festsitzen … oder ist er gar einer von ihnen?
Weitere Titel dieser Reihe
Poppy Dayton und das Geheimnis von Wythcombe Manor (ISBN: 9783968172071)
Erste Leser:innenstimmen
„Rätselhaft, charmant und Fans von Cosy Krimis nur ans Herz zu legen“
„Leichtfüßig erzählter Krimi vor der traumhaften Südengland-Kulisse.“
„Humorvoller Schreibstil, spannender Fall und sympathische Ermittlerin – was will man mehr?“
„Unterhaltsamer Cosy Crime für einen verregneten Sonntag auf dem Sofa.“
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Veröffentlichungsjahr: 2022
Als Poppy Dayton von einem einflussreichen Londoner Galeristen gebeten wird, ein Kunst-Retreat auf einer abgelegenen Insel vor Cornwall zu leiten, kann sie einfach nicht nein sagen. Doch schon bald wird ihr klar, dass ihr Aufenthalt auf Arwen Island alles andere als ein entspannter Ferienjob wird. Die Kursteilnehmer sind exzentrisch und streitsüchtig und sogar die Insel selbst scheint sich gegen die Besucher zu wehren. Als nach mehreren seltsamen Ereignissen eine der Künstlerinnen tot und in ein Fischernetz gewickelt aufgefunden wird, bleibt Poppy nichts anderes übrig, als wieder zu ermitteln. Schafft sie es, herauszufinden, ob sie und ihre Künstler mit einem Mörder auf der Insel festsitzen … oder ist er gar einer von ihnen?
Erstausgabe Mai 2022
Copyright © 2023 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten
E-Book-ISBN: 978-3-98637-498-3 Taschenbuch-ISBN: 978-3-98637-825-7
Covergestaltung: Grit Bomhauer unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com: © vitek3ds, © Ken StockPhoto, © Stephen Bridger © andras_csontos, © RUNGSAN NANTAPHUM, © ivangal, © VikaSuh Depositphotos.com: © Farina6000 Lektorat: Katrin Gönnewig
E-Book-Version 21.07.2023, 15:58:59.
Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.
Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
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„Ist schon wieder jemand gestorben?“
Poppy Daytons Frage entlockte dem Anrufer ein Lachen. Das war untypisch für Steven Edwards, Inspektor der Polizei von Falmouth, der meist schlecht gelaunt war und sich durch seine letzten Dienstjahre quälte.
„Nein, noch nicht“, gab er zu.
„Ist das eine Drohung?“ Poppy klemmte sich das Smartphone unters Kinn und knöpfte die weiße Bluse zu. Sie war in Eile und hatte den Inspektor nur angerufen, weil er es schon mehrfach versucht hatte.
„Nur eine Erinnerung an gemeinsame Abenteuer.“
War das einfach nett, fragte sie sich, oder hatte er wirklich etwas auf dem Herzen? Dass ihm die Unterstützung der quirligen Künstlerin hochwillkommen war, wusste sie, seitdem sie den Fall um das Geheimnis von Wythcombe Manor gelöst hatte.
„Ich merke, Sie sind in Eile“ fuhr er fort. „Im Augenblick wäre weniger Ihre kriminalistische Begabung als Ihre Erfahrung als Kunstexpertin gefragt.“
„Klingt spannend! Aber im Moment muss ich Geld verdienen und Reisen nach Cornwall stehen eher mit Geld ausgeben in Verbindung …“
„Mrs Dayton, es soll nicht zu Ihrem Schaden sein …“
„Ich bin gerade unterwegs, um ein Projekt zu besprechen. Kann ich mich wieder bei Ihnen melden?“
„Na gut.“ Er klang enttäuscht. „Lassen Sie mich nur nicht zu lange warten. Und denken Sie immer daran: Cornwall vermisst Sie.“ Er legte auf.
Poppy schmunzelte. Nicht nur Cornwall, scheint mir.
Sie steckte das Smartphone in ihre Handtasche, schob die Schranktür auf, griff nach zwei Bügeln und ging damit ins Wohnzimmer.
„Barney, welches soll ich nehmen?“
Die zierliche Poppy hielt sich zwei Kleidungsstücke vor den sehr weiblich geformten Körper. Aus meergrünen Augen sah sie ihren Mann fragend an.
Barnabas Aloysius Dayton, der aus Liebe zu seiner zwölf Jahre jüngeren Studentin Poppy auf die Art-History-Professur am Royal College verzichtet und stattdessen einen Kunsthandel mit ihr gegründet hatte, ließ das Literary Supplement der Times sinken.
„Das fragst du mich nie, warum jetzt?“
„Flexer ist ein älterer Herr …“
„So wie ich, meinst du?“
Sie musterte den markanten Kopf mit dem Grübchen am Kinn und den kurzgeschnittenen, dunkelblonden Haaren, die an den Schläfen erste, dekorative Spuren von Grau erkennen ließen.
„Darling!“, säuselte sie. „No fishing for compliments, please!“
„Ich bin ein antiquierter Antiquar, und er ist ein cooler Galerist.“
„Du wirst achtundvierzig, allerdings erst im September, wenn dich das beruhigt. Und du bist ein genialer Verkäufer, der sich bestens in unterschiedliche Situationen hineinversetzen kann. Also sag: Blazer oder Overall?“
Sie hielt die lang geschnittene, dunkelgrüne Jacke mit roten und blauen Karostreifen von Vivienne Westwood neben den schwarzen Einteiler von Amy Farrar, einer jungen Londoner Designerin.
Barney betrachtete sie über die Brille hinweg. „Es ist ein geschäftliches Treffen, oder?“
„Bist du eifersüchtig?“
„Habe ich Grund dazu?“
„Natürlich nicht. Flexer hat enormen Einfluss in der Kunstszene, und du weißt, dass ich schon lange versuche, wegen meiner Arbeiten mit ihm ins Gespräch zu kommen. Jetzt will er mir ein Projekt anbieten. Mehr weiß ich auch nicht. Er meinte nur, wir müssten uns so schnell wie möglich sehen, es würde in einer Woche starten.“
„Dann nimm das Dunkelgrüne. Es lässt die Farbe deiner Augen leuchten und schafft gleichzeitig Augenhöhe für seriöse Verhandlungen.“
„Siehst du? Du kannst das!“ Poppy wählte einen passenden, ziemlich kurzen roten Rock, zog den Blazer über und küsste Barney auf den Mund, der sich danach wieder in die Zeitung vertiefte.
Zu seinen Füßen lag Torry, der Terrier-Mischling mit den weiß-braunen Fellwirbeln, den Poppy aus dem Malstrom vor der Küste Cornwalls gerettet hatte. Er blinzelte nur und ließ sich von der Hektik seines Frauchens nicht anstecken.
Sie lief die Treppe herunter und durchquerte „Bromley Books & Art“, ihren Laden an der Marylebone High Street. Das kontrastreiche Angebot wertvoller alter Bücher und Manuskripte und Poppys filigranen Objekten experimenteller Gegenwartskunst hatte auf den ersten Blick wenig miteinander zu tun. Aber die Kombination und ihre beiden Persönlichkeiten machten den Erfolg aus. Trotzdem war es ein ständiger Kampf ums geschäftliche Überleben, und deshalb war Poppy der Termin mit Niall Flexer wichtig.
Draußen empfing sie die laue Brise eines englischen Junitags.
Kurz dachte sie daran, ein Taxi heranzuwinken, doch dann entschied sie sich, zu Fuß zu gehen. Sie liebte das Straßengewirr von Marylebone mit den vielen kleinen und individuellen Geschäften.
Erst als sie in die New Bond Street einbog, änderte sich die Szenerie. Hier waren vor allem Touristen vom Kontinent und aus Asien unterwegs. Neben den Headshops exklusiver Luxusmarken für Kleidung und Uhren lagen dort die ersten Adressen des Kunsthandels, wie Saatchi Yates, Bonhams, Hay Hill – und Flexer Contemporary Art.
Poppy sinnierte noch darüber, wie Flexer es geschafft hatte, sich in die erste Liga emporzuarbeiten, als ein Hupen sie zusammenzucken ließ.
Ein zitronengelber Bentley hielt neben ihr.
„Mrs Dayton!“ Ein Kopf mit langen, grau melierten, zum Zopf zusammengefassten Haaren lugte aus dem Fond der Luxuskarosse. Zwei Arme streckten sich Poppy entgegen.
Will er mich vom Pflaster pflücken? Obwohl sie den Mann erkannte, trat sie einen Schritt zurück. „Mr Flexer! – Ich bin auf dem Weg zu Ihnen …“
„Nicht in der Galerie, zu viele Leute! Fahren Sie mit mir, ich lade Sie zum Essen ein.“
Er rückte zur Seite, und die Tür öffnete sich automatisch.
Poppy stieg ein. Flexer gab dem Chauffeur ein Zeichen, der gab Gas, und die plötzliche Beschleunigung drückte sie tief ins üppige Lederpolster.
„Wohin entführen Sie mich, Sir?“
„Nur um die Ecke, Lancaster Gate.“ Flexer langte über die breite Mittelstütze und griff nach Poppys Unterarm. „Wie lange kennen wir uns, Mrs Dayton?“ Er beantwortete die Frage selbst: „Vier, fünf Jahre? Lassen wir das Formelle beiseite.“
Das klingt eher flehend als jovial, dachte sie überrascht.
Er ließ sie los und streckte seine schmale, feingliedrige Hand aus: „Niall.“
Sie erwiderte den Gruß: „Poppy.“
Er hielt sie fest, etwas zu lange, wie sie fand.
„Dann wäre das geklärt.“
Wieder wunderte sie sich über das Gehetzte in seiner Stimme. Schweigen breitete sich in der riesigen Limousine aus.
Poppy überlegte, wie sie die Beklommenheit überwinden konnte, als der Bentley anhielt. Flexer stieg aus und kam dem Chauffeur zuvor, Poppy aus dem Wagen zu helfen.
Sie standen vor „The Mitre Public House“ einer traditionsreichen Bar an der Craven Terrace in der Nähe von Kensington Gardens.
Flexer ging vor. Sie durchquerten den an einem Dienstagmittag fast leeren Gastraum und nahmen die Treppe in den ersten Stock, Flexer immer zwei Stufen auf einmal.
Sie betraten den Lord Craven Grill, ein kleines, erlesenes Restaurant über dem Pub. Keiner der vier Tische vor dem Marmorkamin war besetzt.
Poppy sah sich um. Die Decke des Raums verlor sich irgendwo hoch über ihr, die schweren Brokatvorhänge waren nicht aufgezogen, sondern wurden nur von dunkelroten Kordeln zur Seite gehalten. Vor der verblichenen, goldfarbenen Wandbespannung flackerten Kerzen in bronzenen Halterungen.
Ein Ober empfing sie. „Aperitif?“, fragte er knapp.
Flexer steuerte auf die Sesselgruppe neben den Tischen zu.
Poppy wollte sich auf den Platz direkt vor dem Kamin setzen, aber er hielt sie davon ab. „Nein – bitte, nehmen Sie … entschuldige Poppy, nimm besser den hier.“
Poppy gehorchte. Das wird immer merkwürdiger. „Warum?“, fragte sie verwundert.
„Du kennst die Geschichte von Lord Craven?“
Sie schüttelte den Kopf.
„Die Cravens gehören zu den ältesten Familien Londons. Im siebzehnten Jahrhundert war einer von ihnen Bürgermeister. Er widmete dieses Haus und das Gelände den Pestkranken als Zufluchtsort.“ Er hörte das Räuspern des Obers und fragte Poppy nach ihrem Wunsch.
„Ich nehme einen weißen Port.“
„Gute Idee. Für mich bitte auch.“ Er senkte die Stimme. „Die späteren Cravens waren weniger altruistisch aufgelegt. In den 1890ern versuchte ein exzentrischer Nachfahre den Kummer über den Verlust seiner Mätresse mit einer Unmenge Beefsteak und einigen Flaschen Claret zu verdrängen, als er auf dem Stuhl dort tot zusammenbrach. Seitdem berichtet das Personal von merkwürdigen Geschehnissen in diesem Raum, von Schritten auf der Treppe und davon, dass der Stuhl gelegentlich umgeworfen vor dem Kamin liegt – nicht wahr, Preston?“, fragte er den Ober, der zwei Gläser mit einer hellgolden schimmernden Flüssigkeit vor ihnen abstellte und die Menü-Karten reichte. Ohne die Miene zu verziehen, sah er Poppy an und sagte leise: „Deshalb raten wir, den Platz zu meiden. Was natürlich nicht immer möglich ist, – und in der Nacht nach vollen Tagen knackt die Treppe immer ganz besonders.“
Er wollte sich zurückziehen, aber Flexer hielt ihn auf. „Wir haben nicht viel Zeit. Poppy, darf ich dir die Dover-Seezunge empfehlen? Vielleicht mit Beurre Blanc und frischem Spargel? Noch gibt es welchen.“
„Gern.“ Poppy grinste. „Auf keinen Fall Beefsteak.“
Als der Ober verschwunden war, sah sie Flexer fragend an: „Glaubst du denn an Spukgeschichten?“
„Du nicht?“ Die Gegenfrage kam sofort, und Poppy stutzte über die Schärfe in seiner Stimme.
Poppy widmete sich ihrem Glas und mied seinen Blick.
„Niall, ich beschäftige mich lieber mit den Lebenden.“ Sie versuchte, auf den eigentlichen Grund des Treffens zu kommen. „Und in meiner Kunst versuche ich …“
„Entschuldige!“ Er hob die Hand. „Du weißt, das sind bloß Geschichten. Lass mich einen neuen Anlauf machen, Poppy. Du bist nicht nur eine begabte Künstlerin …“
„Die du bisher freundlich ignoriert hast …“
„Was sich hiermit ändert, versprochen! Im Moment suche ich allerdings nicht nur eine Kunstschaffende, sondern auch eine erfahrene Managerin – eine Kombination, die ausgesprochen selten ist, das kann ich dir sagen.“
„Wobei soll dir diese Wonder Woman denn helfen?“
Flexer prustete los. „Den Humor hatte ich vergessen zu erwähnen!“ Er wischte sich über die Lippen, und Poppy entging das Zittern der Finger nicht.
„Ich möchte, dass du mein sommerliches Art-Retreat leitest.“
Jetzt war es Poppy, die sich verschluckte. „Auf Arwen Island?“
Der Retreat war legendär. Er fand auf einer Insel statt, an einem der schönsten Abschnitte der Küste Cornwalls – Poppys Traumregion.
„Aber dafür hast du doch Julia Armstrong?“
Flexers Mund war jetzt eine schmale Linie. „Sie hat gestern abgesagt. Sie lässt mich im Stich, nicht mal eine Woche vor dem Start!“
„Warum, wenn ich fragen darf?“
Er nestelte an seiner Serviette herum. Die Antwort ließ auf sich warten, zu lange, fand Poppy.
„Keine Ahnung, sie sei krank, irgendwas mit den Nerven.“
„Oh, das tut mir leid …“
„Mir auch, und es trifft mich auf dem falschen Fuß! Ich kann das Treffen nicht selbst eröffnen, weil ich Anfang der Woche noch hier zu tun habe.“
Poppy sagte nichts und beobachtete Flexer, der auf dem Sessel hin und her rutschte.
„Du würdest mir einen enormen Gefallen tun, wenn du für sie einspringst. Natürlich bekommst du das gleiche Honorar wie sie. Mehr als das: Ich würde mich freuen, wenn du als hochtalentierte Künstlerin beim Retreat dabei bist, und später möchte ich mit dir darüber reden, wie ich dich in Zukunft in meiner Galerie vertreten kann.“
Tausend Gedanken schossen Poppy durch den Kopf: Der Retreat, eines der exklusivsten Künstlertreffen in England, die Auswahl herausragender kreativer Köpfe, das Honorar – und als Beigabe Arwen Island, das Juwel vor der kornischen Küste …
Das Angebot war mehr als verlockend, und trotzdem hatte es einen enttäuschenden Beigeschmack. Natürlich schmeichelte es ihr, wenn Flexer sie „hochtalentiert“ fand, aber in erster Linie schien es ihm um ihre Fähigkeiten als Managerin zu gehen. Sie beschloss, dieses Gefühl nicht zu nahe an ihre Künstlerseele heranzulassen.
Sie blieb cool. Ihr Blick fiel in den Spiegel über dem Kamin. Mit ihren grünen Augen, den burgunderrot schimmernden, schulterlangen Haaren, den hohen Wangenknochen und der schmalen Nase strahlte sie pure Energie aus. Die sinnlichen Lippen, die jetzt leicht geöffnet waren und eine kleine Lücke zwischen den beiden Vorderzähnen durchblicken ließen, verstärkten den Eindruck natürlicher Autorität und Entschlossenheit.
„Lass uns das gern nach dem Essen besprechen, Niall“, sagte sie, als der Ober zu Tisch bat.
Vorsichtig steuerte Barney das grüne Morris Minor Cabriolet die steilen Gassen von Mousehole hinab zum Hafen. Es war ein schöner Freitagabend, und die niedrigstehende Sonne brachte die grauen Granitfassaden und Schieferdächer der Fischerhäuser zum Leuchten.
Vor dem „Ship Inn“ bog Barney auf den Parkplatz ein und unterbrach die Zündung.
Der uralte Motor kam ruckelnd zum Stehen und bedankte sich für die Pause mit einem heiseren Seufzer.
Poppy drückte Barney einen Kuss auf die Wange. „Es ist so lieb von dir, dass du mich hergebracht hast.“ Sie betrachtete ihn von der Seite. „Noch lieber wäre es mir, wenn du mitkämst.“
„Das hatten wir mehrfach besprochen. Ich kann den Laden nicht schon wieder wochenlang allein lassen.“
„Das sehe ich ein – obwohl Niall Flexer dich ausdrücklich mit eingeladen hat!“
„Ich weiß, und Cornwall ist herrlich, gerade diese Ecke.“ Barney blickte sehnsüchtig die Pier entlang. Durch die Lücke zwischen den Wellenbrechern war das dunkelblaue, mit Schaumkronen verzierte Meer zu sehen – und zu riechen. Jod, Fisch, Salz und Algen verbanden sich zu dem herben, unverwechselbaren Aroma der Küste. Auf Poppy wirkte es appetitanregend.
„Lass uns reingehen. Wenigstens haben wir diesen Abend – und die Nacht, Darling.“ Sie zwinkerte verschwörerisch. „Aber erst mal interessiert mich der Catch of the Day.“ Sie deutete auf die schwarze, salzüberkrustete Tafel, auf der in schwungvollen Kreidelettern FRESH TURBOT stand.
Barney holte das Gepäck aus dem Kofferraum und folgte Poppy ins Haus.
Ernüchtert blieben sie stehen. Die Tische im Gastraum waren bis auf den letzten Platz besetzt. Eine junge Frau stellte eine riesige Fischplatte ab und kam auf sie zu.
„Haben Sie reserviert?“, fragte sie außer Atem.
„Wir sind die Daytons und haben ein Zimmer für eine Nacht gebucht“, antwortete Poppy geschickt.
„Aber keinen Tisch“, stellte die Frau ungerührt fest.
„Nein, leider …“, räumte Poppy verlegen ein. „Ich dachte nicht, dass …“
Die Frau sah sie groß an. „Wir haben Saison, und Sie werden im ganzen Ort nichts finden.“ Sie klang müde, aber freundlich. „Wissen Sie was? Es ist ein warmer Abend, und wenn es Ihnen nichts ausmacht, setzen wir Sie vor die Tür und stellen Ihnen draußen einen Tisch auf.“ Sie wischte sich die Hände an der weißen Schürze ab. „Ich bin Jane Mycroft. Der Laden gehört mir und meinem Mann. – Jerry, haben wir noch einen Klapptisch?“
„Das kriegen wir hin. – Jeremiah Mycroft, oder einfach Jerry, wie alle hier sagen.“ Ein großer, breitschultriger Mann, der ebenfalls eine Schürze trug, die allerdings nicht mehr weiß war, kam dazu. Er drückte Barney einen Schlüssel in die Hand. „Leider kann ich mit dem Gepäck nicht helfen, zu viel los. Es ist nur eine Treppe hoch, die Nummer drei. Bis Sie wieder unten sind, ist Ihr Tisch fertig.“
Der Steinbutt und das in Butter geschwenkte Marktgemüse schmeckten köstlich; und der von Jane empfohlene Weißwein, ein Chablis, passte hervorragend dazu.
„Auf ein inspirierendes Künstlertreffen.“ Barney prostete seiner Frau etwas steif zu.
Versonnen betrachtete Poppy die untergehende Sonne durch die Wassertröpfchen an dem kalten Glas.
„Woran denkst du?“, fragte er.
Sie lächelte und zeichnete mit dem Finger ein Fragezeichen in die beschlagene Fläche.
„Um ehrlich zu sein – mir geht das Gespräch mit Julia nicht aus dem Kopf.“
„Ist das die Frau, die du vertrittst?“
„Genau, Julia Armstrong. Eine versierte Kuratorin. Wir haben gestern Abend telefoniert. Sie hat versucht, mir zu erklären, wie die Auswahl der Künstler für den Retreat erfolgte. So ganz konnte ich das nicht nachvollziehen, ehrlich gesagt. Das letzte Wort hat in jedem Fall Flexer selbst.“
„Immerhin ist es seine Galerie und seine Veranstaltung.“
„Das stimmt schon, aber in der Kunstwelt sorgt sein Vorgehen für Kritik.“
„Passiert das nicht immer, wenn der eine oder die andere nicht zum Zuge kommen? Neid spielt in der Kunstszene keine kleine Rolle.“
Poppys Grinsen fiel schräg aus. Sie nickte. „Du triffst da einen empfindlichen Punkt. Ich finde nur, gerade deshalb sollte man sich um Transparenz bemühen. Julia sieht das genauso, nur konnte sie sich bisher nicht durchsetzen. Am Ende unseres Gesprächs hat sie mir noch ein paar Details zu den Künstlern verraten und bereitete mich auf ein paar von deren Eigenheiten vor.“
„Das ist doch nett, oder?“
„Am Schluss war sie komisch. Sie entschuldigte sich dafür, dass sie nicht kann. Es gehe ihr nicht gut, und … und dann sagte sie noch, ich solle auf mich aufpassen, mich ganz auf das Event konzentrieren und so wenig wie möglich auf der Insel unterwegs sein.“
Poppy schaute nach Osten, wo in etwa einem Kilometer Entfernung der Hügel von Arwen Island goldgrün im Meer und in der Abendsonne badete.
„Was meinte sie denn damit?“
„Ich habe natürlich nachgefragt. – Es kam nichts mehr, nur eine Bemerkung, dass die Wege nicht sicher seien oder so etwas.“
„Poppy?“ Barney stellte sein Glas ab und sah sie ernst an.
„Was, mein Darling?“
„Geht das schon wieder los?“
„Was meinst du? – Ach wo, ich weiß gar nicht, warum ich dir das erzähle. Julia wirkte sehr angespannt; eine Nervenentzündung, wie sie sagte, wahrscheinlich ist sie überreizt und braucht einfach eine Pause, das wäre kein Wunder in dieser verrückten Branche mit seinen komplizierten Charakteren.“
„Gut, dass du wenigstens Torry bei dir hast.“
Der Terrier blickte interessiert von seinem Napf hoch.
„Finde ich auch.“ Poppy kraulte ihm den Nacken. „Kommt, ihr beiden! Lasst uns noch einen Spaziergang machen und dann ab nach oben.“ Sie griff nach Barneys Hand. „Die Nacht in der Fischerhütte gehört uns allein!“
Die Serviette rutschte ihr vom Schoß. Sie hob sie auf und stutzte: „Was ist das denn?“ Sie griff nach dem blinkenden Gegenstand auf dem sandigen Pflaster und betrachtete ihn.
„Zwei Hryvni.“
„Gesundheit.“
„Danke, Barney. – Nein, das steht hier drauf, auf Kyrillisch. Eine Münze, aus der Ukraine, glaube ich. Wie kommt die denn hierher?“
„Cornwall ist ein internationales Reiseziel.“
„Du hast recht.“ Sie steckte das Geldstück mit dem bärtigen Mann auf der Rückseite ein. „Vielleicht bringt es Glück.“
Sie bestiegen den Hügel hinter dem Dorf. Barney schaute zur Insel hinüber.
„Wie kommt ihr da eigentlich hin?“
„Zu Fuß“, sagte Poppy leichthin.
„Übers Wasser?“ Er sah sie amüsiert an.
„Morgen Nachmittag ist da keins. Arwen Island ist eine Gezeiteninsel. Die Unterschiede zwischen Ebbe und Flut sind hier extrem. Und einmal im Monat, bei Niedrigwasser, liegt ein begehbarer Damm frei. Am späten Samstagnachmittag ist das der Fall. Dann haben wir eine Stunde, um rüberzukommen.“ Poppy sah seinen skeptischen Blick. „Keine Sorge, wir haben einen ortskundigen Führer. Flexers Verwalter holt uns ab.“
„Ist das nicht etwas umständlich?“
„Vielleicht, aber anscheinend gibt es nur einen Bootsanleger, auf der Ostseite der Insel, und der ist wegen des Seegangs und der tückischen Strömung problematisch. Außerdem meinte Flexer, dass die gemeinsame Überquerung zum Ritual des Retreats gehört.“
Barney fragte nicht weiter nach und drückte Poppy an sich.
Trotz Hochsaison war es still im Dorf, und sie begegneten nur zwei Paaren.
Am meisten schien sich Torry über die Bewegung zu freuen, der während der langen Autofahrt nicht auf seine Kosten gekommen war. Er lief hin und her und beschnüffelte konzentriert alle Ecken und Abzweigungen.
„Wusstest du, dass Hunde dreidimensional riechen können?“, fragte Poppy.
Barney hob die buschigen Augenbrauen. „Wie soll das gehen?“
„Ich habe gelesen, dass ihr Geruchssinn hunderttausendmal besser funktioniert als unserer. Sie können aus den Eindrücken ganze Bilder formen.“
„Dann sieht Torry jetzt mehr als ich“, brummte er. „Ich versuche krampfhaft, nicht über die Pflastersteine zu stolpern.“
Der Mond war noch nicht aufgegangen, und die engen Gassen waren kaum beleuchtet. Dazu frischte der ablandige Wind von Westen her auf und trieb sie vor sich her, hinunter zur Mole.
Poppy zog ihr Pashmina-Tuch über der Schulter zusammen. „Ich will ins Bett.“
Sie betraten den Gastraum des „Ship Inn“, der inzwischen leer war. Aus Richtung Küche hörte Poppy, wie sich die Mycrofts leise unterhielten.
Das Zimmer war einfach, aber behaglich eingerichtet. Kritisch musterte Poppy das uralte Bett mit den vier hoch aufragenden Pfosten aus Eichenholz.
Barney ließ sich der Länge nach auf die Matratze fallen. Grinsend sah er zu ihr hoch. „Um deine unausgesprochene Frage zu beantworten: Es quietscht nichts!“
„Dein Pech.“ Sie kicherte.
Beide konnten es nicht erwarten, aus den Kleidern zu kommen.
Poppy blieb vor dem Bett stehen. Barney legte die Hände auf ihre Hüften.
Sie betrachtete ihn und genoss seine wachsende Erregung. Als er sie zu sich ziehen wollte, stieß sie ihn sanft zurück.
„Das ist mein Abend heute“, flüsterte sie rau und kniete sich über ihn.
Mitten in der Nacht wachte Poppy auf. Sie hatte Durst, kam aber nicht an das Glas auf dem Nachttisch heran. Behutsam, um ihn nicht aufzuwecken, löste sie sich aus Barneys Arm. Er rührte sich nicht; nur Torry hob den Kopf, schüttelte sich und rollte sich wieder auf dem Reisekissen zusammen.
Gierig trank Poppy das Glas leer, ging zur Karaffe auf der Kommode vor dem Sprossenfenster und füllte es wieder.
Sie sah hinaus aufs Meer. Wie ein schwarzes Loch hob sich die Silhouette von Arwen Island ab von der silbrig bewegten Wasserfläche und dem sternenübersäten Horizont.
Mitten in der dunklen Masse leuchteten zwei gelbe Punkte auf, fast gleichzeitig, ein Stück voneinander entfernt. Darüber stachen wie zwei Hörner die spitzen Giebel der Ruine von Arwen Abbey in den Nachthimmel. Poppy fuhr sich übers Gesicht und versuchte mehr zu erkennen, doch die beiden Lichter waren verschwunden.
Sie wartete eine Weile. Als sich nichts mehr tat, ging sie zum Bett zurück. Schlaftrunken hüllte Barney sie wieder ein in seine warme Umarmung.
Unheimlich, dachte Poppy, bevor sie einschlief. Wie ein Tier, das mich angesehen hat.
„Wir müssen los, Mrs Dayton, die Flut wartet nicht.“ Die mahnenden Worte kamen von Manas Bottrill. Der Caretaker von Arwen Abbey sah auf die Uhr.
Poppy ging die Teilnehmerliste durch. „Eine fehlt noch.“
„Tyra“, knurrte Cailan Tregenna. Poppy kannte den Bildhauer nicht nur von seinen kubistischen Skulpturen, sondern auch aus der Yellow Press, deren Klatschspalten er regelmäßig mit seinen monomanischen Eskapaden füllte. „Die war schon hier und weiß Bescheid. Sie wird schon kommen und wenn nicht …“ Er schraubte den Zeigefinger wie einen Korkenzieher in den Himmel.
Poppy wählte die Mobilnummer von Tyra Teague, aber vergeblich. Dann versuchte sie es bei Flexer, der kurz angebunden war. „Ich kann dir nicht helfen. Ich komme übermorgen nach. Wende dich an Bottrill, er wird dich nicht hängen lassen.“
Poppy war sich da nicht so sicher. Der schlanke, dunkelhaarige Mann Anfang dreißig musterte abwechselnd sie und die Gruppe. Für Poppy lag in seinem Blick nicht nur Ungeduld. War es auch Verachtung? Den Eindruck verstärkte noch Muriel, die Bottrill als seine Frau vorgestellt hatte. Sie war sehr dünn, trug enge Jeans und der Kopf versank beinahe im üppigen Kragen eines dicken schwarzen Pullovers, der nicht zum Sommerwetter passte. Ständig sah sie aufs Meer hinaus.
Poppy wehrte sich dagegen, von Anfang an in eine negative Stimmung zu geraten.
Vielleicht sind die beiden einfach in Sorge wegen des bevorstehenden Marsches, dachte sie.
Sieben Augenpaare betrachteten sie erwartungsvoll. Mach was, du bist hier die Chefin, schienen sie auszudrücken. Poppy räusperte sich.
„Der Zeitpunkt war klar kommuniziert. Wir gehen los.“
„Gute Entscheidung“, knurrte Bottrill. „Es kommt Nebel auf.“
Überrascht schauten alle in den blauen Himmel und dann zum Strand, der bei Ebbe fast bis zum Horizont reichte. Die eben noch scharfe Linie verquoll zu einer verwaschenen, weißblauen Schicht.
„So plötzlich?“, fragte Poppy erschrocken und griff nach ihrer bauchigen Reisetasche. Wortlos taten die anderen es ihr nach. Die schwarzen Taschen, die wie ein Rucksack getragen werden konnten, waren alle gleich, sie trugen das Emblem von Flexers Galerie in gelber Signalfarbe. Mehr Gepäck war nicht gestattet, alle Utensilien für die künstlerische Arbeit wurden auf der Insel bereitgestellt.
„Die warme Sommerluft lässt über dem kalten Wasser Dampf ab.“ Tregenna wartete die Wirkung seiner Besserwisserei nicht ab, sondern marschierte los.
„Halt!“, rief Bottrill, bevor Poppy etwas sagen konnte. „Ich weiß, dass Sie schon einmal auf der Insel waren, Mister, aber ich gehe vor. Bleiben Sie im Gänsemarsch und halten Sie Kontakt zueinander. Den Schluss bildet meine Frau, und Mrs Dayton geht in der Mitte.“
So weit zu meinem Führungsanspruch, dachte Poppy. Trotzdem war sie ihm dankbar für die klare Direktive. Tregenna muss ich im Auge behalten.
Sie zogen sich die Rucksäcke über und betraten den Strand.
Erst konnte Poppy nicht erkennen, wonach Bottrill seinen Kurs ausrichtete, dann verdichteten sich abgeschliffene Felsbrocken und uralte Sedimentplatten.
Der Damm, es war mehr ein zerklüfteter Steg, führte im Bogen hinüber zur Insel.
Ein im felsigen Grund einbetonierter, verwitterter Metallpfosten ragte aus dem Boden und trug eine Plakette, die den Damm und die Insel als Privatgelände deklarierte und das Betreten verbot.
Schweigend passierte die Gruppe das Warnschild.
Alle achteten darauf, wohin sie ihre Füße setzten, obwohl es nicht leicht war, sich auf den Weg zu konzentrieren, so stark waren die Sinne beansprucht.
Poppy spürte, wie ihre Nasenflügel bebten unter dem Ansturm der Gerüche nach frischem Tang, Jod und Muscheln, die in den von der Julisonne aufgeheizten Prielen brieten.
Das Licht flimmerte, gebrochen von den Spiegeln unzähliger Wasserflächen, die den Damm säumten wie ein abstraktes Mosaik.
Möwen begleiteten die Prozession, ihr Geschrei wurde lauter und aufgeregter, wenn unter den Schritten der Wanderer Muschelschalen aufbrachen oder kleine Krebse zermalmt zurückblieben. Dann gingen die Vögel in den Sturzflug und machten sich gierig über die unverhoffte Beute her.
Wie befohlen, hatte Poppy den Platz in der Mitte der Prozession eingenommen.
Direkt vor ihr lief die elfenhafte Fia Saunders, die in T‑Shirt und einer ausgeblichenen, kurz unter dem Po abgeschnittenen Jeanshose von Stein zu Stein hüpfte.
Poppy schätzte sie auf Ende zwanzig, obwohl ihr Look mit den kurzgeschnittenen Haaren und die beinahe kindliche Begeisterung, die sie ausstrahlte, sie noch jünger erscheinen ließ. Julia Armstrong hatte Poppy auf Fia vorbereitet und sie als Naturereignis beschrieben.
Das war nicht übertrieben, dachte Poppy und hielt den Atem an, als Fia aus einer schier unmöglichen Schräglage heraus die Balance wiederfand.
„Du brichst dir noch den Hals, du Kobold“, ermahnte sie Brent Payne, den sie einige Male überholte, ihn dabei neckisch in die Seite stieß und sich dann wieder zurückfallen ließ.
Poppy fand, dass der charismatische Aktionskünstler mit den braunen Afro-Locken weniger besorgt als ermunternd klang. Fia schien es zu stimulieren, und sie setzte ihren Tanz fort.
Als sie mit den Sneakers ausrutschte, zog sie sich die Schuhe kurzerhand aus, knotete sie an den Rucksack und lief barfuß weiter. Fasziniert sah Poppy zu, wie sich die langen Zehen ihrer Füße mit dem glatten Untergrund verbanden und sie viel sicherer lief als vorher. Brent dagegen strauchelte häufig, da er seine Augen nicht von Fias schlanken Beinen abwenden konnte.
Bottrill drehte sich ein paarmal um und knurrte etwas Unverständliches, setzte den Marsch aber mit unvermindertem Tempo fort.
Dafür versuchte es Tregenna wieder: „Fia, Brent, hört auf, herumzualbern.“
„Lass sie doch, Cailan, oder bist du eifersüchtig?“, fragte Kyla Webb. Sie war die Älteste der Gruppe, Anfang fünfzig. In Flexers Galerie-Hierarchie stand sie ganz oben, da ihre sinnlichen Skulpturen aus ungebranntem Ton sehr gefragt und ihre nahbare Persönlichkeit bei den Sammlern beliebt war. Sie band die langen, roten Haare zusammen und steckte sie hoch, die dunkelblauen Augen unter den dicken Brauen zwinkerten belustigt.
„Ein Narzisst mit Führerkomplex ist doch nicht eifersüchtig!“ Das kam von Torin Dupree, dem dritten Mann der Künstlergruppe. Er hatte die Statur eines Ringers. Mit seinen riesigen Händen gestaltete er komplexe Strukturen aus Metall, rätselhaft und repräsentativ zugleich. Sie wurden von bedeutenden Versicherungen und Anwaltsfirmen angekauft, um die Empfangshallen zu schmücken. Allerdings ergänzten sich physische Stärke und aufbrausender Charakter immer wieder unglücklich, hatte Julia Poppy vorgewarnt. Obwohl er in seinem Kern ein guter Mensch war, ließ er sich leicht provozieren und ging keinem Konflikt aus dem Weg, was ihm bereits eine Vorstrafe wegen Körperverletzung eingebracht hatte.
„Sieh dich vor, was du sagst“, zischte Tregenna, der davon wusste. „Oder willst du im Knast Eisenstangen biegen?“
„Männer!“, rief Juna Reid von hinten. Die Zeichnerin, ein aufsteigender Star der Londoner Graphic-Novel-Szene, schüttelte den Kopf mit den raspelkurzen, hellgrau gefärbten Haaren. „Reißt euch bloß zusammen, sonst schicken wir euch nach Hause und machen nächstes Jahr einen reinen Frauen-Retreat.“
Kyla lachte schallend. „Super Idee, das besprechen wir mit unserem verehrten Galeristen.“
„Untersteht euch! Was wären wir ohne euren Esprit und eure Schönheit und ihr ohne unseren herben Charme?“, flötete Brent.
Juna reagierte, und Poppy meinte so etwas wie „toxisch“ herauszuhören, die Worte gingen im Möwengeschrei unter. Das kann ja heiter werden. Aber sie wusste aus eigener Erfahrung, dass selbst erfolgreiche Künstler in ständiger Konkurrenz miteinander standen, und verbuchte die Auseinandersetzung als typische Frotzelei unter „besten Feinden“.
Torry, dem der Spaziergang bisher gefallen hatte und der Krebse bis in tiefe Felsspalten verfolgte, lief zu ihr, sprang an ihr hoch und winselte leise.
„Was ist mit dir? Keine Lust mehr auf Meeresfrüchte?“, fragte Poppy.
Er zitterte und gleichzeitig wurde die Gruppe langsamer. Sie blickte hoch. Die Szenerie veränderte sich. Eine grauweiße Kugel schloss sich um sie und entführte sie schlagartig aus dem strahlenden Sommertag.
Bottrill war stehen geblieben und wartete, bis alle zu ihm aufgeschlossen hatten. Fia kramte in ihrem Rucksack nach einem Fleece und zog es über.
„Jetzt sehen Sie, dass ich keinen Spaß gemacht habe.“ Die Stimme des Caretakers war schneidend und so kalt wie der Nebeleinbruch. „Wir sind fast drüben. Ich rate Ihnen, die Faxen zu lassen und dicht beieinander zu bleiben. Wenn Sie hier draußen verloren gehen, holt Sie die Strömung und nichts kann Sie retten.“ Er drehte sich um und ging weiter.
Fia kicherte und griff nach Brents Hand.
„Hintereinander!“
Erschrocken gehorchte Fia Muriels scharfer Anweisung und zog einen Schmollmund. Aber sie konnte es nicht lassen und hakte sich mit einem Finger in Brents Gürtel ein.
Schweigend setzte die Gruppe den Marsch fort.
Nach einem Dutzend Schritten vertiefte sich das Grau. Der Nebel legte sich wie ein nasses Tuch über die Gesichter, und Poppy bildete sich ein, schwerer atmen zu können. Roch es nach Rauch, oder täuschten sie ihre angespannten Sinne? Was war das für ein Schatten, der nach ihr griff? Das Gelände stieg an, und aus dem Dämmerlicht schälten sich mannshohe Gestalten – Wildrosenbüsche, erkannte Poppy erleichtert.
Als sie die Uferzone der Insel betraten, wurde es heller. Vor ihnen lag ein Wäldchen aus Birken und Eichen, über dem sich der grüne Hügel und die Zacken von Arwen Abbey erhoben wie Kopf und Krone eines Riesen. Für einen Augenblick noch klammerten sich die Nebelschwaden an der Ruine fest, dann war der Spuk vorbei und die Sonne strahlte von einem wieder makellos blauen Himmel.
Die Bottrills führten sie parallel zum Strand um den Hügel herum zur Südspitze der Insel. Hinter einem Gürtel aus Strandrosen versteckten sich Nester aus Hortensien und Rhododendren. Obwohl sie künstlich angelegt zu sein schienen, fügten sie sich wie wild gewachsen in die ursprüngliche Vegetation ein. Auf dem schmalen Pfad umrundeten sie eine Felsnase – und Poppy blieb mit offenem Mund stehen.
Aus den Mauern der Abbey wuchs ein futuristisches Gebilde, ein weißer Kubus aus Beton und Glas. Scheinbar schwerelos überragte es die Steilküste. In die Terrasse war ein Swimmingpool mit transparentem Boden eingelassen. Sie gingen darunter hindurch, und Poppy blickte nach oben. Erst gerieten sie in den Schlagschatten der Betonplatte, aber dann schien die Sonne durch das Becken und projizierte schimmerndes Blau auf den weißen Strand. Brutal und zart zugleich, dachte Poppy.
Auch die anderen blieben immer wieder staunend stehen, selbst Tregenna und Kyla Webb, die schon einmal auf der Insel gewesen waren.
Über eine in den Felsen gehauene Treppe stiegen sie zum Haus hinauf.
Sie durchquerten ein antikes Portal und kamen auf einen quadratischen Hof, der von den restaurierten Wirtschaftsgebäuden des Klosters eingerahmt war und zu einem verglasten Eingang führte. Durch die dahinterliegende Halle, die den modernen Teil des Komplexes durchquerte, waren das Meer und die geschwungene, bewaldete Küste südlich von Mousehole zu sehen. Gemälde, Skulpturen und Videoinstallationen machten den Bereich zu einem spektakulären Ausstellungsraum.
„Ein Wow-Erlebnis jagt das andere!“, rief Fia.
„Wow!“, echote Juna.
„Sag ich doch“, meinte Fia. – Dann merkte sie, dass Juna auf etwas anderes reagiert hatte.
Eine hochgewachsene Gestalt erschien hinter ihnen zwischen den steinernen Pfosten des Portals, das Gesicht unter einem schwarzen Hoodie verborgen. Torry knurrte und hielt sich dicht an Poppy.
Die Kapuze wurde zurückgeschlagen und dunkelblonde Haare fielen herab, fast bis zur Hüfte.
Die Frau kam auf sie zu, nahm die Sonnenbrille ab und musterte die Runde aus blitzend blauen Augen. Lässig stellte sie den Rucksack ab, das gleiche Galerie-Exemplar wie das der anderen.
Fia begrüßte sie: „Tyra! – Wo kommst du denn her?“
Bottrill baute sich vor ihr auf. „Es gab eine Verabredung, an die auch Sie sich …“
„Manas, keine Aufregung.“ Sie klopfte ihm auf die Schulter. „Du weißt, ich kenne den Weg.“ Poppy sah, wie Bottrill zusammenzuckte. „Mein Freund brachte mich nach Mousehole, aber sein alter Citroën hatte auf dem Weg eine Panne. Ich war nur ein paar Minuten zu spät und bin euch einfach über den Damm gefolgt.“
„Das hätte schiefgehen können, Miss Teague!“ Bottrill ließ sich nicht beruhigen, und Poppy konnte ihn verstehen. Dort, wo noch vor einer halben Stunde Damm und Meeresgrund frei lagen, hatte sich das Meer inzwischen geschlossen. Strömungslinien und Strudel wirbelten zwischen Land und Insel, angetrieben vom auffrischenden Westwind.
„Ist es aber nicht.“ Tyra ließ den aufgebrachten Caretaker stehen, marschierte auf Poppy los und umarmte sie. „Du bist für Julia bei uns? Ich freue mich. Eigentlich brauchen wir keine Aufpasserin. Niall hat mir von deiner Kunst erzählt, und darauf bin ich gespannt. Wenn ich darf, würde ich sie gern in meine Filme einbauen!“ Sie ging in die Knie und kraulte Torry hinter den Ohren. „Ein so süßer Hund gehört auch dazu? Ist das deiner?“
Poppy nickte, sie mochte die hochgewachsene Frau, die etwas älter war als sie, auf Anhieb. Sie wusste, dass die Videokünstlerin mit Bildern und Tönen experimentierte, dass sie virtuelle Realitäten erzeugte, deren Geheimnissen sie gern auf den Grund gehen würde.
„Dann sind wir komplett.“ Poppy setzte damit weiteren Diskussionen ein Ende. „Muriel wird euch eure Zimmer und Ateliers zeigen. Um sieben treffen wir uns zum Abendessen, und danach besprechen wir das Programm.“
Tyra zwinkerte Poppy zu. „Am besten, du vergisst das Programmieren und lässt uns einfach machen!“ Dann folgte sie Muriel und den anderen.
Poppy zuckte mit den Schultern und unterdrückte einen Seufzer.
Jeder Retreat-Teilnehmer verfügte über ein eigenes, großzügiges Apartment. Atelier und Wohnung waren über eine Wendeltreppe miteinander verbunden, und vor beiden Bereichen erstreckte sich eine Fensterfront. Poppy schob die Tür auf und trat auf die Terrasse.
Den Blick als grandios zu beschreiben, wäre untertrieben.
Sie kämpfte gegen eine leichte Schwindelattacke und hielt sich am Geländer fest.
Tief unten lag der Strand. Möwen jagten über die Wellen und ließen sich im Aufwind vor der Wand aus Fels, Beton und Glas nach oben treiben. Die gegenüberliegende Küste mit den salzverkrusteten Klippen schien zum Greifen nahe.
Poppy konnte sich an dem ineinander verschlungenen Muster aus Land und Wasser nicht sattsehen, die Cornwall-Magie ließ niemals nach. So sehr sie eine Kultur- und Stadtpflanze war – sobald sie hier ankam, packte sie das Bedürfnis, für immer zu bleiben.
Lautes Geschrei holte sie aus ihrer Träumerei, und Torry fing an zu bellen.
„Verdammt! So kann ich nicht arbeiten!“ Es kam aus dem Atelier neben ihr. „Ich reise ab!“ Poppy lugte über die Trennwand zwischen den Terrassen und sah Cailan Tregenna wild gestikulierend vor Bottrill stehen. Der Mann hat’s nicht leicht mit dieser Truppe, dachte sie und fragte laut: „Was ist passiert? Kann ich helfen?“
Tregenna fuhr herum. „Ach, unsere Managerin. Du hast deine Ohren überall, Poppy!“
Er beruhigte sich etwas. „Ich hatte mit Flexer verabredet, dass ich einen 3D-Drucker gestellt bekomme, ich brauche ihn für meine neue Werkgruppe.“ Er stieß ihm den Zeigefinger vor die Brust. „Du bist verantwortlich, Manas!“
„In den letzten Tagen war der Seegang zu hoch für den maroden Anleger, und das Ding konnte nicht angeliefert werden.“
„Und ich habe keine Lust, meine Porträts aus den nach Fisch stinkenden Steinen am Strand herauszuklopfen!“ Tregenna nahm wieder Fahrt auf. „Ich bestehe …“
„Ich rufe Niall an.“ Poppy bemühte sich, ihre Stimme ruhig zu halten. „Spätestens zum Abendessen kann ich dir mehr sagen.“
„Wenn nicht, bin ich morgen weg.“
Das Dinner wurde im Refektorium serviert, einem der restaurierten Bereiche des Klosters.
Es gab Salzlamm mit Kräutern von der Insel und veganes Curry.
Muriel stellte die Platte mitten auf den uralten Eichentisch, um den sich die Gruppe versammelt hatte, und hob den Deckel der silbernen Cloche. Der wild-aromatische, fast moschusartige Duft des Bratens breitete sich aus und rief eine Stille hervor, die zu dem sakralen Raum passte.
Juna stöhnte, als Manas ihr den Teller mit dem Curry brachte. Er war wunderschön angerichtet und mit Brunnenkresse-Blüten verziert, trotzdem schien er kein Trost zu sein. Sie schaute sich um. „Bin ich die einzige Vegetarierin hier?“
Fia und Tyra stießen sich an und kicherten. „Wir sind heute mal Flexitarier.“ Beide ließen sich großzügig mit Lamm bedienen.
Torry fand in seinem Napf einen interessanten Markknochen, machte aber zusätzlich eine Runde um den Tisch, wo ihm an fast allen Positionen diskret etwas heruntergereicht wurde.
Bei den Getränken waren sich alle einig. Nach einem Pastis als Aperitif wählten sie zum Essen den Pomerol Vieux Chateau.
„Aus zweitausendneun!“ Tregenna schnalzte mit der Zunge. „Das war einer der besten Bordeaux-Jahrgänge.“ Seine Stimmung war einigermaßen wiederhergestellt, nachdem Poppy ihm nach Rücksprache mit Flexer mitgeteilt hatte, dass er das Gerät mitbringe, wenn er übermorgen auf der Insel eintreffe.
Doch allein ließ der Galerist die Gruppe an diesem Abend nicht. Das Dessert, eine Pinot-Grigio-Zabaione, wurde gerade serviert, als der große Bildschirm an der Stirnseite aufflammte.
„Ich sehe, es schmeckt!“, donnerte seine Stimme durch den Saal.
Die Löffel klirrten auf den Tellern, alle blickten auf. Muriel griff nach der Fernbedienung und stellte den Ton leiser.
„Willkommen auf Arwen Island! – Aha, Tyra hat es auch geschafft. Ich wäre gern bei euch, ich muss bloß morgen noch schnell einen Basquiat verkaufen. Der wird mehr einbringen als alles, was ihr so produziert.“ Als ein Raunen durch den Raum ging, versuchte er seine Taktlosigkeit zu korrigieren und setzte noch schnell hinterher: „Aber das kann sich noch ändern.“ Er holte kurz Luft. „Ihr gehört zur Elite der britischen Kunst, sonst wärt ihr nicht auf der Insel. Die, die schon einmal dabei waren, erklären bitte den anderen, wie es läuft. Ihr habt die Arbeiten in der Halle gesehen. Am Ende des Retreats werdet ihr eure Werke präsentieren und das Beste davon wird angekauft und bleibt hier in der Ausstellung. Also strengt euch an! Und genießt die Zeit auf Arwen Island.“ Er griff nach etwas, das außerhalb des Sichtwinkels lag und hob ein Glas in die Kamera. „Lasst uns anstoßen auf den besten Retreat von allen! – Es wird euch an nichts fehlen. Und wenn doch, dann wendet euch bitte in künstlerischen Angelegenheiten an Poppy und in technischen an Manas – ganz zu schweigen von den kulinarischen: Die sind bei Muriel in den besten Händen, wovon, so hoffe ich, ihr euch heute Abend bereits überzeugen konntet.“ Beifall brandete auf. „Wir sehen uns!“ Flexer verschwand vom Bildschirm und das Emblem der Galerie flammte auf.
Fast gleichzeitig erhielt Poppy eine Nachricht auf dem Smartphone: „Bitte ruf mich an, Gruß, Niall.“
Einen Augenblick herrschte Ruhe am Tisch, dann übernahm Cailan Tregenna. „Ich glaube nicht, dass bei dem kurzen Vorlauf Poppys Briefing ausgereicht hat. Deshalb fragt mich ruhig, wenn ihr etwas wissen wollt.“ Als niemand auf sein Angebot einging, stand er abrupt auf, wünschte eine gute Nacht und verschwand.
Kyla Webb sah ihm kopfschüttelnd hinterher. „Ich kenne den Kerl schon ewig, trotzdem ich staune immer wieder, was für ein Idiot er sein kann.“
„Wir hätten ihn gleich entsorgen sollen, vorhin im Nebel.“ Dupree legte seine Hand auf Poppys und sie staunte über die sanfte Berührung durch die riesige Pranke. „Ich entschuldige mich für den Kollegen.“
„Brauchst du nicht, Torin, ich werde schon mit ihm fertig. Ich hoffe, wenn er seinen Drucker bekommt, hat er was zum Spielen und lässt mich in Ruhe.“
„Unterschätze ihn nicht“, sagte Tyra. „Er wird sich an dir abarbeiten.“
„Wieso das denn?“
„Hat Flexer dir das nicht gesagt?“, fragte sie. Poppy mochte den lauernden Unterton nicht. „Hat er dir überhaupt erzählt, warum Julia Armstrong ausgefallen ist? – Frag ihn besser selbst. Was Cailan angeht – er bildet sich ein, eine besondere Beziehung zu Niall zu haben.“
„Und, hat er die?“
„Ja und nein. Eines der Geheimnisse unseres Meisters ist, dass er zu all seinen Künstlern eine besondere Beziehung hat, nur zu manchen eben eine ganz spezielle … oder?“ Tyra sah Fia Saunders an, die sich von Bottrill Rotwein nachschenken ließ und mit den Augen rollte. Ein rosa Hauch auf ihren Wangen verriet Poppy, dass Tyra nicht verkehrt lag.
„Ihr wisst doch, dass er seine Finger nicht bei sich behalten kann, aber wir wissen uns zu wehren, don’t we, girls?“ Fia hob ihr Glas, und die anderen Frauen prosteten ihr zu.
Poppy verzichtete auf ein weiteres Glas. „Auch wenn ich nicht alle Geheimnisse von Arwen Island kenne, kann ich bestätigen, was Niall sagte: Euch steht alles zur Verfügung, was ihr braucht. – Die Sachen, die ihr bestellt habt, sind bereits in euren Ateliers, das habt ihr bestimmt schon gesehen.“ Sie sah auf ihre Liste. „Es gibt ein paar Einrichtungen und Werkstätten, die ihr gemeinsam nutzen könnte und für die ihr euch bitte in die digitalen Stundenpläne eintragt. Dazu hat jeder ein iPad, das ihr auf den Nachttischen findet. Dort könnt ihr auch Fragen und Nachrichten an mich eingeben, wenn ihr mich mal nicht findet. Ich habe vor, selbst so viel wie möglich an meiner Installation zu arbeiten. Ihr wisst vielleicht, dass ich dafür Fundstücke und Objekte aus der Natur verwende, und deshalb werde ich viel unterwegs sein.“ Sie blickte in die Runde und fand Zustimmung.
Tyra setzte ein schiefes Lächeln auf. „Da gibt’s eine Menge zu finden, du musst nur aufpassen, wo du deine Füße hinsetzt.“
„Was meinst du?“
„Lass dich überraschen“, antwortete sie beiläufig. Kyla Webb warf ihr einen warnenden Blick zu, der Poppy nicht entging. Aber Tyra gähnte nur und stand auf. „Entschuldigt mich. Ich bin müde von dem Inselmarsch, gute Nacht und bis morgen.“
Poppy sah ihr hinterher. „So anstrengend war die Überquerung doch nicht, oder?“
Fia schüttelte den Kopf. „Überhaupt nicht, ich fand’s spannend, oder, Brent?“
Payne, der den ganzen Abend wenig gesagt hatte, freute sich über die Ansprache.
„Ganz allein, im Nebel? Vielleicht hat sie sich gefürchtet.“
„Tyra doch nicht.“ Fia sprang auf. Sie war immer noch barfuß. „Ich mach noch einen Spaziergang runter zum Strand. Kommst du mit, Brent?“ Der ließ sich das nicht zweimal sagen, und die beiden verschwanden. Auch der Rest der Gruppe verabschiedete sich.
Poppy dachte an Flexers Bitte, ihn zurückzurufen. Sie suchte das Klemmbrett mit dem Programm und ihren Anmerkungen. Im Refektorium fand sie es nicht. Ich hatte mit Muriel den Menüplan durchgesprochen. Sie ging in Richtung Küche.
Der steinerne Gewölbegang machte eine Biegung. Sie hörte, wie jemand ihren Namen sagte und blieb stehen.
„… warum er die statt Julia Armstrong hergeschickt hat?“ Das war Bottrills Stimme.
„Wegen der bösen Geister von Arwen Island.“ Poppy erkannte Tregennas arroganten Tonfall. Sie hielt den Atem an.
„Welche Geister?“
„Manas, laufend beschweren sich hysterische Kolleginnen über unheimliche Stimmen, schattenhaften Erscheinungen und Löcher auf den Wegen, die am Vortag noch nicht da waren.“
„Ich weiß, aber das ist doch Quatsch.“
„Klar ist es das, doch du weißt auch, wie panisch Flexer reagiert, wenn es um seinen guten Ruf geht.“
„Und das soll diese Dayton richten?“
„Angeblich hat sie einen siebten Sinn für Übernatürliches.“
„Flexer soll sich lieber um die realen Probleme kümmern.“ Poppy spürte, dass Bottrills Erregung wuchs. „Ich habe ihm immer gesagt, dass Arwen Island gefährlich ist. Im Winter nagen die Stürme an der Steilküste, und im Sommer reißt die Trockenheit den Boden auf.“
„Die geologischen Gutachter sahen kein Risiko.“
„Meine Familie lebt seit Generationen in Cornwall. Wir haben gesehen, wie ganze Häuser in die Brandung rutschten, weil sie zu nahe an den Klippen standen.“
„Das Kloster steht hier seit fünfhundert Jahren, Manas. Reg dich ab. Jetzt lassen wir erst mal den Geist aus dieser schönen Flasche Portwein. Dazu brauchen wir keine Exorzistin, oder?“ Poppy hörte das schnalzende Geräusch, mit dem der Korken herausgezogen wurde.
Mühsam unterdrückte sie ihre Wut. Jetzt hatte sie noch einen Grund, mit Flexer zu sprechen. Wie konnte er es wagen, so über sie zu verfügen? Aber bevor sie sich ihn vorknöpfte, wollte sie den beiden Herren in ihren Digestif fahren. Sie bog um die Ecke und stand in zwei Schritten in der Küche.
Tregennas Kopf fuhr herum. Bottrill, der den Port in zwei Kristallgläser füllte, zuckte zusammen und schüttete die rubinrote Flüssigkeit über Tregennas strahlend weiße Leinenhose.
„Störe ich?“, fragte Poppy unschuldig. Sie ging gerade auf den Tisch zu und griff nach dem Klemmbrett. „Das habe ich hier vergessen.“ Sie drehte sich auf dem Absatz um. Über die Schulter sagte sie: „Warum starrt ihr mich so an? Habt ihr einen Geist gesehen? Die soll’s hier reichlich geben.“
Auf dem Weg ins Apartment versuchte Poppy, ihre Wut wegzuatmen.
Auch wenn sie sich auf den Retreat gefreut hatte, gab es gewaltigen Klärungsbedarf.
Selbst der spektakuläre Sonnenuntergang, der vor ihrer Fensterfront in seine Endphase trat, lenkte sie nur kurz ab. Sie holte tief Luft, brachte ihre zitternden Finger unter Kontrolle und wählte Flexers Nummer.
„Poppy? Gut, dass du anrufst.“
Warum wirkt der Mann ständig gehetzt, fragte sie sich.
Sie bekam die Antwort sofort: „Ich muss gestehen, ich stehe ein wenig unter Druck. Das mit dem Verkauf des Basquiat war nur ein Vorwand. Ich bekomme morgen Besuch von Carol Charteris.“
„Der Journalistin vom Guardian? Das ist doch super, obwohl, – die ist nicht vom Feuilleton.“
„Du bist scharfsinnig, Poppy, das liebe ich an dir. – Nein, sie hat es nicht auf unsere Kunst, sondern auf mich abgesehen. Sie will an meinem Beispiel die Praktiken in der Kunstszene und den Umgang mit Künstlerinnen demonstrieren. – Da ist mir eine Idee gekommen: Um Transparenz zu zeigen, werde ich sie spontan einladen, den Retreat zu begleiten, um sich selbst ein Bild zu machen. Was hältst du davon?“
„Es ist bestimmt nicht schlecht, in die Offensive zu gehen.“
„Schön, dass du das auch so siehst, ich zähle auf deine Unterstützung.“
Poppy beherrschte sich. Sie beschloss, die Sache strukturiert anzugehen.
„Kein Problem – obwohl, weil wir gerade davon sprechen …“
„Na?“
„Hier herrscht eine gewisse Nervosität und Gereiztheit. Bottrill hat übertrieben aufgeregt darauf reagiert, dass Tyra Teague zu spät kam und urplötzlich allein auftauchte. Tregenna und Dupree sind sich auf den schlüpfrigen Steinen fast in die Haare geraten. Überhaupt liebt es Cailan, seinen Narzissmus ungehemmt auszuleben und meine Führung zu untergraben. Schließlich machte Tyra geheimnisvolle Andeutungen über die Insel, und kurz vor der Abfahrt rief mich Julia Armstrong an, die …“
„Was hat sie gesagt?“, unterbrach Niall sofort.
„Siehst du, du bist genauso nervös.“
Flexer seufzte, und in dem Ton fühlte Poppy die Schwere eines Mannes, der schon lange den Moment für eine Aussprache gesucht hatte.
„Du hast recht. – Nur was Tregenna angeht, mach dir bitte keine Gedanken. Er hält sich für den Größten. Als Julia absagte, wollte er die Leitung übernehmen und meinte, wir bräuchten dich nicht. Aber er tut nur so stark, und mit seiner Art, zu polarisieren, würde er die Veranstaltung nach kürzester Zeit ins Chaos stürzen.“ Er atmete hörbar ein und aus. „Es ist etwas anderes. Bitte setz dich.“
„Woher weißt du, dass ich stehe? Sind hier auch Kameras, wie im Speisesaal?“ Sie sah sich um.
„Quatsch, eure Intimität ist selbstverständlich gewahrt.“ Die Antwort war spontan, trotzdem bekam Poppy eine Gänsehaut.
„Arwen Island hat ein Geheimnis, Poppy, und ich brauche dich, um es aufzuklären.“
„Ein Geheimnis?“, fragte sie und versuchte, unschuldig zu klingen. „Das erinnert mich an ein Buch von Enid Blyton.“
„Kann sein, nur haben wir es hier nicht mit Kinderkram zu tun.“
„Niall, dann rück raus damit, ich sitze ganz gemütlich auf meinem Bett und schaue in den Sonnenuntergang. Dein Haus ist einfach atemberaubend. Ich kann mir keinen schöneren Arbeitsplatz vorstellen.“
„Danke – hoffentlich bleibt das so, Poppy. – Ja, das Haus ist perfekt für kreatives Arbeiten, nur die Insel …“
„Was ist mit ihr?“
„Sie wehrt sich.“
Poppy sagte nichts und wartete.
„Bist du noch dran?“
„Natürlich. Warum wehrt sich denn die arme Insel?“
„Spotte nicht und hör mir zu: Ich veranstalte den Retreat seit acht Jahren, und anfangs war alles in Ordnung. Aber seit drei Jahren ist der Wurm drin. Es passieren kleine Unfälle, manche berichten von unheimlichen Begegnungen, gruselige Objekte, die nichts mit den Kunstinstallationen zu haben, tauchen in der Landschaft auf, eine Künstlerin bekam eine Panikattacke nach einer Geistererscheinung vor ihrem Fenster. Das war im letzten Jahr.“
„Ein Geist?“
Wieder der tiefe Seufzer. „Ich will offen mit dir reden, Poppy. Ich weiß von deiner speziellen Begabung. Wir haben einen gemeinsamen Freund, einen pensionierten Arzt aus Falmouth, Dr. Trelawney. Er war ein paarmal bei mir in der Galerie. Wir kamen über Arwen Island ins Gespräch, und am Ende hat er mir geraten, dich um Rat zu fragen.“
Poppy hatte sich lange beherrscht, doch jetzt explodierte sie.
„Niall, was bildest du dir ein? Du spielst den großen Zampano und lässt die Puppen tanzen mit der naiven Poppy vorneweg? Bevor ich hier richtig angefangen habe, werde ich schon zum Gespött des Hausdieners und des Künstlerfürsten Tregenna. Sie kippen sich deinen teuersten Port hinter die Binde und zerreißen sich das Maul über Mrs Dayton, die Exorzistin!“
„Shit! Woher wissen die …? Cailan – er muss etwas von dem Gespräch mit Trelawney mitgekommen haben. Er war am selben Tag in der Galerie. Ich … ich wollte nicht … ich …“ Dann holte er tief Luft und fing sich wieder. „Poppy, reg dich bitte nicht auf! Ich entschuldige mich in aller Form bei dir. – Ich wollte schon beim Mittagessen in London über die Hintergründe sprechen.“
„Hast du mir deshalb die verschwurbelte Gespenstergeschichte aufgetischt? Ich hätte es ahnen müssen.“
„Ich hatte Angst, dass du absagst.“
„Mit Recht. Ich habe keinen Bedarf an neuen Abenteuern – ich möchte als Künstlerin ernst genommen werden.“
„Ich versichere dir, das tue ich, und die anderen auch.“
„Tregenna bestimmt nicht.“
„Vergiss ihn. – Ich will nur, dass du alle Sinne offenhältst. Julia Armstrong ist nicht krank, sie hat auch nicht abgesagt, sondern ich habe sie gebeten, einmal auszusetzen, damit …“
„… ich als Geisteraustreiberin aktiv werden kann.“
„Das klingt jetzt aber bitter. Verzeih mir, es war nicht fair, dich auf diese Weise zu schanghaien. Noch mal, mir ist an deinen Talenten als Künstlerin sehr gelegen, und wenn du nebenbei Licht ins Dunkel von Arwen Island bringen kannst, dann bringe ich dich ganz groß raus, das schwöre ich!“
„Du bist ein Schuft, Niall! Außerdem kann ich dir nicht garantieren, dass mein Shining funktioniert. Ich kann es nicht bewusst steuern.“
„Das hat mir Trelawney auch gesagt.“