Schussfahrt - Konrad K.L. Rippmann - E-Book

Schussfahrt E-Book

Konrad K. L. Rippmann

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Beschreibung

Die Carbos setzen ihre Reise in die Vergangenheit fort. Luis misstraut seiner Tochter Alva. Was hat es mit Ben auf sich, den sie hinter seinem Rücken kontaktiert? In Marseille und Villefranche-sur-Mer werden sie mit Ereignissen konfrontiert, die ihre Sicht auf die Familiengeschichte von Grund auf verändert. Welches Geheimnis birgt die Taschenuhr, die Luis von seinem Vater geerbt hat? Im mondänen Skiort Courchevel blicken sie in den Abgrund der Nazizeit, die alles andere als vorbei zu sein scheint. Es ist der Beginn einer Reihe dramatischer Entwicklungen, die sie über die Schweiz und Süddeutschland bis weit in den Norden führen; in Hamburg und an den nebligen Ufern der Weser kommt es zum Showdown.

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Ähnliche


Table of Contents

Title Page

Impressum

Widmung

1 Côte d´Azur, Februar 2018

2

3

4

5

6 Französisch-Algerien, Hochland von Sétif, Februar 1918

7

8 Kappelrodeck, April 1945

9

10

11

12

Grafik

13

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17 Courchevel, März 2018

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28 Hamburg, April 2018

29

30

31 An der Wesermündung

32

33

34

Epilog Haiti, am Strand von Petit-Goave, drei Monate später

Glossar

Der Autor

Konrad K.L. Rippmann

Schussfahrt

Die Cric Crac Saga 2

Familiensaga

IMPRESSUM

Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen wären rein zufällig.

Erste Auflage im Juni 2025

Copyright © 2025 dieser Ausgabe by

Ashera Verlag, Hochwaldstr. 38, 51580 Reichshof

[email protected]

www.ashera-verlag.net

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck oder andere Verwertungen – auch auszugsweise – nur mit Genehmigung des Verlags.

Covergrafik: iStock

Innengrafiken: Pixabay

Szenentrenner: Pixabay

Coverlayout: Atelier Bonzai

Autorenfoto: Wiebke Suhrbier © 2023

Redaktion: Alisha Bionda

Lektorat & Satz: TTT

Vermittelt über die Agentur Ashera

(www.agentur-ashera.net)

Für Wiebke und Jana, Denise und Alisha

Die Vergangenheit ist nicht tot,

sie ist noch nicht einmal vergangen.

William Faulkner

In der Karibik, in Haiti, dem westlichen Teil von Hispaniola, wird bis heute eine alte Tradition gepflegt: Cric Crac.

Familie und Freunde sitzen abends beisammen. Einer aus der Runde beginnt: „Cric“. Jemand anderes antwortet: „Crac“ – und das Erzählen beginnt. Geschichten aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, die miteinander verwoben sind und aus denen wieder neue Geschichten entstehen. So wie diese.

1

Côte d´Azur, Februar 2018

Luis Carbo versuchte, die Reiselaune wiederzufinden, während sich der Zug durch wilde Felsformationen bohrte und die unsichtbare Grenze zwischen den roten Hügeln des Esterel und der mondänen Côte d`Azur überquerte. Die Dunkelheit des langen Tunnels vor Théoule-sur-Mer half ihm dabei, sich zu konzentrieren.

Der Ethnologie-Professor, der sich eine Auszeit von den Feldstudien auf Haiti genommen hatte, reiste durch eine der schönsten Landschaften der Welt, begleitet von seiner Tochter Alva. Gründe genug, den Trip zu genießen.

Die erfolgreiche Künstlerin ließ ihre Projekte ebenfalls pausieren – und entwickelte eine eigene Dynamik.

Es fing damit an, dass sie ihn, den ewigen Zauderer, schlicht erpresst hatte, sie zu begleiten. New York, Marseille und jetzt Villefranche. – Die Reise zu den Schau­plätzen der Familiengeschichte war das eine. Das wahre Motiv lag dahinter. Sie waren auf der Jagd. Das traumatisch intensive Studium der Tagebücher, die nach dem Tod von Luis’ Vater aufgetaucht waren, hatte sie auf eine gefährliche Piste gelockt. Die Aussicht auf die Schätze Samuels, des verschollenen jüdischen Emigranten, ließ Luis und Alva nicht mehr los, auch wenn sich die Anzeichen mehrten, dass nicht nur sie dahinter her waren.

Wie ging es Alva damit?

Luis versuchte, zwischen den blonden Locken etwas zu finden, was ihre Stimmung verraten hätte, aber sie gab ihm keine Chance dazu. Sie vertiefte sich entweder in ihr Buch, oder sah aus dem Zugfenster.

Aber war nicht alles gesagt? Alva hatte seine Fragen beantwortet und sah es offenbar nicht als ihr Problem an, dass er mit den Antworten nicht zufrieden war. Wenn er nur den Mut hätte, sie auf das Treffen in Marseille anzusprechen. Er wusste lediglich, dass der junge Mann Ben hieß und Motorrad fuhr, mehr nicht. Da saß Luis in der Zwickmühle. Er hatte sie heimlich dabei beobachtet und traute sich deshalb nicht, Alva darauf anzusprechen. Von sich aus würde sie nicht damit rausrücken.

Er musste sich neue Fragen einfallen lassen, um herauszufinden, ob sie beide noch auf derselben Seite standen.

Kurz nach halb eins kamen sie in Nizza an. Auf dem Bahnhofsvorplatz an der Avenue Thiers sahen sie sich um. Ihren Fahrdienst zu identifizieren, war tatsächlich kein Problem. Aber das lag nicht in erster Linie am Chauffeur und seiner Mütze. Es war das Automobil.

Der Fahrer stieg aus dem cremefarbenen Cabriolet und kam auf sie zu. „Une Rolls Royce?“, fragte ihn Alva mit großen Augen, als er näherkam.

„Non, Mademoiselle, c‘est une Bentley!“, erklärte der Mann mit zurückhaltendem Lächeln. Er blieb vor ihnen stehen und verbeugte sich knapp. „Je suis Sébastien – Monsieur Carbo und Mademoiselle Alva, je suppose?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, griff er mit behandschuhten Händen nach dem Gepäck. „Suivez-moi, s’il vous plait!“ Er öffnete den Kofferraum, der einem Kleinwagen als Garage hätte dienen können, und ließ schwungvoll die Reisetaschen darin verschwinden. Dann war er wieder an ihrer Seite, öffnete die Tür und wies ihnen den Weg zum Fond. Alva stieg als Erste ein und rutschte auf die rechte Seite, Luis folgte ihr. Tief sanken sie in die weichen Polster der Sitzbank. Anschnallgurte gab es nicht, aber wer würde die in solch einem Wagen suchen? Das Verdeck war zurückgeklappt.

Der Chauffeur nahm auf dem Fahrersitz Platz und star­tete den Motor. Erst war nichts zu hören, aber als der Chauffeur Gas gab, begleitete ein tiefes, vibrierendes Grollen das Ablegen aus der Parkbucht. Mit einem lässig hingewunkenen Gruß verabschiedete sich der Chauffeur vom Parkwächter, der diskret im Hintergrund geblieben war. Luis warf einen Blick zurück und sah nur die offenen Münder der Passanten.

Die Fahrt durch die Stadt verlief ähnlich spektakulär. Obwohl ihnen zahlreiche luxuriöse Autos begegneten, wie Ferraris, Lamborghinis und Porsches, erreichte nichts den Auftritt ihres Gefährts. Immer wieder drehten sich am Straßenrand Menschen nach ihnen um.

„Quelle bagnole!“, rief ein Mann mit gegelten Haaren und lilafarbenem Schal, der einen kläffenden weißen Hund an der Leine führte und Alva zuwinkte. Luis fiel auf, dass es ihr nicht unangenehm zu sein schien. Strahlend winkte sie zurück. Offenbar bemerkte auch der Chauffeur ihre Begeisterung. „Es freut mich, dass Ihnen die Fahrt gefällt. Das ist ein Bentley Mulliner Convertible von 1962. Davon sind nur zehn Stück gebaut worden“, ergänzte er nicht ohne Stolz.

„Und einer davon für Carla?“, fragte Alva nach. „Mais non, Mademoiselle! Madame hat den Wagen Mitte der siebziger Jahre von den Grimaldis erworben und fährt ihn seit über vierzig Jahren!“

Bewundernd strich Alva über das gerippte grüne Lederpolster um sie herum. Vor ihr, in die aus poliertem Wur­zelholz gefertigte Abgrenzung zum Fahrerraum, waren Klapptische eingebaut. Behutsam zog sie das kleine Holztablett nach oben.

Der Chauffeur betrachtete sie im Rückspiegel. „Mademoiselle finden erfrischende Getränke zu Ihren Füßen.“

Alva öffnete die Luke in der Konsole. Dahinter standen, neben einem silbernen Flachmann mit unbekanntem Inhalt, gut gekühlt drei kleine Flaschen Mineralwasser, To­nic und Bitter Lemon. Luis sah sie an. „Möchtest du etwas?“

Alva schüttelte nur entgeistert den Kopf. „Danke, das ist mir zu viel. Die Fahrt ist schon aufregend genug!“

Am Ende des Boulevard Gambetta trafen sie auf die Promenade des Anglais. Vor ihnen lag das Meer. Anders als in Marseille war es hier spiegelglatt, keine Spur von Mistral. Auf der linken Seite erhob sich die weiße Zuckerbäcker-Fassade des Hotels Negresco. Alva reckte den Hals. „Papa, siehst du die rosa Kuppel? Wie im Film. Über den Dächern von Nizza – Grace Kelly und Cary Grant spielten die Hauptrollen, hier im Hotel.“

Luis nickte. „Hitchcock drehte Ende der fünfziger Jahre in der Stadt. Es war die gleiche Zeit, als sich Beatrix und Paul an der Küste ihr Leben aufbauten. Später, als aus Grace Kelly längst Gracia Patricia von Monaco geworden war, haben die beiden die Fürstin sogar kennengelernt. Carla hat sie einander vorgestellt, auf einem der großen Rote-Kreuz-Bälle in Monte-Carlo.“

Sie fuhren weiter, begleitet vom rhythmischen, an- und abschwellenden Rauschen der Allee aus Königspalmen. Sie passierten eine Reihe weiterer Hotelpaläste. Le Royal, Westminster, Beau Rivage – alles klangvolle Namen, aber viele davon hatten schon bessere Tage gesehen. Am Ende des Boulevards umrundeten sie den grünen, dicht bewachsenen Hügel des Chateaus de Nice und fuhren dicht am Hafenbecken entlang. Die Menschen drängten sich auf den Quais, und Fischer verkauften ihre Ware direkt vom Boot. Ein intensiver, salzig-jodiger Geruch wehte über die Straße. Es wurde geschrien und gefeilscht.

Schließlich ließen sie die wuselige Geschäftigkeit hinter sich. Die Straße führte in mehreren weiten Schwüngen aus der Stadt hinaus, hoch auf ein Felsenufer. Die enge Bebauung des Hafenviertels machte herrschaftlichen Besitzungen Platz, umgeben von Parks. Schmiedeeiserne Tore unterbrachen die hohen Mauern und erlaubten flüchtige Blicke auf pastellfarbene Residenzen und klassisch weiße Palais. Sie waren auf der Basse Corniche angekommen.

„Diese Straße ist in den 1860er-Jahren nur gebaut worden, um noch mehr Glücksspieler in die Casinos von Mon­te Carlo zu locken“, rief Luis gegen den Fahrtwind an. „Ich erinnere mich, in der Saison hier nur endlose Staus erlebt zu haben. – Aber jetzt ist so gut wie nichts los“, staunte er.

Alva kämpfte mit den langen Haaren. „Wenn ich geahnt hätte, dass wir im Februar mit dem Cabrio fahren, hätte ich ein Kopftuch mitgenommen!“, rief sie.

„Sind wir zu schnell, Mademoiselle?“, fragte der Fahrer fürsorglich und drosselte die Geschwindigkeit.

„Oh nein Sébastien, bitte weiter so, es ist einfach herrlich!“

Ein Motorradfahrer setzte die Lichthupe und überholte sie.

Luis riss den Kopf herum. Der Luftstrom im Sog des Motorrads fuhr durch sein Haar. Er merkte, dass auch Al­va kurz zusammenzuckte.

Der schwarze Helm …

War es etwa …?

Blitzartig fiel Luis die Begegnung auf der Madrague in Marseille ein. Noch bevor die Maschine um die nächste Kurve bog, erkannte er seinen Irrtum. Nein, dies war eine große Rennmaschine, und er konnte gerade noch sehen, dass unter dem Helm lange schwarze Locken hervorquollen.

An der höchsten Stelle der Corniche machte die Straße eine scharfe Biegung nach links. Die Bucht von Villefranche lag vor ihnen, tief eingeschnitten zwischen Mont Bo­ron und Cap Ferrat.

„Sébastien!“ Alva tippte dem Chauffeur an die Schulter. „Bitte, Monsieur, können wir kurz anhalten?“

Ein paar Meter weiter fuhr er rechts ran, brachte den Bentley zum Stehen, und das Grollen des Antriebs erstarb. Alva stemmte sich aus dem Polster hoch. „So etwas Schönes hab‘ ich noch nie gesehen!“

Auch Luis konnte den Blick nicht von dem Naturschauspiel abwenden. Wie oft war er hier vorbeigekommen? Trotzdem reichte es immer wieder für eine Gänsehaut. Das Meer. Türkis am Rand und tintenblau in der Mitte. Darüber nach Norden hin Villefranche-sur-Mer; früher ein Fischerort, heute eine der begehrtesten Locations an der Côte d`Azur. Die Häuserreihen, strahlend weiß mit roten Ziegeldächern, zogen sich steil den Hang hinauf, bis zum Pinienwald am Fuß der Zitadelle vom Mont Boron. Nach Westen hin lagen die Villen und Hotelpaläste von Beaulieu-sur-Mer, auf einer flacheren, palmenbewachsenen Landzunge. Und endlich das langgestreckte Cap Ferrat mit seiner Steilküste. Rote Dächer und Marmoräulen zwischen macchia-grünen Hügeln, bis zum äußersten südlichen Ende, wo weiße Gischt den Fuß des sechskantigen Leuchtturms säumte.

Alva beugte sich vor und versuchte, die Autotür zu öffnen. Aber sie war verschlossen. Fragend sah sie den Chauffeur an.

„Mademoiselle, darf ich Sie zur Eile drängen? Madame ist heute etwas unpässlich, und sie bestand darauf, Sie noch zu sehen, vor ihrer Siesta.“

Luis horchte auf. „Unpässlich?“ Er ärgerte sich über die, wie er fand, affektierte Art des Chauffeurs. „Was soll das heißen?“

„Keine Sorge, Monsieur, es ist nur die Migraine. Sie kommt plötzlich, vergeht aber meist auch rasch wieder.“

Alva ließ sich zurück ins Polster fallen. „Na gut, aber ich möchte unbedingt noch mal hierhin!“ „Das sollten Sie wirklich tun, Mademoiselle“, meinte Sébastien. „Ich empfehle Ihnen den Sentier du Douanier, das ist ein Weg direkt zwischen Felsen und Meer. Er führt um das Cap herum, an der Bucht entlang bis hierher und endet erst im Hafen von Nizza. Früher benutzten ihn gleichermaßen Zöllner und Schmuggler!“

Das Auto fuhr weiter, bis sie am Ortseingang von Villefranche erneut aufgehalten wurden. Wieder ein Markt, aber diesmal roch es nicht nach Fisch oder Gemüse. Stylish herausgeputzte Händler boten Antiquitäten, Bücher und Kunsthandwerk an. Alva zeigte auf einen Stand, der Bilder mit Landschaften im Stil von Cézanne zeigte.

An der Kreuzung nach St. Jean nahmen sie die Abzweigung zum Cap Ferrat. Wieder erlebten sie eine Steigerung des bisher Gesehenen. Die Villen waren noch erhabener, die Parks ausgedehnter, Paläste, die Königshäusern glichen. „Die goldene Ära der Riviera begann hier im 19. Jahrhundert, mit dem europäischen Adel und vor allem dem Geldadel.“

Luis deutete in Richtung der Villa Ephrussi-Rothschild, und kurz darauf passierten sie die ehemalige Residenz des belgischen Königs. „Erst viel später kamen die Industriekapitäne und Hollywoodstars. David Niven wohnte auf der anderen Seite des Caps.“

Sébastien bremste ab. Sie waren am Ende der Avenue Jean Cocteau angekommen, der Leuchtturm schien in greifbarer Nähe zu liegen. In einer hohen, efeubewachsenen Mauer öffnete sich lautlos ein Tor, das ein stilisiertes „A“ in der Mitte des reich verzierten Gitters trug. Der blendend weiße Kiesweg führte in einer sanften S-Kurve zum Haus, das ein Stück tiefer als die Straße lag. Über das helle Schieferdach hinweg konnten sie das Meer sehen. Das Portal wurde von hohen Oleanderbüschen eingerahmt.

Eine Frau, jünger als Alva, kam die Marmortreppe hinunter und öffnete die Autotür. Dafür erntete sie einen tadelnden Blick von Sébastien, der gerade erst die Zündung unterbrach. „Ich bin Eunice, die persönliche Assistentin von Madame Rossinet-d`Aubigny“, stellte sie sich förmlich vor und forderte sie auf, ihr ins Haus zu folgen.

Drinnen erwartete sie eine Flucht von reich dekorierten Fluren und Salons. Über allem hing ein leicht modriger Geruch, die Luft war kühl und klamm. Sie kamen vor einer hohen, zweiflügligen Tür an. Eunice klopfte und ging sofort hinein. „Madame, votre visite.“ Den beiden gab sie einen Wink, ihr zu folgen. Zu Luis sagte sie leise: „Bitte nur kurz.“ Darauf trat sie zur Seite, verließ das Zimmer und schloss die Tür.

Sie konnten erst kaum etwas erkennen. Die Fensterläden dunkelten den Raum fast vollständig ab.

2

Als sich ihre Augen daran gewöhnt hatten, entfaltete sich vor ihnen eine bizarre Szenerie. Ein riesiges Bett dominierte den Raum. Über dem vergoldeten Gestell im Louis XVI-Stil spannte sich ein Chiffon-Himmel bis zur Decke. Das Bett war umgeben mit Stapeln von Büchern und aufgeschlagenen Zeitschriften. Auf den Nachttischen rechts und links standen antike Wasserkaraffen, Teegeschirr und eine Batterie von Fläschchen und Arzneischachteln. Auf dem Bett, erhöht durch mehrere Reihen von Kissen und Nackenrollen in allen Formen und Farben, lag eine Frau. Sie hielt die Augen geschlossen. Als sie näherkamen, hob sie die Hand, führte sie zum Mund und warf den beiden eine Kusshand zu. „Luis, Alva, da seid ihr ja endlich!“ Die Augen öffnete sie immer noch nicht. „Verzeiht mir, dass ich euch so empfange, aber die Migräne …“ Sie machte ein leicht würgendes Geräusch und verstummte.

Was für ein Unterschied zu der kraftvollen Stimme gestern Abend am Telefon, dachte Luis. „Carla, wir freuen uns, bei dir zu sein. Dein Fahrer hat uns schon darauf vorbereitet, dass es dir heute nicht so gut geht.“ Ein kraftloses Lächeln glitt über das hagere, bemerkenswert glatte Gesicht. „Ah, Sébastien! Er ist ein Schatz. Was wäre ich ohne ihn?“ Die Stimme schien etwas von ihrer Energie zurückzugewinnen, wurde aber gleich wieder schwächer.

„Ich habe ihn gebeten, das Dach aufzuklappen, wenn er euch mit dem Wagen abholt. Heute ist der erste wirklich schöne Tag. Es hat im Winter schrecklich viel geregnet. Und ausgerechnet, wenn ihr kommt, plagt mich so eine Attacke!“

„Carla, es war eine wundervolle Fahrt hierher“, sagte Luis. „Aber bitte, ruhe dich erst mal aus.“ Carla nickte, verzog den Mund und winkte die beiden zu sich. Erst jetzt öffnete sie ihre Augen ein wenig. „Bitte, gebt mir schnell einen Kuss. Wir sehen uns hoffentlich zum Diner.“

Alva sah zu ihrem Vater hinüber. Er merkte, dass sie sich unbehaglich fühlte. Sein Nicken deutete ihr an, Carla den Gefallen zu tun. Es war bühnenreif, fand Luis, wie sich seine Tochter und er synchron aufs Bett zubewegten, an den Seiten positionierten und Carla fast gleichzeitig auf die Wangen küssten. Noch einen Blick wagte Carla, aber nur mit dem linken Auge, in die Richtung, wo Alva stand. Sie nahm ihre Hand, drückte sie leicht. Alva sah, wie ihr eine Träne aus dem Augenwinkel rollte und glitzernd zwi­schen den Kissen verschwand.

Eunice hatte vor der Tür gewartet. Die unbewegte Miene unterstrich den strengen Auftritt. Sie trug die schwarzen Haare über der hohen Stirn straff zurückgebunden, die schmalen Augenbrauen waren leicht angehoben. Sie sah aus wie eine Gouvernante aus längst vergangener Zeit.

„Bitte, bleiben Sie zum Abendessen nicht hier.“

Luis sah sie erstaunt an. „Wie meinen Sie das?“, fragte er, vielleicht eine Spur schärfer, als er es beabsichtigt hat­te.

„Pardonnez-moi, Monsieur, ich bin nur besorgt. Sie kennen Madame nicht so gut wie ich. Sie wird alles dransetzten, heute Abend wieder auf den Beinen zu sein, so sehr hat sie sich über Ihr Kommen gefreut.“

„Was schlagen Sie denn vor?“

„Wenn Sie gestatten, werde ich ihr ausrichten, dass Sie ihr Ruhe gönnen wollen und sich entschieden haben, in Villefranche zu essen.“

Luis wollte etwas sagen, aber Alva kam ihm zuvor. „Eu­nice, das ist eine gute Idee. Bitte wünschen Sie Carla weiter gute Besserung.“

Die Assistentin warf ihr einen dankbaren Blick zu, und ihre Körpersprache wurde lockerer. Mit beiden Händen fuhr sie sich über die Haare, öffnete sie und setzte den Haarclip mit der seidenen schwarzen Schleife neu. „Folgen Sie mir, ich zeige Ihnen Ihre Zimmer.“ Sie ging voran.

Im ersten Stock betraten sie einen terrassenartigen Wintergarten voller tropischer Pflanzen. Die hohe Fensterfront bot einen spektakulären Blick über die Bucht. „Fast wie bei uns zu Hause!“, rief Alva und zeigt auf eine Volière in der Mitte. Ein prächtiger Ara beäugte sie neugierig.

„Das ist Marie-Antoinette“, präsentierte Eunice den prächtigen Vogel. Alva stieß ihren Vater in die Seite und grinste. Eunice klopfte an die Gitterstäbe. „Toni, sag Hallo zu unseren Gästen.“

Der Papagei legte seinen Kopf auf die Seite, musterte sie und rief: „Hallooo? Je vous écoute – ca va?“ Als sie nicht gleich antworteten, setzte Marie-Antoinette laut kreischend nach. „Scandale! Quel scandale!“

Eunice sah sie entschuldigend an und Alva schmunzelte. Luis konnte der Anspielung auf die gleichnamige Köchin in Haiti nicht so viel abgewinnen. Seine Affäre mit ihr war der Grund, mit dem Alva ihn zu der Reise erpresst hatte.

Eunice bat sie, weiterzukommen. „Ihre Zimmer gehen hier vom Wintergarten ab. Monsieur nach links, bitte. Madame hat das Appartement von Fernande.“ Sie öffnete die Tür, und Alva betrat die großzügige Suite. Vom runden Entrée gingen ein Salon und ein Schlafzimmer ab. Durch die offene Tür glitt Alvas Blick über das Fußende des Bettes, wo ihre Reisetasche abgestellt war – und blieb abrupt hängen.

Auf dem Sims des großen Fensters, das wie der Winter­garten zum Meer hinausging, hob sich gegen das Sonnenlicht eine Statue ab. Durch das Rund des Lorbeerkranzes, den sie über ihren Kopf hielt, schimmerte das Blau des Meeres.

„Papa!“, rief Alva, „hier ist sie!“ Sie wartete nicht auf Luis, sondern lief auf die Figur zu, nahm sie in die Hand und hob sie hoch. „Marwa – du bist noch viel schöner, als ich mir vorgestellt habe“, wisperte Alva. Fast erschrocken über ihre spontane Annäherung stellte sie die Statue wieder auf das Fenstersims zurück.

Luis tauchte auf. Stumm betrachtete er das Objekt. Genau wie das Foto auf der Madrague, nur Beatrix und Fer­nande fehlten.

Die Bronze entwickelte in ihren liebevoll gearbeiteten Details und der anmutigen Pose so viel Wärme und Lebendigkeit, dass ihr metallischer Charakter aufgehoben schien.

Luis griff in die Brusttasche. An der silbernen Kette zog er die Breguet-Taschenuhr heraus. Kurz pendelte sie über dem Lorbeerkranz. Langsam ließ er sie hinab, und sofort fand sie ihren Platz in der passgenau geformten Halterung hinter dem Kranz. „Karims Objekte der Erinnerung haben wieder zueinandergefunden“, flüsterte Alva.

Luis lächelte über ihr Pathos, aber auch er spürte Präsenz und Kraft, die von der Statue der Kabylin und der Miniatur des Marabouts auf dem Ziffernblatt der Uhr ausgingen. Lange hielt er sich nicht mit den Gedanken an Karims unsterbliche Liebe auf. Er zog die Uhr wieder heraus, griff nach der Statue, drehte sie auf den Kopf und musterte den Boden des runden Sockels. Der feine Spalt war deutlich zu erkennen. Luis verspürte ein Kribbeln in den Fingern. Mühsam unterdrückte er seine Erregung. Mit der Linken umklammerte er die Figur, die Rechte schloss sich fest um den Sockel. „Papa, sei vorsichtig!“, mahnte Alva. In diesem Moment bog Eunice mit einer Handvoll kleiner Seifenschachteln um die Ecke. „Haben Sie mich gerufen?“ Fragend blickte sie zwischen den beiden und dem Gegenstand in Luis’ Händen hin und her.

„Nein, danke, Eunice, wir haben alles, was wir brauchen.“ Alva versuchte sie loszuwerden. „Mein Vater hat bloß etwas gefunden, das ihn an früher erinnert.“

Eunice schien nicht überzeugt, zog sich aber zurück.

Endlich konnte Luis eine kräftige Drehbewegung einleiten. Erst glitten seine feuchten Handflächen von dem glatten Metall ab, beim zweiten Versuch gab der Boden nach. Ein schrilles, quietschendes Geräusch fuhr den beiden in die Knochen. Sie hielten den Atem an und sahen zeitgleich zur Tür. Würde Eunice wieder auftauchen? Nichts geschah. Luis und Alva schauten in den Boden, der wie eine flache Schale in seiner Hand lag.

Er war leer.

Luis atmete enttäuscht aus. Er setzte sich aufs Bett und drückte Alva die Statue und den Boden in die Hand.

Wortlos schraubte sie beides wieder zusammen.

3

Eine Stunde später verließen Luis und Alva das Haus und wanderten durch den Park in Richtung Meer. Sie sprachen wenig. Eine Entdeckung und wieder mehr Fragen als Antworten. Luis dachte nach. Was hatte er erwartet? Geheimnisvolle Aufzeichnungen? Gar eine Schatzkarte? Was trieb ihn eigentlich an?

Alva schien es leichter zu nehmen. Sie hakte sich bei ihm unter, während sie den Serpentinen hinab zum Meer folgten. An die klassische Gartenarchitektur rund ums Haus, mit den symmetrischen Rosenbeeten, wie Intarsien eingelegt in exakt geschnittene Rasenstücke, schloss sich ein Palmenwäldchen an. Hinter einer Marmorbalustrade führ­te die Treppe weiter nach unten. Der Garten wechselte den Charakter. Zwischen Pinienhainen lagen Inseln mediterraner Vegetation. Agaven, Oleanderbüsche, Thymian, Lavendel und Olivenbäume waren so kunstvoll arrangiert, dass es fast natürlich wirkte. An einigen Stellen blitzen Kontrastpunkte auf. Die ersten Mimosen blühten, in wenigen Tagen würde Gelb entlang der gesamten Küste die beherrschende Farbe sein.

Sie kamen an eine Pforte, die auf den schmalen Saumpfad hinausging. „Der Sentier du Douanier!“, rief Alva. „Einmal möchte ich um das ganze Cap herumwandern.“

Luis nickte. „Aber nicht heute. Rechts geht’s nach Villefranche!“ Er öffnete die Eisentür. Alva machte einen beherzten Schritt nach vorn und geriet sogleich auf dem groben Schotter des Saumpfads ins Rutschen. Luis bekam gerade noch ihren Arm zu fassen. Er zog seine Tochter an sich, und für einen Moment drückte sie ihren Kopf fest an seine Brust. „Pass auf, Alva!“

Sie befreite sich aus seiner Umarmung. „Danke, Papa, das war knapp!“ Sie blieben stehen, bis sich ihr Herzschlag beruhigt hatte und sie sich orientieren konnten.

Der Weg war direkt in das Felsmassiv geschnitten. Schmal und ohne Abgrenzung zum Steilhang.

Der Blick war atemberaubend. Auch bei wenig Seegang brachen sich die Wellen entlang der zerklüfteten Küstenlinie. Zwischen den aufgewühlten Brandungszonen lagen winzige, ruhige Buchten. Saphirblau ging über in Türkis und in Weiß. Vom Wind bizarr geformte Krüppelkiefern säumten den Pfad, am Rand wuchsen kniehoch Margeriten, Gräser und Wildkräuter. Entlang der Zäune zu den Gärten oberhalb des Pfads begann der Mittelmeerschnee­ball zu blühen; die faustgroßen Kugeln aus winzigen, sternförmigen Blüten verströmten ein süßlich-schweres Orangenaroma. An jeder Ecke und Windung hielten sie an, überwältigt vom Reigen spektakulärer Ansichten. Anfangs konnten sie im Westen noch die Ausläufer von Niz­za sehen, dann kamen sie immer tiefer in die Bucht hinein. Auf der anderen Seite rückten die Häuser von Villefranche ins Blickfeld, wie kleine Steinchen, aufgeschichtet in einer hohlen Hand.

Nur wenige Wanderer kamen ihnen entgegen oder überholten sie, ausnahmslos drahtige, auch im Winter Einheimische mit sonnengebräunter Haut in sportlicher Funktionskleidung. Alle riefen ihnen ein freundliches „Bonjour“ zu.

An der Plage du Passable war die Bar noch eingemottet und lag im Winterschlaf, während am öffentlichen Teil des Sandstrandes eine Handvoll Mutiger zusammenkam. Einige davon stürzten sich sogar ins Meer, obwohl das Wasser nicht wärmer war als dreizehn, vierzehn Grad. Alva schüttelte sich. In der Beziehung verwöhnte sie Haiti mit deutlich angenehmeren Temperaturen.

Über die Promenade des Marinières und die steile Trep­pe hoch zur Rue du Poilu kamen sie in den Ort. Außerhalb der Saison waren nur wenige Geschäfte und so gut wie keine Restaurants geöffnet. Luis war hungrig. Zwar hatte Eunice ihnen, bevor sie losgingen, im Wintergarten Tee serviert, begleitet von Eclairs und Petit Fours. Aber der lange Marsch an der frischen Luft hatte den Zucker schnell verbrannt, und ihm knurrte der Magen. Etwas verloren irrten sie durch die leeren Gassen der mittelalterlichen Stadt. Alva zog den Schal enger. „In Haiti würden wir jetzt im warmen Passatwind auf der Terrasse sitzen.“

„Lass uns wieder Richtung Hafen gehen, dort hat bestimmt etwas geöffnet“, machte Luis ihnen Mut.

Alva hauchte auf die Fingerspitzen. Seit die Sonne verschwunden war, verfolgte sie der nasskalte Luftstrom in jeden Winkel. Sie suchten Deckung in der Rue Obscure. Die unterirdische Straße verlief parallel zum Hafenbecken über die gesamte Länge der Altstadt. In früheren Zeiten diente sie als Versorgungsgang bei der Verteidigung gegen die Angriffe maurischer Piraten. Der Weg wurde nur von wenigen Straßenlaternen erhellt, gelbliches Licht sickerte durch die salzverkrusteten Scheiben. Sie mussten höllisch aufpassen, wohin sie ihre Füße setzten. Ständig unterbrachen Stufen und kleine Absätze das Pflaster, und die abgeschliffenen Trittsteine waren nass und glitschig. Trotzdem nahm sie die Atmosphäre des Ortes gefangen. „Ich stell mir gerade vor, wie die Bürger von Villefranche hier die Kugeln entlang rollten und Pulversäcke zu den Kanonen schleppten.“ Dazu klapperten Alvas Zähne, aber die Vorstellung lenkte sie von der Kälte ab. Am Ende der Rue Obscure ragte plötzlich eine massive Wand vor ihnen auf, nur ein kleiner Gang nach links führte davon weg. Sie folgten ihm und waren nach wenigen Schritten auf der Hafenpromenade.

Das Quai de l`Amiral Courbet war menschenleer. Auch die berühmten Restaurants, „La Mère Germaine“ und „L´Oursin Bleu“, die im Sommer lange Wartelisten führten, lagen verlassen da. „Sind wir eigentlich die einzigen Lebewesen hier?“, klagte Luis. „Nicht mal eine streunen­de Katze ist unterwegs.“ Allmählich bekam er schlechte Laune. Die Stille hatte etwas Bedrückendes. Nur direkt an der Kaimauer war das Glucksen der kleinen Wellen zu hören.

Unschlüssig blieben sie stehen, bis eine Bewegung aus Richtung des kleinen Marktes am Ende des Kais sie aufmerken ließ. Ein Motorrad war auf den Platz eingebogen und blieb im Leerlauf stehen. „Motorradfahren ist bei dieser Kälte auch nicht angenehm“, bemerkte Luis und beobachtete Alva aus den Augenwinkeln. War es Ben? „Ich werde den Fahrer mal fragen, der kennt sich hier bestimmt aus“, rief er plötzlich und lief los, als Alva ihn einholte.

„Lass mich das machen!“ Sie begann zu rennen. Es waren fast fünfzig Meter bis zum Platz, und Luis erkannte, dass er auf diese Distanz keine Chance gegen sie hatte. Er sah, wie Alva den Fahrer ansprach. Der antwortete, ohne den Helm abzunehmen. Keuchend kam Luis näher. Er konnte erkennen, wie Alva nickte und kurz ihre Hand auf den Arm des Mannes legte. In seiner Erinnerung passten diesmal Kleidung und Motorradtyp durchaus.

Alva drehte sich zu ihrem Vater um. Das Motorrad gab Gas, wendete und verschwand aus Luis’ Blickfeld. „Papa, was ist denn mit dir los? Warum wartest du denn nicht auf mich?“ Lachend kam sie auf ihn zu. Er war zu sehr außer Atem, um zu antworten. „Ich habe einen guten Tipp bekommen“, erklärte Alva und zeigte in Richtung eines beleuchteten Barschilds. „Gleich hier am Markt. Chez Nat!“

4

Im „Chez Nat“ brannte Licht, das gedämpft durch bronzeumrahmte Bullaugen auf den Platz sickerte. Die Eckkneipe erinnerte Luis von außen eher an die Kommandobrücke eines Kreuzers als an eine Bar. Sie traten durch die schmale Tür. Schlagartig hüllte sie wohlige Wärme ein. An den wenigen Tischen saßen ausschließlich Männer, vor sich Gläser mit Weißwein oder Amer Bière. Geschäftskleidung überwog, manche hatten Aktentaschen neben dem Tisch abgestellt. Sie sahen aus wie Einheimische, die sich auf dem Weg nach Hause einen Aperitif gönnten. Die Gespräche verstummten. Alle Augenpaare musterten die neuen Gäste. Dann ließ das Interesse wieder nach, und die meisten widmeten sich ihren Gläsern. Ein großer, breitschultriger Mann, mit freundlichem, offenem Gesicht, grünen Augen und platter Boxernase, die roten Haare im stoppeligen Navy-Cut, kam hinter dem Tresen hervor.

„Willkommen! Was treibt euch Landlubber denn hierher, mitten im Winter?“ Mit ausgestreckter Rechter ging er auf die beiden zu. Luis sah, dass sich Alva etwas überfahren fühlte und zurückwich. „Verzeiht mir, ich bin Nathaniel. Nat für meine Freunde. Und Wintergäste sind immer meine Freunde!“ Er wies ihnen einen Tisch zu, direkt am Ausgang der Küche. „Sie sind aus den Staaten?“, fragte Luis.

„Yeah – hört man das?“ Sein schallendes Lachen ließ die Gäste zusammenzucken. „Die Navy hat mich hier ausgespuckt. Das war vor über vierzig Jahren. Nein, so schlimm war es nicht. Ich habe Mireille getroffen, unten am Quai, und da war es um mich geschehen. Ihrem Vater gehörte der Laden hier.“ Nats Lachen verschwand. Verlegen strich er sich mit der Hand über die Bürstenhaare. „Leider ist er tot. So ein feiner Kerl. Hat einfach zu viele Gitanes geraucht. Jetzt steh ich hier und Mireille in der Küche. – Was kann ich denn für euch tun?“

„Meine Tochter hat gerade einen Motorradfahrer gefragt, der Sie empfohlen hat.“

„Motorrad?“, rief Nat. „Das war Jean-Luc, der ist eben hier rausgegangen. You know, seine Frau kann es nicht leiden, wenn er zu spät nach Hause kommt!“

Luis merkte, wie Alva mit Mühe ihr Grinsen unterdrückte. „Haben Sie eine Kleinigkeit zu essen für uns?“, erkundigte er sich.

Alva hob ihre Nase und fragte ihn, was denn da so einen delikaten Duft verbreitete. „La Pissaladière!“ Er setzte wieder sein Strahlen auf. „Das Beste, was wir euch im Moment bieten können – und das Einzige“, fügte er hinzu und zeigte dabei zwei Reihen makellos weißer Zähne.

Das einfache Mahl, eine lokale Pizza-Variante mit Anchovis, enttäuschte sie nicht. Dazu gab es Rosé aus der Provence und eine Karaffe mit Wasser. Das Telefon klingelte. Kurz darauf kam Nat zurück und legte Luis eine Hand auf die Schulter. „Da ist ein Anruf für Sie“.

„Für mich?“ Luis sah ihn erstaunt an und folgte dem Wirt zu dem altmodischen, an der Wand festgeschraubten Apparat. „Ja bitte?“

„Monsieur, hier ist Sébastien!“

„Sébastien?“ Was wollte der Chauffeur von ihm? „Ist etwas mit Carla? Wie haben Sie uns gefunden?“

Luis hörte ein leises Hüsteln. „Doucement, Monsieur! Mit Madame ist alles in Ordnung, machen Sie sich keine Sorgen. Eunice sagte mir, dass sie Ihnen vorgeschlagen hat, in der Stadt zu essen …“ – wieder war das Hüsteln zu hören – „ich hoffe, Sie nehmen ihr das nicht übel, aber sie kümmert sich um Madame wie eine Tochter um ihre Mutter.“

„Ist schon gut, das haben wir ihr auch gesagt.“

„Und um den zweiten Teil Ihrer Frage zu beantworten: Es gibt zurzeit nicht so viele Möglichkeiten, im Ort ein Abendessen zu bekommen. Da dachte ich als Erstes an Nathaniel und hatte offenbar Glück. Nat kannte übrigens auch Ihre Tante Beatrix. Aber etwas anderes: Es ist stockfinster draußen. Sie können auf keinen Fall den Weg zurück über die Felsen nehmen. Und auch die Treppen hoch bis zur Corniche will ich Ihnen ersparen. Wenn es Ihnen recht ist, hole ich Sie beide mit dem Boot ab. In einer halben Stunde“, setzte er hinzu, „oder ist Ihnen das zu früh?“ „Zu früh? Nein! Mit dem Boot?“ Luis kam aus dem Staunen nicht heraus. „Gerne, warum nicht. Wo sollen wir hinkommen?“

„Ans Embarcadère, direkt vor dem Hotel Welcome.“ Luis hörte nur noch ein Klicken in der Leitung. Er ging zurück zum Tisch. Auf Alvas fragenden Blick erklärte er: „Stell dir vor, wir werden mit dem Boot abgeholt, in einer halben Stunde.“

„You lucky ones!“, rief Nat. „Sébastien kommt mit der BÉA!“

„Wer ist das?“, fragte Alva verwirrt.

„Die BÉA ist die Schönste hier im Hafen!“ Er beugte sich zu Luis hinunter und flüsterte ihm ins Ohr: „Noch besser als eine Frau.“ Laut sagte er: „Sie ist ein Riva-Boot! Sébastien hat drei Lieben. Madame Carla, la Bentley und la BÉA! Den Namen hat das hübsche Ding von Béatrix, der besten Freundin von Carla.“

„Das ist meine Tante!“, rief Luis. „Leider lebt sie nicht mehr. Sèbastien sagte mir eben, dass Sie sie kannten.“

„Ihre Tante, Mister? Sie sind verwandt mit Béatrix Luciani?“ Nat schüttelte den Kopf. „Small world!“ Sein Blick wurde weich. „Ich verdanke ihr alles. Meine Frau kommt kaum aus der Küche heraus. Aber Béatrix und Paul haben mir beigebracht, was ein guter Barkeeper wissen und können muss. Das war Ende der siebziger Jahre. Damals betrieben die beiden selbst vier oder fünf Restaurants, die ganze Küste entlang, von Marseille bis Menton. Das hier wollten sie mir auch mal abkaufen.“ Er schluckte, hob den Kopf und sein Blick ging in die Ferne. Luis sah, wie er sich über die Augen wischte. „Erst lief es hier nicht so gut, müsst ihr wissen. Aber dann hat Beatrix mir das Wichtigste eingebläut: Dass der Barchef nicht sein bester Kunde sein darf.“ Sein Grienen zeigte den beiden, dass er allmählich die Fassung zurückgewann. „Am Anfang habe ich ziemlich gehadert mit dem Abschied von der Marine, und da war der Weg zur Flasche nicht weit … Sacré Bea­trix! – Dass ich davon wegkam und hier bei euch stehe, verdanke ich nur ihr!“ Er sah auf die Uhr. „Was erzähle ich da – ihr müsst los. In der Kälte dürft ihr Sébastien nicht warten lassen!“

Luis wollte zahlen, aber Nat schloss nur die tätowierte Pranke um seinen Arm und schüttelte den Kopf. Er begleitete die beiden hinunter zum Quai.

„BÉA“ war nicht zu verfehlen und vor allem nicht zu überhören. Auch im Leerlauf ertönte ein tiefes, feuchtes Gebrabbel aus dem verchromten Auspuff am Heck des stromlinienförmigen Rumpfes. Mahagoni und Messing glänzten in der Hafenbeleuchtung, die Armaturen schimmerten im offenen Cockpit mattgrün. Geschickt hielt Sébastien das Boot am Anleger, ohne es festzumachen. Er streckte die Hand aus und zog Alva und Luis an Bord. Mit einem Winken verabschiedeten sie sich von Nat.

Sébastien steuerte behutsam von der Mauer weg. „Ein feiner Kerl, nicht wahr?“, meinte er zu den beiden, die auf den Sitzen hinter ihm Platz genommen hatten.

In der Dunkelheit konnte Alva die Maserung des Holzes im luxuriösen Innenraum des Boots mehr spüren als sehen. Ihre Augen versuchten, die tanzenden, tiefroten Reflexe der Uferlaternen auf den polierten Planken festzuhalten. Sie strich über die hellblauen Sitzkissen, ihre Finger blieben ehrfürchtig an den kontrastfarbigen weißen Paspel hängen.

„Nat? Ja, das ist er. – Und Sie hatten Recht mit Béatrix!“, rief Luis, als die 300 PS des Innenborders zum Leben erwachten. Der Rest ging im Fahrtwind und dem Brüllen des Antriebs unter. Luis und Alva wurden in ihre Sitze gepresst. Eine mannshohe Bugwelle baute sich auf und rauschte an ihnen vorüber. Nur die an den Seiten abgerundete und weit zum Heck hin gezogene Windschutzscheibe verhinderte, dass sie nass wurden. Luis musste an Haiti denken. Was für eine Distanz lag zwischen diesen Welten, dem feudalen Riva-Boot und den roh gezimmerten Schiffen der Fischer von Léogane.

Die Überfahrt dauerte keine fünf Minuten. Direkt vor ihnen markierten Positionslampen die Einfahrt in den winzigen Hafen. Das Boot wurde langsamer. Sébastien warf die Fender aus, unterbrach die Zündung und setzte es passgenau an den Steg. Er sprang von Bord, vertäute die BÉA und half den beiden an Land.

Oben am Hang waren die Lichter der Villa zu erkennen. Gemeinsam machten sie sich an den steilen Aufstieg. Die Nacht war mondlos und stockfinster. Mit dem Licht einer Taschenlampe versuchte Sébastien, die Passage über die nassen und schlüpfrigen Stufen halbwegs erkennbar zu machen. Trotzdem rutschte Luis ein paarmal aus und griff fluchend nach dem rostigen Geländer. Er musste aufpassen, dass er nicht zurückschaute. Als er es dennoch einmal tat, sah er, wie tief unten die Wellen an den Felsen hochstiegen, als ob sie nach ihm greifen wollten. Graue Schemen schoben sich in sein Blickfeld. „Es sind nur Möwen“, murmelte er. Der Traum in der letzten Nacht auf Haiti. Der Meister der Wegkreuzungen. Warum kam ihm das jetzt in den Sinn? Er schüttelte den Gedanken ab und konzentrierte sich auf seine Schritte.

„Danke fürs Abholen, Sébastien“, verabschiedete sich Alva vor dem Haus. „Ich weiß gar nicht, was ich mir mehr wünschen soll: Nochmal einen Ausflug im Bentley oder eine Tour im Riva-Boot.“

„Warum nicht beides? Fahren Sie bitte nicht so schnell wieder fort. Madame ist so glücklich, dass Sie hier sind. Schlafen Sie gut. Madame erwartet Sie morgen zum Petit Déjeuner.“

„Dann geht es ihr besser?“, fragte Luis.

Sébastien gab darauf keine Antwort. „Um neun Uhr“, sagte er nur. „Seien Sie pünktlich, Madame besteht auf ihrem Tagesablauf.“

5

Der Morgenhimmel strahlte blau und wolkenlos.

„Leider ist es noch nicht warm genug, um auf der Terrasse zu frühstücken!“ Eine völlig verwandelte Carla empfing sie. Die enge Wildlederhose entsprach zwar nicht ihrem Alter, aber sie kleidete sie ebenso souverän wie die Seidenbluse mit dem Paisley-Muster und der blaue Sweater, dessen Farbe perfekt zu ihren Augen passte. Blond gesträhnte Haare fielen in langen Wellen auf die Schultern herab. Die Gesichtszüge passten eher zum Aussehen einer Frau Mitte vierzig. Erst auf den zweiten Blick war zu erkennen, dass sie das Ergebnis wiederholter ästhetischer Eingriffe waren. Sie war groß, sehr groß für eine Französin ihres Alters.

„Warst du mal Model?“, platzte es aus Alva heraus.

Carla schien sich über das Kompliment zu freuen. „Wie zauberhaft von dir!“ Sie versuchte, einen bescheidenen Ton an den Tag zu legen. „Ach Liebes, das war einmal.“

Sie küsste Alva und kam auf Luis zu. Beide waren fast gleich groß. Spontan drückte sie ihn an sich, dann hielt sie ihn wieder ein Stück weg und betrachtete ihn eingehend. „Luis – Chéri!“, surrte ihr Bariton, „Endlich wieder einmal ein Mann im Haus!“ Sie strich über sein dichtes, zurückgekämmtes Haar. „Ein klein bisschen grauer als beim letzten Mal, aber umso attraktiver.“ Carla schlug die langen Wimpern nieder, drehte sich um und deutete in großer Geste auf den reich gedeckten Tisch. „Setzt euch! Ich bin schrecklich hungrig. Jedes Mal nach diesen furchtbaren Migräneanfällen ist das so. Da muss ich was nachholen!“

Eunice brachte Kaffee, grünen Tee und frisch gepressten Mandarinensaft. Entgegen ihrer Ankündigung gab sich Carla mit einem Croissant und einer halben Brioche zufrieden.

Luis beobachtete sie. So also hielt sie ihre mädchenhafte Linie. Er dagegen grub seine Gabel tief in das Schinkenomelette.

Carla blickte von ihrer Teetasse hoch. „Ihr beiden, erzählt mir von eurem Leben auf Haiti. Einmal war ich dort, das ist ewig her, in den Siebzigerjahren. Baby Doc war damals Präsident. Zusammen mit seiner bezaubernden Frau veranstaltete er legendäre Partys. Ich habe damals ebenfalls eine Fotostrecke gemacht, am Strand, für die Vogue!“

Luis sagte nichts. Seine Erinnerungen an den ehemaligen Diktator waren nicht so gut besetzt. Die meisten haitianischen Familien hatten Angehörige verloren, die dem Terrorregime von Vater und Sohn Duvalier und deren Geheimpolizei Tontons Macoutes zum Opfer gefallen waren.

Alva tunkte ihr Croissant in den Milchkaffee ein, biss davon ab und trank einen Schluck Saft. Sie ließ sich Zeit mit der Antwort. „Carla, Haiti ist eine schöne, aber komplizierte Heimat für uns“, versuchte sie zu erklären. „Wir haben alle drei unsere berufliche Erfüllung dort gefunden. Aber Haiti ist speziell. Das Klima, die Menschen, die Spiritualität – das ist inspirierend, verlangt einem aber auch viel ab. Mama steckt das von uns allen am besten weg. Papa und ich haben eine Auszeit gebraucht. Und da kamen die Geheimnisse um Großvaters Erbschaft gerade recht.“

Alva erzählte von den beiden Tagebüchern. Das Drama von Karims Flucht aus Algerien und sein Leben im Paris des 19. Jahrhunderts kannte Carla zum Teil aus der Familiengeschichte der Lucianis. Weniger vertraut waren ihr Samuel Weizfeldts Erlebnisse an Bord der BREMEN im August 1939. Der verzweifelte Versuch, sein Leben und das Familienvermögen zu retten, erschütterte sie, zumal der Ausgang unbekannt war. Aber sie erinnerte sich, dass die Spekulation um den verlorenen Schatz den Konflikt zwischen Paul Luciani und seinem Bruder Marius, dem Samuel das Tagebuch damals anvertraute, immer wieder angeheizt hatte.

Carla dachte nach. „Bei den Treffen zwischen Marius und Paul drehte es sich meist um Geld. Für Paul und Trix war das kein Thema, aber Marius war besessen davon. Für ihn waren die Hinweise in den Tagebüchern der Weg zu Reichtum und Glück.“ Sie zwinkerte verschmitzt. „Wenn ich euch beide hier so sehe – ist es möglich, dass seine fixe Idee auf euch übergesprungen ist?“ Ihre Augen leuchteten. „Ich bin deutlich abenteuerlustiger als Paul und Trix. Wisst ihr etwas Genaueres? Braucht ihr Geld für eine Expedition? Ich wäre dabei!“

„Vielen Dank!“ Luis wehrte lächelnd ab. „Ich will deinen Elan nicht bremsen, aber die Spuren sind mehr als dürftig. Es ist die Geschichte, die spannend ist, und …“

Alva unterbrach ihn. „Die Sache ist auch nicht ganz geheuer, Carla. Es gibt offenbar noch mehr Leute, die sich dafür interessieren, und irgendwie verfolgt es uns bis hier nach Frankreich.“ Luis hatte an einem Stück Baguette gekaut, würgte es nun mühsam hinunter und fixierte dabei seine Tochter. Was meinte sie damit? Hatte die Sache mit Ben damit zu tun? Die charakteristische Röte auf Alvas Wangen war nicht zu übersehen. Auch Carla schien das aufzufallen, sie legte den Kopf schräg und zog die rechte Braue hoch. Hustend versuchte Luis zu Wort zu kommen.

---ENDE DER LESEPROBE---