Populismus, Hegemonie, Globalisierung - Stuart Hall - E-Book

Populismus, Hegemonie, Globalisierung E-Book

Stuart Hall

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Beschreibung

Stuart Hall liefert hier Analysen nationaler und globaler Umwälzungen sowie der sie begleitenden Politik- und Kulturveränderungen. So war der Thatcherismus eins der ersten nationalen Projekte der Rechten, um den Fordismus zu überwinden und zugleich den Kapitalismus zu erneuern. Globalisierung, Neoliberalismus und transnationale Produktion sind Stichworte der dann folgenden Umwälzungen, die in abnehmender Gewerkschaftsmacht, Flexibilisierung und Prekarisierung der Arbeitswelt sowie im Wiedererstarken des internationalen Kapitals kulminierten. Was in Phasen derartiger Veränderungsnot zu tun ist, damit emanzipatorische Entwicklungsmöglichkeiten als aktive politische Kraft wirken können, lässt sich als roter Faden dieses Bandes lesen. Ein wesentlicher Begriff, mit dem Hall hier arbeitet, ist der des Populismus. Hall sondiert ihn als Phänomen in der Massendemokratie und unterscheidet zwischen popular-demokratischem und autoritärem Populismus, um die unterschiedlichen Standpunkte in den Kräfteverhältnissen nicht zu verdecken, sondern offenzulegen: als emanzipatorische (politisch-ethische) oder gruppen-egoistische (korporatistische) Interessen. Wieder steht der Standpunkt der Subalternen und ihre mögliche Entwicklung zu historisch eingreifenden Subjekten im Zentrum seiner Perspektive. Zur Verständigung über gesellschaftliche Krisenprozesse hat Stuart Hall begriffliches Instrumentarium des Marxismus auf den Prüfstand gestellt, erneuert und erweitert. Mit konkreten Analysen zu aktuellen Entwicklungen lotet er die Möglichkeiten linker Politik und Kultur aus, knüpft an Antonio Gramsci und Nicos Poulantzas an und sucht nach "günstigen Bedingungen für einen Fortschritt zum Sozialismus" in aktuellen Kräfteverhältnissen.

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Stuart Hall

Populismus

Hegemonie

Globalisierung

Ausgewählte Schriften 5

Herausgegeben von Victor Rego Diaz, Juha Koivisto und Ingo Lauggas

Argument Verlag

Übersetzt von Yasar Aydin, Thomas Barfuss, Manfred Behrens, Wieland Elfferding, Stefan Howald, Ines Langemeyer, Ingo Lauggas, Thomas Laugstien, Ulrich Meditsch, Brita Pohl, Victor Rego Diaz, Jan Rehmann, Katrin Reimer, Ingar Solty, Susan Steiner, Kolja Swingle, Markus Weidmann

Dieses Buch entstand mit finanzieller Unterstützung des Instituts für kritische Theorie InkriT e.V.

Stuart Hall – Ausgewählte Schriften bei Argument:

Ideologie, Kultur, Rassismus (Schriften 1)

Rassismus und kulturelle Identität (Schriften 2)

Cultural Studies (Schriften 3)

Ideologie, Identität, Repräsentation (Schriften 4)

Populismus, Hegemonie, Globalisierung (Schriften 5)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der deutschen Fassung vorbehalten

© Argument Verlag 2014

Glashüttenstraße 28, 20357 Hamburg

Telefon 040/4018000 – Fax 040/40180020

www.argument.de

Satz: Iris Konopik

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2018

ISBN 978-3-86754-856-4

Erste Auflage 2014

Inhalt

Vorwort

Der strittige Staat

Die Entstehung des repräsentativen/interventionistischen Staates, 1880er–1920er Jahre

Nicos Poulantzas: Staatstheorie

Popular-demokratischer oder autoritärer Populismus

Die Bedeutung des autoritären Populismus für den Thatcherismus

New Labours doppelte Kehrtwende

Bewegung ohne Ziel – The great moving nowhere show

»Die soziale Frage soll nicht gestellt werden«. Ein Interview

Die Stadt zwischen kosmopolitischen Versprechungen und multikulturellen Realitäten

»Jeder muss ein bisschen aussehen wie ein Amerikaner« Über die Bedeutung des Kulturellen fürs Verstehen der Gesellschaft. Stuart Hall und Bill Schwarz im Gespräch

Zur Deutung der Krise. Stuart Hall und Doreen Massey erörtern Ansätze zum Verständnis der gegenwärtigen Krise

Eine permanente neoliberale Revolution?

Literaturverzeichnis

Drucknachweise

Vorwort

Der Anspruch, theoretische Arbeit mit politischem Eingreifen zu verbinden, lag nicht nur dem Selbstverständnis der frühen Cultural Studies zugrunde, deren Pionierphase eng mit der Entwicklung der britischen New Left verbunden war, sondern auch der Arbeit am 1964 gegründeten, legendären Birmingham Centre for Contemporary Cultural Studies, dem Stuart Hall ab 1968 elf Jahre lang vorstand. Auch der vorliegende fünfte Band der Ausgewählten Schriften Halls trägt dem »politischen Anliegen intellektueller Arbeit« (Hall 1999: 16) Rechnung und ist demnach geprägt von einer Theoriebildung, die im Befreiungsinteresse sich stets politisch eingreifend versteht. Stuart Hall selbst hat wiederholt davon berichtet, wie ganz unmittelbar versucht wurde, »innerhalb der Cultural Studies eine institutionelle Praxis zu entwickeln, die organische Intellektuelle produzieren würde« (2000a: 41). Diese gramscianische Perspektive prägt nicht nur sein politisches Verständnis intellektueller Arbeit, sondern bekanntermaßen Halls ganzes Werk, das, anknüpfend an Gramscis »Erneuerung des Marxismus« (Hall 1989), Kulturanalyse als Gesellschaftsanalyse begreift und Fragen von Ökonomie und Ideologie, Identität und Alltag stets mit jener nach Macht verknüpft. Die hier versammelten Texte nun richten diese spezifische Perspektive auf Staat und Demokratie und gruppieren sich folgerichtig – auch dort, wo sein Name nicht fällt – um Antonio Gramscis Hegemoniekonzept.

Halls Texte zu Staat, Populismus und Globalisierung nehmen die zentralen Elemente und Wirkungsweisen von Hegemonie in den Blick, handeln somit von Herrschaft und Macht, Ideologie und Alltagsverstand, Repräsentation und Partizipation und setzen diese in Bezug zu den wesentlichen strategischen und institutionellen Akteuren in der Gesellschaft: Staat, Parteien, Intellektuelle, kulturelle Szenen usw. Die Arbeit Stuart Halls bewegt sich demnach bis in die Gegenwart nicht nur in »Hörweite des Marxismus« (Hall 2000a: 38), sondern macht sich – nachdem Hall schon vor Jahrzehnten neben Raymond Williams wesentlich zur Verbreitung Gramscis außerhalb Italiens beigetragen hat – auch um dem Nachweis verdient, dass das Hegemoniekonzept, sorgfältig angewendet, heute alles andere denn eine veraltete Kategorie ist. Wenn damit das Gerede von vorgeblich »posthegemonial« gewordenen Machtverhältnissen Lügen gestraft wird, wonach das Konzept lediglich »für eine bestimmte Epoche großen Wahrheitswert besessen hat«, die sich nun jedoch »ihrem Ende zuneigt« (Lash 2011: 96), stehen Halls Schriften gleichzeitig gegen post-strukturelle Verflachungen und Ideologisierungen und treten neu sich herausbildenden Herrschaftsverhältnissen und -weisen kritisch entgegen.

Damit lässt sich das Erbe der als ›politisches Theorieprojekt‹ angetretenen Cultural Studies mit Hall gegen seine Nachfolger verteidigen. Die hier zusammengestellten Texte verweisen anhand einer bis ins Jetzt reichenden Theoriegeschichte auf den heute minoritären Teil der Cultural Studies, der nicht wie ihr Mainstream »weitgehend in den Sog der neoliberalen Hegemonie geraten« ist (Ampuja/Koivisto 2012: 446). Sie nehmen das gesellschaftliche Ganze in den Blick, bringen »die gelebte Erfahrung von Individuen und sozialen Gruppen mit gesellschaftlichen Prozessen, Diskursen und Kämpfen in Zusammenhang« (ebenda) und analysieren deren Vermittlung. Die Kategorie der Hegemonie erweist sich für eine solche Analyse gesellschaftlicher Kämpfe und politischer Konjunkturen als unverzichtbares Instrument.

Die in diesem Band versammelten Texte wurden im Zeitraum zwischen 1980 und 2011 verfasst. Stuart Hall ist in seinen Analysen besonders an »historischen Differenzierungen« (siehe insbesondere Zur Deutung der Krise in diesem Band) interessiert. Mit der vorliegenden Textsammlung haben wir versucht, diesem Interesse in zweierlei Hinsicht Rechnung zu tragen. Zum einen bewegen sich die Texte im zeitlichen Maßstab von historischen Rekonstruktionen hin zu aktuelleren Entwicklungen. Erst die Kenntnis des Vergangenen legt die Spezifik des Neuen offen. Zum anderen sind sie in einer groben chronologischen Reihenfolge geordnet, die es möglich macht, die Entwicklung von Halls Forschungsarbeit nachzuvollziehen. In diesem Vorwort folgen wir nicht der Reihenfolge der Texte, sondern Halls analytischer Arbeitsweise, um herauszustellen, wie er bestimmte Themen und Positionen im Laufe der Zeit immer wieder aufgreift, kritisch umschreibt und erneuert fortschreibt; und wie er danach strebt, Zusammenhänge und Verknüpfungen zwischen seinen verschiedenen Analysen begründet und mit Nachdruck herzustellen.

Ein durchgehendes Anliegen ist die Analyse bestehender und sich verschiebender Kräfteverhältnisse, insbesondere in Perioden grundlegender Krisen bzw. bestimmter Konjunkturen. Auch wenn Krisen immer eine ökonomische Grundlage haben, interessiert Hall das komplexe Gefüge von ökonomischen und sozialen, politischen und kulturellen Verhältnissen und Wechselwirkungen, er fragt nach den darin wirkenden Institutionen und Akteuren, ihren herrschaftssichernden ideologischen oder herrschaftskritisch-emanzipatorischen Strategien und den sich dabei wandelnden Haltungen und Praxen. Ein Beispiel für eine umfassende Krisen- und Hegemonie-Analyse findet sich in Die Entstehung des repräsentativen/ interventionistischen Staates (1984). Hall rekonstruiert die Transformation politischer und industrieller Repräsentation im Zeitraum von 1880 bis 1920 im Kontext des Niedergangs spätviktorianischer Repräsentationsverhältnisse und der sich durchsetzenden Massendemokratie; hegemoniepolitisch ortet er in dieser Zeitspanne die erfolgreiche Durchsetzung der Interessen der popularen Klassen und Bewegungen und zugleich ihre kontrollierte Einpassung in eine neue ökonomische und gesellschaftliche Entwicklungsstufe. – In Die Stadt zwischen kosmopolitischen Versprechungen und multikulturellen Realitäten (2003) wird die Frage diskutiert, wie sich die neoliberalen Globalisierungs- und neueren Migrationsprozesse in der zeitgenössischen ›globalen/multikulturellen‹ Stadt aufeinander beziehen. Hall analysiert die Verschiebung der Kräfteverhältnisse am Beispiel der Stadt London und identifiziert die globale/multikulturelle Stadt als Möglichkeitsraum für »multikulturelle Diversität« und als »Übergangszone« zwischen »komplexen Interaktions- und Verteilungsmustern der Aktivitäten, Ressourcen und Haltungen«; zugleich sieht er aufgrund der sich vertiefenden ökonomischen, politischen und kulturellen Ungleichheiten und Trennungen potenziell explosivere Konflikte auftreten, die insbesondere durch einen ›differenziellen Rassismus‹ angetrieben werden. – In Eine permanente neoliberale Revolution (2011) legt Hall eine aktuelle Krisenanalyse vor: er blickt auf die spezifische britische Konstellation nach der Finanzmarktkrise, dem Ende von New Labour und dem Machtantritt einer Koalition aus Konservativen und Liberaldemokraten. Er schreibt dem derzeitigen Neoliberalismus die herrschaftsmächtige Fähigkeit zu, die Gesellschaft mittels einer ideologischen Arbeit der »Desartikulation und Reartikulation« zu transcodieren, gestützt durch »kulturelle Praxen der Inwertsetzung und des Individualismus« wie auch durch den Zugriff auf eine autoritäre Staatsgewalt und globale militärische Einsätze, um die Märkte und Investitionen zu schützen und die Erfolgsbedingungen für das globale kapitalistische Unternehmertum zu gewährleisten. – In Zur Deutung der Krise (2010) entfalten Stuart Hall und Doreen Massey den Hegemonie-Begriff, um damit historische und aktuelle Konjunkturen bzw. Krisenperioden, die Verknüpfung von ideologischen Strategien zur Eroberung des Alltagsverstandes sowie die bestehenden und sich verschiebenden Kräfteverhältnisse genauer zu verstehen.

Ein wiederkehrendes Untersuchungsfeld ist die Auseinandersetzung mit der Labour Party und New Labour. Ihre besondere Bedeutung erhält die Partei für Hall, weil sie einst die Repräsentation breiter popularer Klassen und Bewegungen im Staat ermöglicht und später ihre emanzipatorische Wirkungskraft im Dunst der Anpassung an Marktideologien und -politiken verloren hat. Während in Entstehung des repräsentativen/interventionistischen Staates der Aufstieg der Labour Party als organisatorische Kraft zu Beginn des 20. Jahrhunderts nachzuvollziehen ist, bietet die Krise der politischen Repräsentation seit den 1970er Jahren Anlass zu einer grundlegenden Kritik des »sozialdemokratischen Managements« der kapitalistischen Krise. In Popular-demokratischer oder autoritärer Populismus (1980) kontrastiert Hall den Hegemonieverlust sozialdemokratischer Regierungspolitiken und -diskurse mit den Strategien des aufsteigenden Thatcherismus. Dem Thatcherismus sei es gelungen, sich in der Phase einer sozioökonomischen Krise auf dem Feld der popularen Ideologien als reorganisierte Kraft darzustellen. Auf der Grundlage bereits existierender Law-und-Order-Politiken der herrschenden Sozialdemokratie artikulierte der Thatcherismus einen nach rechts gewendeten ›autoritären Populismus‹, der die traditionalistischen Elemente des Alltagsverstandes der Volksmoral zu aktivieren vermochte und einen Prozess der ›passiven Revolution‹ von unten konstituierte. – Die Regierungspolitik von New Labour in den 1990er Jahren, nach der neoliberalen Transformation von Gesellschaft und Ökonomie durch den Thatcherismus, ist Kern der Analyse in den Texten Bewegung ohne Ziel (1998), New Labours doppelte Kehrtwende (2003) und »Die soziale Frage soll nicht mehr gestellt werden« (2005). Halls Diskursanalysen durchforsten die Hegemonie der neoliberalen Doktrin in Sprache und Diskursen, in Haltungen der Labour-Politiker und ihrer spezifischen Regierungsweise, in Verwaltungsmodalitäten, Kampagnen und gesellschaftspolitischen Interventionen von New Labour. Die Durchsetzung der ›Modernisierung‹ von Staat, Gesellschaft und Politik im Sinne von New Labour wurde für Hall durch eine zwingende ›Transformation der Sozialdemokratie‹ ermöglicht, die durch semantische Beliebigkeit und (passive) Zustimmung zum ›Markt-Fundamentalismus‹ zugleich eine Deformation der Partei und des Alltagsverstands der Bevölkerung war. Die ideologische Kompetenz hierfür identifiziert er in der hybriden ideologischen Strategie von New Labour: die Propagierung der kapitalistischen Marktwirtschaft, gestützt durch das Anknüpfen an den thatcheristischen ›autoritäten Populismus‹, und die untergeordnete Berücksichtung der Interessen der traditionellen Parteiflügel und der sozial Benachteiligten in der Bevölkerung.

Der Staat ist für Stuart Hall ein zentraler, strategischer Akteur und zugleich ein komplexes, institutionelles Gefüge in hegemonialen Konstellationen und Krisen-Perioden: In Der strittige Staat (1984) rekonstruiert er die Herausbildung des ›liberal-demokratischen‹ Staates und geht dabei bis auf die Ursprünge der Herausbildung staatlicher Merkmale in der Antike zurück. Das Interesse bezieht sich auf den Einfluss bereits bestehender politischer, sozialer und kultureller Hegemoniemerkmale im Zuge der Durchsetzung einer kapitalistischen Ökonomie; und Hall ergänzt diese gramscianische Analyse um die grundlegende Bedeutung patriarchaler Geschlechterverhältnisse. Im Ringen um Hegemonie veränderten sich die Diskurse um die Legitimitätsform der Staatsgewalt genauso wie die um die Reichweite der demokratischen Partizipation der ›Staatsbürger‹. Hall geht hier auch auf den Einfluss der konkurrierenden liberalen, pluralistischen und marxistischen staatstheoretischen Ansätze ein, deren Entwicklungs- und Hegemoniefähigkeit sich an den empirisch stattfindenden Veränderungen ›des Staates‹ messen müssten.

Wissenschaftlich fundierte Positionierung und Kritik ist für Hall grundlegend für eine kritisch fortzuschreibende und zu erneuernde Begriffsbildung, aber auch für ein kritisch-eingreifendes gesellschaftspolitisches Engagement. Stuart Hall nutzt 1980 eine Rezension von Nicos Poulantzas’ Buch Staatstheorie, um dessen kritisch erneuerte Positionierungen in der Auseinandersetzung mit anderen theoretischen Ansätzen, mit historischen Materialanalysen und mit empirischen Untersuchungen sich verändernder Staatsformen zu prüfen. Hall würdigt die neuen Dimensionen in Poulantzas’ Begriffsbildung, die dieser aus der Auseinandersetzung mit Michel Foucault erarbeitet habe, kritisiert aber auch, dass er die theoretischen Probleme und Widersprüche, die sich aus der Kreuzung divergenter Theorieströmungen ergeben, nicht offen dargelegt und diskutiert habe. – In Die Bedeutung des autoritären Populismus für den Thatcherismus (1985) stellt sich Hall selbst der Kritik, und zwar jener, die Bob Jessop u.a. an seiner Begriffsbesetzung von ›autoritärer Populismus‹ geäußert haben. Hall nimmt diese Kritik an und nutzt sie offen, um seine Prämissen zu überdenken, seine politische Haltung zu reflektieren und neue Erkenntnisse für eine fortzuschreibende Begriffsbildung aufzunehmen. Er weist die Kritik aber auch zurück, indem er darlegt, dass einige wesentliche Argumente von Jessop u.a. theoretisch verkürzt, verfehlt oder überbewertet sind, was Hall dazu veranlasst, seine eigenen ideologie- und hegemonietheoretischen Argumentationen zum ›autoritären Populismus‹ bekräftigend darzulegen.

In dem Interview »Jeder muss ein bisschen aussehen wie ein Amerikaner« greift Stuart Hall sein zentrales Anliegen der Theoretisierung und Politisierung des Kulturellen wieder auf und äußert sich zur Bedeutung des Kulturellen fürs Verstehen der Gesellschaft (2007): Eine Analyse historischer und umbrechender ökonomischer und politischer Verhältnisse und der entsprechenden Veränderung der Haltungen und Praxen gesellschaftlicher Akteure ist ohne Einbeziehung des Kulturellen nicht zu denken, ebensowenig die Formulierung menschenwürdiger Lebensperspektiven und demokratischer Gestaltungsverhältnisse, die Gerechtigkeit und Diversität zusammendenken. Hall hebt insbesondere die Bedeutung des Imaginären für das Verstehen des subjektiven Alltagsverstandes und kollektiver Handlungsbegründungen heraus; und diskutiert die für ihn bedeutende Verknüpfung von Kultur bzw. von Cultural Studies und politischer Sujektivität, die durch den neoliberalen Konsumismus umgeformt, gar zersetzt werde.

Wir danken allen Übersetzerinnen und Übersetzern für ihre Beiträge, ohne die das Buch nicht zustande gekommen wäre. Für ihre Unterstützung bei der Planung und Umsetzung des fünften Bandes der Ausgewählten Schriften von Stuart Hall danken wir Thomas Barfuss und Ines Langemeyer.

Hamburg, Tampere und Wien, November 2013

Die Herausgeber

Der strittige Staat

Der Staat ist eine historische Erscheinung: er ist ein Produkt gesellschaftlicher Vereinigung – von Frauen und Männern, die in organisierter Weise zusammenleben; der Staat ist kein natürliches Produkt. Es gab Zeiten, in denen ›der Staat‹ – so wie wir ihn kennen – nicht existierte. Clans und Sippschaften der Frühgeschichte, semi-nomadische Völker oder sesshafte Stämme mit sehr einfachen Formen sozialer Organisation, sie alle bildeten das heraus, was wir heute Gesellschaft nennen – ohne einen Staat zu besitzen. Hieraus muss noch lange nicht geschlussfolgert werden, dass sie führerlos sind oder dass es ihnen an geregelten Verfahren der Auseinandersetzung mangelt. Ordnung und soziale Kontrolle lassen sich durch viele andere Mittel und Möglichkeiten aufrechterhalten als durch eine zentralisierte Autorität oder einen Regierungsapparat. Gewohnheit und Brauch können die gleiche zwingende Macht über menschliches Verhalten erlangen wie das kodifizierte Recht. In einigen staatenlosen Gesellschaften nimmt der Vorstand des Haushaltes oder nehmen Anführer von Abstammungsgruppen die Funktion von Regelungsverfahren ein, ohne die Grundlage einer dauerhaften Herrschaftsordnung herauszubilden.

Diesen Kontrast mit ›staatenlosen Gesellschaften‹ zu bilden hilft uns festzulegen, was der Staat ist. Simon Roberts (1981) definiert den Staat folgendermaßen: »eine höchste Autorität […], die über ein bestimmtes Territorium herrscht; die anerkanntermaßen die Macht hat, Entscheide zu fällen, die ihre Herrschaft betreffen […], die ferner in der Lage ist, ihre Entscheide durchzusetzen und überhaupt die Ordnung im Staate aufrechtzuerhalten.« Demnach ist die Fähigkeit zum Ausüben von Zwangsgewalt ein entscheidendes Element: »Die elementarste Prüfung der Autorität eines Herrschers entscheidet sich mit der Frage, ob er Gewalt hat über Leben und Tod seiner Untergebenen.« (145f.) Dies definiert Staatsgewalt als einen rechtmäßigen Anspruch des Staates auf Gehorsam seiner Untertanen. Alle Staaten hängen von diesem besonderen Verhältnis zwischen Herrschaft und Unterwerfung ab. Herrschaft wird als die Macht verstanden, Entscheidungen über die ›grundsätzlichen Regeln‹ für die ganze Gruppe zu treffen. Zu prüfen ist, innerhalb welcher Grenzen und mittels welcher Personen der Staat seinen Rechtswillen durchsetzen kann. Innerhalb dieser Grenzen ist der Staat die höchste Autorität.

Früh-Geschichten des modernen Staates

Der Staat ist in einem weiteren Sinne historisch: er verändert sich im Laufe der Zeit und im Verhältnis zu spezifischen Bedingungen und Umständen. Seit der Antike existierte in Westeuropa eine organisierte öffentliche Gewalt, die Autorität beanspruchte und kontinuierlich als legitime Herrschaft agierte; obwohl der heutige Begriff ›Staat‹ lange Zeit mit seiner üblichen modernen Bedeutung gar nicht gebraucht wurde.

Aus den Clans und Stämmen der frühen griechischen Zivilisation heraus erschien eine überraschend ›fortschrittliche‹ Form des Staates – der Stadt-Staat oder die polis. Dies gab uns die Saat für zwei mächtige Begriffe, die mit dem modernen Staat verbunden sind: ›Demokratie‹ von demos, die Herrschaft des Volkes oder der Bürgerschaft; und polis, die Wurzel der Wörter wie z.B. ›politisch‹ oder ›Politik‹. Das antike Griechenland stellte auch zwei wesentliche Überlegungen zu Regierung und Herrschaft bereit, die weitgehend als Gründungstexte der politischen Philosophie in Europa angesehen werden: Platons Der Staat und Aristoteles’ Politik.

Die Periode der hellenischen Stadt-Staaten dauerte ungefähr von 800 bis 500 vor Christus. Die frühen ›Tyrannen‹ brachen die Macht des Landadels über die Regierung der Städte, und nahezu die ganze Bürgerschaft, einschließlich der Klein- und mittelgroßen Bauern, erhielt Rechte. In der polis gehörten alle Bürger der Volksversammlung an, konnten wählen und direkt an der Regierung partizipieren: eine ›direkte Demokratie‹, manchmal bis zu 5000 – 6000 Bürger umfassend, mit einer wenig eingreifenden Verwaltung oder Bürokratie. Allerdings hatte die große Zahl der Sklaven, die die Basis der athenischen Demokratie ausmachten, weder Rechte noch den Status eines Staatsbürgers.

Später wurden die Stadt-Staaten durch das athenische und andere Imperien absorbiert, die in der Folge von territorialer Eroberung expandierten. Diese Expansion stellte die griechische Demokratie ernsthaft auf den Prüfstand. Es erwies sich als schwierig, das ortsgebundene Konzept von Bürgerschaft auf die anderen 150 Städte auszudehnen, die das athenische Imperium verschlang. Nach Alexander dem Großen wurde die Herrschaft eines alleinigen Machthabers mit einer königlichen Thronfolge eingeführt. Der königliche Regent wurde mit einem göttlichen Status gekrönt und seine eigene Person zu einem ›Gott‹ erhöht.

Auch Rom entstand aus einem mächtigen Stadt-Staat. Anders als sein griechisches Gegenstück wurde Rom nie ›demokratisiert‹. Die Römische Republik (vom lateinischen res publica; ›die zur öffentlichen Sphäre gehörenden Dinge‹: ein Begriff, der oft gebraucht wird, um das zu bezeichnen, was wir heute ›den Staat‹ nennen) basierte auf einem Senat, der von aristokratischen Mächten dominiert wurde. Später wurde seine Basis erweitert: durch Volksversammlungen gewählte Konsuln wurden eingebunden. Römische Bürgerschaft wurde eher durch das Recht bestimmt und weniger durch strikte Territorialität. Weil es keine ›direkte Demokratie‹ war, war es einfacher, die römische Bürgerschaft um die herrschenden Klassen anderer Städte und Territorien zu erweitern, die von den Römern erobert wurden. ›Civis Romanus sum‹: ein römischer Bürger war ein Staatsbürger, der irgendwo und überall war.

Die soziale Basis der römischen Zivilisation war die grundbesitzende Klasse; das Land wurde von einer abhängigen und verschuldeten Bauernschaft bearbeitet, später ergänzt durch Sklavenarbeit. Die ländliche Gegend wurde zunehmend von Kleinbauern besiedelt, frei im Status, aber ›besitzlos‹. Die Unterklasse der Städte waren die ›proletarii‹ (Herkunft des Begriffs ›Proletariat‹). Das Ausmaß der Land-Transaktionen, der Handelsregulierung und der Vererbung von Privateigentum, die Definition von Staatsbürgerschaft und die Herausbildung von Unterschieden zwischen der öffentlichen Rolle der Grundeigentümer als Bürger und ihrer ›privaten‹ Rolle als Vorstand der Familienhaushalte – pater familias – führten zu einem weiteren wichtigen Beitrag Roms zum europäischen Staat: ein systematisierter Kodex des ›Römischen Rechts‹. Römisches Recht half die Unterscheidung zwischen ›Staat‹ und ›Gesellschaft‹ zu begründen, oder zwischen dem Öffentlichen (dem Staat und öffentlichen Angelegenheiten zugehörig) und dem Privaten (den Beziehungen privater Vereinigungen, der ›Zivilgesellschaft‹ und dem häuslichen Leben der patriarchalen Familie zugehörig).

Innere Spannungen entstanden aufgrund der ungleichen Verteilung von Land, der Forderungen der ›Landlosen‹ und der Sklavenaufstände, auch aufgrund der Probleme, die weit zerstreuten, von der römischen Armee eroberten Provinzen innerhalb eines vereinten Staates besetzt zu halten, sowie der Herausforderungen an die senatorische Macht – all dies trieb Rom zu einer zentralistischeren Herrschaftsform. Unter Augustus bildete sich das römische Kaisertum als neues System heraus. Trotzdem lehnte sich der römische Staat noch an ein System des Bürgerlichen Rechts an, und es wurde weiterhin erwogen, die Gesetze in unbestimmter Weise vom ›Volk‹ herzuleiten – aber nicht im Sinne eines souveränen ›Volkswillens‹, wie wir ihn aus heutigen modernen Demokratien kennen.

Dieser Ansatz, dass Staatsmacht sich aus dem Recht ableitet, war entscheidend für die nachfolgende Entwicklung des ›Rechtsstaatsprinzips‹ und des ›Verfassungsstaates‹. In der Ära der Republik formulierte Cicero die Grundlinie des senatorischen Regimes wie folgt: »Wir gehorchen den Gesetzen, um frei zu sein.« Im spätrömischen Imperium, als die Kaiser volle despotische Herrschaft ausübten und göttlichen Status einnahmen, erfolgte eine signifikante Verschiebung, die im 3. Jahrhundert von dem Philosophen Ulpian formuliert wurde: »Der Wille des Herrschers hat Gesetzeskraft.« Dennoch sollte das Recht weiterhin ein wichtiges Ideal der Herrschaft und des Staates darstellen.

Als die imperialen Grenzen des Römischen Reiches erreicht und geschlossen waren und die begrenzten Möglichkeiten für ökonomisches Wachstum auf der Grundlage der Sklaverei evident wurden, wurde Rom allmählich geschwächt: durch ›Verwässerung‹, da der ›Osten‹ des Reiches auf Kosten des mediterranen ›Westens‹ wuchs; durch Unruhen auf dem Lande und Aufstände der Sklaven; letztlich auch durch barbarische Invasionen aus dem Norden. Das späte Rom bereitete den Weg für ein neues Arbeits-Regime auf Grundlage der großen Grundbesitze: ›Freie Pächter‹ standen unter der direkten Herrschaft der großen agrarischen Grundherren; das Bauerntum (coloni) war an ein Pachtverhältnis mit dem Gutsbesitzer gebunden und zahlte ›Abgaben‹ in Form von Zins und Arbeitskraft. Dieses Element wurde später in den Feudalismus aufgenommen.

Als die Römer gen Norden voranschritten, trafen sie auf die sehr verschiedenen Regierungssysteme, die die germanischen Stämme organisierten. Diese wanderten ins äußere Hinterland des Römischen Reiches ein, siedelten an dessen Grenzen und bildeten möglicherweise einen Teil der barbarischen ›Horden‹, die Rom plünderten und es ins frühe Mittelalter trieben. Die germanischen Völker bestanden im Wesentlichen aus Sippen, d.h. aus großen, verwandtschaftlich organisierten Verbänden, die ihre Mitgliedschaft oft entlang der Verwandtschaftslinie der Mütter bestimmten. Sie besaßen und bearbeiteten das Land gemeinsam, mit wenig privatem Eigentum: eine kommunale oder ›primitiv kommunistische‹ Produktionsweise. Im Vergleich zu Griechenland oder Rom wurden sie eher lose durch aristokratisch besetzte Räte regiert. Ihnen untergeordnet waren mächtige Versammlungen freier Krieger und ihnen wiederum unterstand das Gefolge von Soldaten-Banden, oft mit eigenen ›Chefs‹. Diese Siedler- wie auch ›Krieger-Gemeinschaften‹ mit ihren Bindungen, die auf persönlicher Loyalität wie auch auf ausgeprägter Kriegs- und Schutzbereitschaft bestanden, trugen ein zweites wesentliches Element zum Feudalismus bei: die germanischen Siedlungen legten auffällig viel Wert auf Volksversammlungen. Sie praktizierten auch eine andere Rechtsform. Im Gegensatz zur Formalität des römischen Rechts wurde das germanische Recht sozusagen ›vom Volk‹ gesprochen, auf Grundlage ihres tradierten ›Volkstums‹ und der Summe der gemeinschaftlichen Bräuche. Auf diese Wurzeln lassen sich die ›Parlamente‹ der Engländer und das englische Gewohnheitsrecht (common law) zurückführen.

Feudale Staaten

Der europäische Feudalismus nahm eine Vielzahl von Formen an. Es ist hier nur möglich, die wesentlichen Verhältnisse und ihre Konsequenzen für die Staatsbildung darzustellen, die sich in Europa gegen 800 n. Chr. ausprägten (die Zeit der Krönung Karls des Großen, des Frankenkönigs, zum Kaiser durch den Papst). In diese Zeit fällt das Bemühen, das Römische Imperium – lange schon im ernstlichen Verfall – unter dem Patronat der katholischen Kirche zu erneuern. Dafür sollten die zersplitterten Staaten des westlichen Christentums in einem neuen Heiligen Römischen Reich vereint und zentralisiert werden. Diese Länder und Königreiche, die sich von Spanien bis Deutschland, von Nordfrankreich bis Italien erstreckten, standen unter der Herrschaft verschiedener Grafen, Herzöge und Prinzen, die dem Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Gefolgschaft schuldeten. Dieses Bestreben, ein politisch einheitliches christliches Imperium zu schaffen, wurde durch die ihm zugrunde liegenden gesellschaftlichen und ökonomischen Verhältnisse ausgeglichen.

Unter diesen sozio-ökonomischen Bedingungen sprach der Herrscher oder der Lord seinen ihm ergebenen Vasallen Nutz- und Landrechte (›benefices‹) zu, gegen Rückzahlungen in Gold und in der Hoffnung auf fortdauernde Militärdienste. Es gab ebenso ein germanisches ›Vasallen‹-System, in dem führende Krieger sich an ihren Lord banden und ihm im Gegenzug für seinen Schutz ihre persönliche Loyalität und Huldigungen bekundeten. Feudalismus bildete sich aus der Verschmelzung oder Synthese dieser beiden Elemente heraus. Aus den Ländereien wurden ›Lehensgüter‹: begrenzte Lehen wurden als Gegenleistung z.B. für Militärdienste überlassen. Der Lord der Vasallen beutete diese Lehen ökonomisch mittels der Arbeit unfreier Bauern aus, die wiederum ans Land gebunden waren; die Bauern waren gezwungen, im Austausch für Schutz ihre Arbeitsdienste zu leisten und ihre Pacht und Abgaben in Form von Geld und Arbeitskraft zu zahlen.

Diese Kette gegenseitiger Verpflichtung war außerordentlich lang, weil der Lord der einen selbst Vasall eines anderen mächtigeren Feudalherren und dieser wiederum Vasall eines Adligen, eines Herzogs oder eines Königs sein konnte. Die breite Bevölkerung an der Basis, auf der die ganze Pyramide fußte, ist »Objekt der Herrschaft […], aber nicht Subjekt eines politischen Verhältnisses« (Poggi 1978: 23). Das Verhältnis zwischen Herrscher und Leibeigenen war die Kernform der feudalen Ökonomie, das Verhältnis zwischen Herrscher und Vasallen war die Kernform der politischen Herrschaft.

Dieses ausgedehnte Netzwerk aus ineinander verschränkten Verbindungen und Verpflichtungen produzierte eine unvermeidliche »Fragmentierung eines jeden großen Systems der Herrschaft in kleinere, zunehmend autonome Systeme« (27). Macht wurde personengebundener und lokaler. In jedem Bereich ergaben sich konfligierende Systeme der Loyalität – eine »soziale Welt von sich überschneidenden Ansprüchen und Gewalten« (Anderson 1978: 178), auch als ›feudale Anarchie‹ bezeichnet.

Grundsätzlich (und mit einigen wichtigen Ausnahmen, in Nordfrankreich und in England, wo die Monarchie zu einer stärkeren und einheitlicheren Form neigte) war der klassische feudale Monarch von unterschiedlichem Stand als seine Lords – primus inter pares. Obwohl ›von Gott gesalbt‹, war er aufgrund des göttlichen Status nicht von ihnen losgelöst, sondern durch reziproke Verpflichtungen an sie gebunden. Die mächtigsten Lords konstituierten eine wirkliche Quelle alternativer Macht, mit der ein feudaler Monarch stets rechnen musste und die er daher regelmäßig konsultierte, da er ohne sie weder Steuern erheben noch eine Armee aufstellen konnte. Sie wurden zu seinen Beratern, zu seinem Gerichtshof und zu seiner Ratsversammlung. Einige Herrscher mussten eine formale Einwilligung ihrer Volksversammlungen einholen, um Steuern zu erheben. Dies waren in der Tat frühe Formen des ›Parlaments‹, die ab dem 13. Jahrhundert eine zunehmend wichtige Rolle spielen sollten.

Aufgrund dieser inneren Spannungen zwischen verschiedenen und sich überlagernden Quellen der Macht und der Autorität, befand sich der feudale Staat also ständig in einer Zerreißprobe. Die Monarchie trachtete danach, sich als eigenständige Autorität hervorzuheben. Die Lords hingegen nutzten ihre Ländereien und ihre lokale militärische Macht, um die tendenzielle Zentralisierung der königlichen Autorität zu kontrollieren. Der feudale Monarch war daher kein ›Souverän‹, sondern nur ein Suzerän: ein besonders begrenzter Typ der säkularen Autorität.

Innerhalb dieses lose verknüpften Gefüges des Feudalismus tauchten konkurrierende Zentren der Macht mit einem deutlich andersartigen Herrschaftssystem auf. Die Städte standen aufgrund ihrer privilegierten Rechte außerhalb des klassischen feudalen Systems. Sie hatten eine andere soziale und politische Struktur, da sie von Handel und Handwerk dominiert wurden und weil sie Finanzzentren waren. Mittelalterliche Städte waren »Inseln im Meer des Feudalismus« (Pirenne 1969), mit einer großen und wohlhabenden Klasse an Kaufleuten, ausgebildeten Handwerkern, Kunstgewerblern und Lohnarbeitern. Die größeren Städte bildeten ein autonomes Herrschaftssystem heraus – wie bei der italienischen Kommune –, das auf dem Loyalitätseid einer ›Gemeinschaft‹ gleicher Bürger gründete. Die führenden Bürger erhielten das Recht, die Stadt als Körperschaft im Rahmen der Stadtverfassung selbst zu verwalten. Innerhalb der Städte setzte sich ein Repräsentationssystem entlang des Besitzstandes durch: die höheren Statusgruppen – Geistlichkeit, Adel und die Elite der Bürger – hatten Repräsentationsrechte. Jenseits davon bildete sich eine Vielzahl besitzständisch besetzter Versammlungen und Parlamente, Reichstage und Stadträte heraus, die mit dem Herrscher oder den führenden Familien einer Stadt und des sie umgebenden Territoriums in Verbindung standen. Die großen Städte Norditaliens und Flanderns waren Beispiele dieses gesellschaftlichen Entwicklungstyps im späten Mittelalter. Die ›Bürger‹ waren die Vorreiter dieser Klasse, die erstmals in den mittelalterlichen Städten wirkungsvoll Macht ausübten und die Basis einer aufkommenden ›bourgeoisen‹ städtischen Klasse formen sollten.

Die Kirche war über das gesamte Zeitalter hinweg die wichtigste konkurrierende Machtinstanz für die feudale Aristokratie. Sie verfügte über großen Reichtum und institutionelle Macht, setzte eine Art konkurrierendes Netzwerk innerhalb von und zwischen Staaten ein, beanspruchte religiöse Herrschaft: all dies trieb sie an, mit den säkularen feudalen Strukturen zu wetteifern – mit Königen, Prinzen, Herzögen und mit dem Kaiser des Heiligen Römischen Reiches selbst. Die Kirche errang die Ansprüche einer höheren Autorität in säkularen wie in religiösen Angelegenheiten, denn, wie Augustinus darlegte: was sonst ist die Geschichte der Kirche als »der Marsch Gottes in der Welt« – eine Ansicht, die säkulare Herrscher weit unter Christus’ Vikaren auf Erden und ihren religiösen Agenten einordnete. Vom 12. Jahrhundert bis zur Reformation, bevor der universelle Machtanspruch der Katholischen Kirche verfiel und ›nationale‹ Kirchen in Verbindung mit stärkeren und einheitlicheren nationalen Monarchien entstanden, herrschte ein unendlicher Kampf zwischen dem Papsttum und den weltlichen Herrschern über die Grenzen des Religiösen und Säkularen. Der Anspruch des Papsttums auf eine einzige und souveräne religiöse Macht provozierte auf der anderen Seite die Forderung der Monarchie nach einer uneingeschränkten, unabhängigen, säkularen Autorität. Letzteres war der Keim der modernen Auffassungen von Souveränität.

Absolutismus

In der Krise des Feudalismus zwischen dem 14. und dem 16. Jahrhundert tauchte aus den Trümmern mittelalterlicher Institutionen eine neue Staatsform auf, die in jenen unabhängigen, national vereinten Renaissance-Monarchien in Ländern wie Frankreich, Spanien und England verankert ist: der moderne Absolutismus. Dies bezog die Stärkung einer einheitlichen territorialen Herrschaft mit ein; die Einnahme schwächerer und kleinerer Territorien durch stärkere und größere; die Verschärfung des Rechts, der Ordnung und der Sicherheit im ganzen Königreich; die Anwendung einer mehr »zentralistischen, dauerhaften, berechenbaren und effektiven« Herrschaft, mit ihrer Macht, die sich auf einen einzigen, souveränen Kopf fokussiert (Poggi 1978: 61). Mehrere Faktoren trugen zu seinem Aufstieg bei: der Niedergang der feudalen Leibeigenschaft; die Umwandlung feudaler Abgaben in Geldzins; die Ausweitung von Markt und Handel; die Verdrängung feudaler Militärverpflichtungen durch anwachsende, neue, professionelle, stehende Heere; die zunehmend zentrale und beständige Steuererhebung durch den Staat (was wiederkehrende Aufstände der Armen gegen die Steuereintreiber provozierte).

Der absolutistische Staat ist der Übergang zwischen den vielen Variationen des feudalen Staates und dem ›bürgerlichen‹ Verfassungsstaat, der sich – zuerst in England – im 17. und 18. Jahrhundert herausbildet. Innerhalb des Absolutismus untergruben die Entwicklungsbewegungen des Handels, des Marktes und des Kapitals die dichten lokalen Strukturen des Feudalismus und schufen einheitlichere, staatsweite, nationale Ökonomien. Die territorialen Grenzen stimmten zunehmend mit den Grenzen überein, innerhalb deren der Staat ein einheitliches System des Rechts, der Ordnung und der Verwaltung effektiv durchsetzen konnte. Der ›Merkantilismus‹ stieg zur dominanten ökonomischen Doktrin des Absolutismus auf und legitimierte eine leitende Rolle des Staates und der Krone in Handelsunternehmen. Diese Staaten nahmen demzufolge zunehmend einen ›nationalen‹ Charakter an – wie der Protonationalismus des elisabethanischen Englands. Beziehungen zwischen Staaten ermöglichten »die Installierung eines verbindlichen Regeln verpflichteten zwischenstaatlichen Informationsaustauschsystems, mit dessen Hilfe entsprechender Druck ausgeübt werden konnte« (Anderson 1979: 47), fortdauernd gefestigt mittels formaler Diplomatie und dynastischer Heiratsallianzen – obwohl Anderson uns daran erinnert, dass der »lange Umweg über die Heirat […] vielfach direkt zum kurzen Weg des Krieges zurück« führte (48). Die staatlichen Bürokratien wurden um Ämter erweitert, die mit aufstrebenden Adelsfamilien und anderen Angehörigen des Hofes besetzt wurden. Wechselnde Allianzen bildeten sich im Verhältnis zur Krone heraus und um. Der Adel suchte Ämter und Vorteile am Königshof. Absolute Monarchien nutzten zeitweise diesen Adel, zeitweise forcierten sie Allianzen mit anderen Elementen – z.B. mit merkantilen Klassen – als eine Möglichkeit, die Macht des Adels zurückzudrängen. Aber diese Höfe waren Beigaben der Herrschaft des Monarchen, nicht Mitwirkende an der Herrschaft. Der absolutistische Herrscher »herrschte von seinem Hofe aus, nicht vermittels des Hofes«; und das Recht wurde nicht »eine Rahmenordnung für Herrschaft«, sondern vielmehr »ein Werkzeug der Herrschaft«, angepasst an die souveräne Macht des Thrones (Poggi 1978: 70).

Im 16. Jahrhundert besiegelte Jean Bodin diese Entwicklung mit der Doktrin vom »göttlichen Recht der Könige«. Partnerschaftliche Herrschaft zwischen Monarch und Volk, eingeschrieben in die Ständeordnung im späten Feudalismus, verwelkte unter dem Absolutismus. In Frankreich wurden die Generalstände zwischen 1614 und 1789 nicht einbestellt, und ihre Einberufung löste den Prozess aus, der in die Französischen Revolution mündete. In England führten die Herrschaftsweisen der Stuart-Könige und ihre Steuererhebungen ohne Einwilligung des Parlaments zur Englischen Revolution der 1640er Jahre.

Verfassungsstaat oder Vertragsstaat

Gerade weil er jedes Element der Herrschaft innerhalb eines säkularen Zentrums vereinigte und konzentrierte und auch Anspruch auf eine absolute Herrschaft erhob, die säkular und national war, half der Absolutismus einen Pfad zum ›bürgerlichen‹ Verfassungsstaat zu bahnen oder einen Weg dorthin vorzubereiten. In England (wo der wesentliche Konflikt im 17. Jahrhundert aufbrach) und Frankreich (später, am Ende des 18. Jahrhunderts) wurden Teile des niederen Landadels neben entstehenden Händler-Klassen, städtischen Handwerkern und Arbeiterklassen in einen ›vermischten‹ Streit gegen die Ansprüche des Absolutismus, die Macht des Hofes und die Starrheit des Merkantilismus hineingezogen. Die Expansion des Handels dieser neuen ›Nationalstaaten‹ untergrub den Absolutismus. Als Folge der Aufstände gegen dieses Ancien Régime beschleunigte sich die moderne bürgerliche Entwicklung. Am Ende des 18. Jahrhunderts veränderte sich die britische Ökonomie durch das Anwachsen der marktförmigen Landwirtschaft und Lohnarbeit, das ungebremste Wirken der Gesetze des ›freien Marktes‹, den sich ausdehnenden Verkauf und Erwerb von Grund und Boden, die vollständig ausgeformten Auffassungen von Privateigentum, die allgemeine Auflösung einer alten ›moralischen Ökonomie‹ und die Vorherrschaft eines agrarischen Kapitalismus. Eine neue Art von bürgerlicher Zivilisation begann sich zu manifestieren. Die Klassen waren mit dieser Entwicklung eng verbunden – die merkantilen Klassen, aber auch Teile der Klasse der Grundeigentümer, die ihr Eigentum zunehmend als ›fixes Kapital‹ einsetzten; sie traten als neue, machtvolle soziale Gebilde in der Gesellschaft auf. Aufgrund ihrer Vorherrschaft in der ›Zivilgesellschaft‹ nahmen sie allmählich eine dominierende Position im gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben ein. Dann begannen sie für eine Beteiligung an Staatsmacht und Herrschaft zu kämpfen. Die Prinzipien des Marktes und des Vertrages, die die Grundlage ihres wachsenden Wohlstandes bildeten, wurden zum ersten Mal die Metapher für eine neue Auffassung vom Staat: ein Vertragsstaat, in dem Macht geteilt wurde; das Recht der oberen und mittleren Schichten der Gesellschaft, neben dem Herrscher an der Macht zu partizipieren, wurde durch die Verfassung garantiert und formalisiert.

Der lange Prozess hin zu einer Ausweitung der Basis des Gesellschaftsvertrages wurde im Zuge der Revolution von 1644 und der parlamentarischen Phase in England initiiert und mündete in eine gemäßigte und gemischte Form der ›parlamentarischen Monarchie‹. Unter den Bedingungen dieses konstitutionellen Systems fand die Industrialisierung statt. In den finalen Stadien richteten sich die Kämpfe auf die Ausweitung des Wahlrechts und die Schaffung eines umfassend demokratischen Staates im 19. Jahrhundert. In Frankreich zog sich der Niedergang des Absolutismus lange hin. Als er dann erfolgte, waren die popularen Klassen – die wirklichen Außenseiter in dieser langwierigen Verschiebung der Macht – direkt in die Kämpfe involviert und das ›Reform‹programm nahm folgerichtig seine ›radikalste‹ Form mit der jakobinischen Forderung nach »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit« an. Diese wurden eher von kapitalistischen denn von feudalen Formen ökonomischer und politischer Verhältnisse dominiert, mit einem neuartigen Typ von Gesellschaftsstruktur und einem ganz anderen Gleichgewicht zwischen verschiedenen Klassen; sie wirkten im Geiste neuer Auffassungen von Herrschaft, Autorität und Macht und entwickelten neue, ›vertragliche‹, liberale und verfassungsmäßige Formen der Herrschaft. Das markierte den Anfang der ›bürgerlichen‹ Revolutionen und führte an die Schwelle zum ›modernen Staat‹.

Entwicklung des modernen Staates

Es ist schwierig, die Ursprungsidee eines modernen Staates genau zu datieren, da das Wort ›modern‹ offen für verschiedene Interpretationen ist. Die nützlichste Definition bezieht sich nicht auf einen chronologischen Zeitraum, sondern auf das Auftauchen von bestimmten Merkmalen des Staates, die in zeitgenössischen Gesellschaften noch erkennbar sind. Diese Merkmale beschreiben Staaten, in denen Macht geteilt wird; in denen die Rechte auf Partizipation an der Regierung rechtlich oder verfassungsmäßig legitimiert sind; in denen Repräsentation umfassend, Staatsmacht vollständig säkular und die Grenzen nationaler Souveränität eindeutig bestimmt sind. Eine Staatsform dieses Typs tauchte sehr ungleichzeitig innerhalb Europas auf. Er manifestierte sich in Großbritannien bereits im 18. Jahrhundert, während er in Deutschland vor dem Ende des 19. Jahrhundert nicht anzutreffen war.

In Großbritannien bildete sich der klassische liberale Staat als Folge der parlamentarischen Zwischenregierung und des ›Großen Kompromisses‹ von 1688 während des 18. Jahrhunderts bis weit hinein ins 19. Jahrhundert heraus. Dies umfasst die Zeitspanne des agrarischen und frühen industriellen Kapitalismus und Großbritanniens Aufstieg zur Vormacht als Handels- und Produktionsmacht. Die zwei Bereiche sind organisch miteinander verbunden: Aufgrund der Forderungen der aufstrebenden Klassen, die mit dieser ökonomischen Entwicklung verbunden waren, war der Staat gezwungen, einen liberaleren und rechtsstaatlichen Pfad einzuschlagen. Diese Form des Staates wurde als ›liberal‹ bezeichnet: a. im Gegensatz zu den Rigiditäten des Ancien Régime und b. wegen seiner wesentlichen Funktion, die ›Rechte und Freiheiten‹ des Individuums zu garantieren. Die Organisationsprinzipien, die dem Handel und dem Gewerbe zu expandieren ermöglichten – der Freihandel, die Gesetze des Marktes und des Vertrages –, waren auch die Prinzipien, die die Beziehungen zwischen Staat und Individuum neu formierten. Individuen gingen mit dem Staat einen ›Gesellschaftsvertrag‹ ein, im Austausch für die Verteidigung ihrer Rechte und Freiheiten, die sie als ›natürlich‹ erachteten. Das macht die Individuen zum a priori des Staates, nicht umgekehrt. Diese Rechte sind sehr besondere: das ›Recht‹, Arbeitskraft zu kaufen und zu verkaufen; Privateigentum zu besitzen und darüber zu verfügen; ›frei zu handeln‹, außer jemand bevorzugt den Rechtsweg; (insbesondere vom Staat) ›unbehelligt eigene Privatgeschäfte zu tätigen‹; ›sein Zuhause als seine Burg zu verstehen‹.

Einmischung in diese Freiheiten können nicht mehr aus Lust und Laune der Krone oder des Staates erfolgen, sondern müssen rechtlich genehmigt sein. Selbst der Staat war dem Gesetz unterworfen, d.h. Herrschaft durch das Recht oder ›Rechtsstaatlichkeit‹. Der liberale Staat musste stark sein, um das Leben und das Eigentum der Individuen zu beschützen, um frei abgeschlossenen Verträgen Geltung zu verleihen und die Nation gegen äußere Angriffe zu verteidigen. Aber dieser Staat musste sich auch zurücknehmen und nicht in zu viele Bereiche intervenieren. Insbesondere sollte er sich aus ökonomischen Transaktionen heraushalten und sie dem freien Spiel der Marktkräfte überlassen (die Wurzel der Doktrin des Laissez-faire).

Dieser ›liberale kapitalistische‹ Staat war freilich keine Demokratie. Die Mehrheit durfte nicht wählen, sich nicht frei versammeln, nicht veröffentlichen, nicht Mitglied einer Gewerkschaft werden, als Andersgläubige kaum einen Posten annehmen. Frauen durften weder wählen noch über Eigentum verfügen. Die Kämpfe der Mehrheit des gemeinen Volkes und der Arbeiterklassen, um diese politischen und Bürgerrechte für sich zu erlangen, bildeten die Grundlage der Reformbewegungen des 19. Jahrhunderts. Sie veränderten zwar nicht die grundlegende Form des liberalen Staates, modifizierten ihn aber erheblich, indem sie seine Repräsentationsbasis und seine demokratische Substanz erweiterten. Am Ende wurde die ›Demokratie‹ in den liberalen Staat eingepasst, um jene hybride Variante zu schaffen, die vom klassischen Liberalismus unterschieden werden muss: den liberal-demokratischen Staat. In den letzten Jahren des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg wuchs der Wettbewerb zwischen den sich industrialisierenden Weltmächten: das war ein Gerangel zwischen den imperialen Mächten. Großbritannien verlor seine führende Wettbewerbsfähigkeit: andere Nationen industrialisierten schneller und überholten die Briten. Es gab einen neuen Antrieb, die britische Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern, die Gesellschaft zu modernisieren und sie ›effizienter‹ zu machen. Zusehends wurde das Argument gestärkt, dass der liberale, minimalistische, Laissez-faire-Typ des Staates diese Aufgabe nicht erfüllen könne. Großbritannien brauchte einen stärker steuernden, interventionistischen Staat, der in der Lage war, organisch im Interesse der ganzen Gesellschaft zu agieren und zu planen.

Dieser Schritt zum Kollektivismus wurde aus zwei Richtungen verstärkt: Unterstützung kam von den herrschenden Klassen im Namen einer größeren ›nationalen Leistungskraft‹; und auch von den arbeitenden Klassen, den Armen und den Arbeitslosen, weil sie glaubten, dass dem Industriekapitalismus nur durch den Staat Reformen auferlegt werden können, die ihre Lebensverhältnisse verbessern und weitergehende ökonomische Gleichheit und soziale Gerechtigkeit herstellen würden. Den Egalitarismus vertretende Bewegungen und Sozialisten sehr verschiedener Couleur forderten dementsprechend eine erweiterte Rolle für den Staat. Die Reformer glaubten, dass es ohne Staatsintervention niemals eine angemessene Versorgung für die Armen, die Arbeitslosen, die Alten und die Kranken geben werde. Die Sozialisten argumentierten, dass der Wohlstand ohne Staatsintervention niemals gerechter geteilt werde. Die Arbeiterbewegung engagierte sich zu dieser Zeit für ›gesellschaftliches‹ (praktisch Staats-) Eigentum und für die Kontrolle der Leitungspositionen der Wirtschaft. Im Großen und Ganzen waren es die evolutionären und reformistischen Versionen dieser Programme, die in der britischen Arbeiterbewegung institutionalisiert wurden.

Kollektivistische Staatspolitik wurde nur langsam und ungleichmäßig umgesetzt. Trotz Anstrengungen in dieser Richtung zwischen 1906 und 1911 und zwischen den Weltkriegen erreichten diese ›reformistischen‹ Tendenzen ihren Höhepunkt erst mit dem Nationalisierungsprogramm und den sozialstaatlichen Maßnahmen der Nachkriegs-Labour-Regierung im Jahre 1945.

Die ›Entstehung‹ des Wohlfahrtsstaates wird mit Recht den reformerischen Sozialprogrammen der Liberalen Regierung von 1906 – 1911 zugeschrieben; aber seinen Höhepunkt erlebt er in der Zeit der Labour-Regierung nach dem Zweiten Weltkrieg. In den 1950er Jahren wurde zuerst Großbritannien und in Folge auch alle anderen fortgeschrittenen kapitalistischen Gesellschaften ›Wohlfahrtsstaaten‹. Diese Tendenz wurde selbstredend von denen abgewehrt, die eine ›liberale‹ Auffassung von Staat gefährdet sahen, und von denen, die glaubten, dass sie ›überbesteuert‹ werden, um solch einen Wohlfahrtsstaat zu finanzieren. Aber die Versorgungsempfänger – die Volksmehrheit – sahen ihn positiver. Die Basis für eine ›Nachkriegs-Vereinbarung‹ über den grundlegenden politischen Rahmen für die britische Nachkriegsgesellschaft ergab sich aus der stillschweigenden Übereinstimmung zwischen den zwei wichtigsten politischen Kräften. Dieser Konsens umfasste staatlich unterstützte oder finanzierte Wohlfahrt, Leistungen, Wohnungen, Bildung; ebenso Vollbeschäftigung und eine bedeutendere Rolle des Staates in der Wirtschaftspolitik (um die Katastrophen der Zwischenkriegsperiode zu vermeiden). Die ›Vereinbarung‹ wurde unter dem Namen ›Butskellism‹ bekannt: Gaitskell (Vorsitzender der Labour-Partei) und Butler (Anführer der Reformer der Tory-Partei), die die politische Aushandlung leiteten, waren auch Namensgeber der Vereinbarung. Nachträglich wurde sie auf ihren Chefberater Keynes zurückgeführt. Bildeten die politischen Reformen des 19. Jahrhunderts den ersten Schritt des Reformismus, der den liberalen Staat modifizierte, war Wohlfahrt der Folgeschritt: die Erweiterung der ›Bürgerschaft‹, die bestimmte soziale und ökonomische Rechte erhielt, und das Ende eines rigorosen Laissez-faire – genauso wie das beträchtliche Anwachsen des staatlichen Verwaltungsapparates.

Wir müssen dieser Entwicklung die Auswirkungen gegenüberstellen, die die diversen zur selben Zeit in Europa auftauchenden radikalen Tendenzen auf die politischen Einstellungen und Wahrnehmungsweisen in Großbritannien hatten. Evolutionärer, reformistischer Kollektivismus gipfelte im Wohlfahrtsstaat. Revolutionärer Kollektivismus gipfelte in der Herausbildung kommunistischer Staaten: die bolschewistische Revolution in Russland im Jahr 1917; die Entstehung des kommunistischen China in den 1940er Jahren; und die Ausbreitung dieses Regime-Typs innerhalb Osteuropas nach dem Krieg, weitgehend im Schatten sowjetischer Okkupation. In diesem Modell ›übernehmen‹ der Staat und die Politik das ›Kommando‹. Der Staat absorbiert die wesentlichen Funktionen der Zivilgesellschaft und der Wirtschaft und nimmt ihre positive Transformation in Angriff. Er führt ein Regime der nationalen Mobilisierung und strengen Reglementierung ein. Insbesondere das letzte Merkmal diskreditierte das Image des Kollektivismus in Großbritannien.

Parallel hierzu erfolgte der Aufstieg des faschistischen Staates: Mussolini in Italien, Hitler in Deutschland, Franco in Spanien, Salazar in Portugal. Paradoxerweise scheinen faschistische und kommunistische Staaten gemeinsame Merkmale zu teilen: sie sind Ein-Parteien-Staaten; sie sind diktatorisch in ihrer Form, ›faschistische Gewaltherrschaft‹ versus ›Diktatur des Proletariats‹. Diese Merkmale, die beide Staatsformen trotz ihrer radikalen Unterschiede in Politik und Ideologie teilen, erlaubten es Orwell, beide in einem gemeinsamen Modell zu synthetisieren: ein Bild vom Totalitarismus, das von da an die liberale Vorstellungswelt heimsuchte und nach 1947 im Zuge des Kalten Krieges zu einem Mahnmal erstarrte. Das ist der Moment, da die ›aufsteigende Kurve‹ der positiven Einstellung gegenüber dem Staat einen großen Umschwung erfuhr und unmerklich in eine ›absteigende Kurve‹ überging.

Diese Entwicklungsrichtung gewinnt im Lichte der 1960–70er Jahre an Kontur: Vorrangig unter ›sozialdemokratischen‹ (z.B. Labour-) Regierungen – aber nicht unähnlich unter konservativer Regierungsführung – wurde der liberal-demokratische Staat zunehmend ein interventionistischer. Dieser beteiligte sich an allen Sphären des Lebens. Er etablierte ein aktives Auftreten in der verbotenen Sphäre der Ökonomie. Der Staat besaß nun staatliche Unternehmen, war verantwortlich für die nationale Wirtschaftspolitik, übernahm die Feinabstimmung der Wirtschaft durch fiskalische und andere ›keynesianische‹ Maßnahmen, regulierte Einkommen und Löhne und stärkte eine alternative Form der Entscheidungsfindung jenseits des Parlaments – den Prozess einer korporatistischen Aushandlung zwischen Staat, Kapital (CBI) und Arbeit (TUC). Die Ausdehnung des Staates in die ganze Fabrik der Zivilgesellschaft und des Privatlebens hinein gehörte par excellence in diese Zeit.

Hier brechen die Sichtweisen über den modernen liberalen, demokratischen Staat auf und polarisieren sich. Reformisten stützten grundsätzlich die erweiterte Rolle des Staates als ein Instrument für mehr soziale Gerechtigkeit und Gleichheit. Einige ›Rationalisierer‹ glaubten, dass ein ›großer Staat‹ notwendig sei, um die komplexe Ökonomie und eine entwickelte Gesellschaft zu koordinieren. Andere Theoretiker wiederum waren der Ansicht, der fortgeschrittene Kapitalismus könne nicht überleben, ohne in eine Partnerschaft mit einem mächtigen Staat zu treten (›staatsmonopolitischer Kapitalismus‹). Sozialdemokraten sahen sich bestätigt, dass der Staat genutzt werden kann, um die ärgsten Effekte des kapitalistischen Wettbewerbs auszugleichen, ohne das System zu zerstören.

Andere wiederum wendeten sich energisch gegen die korporatistische Entwicklung insgesamt. Als die günstige britische Wirtschaftskonjunktur in den 1960er Jahren zu wanken begann, und noch entscheidender, als die weltweite kapitalistische Rezession sich ab der Mitte der 1970er Jahren vertiefte, war der interventionistische Staat weitreichender Kritik ausgesetzt. Er sei ineffizient und vergeuderisch: ein ›Verschwendungs‹-Staat. Zu viel Wohlfahrt, so wurde behauptet, habe die moralische Grundhaltung der Nation ausgehöhlt: der ›Versorgungs‹-Staat. Er wecke Erwartungen, die er nicht halten könne: der unregierbare Staat. Er stelle eine Bedrohung für die Rechte und Freiheiten des Individuums dar: ›schleichender Totalitarismus‹.

Was stattdessen vorgeschlagen wurde, war eine Umkehrung der bisherigen Entwicklung: Vorteil aus der Krise ziehen, um den ›Staat zurückzudrängen‹. Daher die Vorschläge, die Staatsintervention einzudämmen, Staatsbürokratie und öffentliche Ausgaben zu beschneiden, den Sozialstaat abzubauen, die staatlich geführten Unternehmen in die Privatwirtschaft zurückzuführen (›Privatisierung‹), den Trend zum Kollektivismus zu brechen, die Macht der Gewerkschaften zu begrenzen, den wettbewerbsorientierten Individualismus wieder zu stärken und die Doktrinen des Wirtschaftsliberalismus, die das Programm der ›Neuen Rechten‹ prägten, wieder durchzusetzen. In den 1980er Jahren wurde dieses Programm zum vorherrschenden Leitbild in Großbritannien. Es kennzeichnet eine Bewegung zur Restauration des Ideals vom klassischen liberalen Staat, aber unter den Bedingungen des Spätkapitalismus im 20. Jahrhundert: deshalb der neoliberale Staat.

Diese schematische Darstellung fokussiert auf eine außergewöhnliche historische Abfolge. Sie entwirft eine besondere Entwicklungslinie hinsichtlich des modernen ›großen Staates‹. Sie verdeutlicht, warum die Frage nach dem Staat wieder zum Kernpunkt in den Auseinandersetzungen der britischen Politik und in anderen liberalen Demokratien wurde.

Einige grundlegende konzeptionelle Auffassungen

Quentin Skinner (1978) erkannte in seiner Untersuchung The Foundations in Modern Political Thought, dass zu Beginn des 17. Jahrhunderts die Vorstellung vom Staat – sein Wesen, seine Macht und sein Recht, Gehorsam zu verlangen – zum wichtigsten Objekt der Analyse im europäischen Denken wurde. Er identifizierte diesen Moment bei Hobbes, der sich in seinem Werk einer »ernsthafteren Untersuchung der Rechte des Staates und der Pflichten seiner Untergebenen« zuwandte. Im 17. Jahrhundert »können wir sagen, dass die moderne Welt betreten wird: die moderne Theorie des Staates muss erst noch entworfen werden, aber ihre Fundamente liegen vollständig vor« (349). Welche Merkmale und Charakteristiken des Staates lassen Skinner dies behaupten?

Das erste Element ist die Auffassung von ›der Macht‹ des Staates – ›sein Recht, Gehorsam zu verlangen‹. Natürlich, Staaten haben auch Pflichten gegenüber ihren Bürgern, z.B. ihr Leben und Eigentum zu schützen oder sie gegen äußere Angriffe zu verteidigen. Und Bürger haben normalerweise auch Rechte; obwohl diese vom einen zum anderen Staatstyp beträchtlich variieren. Aber Hobbes’ Betonung liegt auf Ersterem. Der Staat sei selbst eine Macht – die hauptsächliche und höchste Autorität – im Land. Und er übe diese Macht aus, indem er uns seine Herrschaft auferlege und von uns Gehorsam verlange. Der Staat habe viele andere Funktionen, aber im Wesentlichen gehe es beim Staat um Herrschaft.

Herrschaft kann viele Formen annehmen – Monarchie, Demokratie, Diktatur etc. Aber wo auch immer der Staat der Souverän ist – die höchste Autorität –, schließt dies die Unterwerfung seiner Untergebenen unter die Macht des Staates mit ein: es geht um ihre Beherrschung. Selbst in modernen Demokratien, in denen der ›Volkswille‹ angeblich der Souverän ist, bildet die Regierung, ursprünglich geformt und verantwortlich für die Maschinerie des Staates, eine Macht ›von oben‹, separat vom ›Volk‹, das half, diese zu formen.

Die Konzeption des modernen Staates bedingt demnach immer auch eine Vorstellung von Macht. Staatsmacht kann auf unterschiedliche Weise ausgeübt werden. Die Gesellschaft zu verwalten ist ein Teil der ›Macht‹ des Staates, so wie es auch die Kontrolle der Gesellschaft ist. Weiter gefasst kann ›Staatsmacht‹ als die Verdichtung dieser verschiedenen Weisen und Prozesse der Macht in einem Herrschaftssystem verstanden werden.

Demnach ist das Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft seiner Form nach hierarchisch. Jemand oder eine Macht ›von oben‹ setzt die Regeln des Spiels für uns ›dort unten‹ fest. In einigen Fällen mit unserer Einwilligung, in anderen Fällen ohne sie; aber trotzdem richtet sich der Druck der ausgeübten Staatsgewalt nach unten. Dies schließt die Macht ein, Grenzen zu setzen, Zwänge durchzusetzen wie auch direkt zu intervenieren. Regeln erlauben es, gewisse ›Bewegungen‹ durchzuführen – und wieder andere auszuschließen: andernfalls hätten wir keine Verwendung für sie. Sie ordnen und organisieren ›das Spiel‹ und sie bestimmen die Norm und die Abweichung. Der Staat umgrenzt die Regeln der Gesellschaft (Legislative) und wendet sie an (Exekutive). Ein Teil dessen, was Herrschaft umfasst, muss folglich die Aufrechterhaltung einer gewissen Art von Ordnung sein, wie die Gesellschaft sich verhält. Der Staat muss, sollte sonst alles misslingen, über die Macht oder Fähigkeit verfügen, seinen Willen zu erzwingen. Wie Hobbes bemerkte: »Denn die natürlichen Gesetze wie Gerechtigkeit, Billigkeit, Bescheidenheit, Dankbarkeit […] sind an sich, ohne die Furcht vor einer Macht, die ihre Befolgung veranlasst, unseren natürlichen Leidenschaften entgegensetzt […]. Und Verträge ohne das Schwert sind bloße Worte und besitzen nicht die Kraft, alle Menschen auch die geringste Sicherheit zu bieten.« (1984: 131)

Die Macht des Staates schließt folglich den Einsatz von Gewalt ein, um die Anpassungen an seine Regeln, Gesetze und Regulierungen zu erzwingen. Zwang ist in keinem Fall das einzige Mittel, mit dessen Hilfe der Staat regiert. Historisch betrachtet hat bislang keine Form des modernen Staates vollständig auf Gewalt und Zwang verzichtet. Theoretiker überhöhen stellenweise die Bedeutung der Zwangsgewalt des Staates, weil sie davon ausgehen, dass der Staat nichts anderes als ein Mittel zum Zwang ist. Tatsächlich finden wir im Geschichtsverlauf nur sehr wenige Fälle, in denen der Staat beliebig lange ausschließlich durch die Anwendung nackter Gewalt regiert hat. Zwang und Konsens schließen einander nicht aus, sondern sind komplementär. Selbst in Militärdiktaturen, wie z.B. unter General Pinochet in Chile, bemühte man sich letztlich, einen Teil der ›Herzen und Köpfe‹ des Volkes zu gewinnen. Andererseits verzichtet kein Staat – selbst der demokratischste – auf seine Zwangsgewalt als eine Stütze, um die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten, die Kriminalität zu bekämpfen, das Land zu verteidigen und die Einhaltung der Landesgesetze abzusichern. Der Soziologe Max Weber stellte fest: »Gewaltsamkeit [ist] weder das einzige noch auch nur das normale Verwaltungsmittel. […] Aber ihre Androhung und, eventuell, Anwendung ist allerdings […] [ein] spezifisches Mittel«, das den Staat kennzeichnet (1976: 29).

Staatsgewalt ist nicht einfach ›erzwingend‹ als eine ihrer wesentlichen Ausführungsweisen. Das Recht, Gehorsam zu erzwingen, hat keinen Sinn ohne die Fähigkeit, es zu tun. Staatsgewalt ist zuerst eine Frage der Fähigkeit, erst dann eine Frage des Rechts. General Pinochet hatte vielleicht kein ›Recht‹ dazu, Salvador Allende im Jahr 1973 zu entmachten, aber er hatte die ›Fähigkeit‹, die Macht zu ergreifen und den Staat zu stürzen. Selbst dort, wo der Staat als Vertrag gefasst ist, wo freie Individuen ihm freiwillig angehören, hat das Volk nicht die Freiheit, beliebig wechselnd zu entscheiden, staatstreu oder landesverräterisch zu sein oder nicht. Auch der konsensorientierteste Staat erhält sich ein Fundament durchsetzungsfähiger Gewalt.

Das ist der Grund, folgt man Friedrich Engels, warum viele Staatstheoretiker so oft von der ›Instanz bewaffneter Männer‹ sprechen – eine spezialisierte Polizei als ›Vollstrecker‹ der Ordnung, getrennt vom Rest der Bevölkerung. Dies unterstreicht auch Webers berühmte Ausführung, dass der Staat »[erfolgreich] das Monopol legitimen physischen Zwanges für die Durchführung der Ordnungen in Anspruch nimmt« (ebd.). Beachte ›Monopol‹! Es ist maßgeblich, dass der Staat, wenn er souverän ist – die höchste Autorität –, innerhalb seines Rechtssystems keine andere Macht mit physischem Gewaltvermögen tolerieren kann, die mächtiger ist als der Staat selbst und faktisch nicht seiner Gerichtsbarkeit oder seiner Kontrolle unterliegt. Rebellion ist die Zurückweisung des Staates. Deshalb reagieren moderne Staaten so empfindlich auf den Grenzbereich zwischen ›gewaltfreiem‹ und ›gewalttätigem‹ Protest oder zwischen legitimer und illegitimer Gewalt. Daraus folgt: Wenn der Staat den popularen Protest einzuhegen wünscht, ist es taktisch günstig, die Opposition als ›gewalttätig‹ darzustellen, gleich ob es wahr ist oder nicht.

Dies legt nahe, dass die Schlüsselfrage nicht einfach die nach der Gewalt oder der Macht des Staates ist, sondern es ist die Frage nach der Legitimität. Gewiss ist der Staat physisch in der Lage, viele Dinge zu tun, einschließlich Foltern von Gefangenen, Verschwindenlassen lästiger Bürger oder Auslöschen ganzer ethnischer Gruppen. Aber was Weber im Sinn hatte, war nicht, was der Staat vernichten kann, sondern was in der Gesellschaft hinsichtlich des Staatshandelns als rechtens und angemessen angesehen wird, z.B. legitime Gewalt.

Die Frage nach der Legitimität umfasst das ganze Spektrum, das man sanktionierte Vorherrschaft nennen könnte – wobei physische Gewalt nur ein extremer, spezieller Fall ist. Wenn der Staat reguliert, leitet, Gesetze verabschiedet und ›legitim‹ erzwingt, dann, weil er Anspruch auf die Autorität erheben kann, es zu tun. Autorität ist Macht, zu deren Ausübung der Staat befugt oder ›autorisiert‹ ist.

Die Legitimität der Staatsmacht, in modernen Gesellschaften zu herrschen, kann sich aus jeder der folgenden Weisen ergeben:

1.Der Staat kann sich auf die seit langem bestehende, übliche und traditionelle Weise berufen, mittels der der Staat faktisch in der Vergangenheit geherrscht hat. Was Weber »die Autorität des ewig Gestrigen« nennt, ist einen sehr weiten Weg zur Schaffung einer rechtsstaatlichen Legitimität gegangen.

2.In Zeiten extremer Gefahren oder Erschwernisse für den Staat können Personen, Gruppen oder gesellschaftliche Kräfte mit herausragenden oder charismatischen Fähigkeiten die Legitimität erlangen, besondere Macht im Staat auszuüben: Diktatoren, Militärführer, Anführer von popularen Bewegungen, die dafür das vorherige Regime, die Präsidenten in Kriegszeiten etc. stürzen.

3.Staatsgewalt wird legal erworben. Dies ist die vorherrschende Weise der Legitimität in modernen liberalen Demokratien. Die Macht wird formell festgelegt und beansprucht, wird in einem formalen, korrekten öffentlichen Verfahren eingesetzt, nimmt Gestalt an durch das Recht, durch Regulierungsvorschriften, durch die Verfassung oder verschiedene ›Gründungsdokumente‹. Das Recht ist ein abstraktes System von Regeln: für alle eingeführt und gültig, universell anwendbar, nicht nur für den Einzelfall. Daraus folgt: Wenn Macht legal erworben wurde, trägt sie den Stempel der Legitimität. Legalität und Legitimität sind in modernen Rechtsstaaten eng miteinander verknüpft. Die Tatsache, dass die Macht, die legal bestimmt wird, durch denselben Prozess widerrufen werden kann, legt nahe, dass sie nicht absolut ist und ewig währt, sondern vorbehaltlich, veränderlich bleibt – und somit ein Prüfstein für den willkürlichen Gebrauch der Staatsgewalt ist. Legalität garantiert weder, dass der Staat solche Macht innehaben sollte, noch dass er sie ordnungsgemäß nutzt.

4.In modernen, liberal-demokratischen Staaten umfasst Legitimität die Formen, durch die die Bürger repräsentiert werden oder durch die sie in formalen Wahlverfahren zustimmen, dass der Staat Macht ausüben soll. Dies bedeutet, dass jeder Staat, der erfolgreich den Anspruch monopolisiert, dass er »dem Volk gibt, was es wünscht«, gut aufgestellt ist, um seinen eigenen Mächten und Politiken Legitimität zu verleihen.

Die Frage nach der Souveränität

Die Auffassung vom modernen Staat ist eng verkpnüft mit der Vorstellung von Souveränität. Souveränität bedeutet, dass der Staat die höchste Autorität ist und daher weder einer ausländischen Macht noch einer rivalisierenden Macht im Inland unterworfen ist. In Russland gab es zwischen der Februar- und der Oktoberrevolution im Jahr 1917 nicht ein, sondern zwei miteinander konkurrierende Machtzentren: die Kerenski-Regierung und die rivalisierenden ›Sowjets‹ der Arbeiter, Soldaten und Bauern. Dies war eine Situation der ›dualen Macht‹: die Stabilität des Staates war deswegen eindeutig ›provisorisch‹. Der Staat »kann innerhalb seines eigenen Territoriums keine Rivalen als gesetzgebende Macht und als Objekt der Gefolgschaftstreue haben« (Skinner 1978: 351).

Andere Machtzentren innerhalb des Staates müssen ihm untergeordnet werden; oder der Staat delegiert Macht an sie, z.