Ideologie, Identität, Repräsentation - Stuart Hall - E-Book

Ideologie, Identität, Repräsentation E-Book

Stuart Hall

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Beschreibung

Band 4 der Ausgewählten Schriften erörtert das Wechselspiel von Ideologie, Identität und Repräsentation. Neben grundlegenden Beiträgen, die den Stellenwert poststrukturalistischer Schlüsselkategorien verhandeln, widmen sich die Texte dem Prozess der konfliktären Herstellung von Repräsentationsregimen. Dabei gelingt es Hall, identitätsstiftende Repräsentationspraxen als umkämpft und herrschaftsmächtig durchsetzt zu theoretisieren, analytische Werkzeuge zu entwickeln, um die ideologischen Prozesse, Kämpfe und Konjunkturen der kapitalistischen Gegenwart zu kritisieren. Wider die Fallstricke einer Identitätspolitik, die sich in der Vertretung ›ihrer‹ spezifischen Interessen verliert, entwickelt er ein kreatives Denken, das unterschiedliche Logiken repräsentiert, ohne den gesellschaftlichen Zusammenhang, das gegliederte Ganze, aufzugeben.

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Stuart Hall

Ideologie, Identität, Repräsentation

Ausgewählte Schriften 4

Herausgegeben von Juha Koivisto und Andreas Merkens

Aus dem Englischen von Kristin Carls, Dagmar Engelken, Stefan Howald, Tobias Nagl, Nora Räthzel, Victor Rego-Diaz, Bettina Suppelt, Thomas Weber

Stuart Hall – Ausgewählte Schriften bei Argument:

Ideologie, Kultur, Rassismus (Schriften 1)

Rassismus und kulturelle Identität (Schriften 2)

Cultural Studies (Schriften 3)

Ideologie, Identität, Repräsentation (Schriften 4)

Populismus, Hegemonie, Globalisierung (Schriften 5)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der deutschen Fassung vorbehalten

© Argument Verlag 2004

Glashüttenstraße 28, 20357 Hamburg

Telefon 040/4018000 – Fax 040/40180020

www.argument.de

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2018

ISBN 978-3-86754-854-0

Fünfte Auflage 2016

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Vorwort

Ideologie und Ökonomie. Marxismus ohne Gewähr

Bedeutung, Repräsentation, Ideologie. Althusser und die poststrukturalistischen Debatten

Kodieren/Dekodieren

Reflektionen über das Kodieren/Dekodieren-Modell. Ein Interview mit Stuart Hall

Das Spektakel des ›Anderen‹

Wer braucht ›Identität‹?

Die Frage des Multikulturalismus

Drucknachweise

Literaturverzeichnis

Vorwort

Stuart Hall ist einer der wichtigsten – wenn nicht der wichtigste – Begründer der Cultural Studies. Unter den linken Projekten gehören diese, wenigstens im englischen Sprachraum, zu den erfolgreicheren. Inzwischen gibt es entsprechende Studienprogramme und Lehrstühle an den Universitäten, und mit dem International Journal of Cultural Studies sowie dem European Journal of Cultural Studies wurden vor einigen Jahren zwei neue Zeitschriften von akademischen Großverlagen lanciert. Die neue internationale Association for Cultural Studies, vergleichbar zur ISA (International Association for Sociology) hat bereits ihr erstes Business Meeting im Rahmen der fünften internationalen Crossroads Konferenz in Illinois (2004) abgehalten. Die Kehrseite dieses Zugewinns an akademischer Anerkennung, so sagen manche linke Kritiker, die sich schon in einer Minderheitsposition innerhalb der Cultural Studies sehen, besteht in der Depolitisierung des Ansatzes: Die Analyse der umkämpften gesellschaftlichen Verhältnisse – auch der eigenen – findet sich zugunsten einer qualitativen Soziologie bzw. einer dekonstruktivistischen Lektüre populärer Texte verdrängt, in der das eingreifend-politische Selbstverständnis der Cultural Studies verloren geht; der Anspruch also, Theorie in wechselseitiger Verbindung zu den Subjekten, Gruppen und Netzwerken der sozialen und kulturellen Emanzipation zu entwickeln (vgl. Barker, 2003). Zudem zeigt sich, dass starker institutioneller Druck und akademische Traditionen, eine Disziplinierung und Formalisierung der eigenen Theoriearbeit bewirken können, deren lähmende Wirkung auch auf eine erfolgreiche intellektuelle Bewegung nicht ausbleibt.

Wie uns freilich nicht nur die Cultural Studies vor Augen führen, die schwere Kunst sich kritisch zu positionieren statt passiv positioniert zu werden (wobei letzteres die selbsttätige ›einfügende Bedrängung‹ nicht ausschließt), ist angesichts einer allgemeinen Verengung von Wissenschaft und Erkenntnis auf ihre Marktgängigkeit, eine notwendige Herausforderung. Hier können Halls theoretische Entwürfe einen entscheidenden Beitrag leisten, steht seine Arbeit doch für eine produktive Unruhe im Denken, die sich immer wieder neuen theoretischen und politischen Fragen stellt, die Grenzen überschreitet und dabei am Anspruch festhält, das unlösbare Spannungsverhältnis zwischen Theorie und Praxis aufrechtzuerhalten. Eine dialogische Vorgehensweise, die keinen endgültigen Standpunkt des Wissens behauptet, sich dem immer auch »willkürlichen Abschluss« (Hall, 2000, 36) eigener intellektueller Reflektionen bewusst ist, und dennoch darum ringt eine Positionierung zu vollziehen, die auf politisches Handeln zielt, die »immer über ihre Intervention in einer Welt nachdenkt, in der sie etwas verändern, etwas bewirken könnte« (ebenda, 51).

Dieser vierte Band der Ausgewählten Schriften erörtert das Wechselspiel von Ideologie, Identität und Repräsentation. Gibt es etwas Selbstverständlicheres als die eigene Identität? Können wir die Pluralität von Identitäten behaupten? Nachgefragt werden die umkämpften Praktiken und Politiken von Repräsentation, in denen Identifikationen gebildet werden. Ereignisse, Gegenstände und Personen tragen ihre eigenen Bedeutungen nicht auf Schildern geschrieben vor sich her, vielmehr erfahren sie erst durch den Eintritt in den Diskurs eine spezifische Festlegung – innerhalb eines konkurrierenden Systems von Interpretationen – die immer auch auf Selektion basiert, die auf der Hervorhebung und auf dem Ausschluss von Merkmalen aufbaut. Bedeutungen sind daher weder außerhalb von Herrschaftsverhältnissen und dem Spiel der sozialen Kräfte, noch sind sie ein für alle mal festgeschrieben durch die Ökonomie oder die Politik. Allerdings sollten wir mit Hall von »tendenziellen Ausrichtungen« (im vorl. Band, 29) sprechen, die politisch und kulturell aus den materiellen Bedingungen erwachsen, in denen sich gesellschaftliche Gruppen und Klassen ideologisch artikulieren und Repräsentationspraxen der ›Differenz‹ und ›Andersheit‹ hervorbringen.

In seinen Arbeiten widmet sich Stuart Hall wesentlich dem Prozess der konfliktären Herstellung dieser Repräsentationen, den ihnen innewohnenden Machtspielen, die Bedeutungen und Wahrheiten festlegen, die bestimmte Welteinsichten und Identitäten ermöglichen und andere wiederum verschließen. Am Ausgangspunkt dieser Analysen steht eine die Debatten der Cultural Studies anleitende Frage, die erkenntnistheoretisch das Verhältnis zu dem vom französischen Sprachwissenschaftler de Saussure begründeten (Post-)Strukturalismus verhandelt: Wie kann die Analyse der materiellen Praxen und Politiken von Repräsentation, etwa durch rassistische Stereotypisierung, mit dem theoretischen Vermächtnis von de Saussure, der die Sprache als ein System von Zeichen bestimmt, welches auf Differenzen basiert, erfasst werden? Sein Modell hilft uns in den Sozialwissenschaften einerseits essentialistische Lesarten zu überwinden, Identitäten als instabil und beweglich zu verstehen, auf der anderen Seite tendiert eine entsprechende Kritik dazu, Bedeutungspraxen nur von einem linguistischen Standpunkt aus zu durchdenken. Sobald wir beginnen Bezeichnungen im System der Differenz politisch-gesellschaftlich entlang unterschiedlicher ›Werte‹ zu bestimmen, überschreiten wir notwendig den Bereich der Linguistik, wir untergraben damit Saussures grundlegende Dichotomie von langue und parole, die eine solche Analyse der Bedeutungspraxen blockiert. In Derridas philosophischen Erkundungen – oder vielleicht seiner philosophischen ›Ausbeutung‹ – von Saussures zentraler Idee der Differenz, finden wir diese Problematik fortgeschrieben, wenn es darauf ankommt, die Materialität von Bezeichnungen über ihre Einbindung in antagonistische soziale Verhältnisse zu verstehen.

Halls Überlegungen zum Wechselspiel von Ideologie, Identität und Repräsentation, wie sie in verschiedenen Beiträgen, bei unterschiedlicher thematischer Schwerpunktsetzung, im Zeitraum von über zwanzig Jahren entstanden sind, verdichten sich maßgeblich entlang dieser theoretischen Herausforderung. Eine Auswahl dieser Texte, teils schon Klassiker geworden, finden sich in dem vorliegenden Band dokumentiert. Dabei gelingt es Hall durch den konstruktiven Rückgriff auf Theoretiker wie Gramsci, Volosinov, Althusser, Pecheaux und Foucault, identitätsstiftende Repräsentationspraxen als umkämpft und herrschaftsmächtig durchsetzt zu theoretisieren, analytische Werkzeuge zu entwickeln, um die ideologischen Prozesse, Kämpfe und Konjunkturen der kapitalistischen Gegenwart zu kritisieren. Wider den Fallstricken einer Identitätspolitik, die sich in der Vertretung ›ihrer‹ spezifischen Interessen verliert, entwickelt er in den Jahren ein kreatives Denken, das unterschiedliche Logiken repräsentiert, ohne den gesellschaftlichen Zusammenhang, das gegliederte Ganze, aufzugeben.

Ein besonderer Dank gilt schließlich den Übersetzerinnen und Übersetzern, ohne deren unentgeltliche und zeitaufwendige Mitarbeit dieses Buch nicht hätte realisiert werden können,

Tampere und Hamburg, August 2004

Die Herausgeber

Ideologie und Ökonomie. Marxismus ohne Gewähr

1. Das Problem der Ideologie im Marxismus heute

In den vergangenen zwei oder drei Jahrzehnten hat die marxistische Theorie eine bemerkenswerte, aber einseitige und ungleichmäßige Wiederbelebung erfahren. Einerseits wurde sie erneut zum hauptsächlichen Gegenpol zur ›bürgerlichen‹ Gesellschaftstheorie. Andererseits sind viele junge Intellektuelle durch diese Wiederbelebung hindurch gegangen und nach einer hitzigen und raschen Lehrzeit auf der anderen Seite wieder herausgekommen. Sie haben mit dem Marxismus ›ihre Rechnung beglichen‹ und sind aufgebrochen zu neuen intellektuellen Feldern – aber nicht ganz. Der Post-Marxismus bleibt eine unserer größten und blühendsten zeitgenössischen Schulen. Die Post-Marxisten verwenden marxistische Konzepte, wobei sie ständig deren Unangemessenheit demonstrieren. Tatsächlich scheinen sie noch immer auf den Schultern gerade derjenigen Theorien zu stehen, die sie soeben endgültig zerstört haben. Hätte es den Marxismus nicht gegeben, der ›Post-Marxismus‹ hätte ihn erfinden müssen, damit seine weitere ›Dekonstruktion‹ den ›Dekonstrukteuren‹ fernerhin etwas zu tun gibt. Der Marxismus erhält damit die kuriose Eigenschaft eines Lebens-nach-dem-Tode. Er wird ständig ›überwunden‹ und ›bewahrt‹. Dieser Vorgang lässt sich von nirgendwo lehrreicher beobachten als vom Standpunkt des Ideologieproblems.

Ich beabsichtige weder, den genauen Windungen und Wendungen dieser neueren Auseinandersetzungen nachzuspüren, noch versuche ich, die sie begleitenden verschlungenen Theoriebildungen zu verfolgen. Stattdessen möchte ich die Debatten über Ideologie in den weiteren Kontext der marxistischen Theorie als ganzer stellen. Ich möchte sie auch als ein allgemeines Problem darstellen, da es sowohl ein Problem der Theorie als auch ein politisches und strategisches Problem ist. Ich möchte die schlagendsten Schwächen und Grenzen in den Formulierungen des klassischen Marxismus über Ideologie ausmachen und einschätzen, was erreicht wurde, was vergessen werden kann und was im Lichte der Kritiken festgehalten – und vielleicht umgedacht – werden muss.

Zunächst aber: warum hielt das Ideologieproblem einen so hervorragenden Platz innerhalb der marxistischen Diskussion der letzten Jahre besetzt? Perry Anderson beobachtete in seiner Bestandsaufnahme der westeuropäischen marxistischen Intellektuellenszene (Anderson 1978) die intensive Beschäftigung dieser Kreise mit Problemen, die sich auf Philosophie, Epistemologie, Ideologie und auf die Überbauten beziehen. Er sah dann eindeutig eine Deformation in der Entwicklung marxistischen Denkens. Der Vorrang dieser Fragen im Marxismus reflektiere die allgemeine Isolation westeuropäischer marxistischer Intellektueller von den Erfordernissen politischer Massenkämpfe und -organisationen; die Abgetrenntheit ihrer »extrem schwierigen Sprache«, die »niemals durch eine direkte oder aktive Beziehung zu einem proletarischen Publikum kontrolliert« wurde (ebd., 83); ihre Distanz zur popularen Praxis und ihre fortdauernde Unterstellung unter die Herrschaft bürgerlichen Denkens. Dies resultierte, so Anderson, in einer allgemeinen Abwendung von den klassischen Themen und Problemen des reifen Marx und des Marxismus. Die übermäßige Beschäftigung mit dem Ideologischen könne als beredtes Zeichen dafür genommen werden.

Vieles spricht für dieses Argument – was diejenigen bezeugen werden, die die theoretizistische Flutwelle im ›westlichen Marxismus‹ der letzten Jahre überlebt haben. Die Akzentsetzungen des ›westlichen Marxismus‹ mögen wohl die Erklärung sein für die Art und Weise, in der das Ideologieproblem konstruiert, wie die Debatte geführt und bis zu welchem Grad es in die Sphären spekulativer Theorie abstrahiert wurde. Dies darf aber nicht beinhalten, dass die marxistische Theorie, trotz der vom ›westlichen Marxismus‹ produzierten Verzerrungen, getrost auf ihrem festgelegten Weg fortschreitend und der einmal aufgestellten Tagesordnung folgend, das Ideologieproblem an seinem untergeordneten, zweitrangigen Platz belässt. Das Sichtbarwerden des Ideologieproblems hat einen objektiveren Grund. Erstens in den realen Entwicklungen der Mittel, mit denen das Massenbewusstsein geformt und transformiert wird: im massiven Anwachsen der ›Kulturindustrien‹. Zweitens in der beunruhigenden Frage der ›Zustimmung‹ der Mehrzahl der Arbeiterklasse zum System der entwickelten kapitalistischen Gesellschaften in Europa und damit – entgegen aller Erwartung – deren teilweiser Stabilisierung. Selbstverständlich wird der ›Konsensus‹ nicht durch die Mechanismen der Ideologie allein aufrechterhalten. Beides kann aber nicht getrennt werden. Das Sichtbarwerden des Ideologieproblems spiegelt auch wirkliche theoretische Schwächen der ursprünglichen marxistischen Formulierungen über Ideologie wider. Und es wirft Licht auf einige der entscheidendsten Fragen der politischen Strategie und der Politik der sozialistischen Bewegung in den entwickelten kapitalistischen Gesellschaften.

Beim kurzen Überblick über einige dieser Fragen möchte ich nicht so sehr die Theorie als vielmehr das Problem der Ideologie in den Vordergrund stellen. Das Problem der Ideologie ist, innerhalb einer materialistischen Theorie zu erklären, wie gesellschaftliche Ideen entstehen. Wir müssen verstehen, welche Rolle sie in einer bestimmten Gesellschaftsformation spielen, um den Kampf für die Veränderung der Gesellschaft zu orientieren und den Weg zu bahnen für eine sozialistische Transformation. Unter Ideologie verstehe ich die mentalen Rahmen – die Sprachen, Konzepte, Kategorien, Denkbilder und Vorstellungssysteme –, die verschiedene Klassen und soziale Gruppen entwickeln, um der Funktionsweise der Gesellschaft einen Sinn zu geben, sie zu definieren, auszugestalten, verständlich zu machen.

Das Ideologieproblem betrifft deshalb die Art und Weise, in der verschiedenartige Ideen die Köpfe der Massen ergreifen und dadurch zur ›materiellen Gewalt‹ werden. In dieser mehr politischen Perspektive hilft uns die Ideologietheorie, zu analysieren, wie ein bestimmter Set von Ideen die gesellschaftliche Denkweise eines historischen Blocks – in Gramscis Sinne – dominiert und damit dazu beiträgt, solch einen Block von innen her zu vereinheitlichen und seine Herrschaft und Führerschaft über die Gesellschaft als ganze aufrecht zu erhalten. Es hat insbesondere etwas mit den Konzepten und Sprachen des praktischen Denkens zu tun, das eine bestimmte Form von Macht und Herrschaft stabilisiert oder das die Volksmassen an ihren untergeordneten Platz in der Gesellschaftsformation anpasst und sie mit ihm versöhnt. Es hat auch zu tun mit den Prozessen, durch die neue Bewusstseinsformen, neue Entwürfe der Welt entstehen, die die Volksmassen zur historischen Tat gegen das herrschende System bewegen. Bei einer ganzen Reihe von gesellschaftlichen Kämpfen stehen diese Fragen auf dem Spiel. Sie müssen geklärt werden, um das Terrain des ideologischen Kampfes besser zu verstehen und zu meistern. Dazu brauchen wir nicht nur eine Theorie, sondern eine Theorie, die der Komplexität dessen angemessen ist, was wir zu erklären versuchen.

In den Werken von Marx und Engels ist eine solche Theorie nicht schon fix und fertig verpackt. Marx entwickelte keine allgemeine Erklärung der Funktionsweise gesellschaftlicher Ideen, die vergleichbar wäre mit seinem historischtheoretischen Werk über die ökonomischen Formen und Verhältnisse der kapitalistischen Produktionsweise. Seine Anmerkungen auf diesem Gebiet zielten nie auf einen ›gesetzmäßigen‹ Status. Missversteht man sie als Aussagen von jener mehr theoretisch exakten Art, landet man dort, wo das Problem der Ideologie einst für den Marxismus begann. Tatsächlich erfolgte seine Theoretisierung dieses Gegenstandes viel mehr ad hoc. Folglich unterliegt der Marxsche Gebrauch des Ausdrucks ›Ideologie‹ starken Schwankungen. Heutzutage hat er – wie man an der oben von mir vorgeschlagenen Definition sehen kann – einen viel weiteren, mehr deskriptiven und weniger systematischen Bezug als in den klassischen marxistischen Texten. Wir benutzen ihn heute, um auf alle organisierten Formen gesellschaftlichen Denkens zu verweisen. Diese Verwendungsweise lässt den Grad und die Natur der ›Verzerrungen‹ dieses Denkens offen. Mit Sicherheit verweist er mehr auf den Bereich des praktischen Denkens und Urteilens (auf die Form also, in der die meisten Ideen die Köpfe der Massen ergreifen und sie zur Tat bewegen können) als einfach auf gründlich ausgearbeitete und in sich konsistente ›Denksysteme‹.

Wir meinen damit sowohl das praktische als auch theoretische Wissen, das die Leute dazu befähigt, sich die Gesellschaft ›auszugestalten‹, und in dessen Kategorien und Diskursen wir unsere objektive Positionierung in den gesellschaftlichen Verhältnissen ›ausleben‹ und ›erfahren‹.

2. Marx’ Ideologiemodell und seine Kritiker: Dekonstruktion‹ oder Rekonstruktion

Marx hat den Ausdruck ›Ideologie‹ praktisch bei vielen Gelegenheiten so verwendet. Seine Verwendung in dieser Bedeutung ist also tatsächlich durch sein Werk sanktioniert. So sprach er in einer berühmten Passage zum Beispiel von den »ideologischen Formen, worin sich die Menschen … [eines] Konfliktes bewusst werden und ihn ausfechten« (MEW 13, 9). Im Kapital spricht er häufig in Nebenbemerkungen das »gewöhnliche Bewusstsein« des kapitalistischen Unternehmers oder die Denkformen des kapitalistischen »Alltagslebens« an. Er meint damit die Formen spontanen Denkens, in denen der Kapitalist sich die Funktionen des kapitalistischen Systems vorstellt und seine praktischen Verhältnisse dazu ›lebt‹ (d.h. wirklich erlebt). In der Tat gibt es schon hier Anhaltspunkte für die späteren Verwendungsweisen des Ausdrucks, von denen viele wohl nicht glauben würden, dass sie durch Marx’ eigenes Werk gerechtfertigt sind. Die spontanen Formen des praktischen bürgerlichen Bewusstseins zum Beispiel sind real, aber sie können keine adäquaten Gedankenformen sein, da es Aspekte des kapitalistischen Systems gibt – zum Beispiel die Produktion des Mehrwerts –, die mit den herkömmlichen Kategorien einfach nicht gedacht oder erklärt werden können. Andererseits können sie auch nicht einfach falsch sein, da diese praktischen Bürger anscheinend durchaus in der Lage sind, ohne die Hilfe eines anspruchsvolleren oder ›richtigeren‹ Verständnisses dessen, worin sie sich bewegen, Profite zu machen, das System zu bedienen, seine Verhältnisse aufrechtzuerhalten, die Arbeit auszubeuten.

Um ein anderes Beispiel zu nehmen: Man kann aus Marx’ Worten durchaus ableiten, dass derselbe Set von Verhältnissen – der kapitalistische Kreislauf – auf mehrere, verschiedene Arten dargestellt oder (wie die moderne Schule sagen würde) innerhalb verschiedener Diskurssysteme repräsentiert werden kann. Da gibt es – um nur drei zu nennen – den Diskurs des ›bürgerlichen common sense‹, die anspruchsvollen Theorien der klassischen politischen Ökonomen wie Ricardo, von dem Marx so viel gelernt hat, und natürlich Marx’ eigenen theoretischen Diskurs, den Diskurs des Kapital selbst.

Sobald wir uns von einer religiösen und doktrinären Marx-Lektüre lösen, sind die Verbindungswege zwischen vielen der klassischen Verwendungsweisen des Ideologiebegriffs und seinen neueren Ausarbeitungen nicht mehr so geschlossen, wie es uns gegenwärtige theoretizistische Polemiken glauben machen wollen. Tatsache ist jedoch, dass Marx den Ausdruck ›Ideologie‹ meistens verwendete, um speziell auf die Äußerungsformen bürgerlichen Denkens zu referieren, vor allem auf dessen negative und verzerrte Merkmale. Er neigte auch dazu – zum Beispiel in der Deutschen Ideologie, dem gemeinsamen Werk von Marx und Engels –, diesen Ausdruck im Kampf gegen seiner Auffassung nach unrichtige Ideen zu verwenden – oft gegen gut unterrichtete und systematische Ideen (die wir heute ›theoretische Ideologien‹ oder, Gramsci folgend, ›Philosophien‹ nennen, im Gegensatz zu den Kategorien des praktischen Bewusstseins oder zu dem, was Gramsci den ›Alltagsverstand‹ nannte). Marx gebrauchte den Ausdruck als eine kritische Waffe gegen die spekulativen Mysterien des Hegelianismus, gegen die Religion und die Religionskritik, gegen die idealistische Philosophie und die vulgären und degenerierten Varianten der politischen Ökonomie. In Die Deutsche Ideologie und Das Elend der Philosophie bekämpften Marx und Engels bürgerliche Ideen. Sie fechten die antimaterialistische Philosophie an, die die Herrschaft solcher Ideen untermauerte. Um ihre Polemik zuzuspitzen, vereinfachten sie viele ihrer Formulierungen. Unsere nachfolgenden Probleme entstanden teilweise dadurch, dass diese polemischen Umkehrungen als Grundlage für die Arbeit einer allgemeinen positiven Theoriebildung betrachtet wurden.

Innerhalb dieses breiten Rahmens der Verwendungsweisen des Ausdrucks ›Ideologie‹ gelangte Marx zu bestimmten vollständiger ausgearbeiteten Thesen, die dann die theoretische Basis der Theorie in ihrer so genannten klassischen Form bildeten. An erster Stelle die materialistische Prämisse: Ideen entstehen aus den materiellen Bedingungen und Umständen, in denen sie hervorgebracht werden, und sie spiegeln diese wider. Sie drücken gesellschaftliche Verhältnisse und deren Widersprüche im Denken aus. Besonders die Vorstellung, dass die Ideen den Motor der Geschichte liefern und unabhängig von den materiellen Verhältnissen sich weiterentwickeln und ihre eigenen autonomen Effekte erzeugen, wird als das Spekulative und Illusorische in der bürgerlichen Ideologie dargestellt. Zweitens die These von der Determiniertheit: Ideen sind lediglich die abhängigen Effekte der letztlich determinierenden Ebene der Gesellschaftsformation – des Ökonomischen in letzter Instanz –, so dass Veränderungen des Letzteren sich früher oder später als entsprechende Modifikationen der Ersteren bemerkbar machen. Drittens die festen Entsprechungen zwischen der Herrschaft in der sozioökonomischen Sphäre und im Ideologischen: die ›herrschenden Ideen‹ sind die Ideen der ›herrschenden Klasse‹ – die Klassenlage der Letzteren liefert dabei die Kopplung und Garantie der Korrespondenz mit den Ersteren.

Die Kritik an der klassischen Theorie zielte auf genau diese Aussagen. Zu sagen, Ideen sind ›bloße Reflexe‹, begründet zwar ihren Materialismus, belässt sie aber ohne spezifische Wirksamkeit in einem Bereich reiner Abhängigkeit. Sagt man, dass Ideen ›in letzter Instanz‹ durch das Ökonomische determiniert sind, begibt man sich auf den Weg des ökonomischen Reduktionismus. Ideen können letztlich auf das Wesen ihrer Wahrheit reduziert werden – ihren ökonomischen Gehalt. Der einzige Halt vor diesem letztendlichen Reduktionismus ergibt sich durch den Versuch, ihn etwas zu verzögern und sich durch eine wachsende Zahl von ›Vermittlungen‹ einen Manövrierraum zu erhalten. Zu sagen, dass die Herrschaft einer Klasse die Garantie der Vorherrschaft bestimmter Ideen ist, heißt, sie dieser Klasse als ausschließliches Eigentum zuzuschreiben und einzelne Bewusstseinsformen als klassenspezifisch zu definieren.

Es sollte festgehalten werden, dass diese Kritiken, obgleich sie sich direkt auf Formulierungen beziehen, die das Ideologieproblem betreffen, in der Tat den Gehalt der allgemeineren, umfassenderen Kritiken rekapitulieren, die gegen den klassischen Marxismus selbst vorgebracht werden seinen rigiden strukturellen Determinismus, seine zwei Varianten des Reduktionismus – den Ökonomismus und Klassenreduktionismus –, seine Art, die Gesellschaftsformation selbst zu begreifen. Marx’ Ideologie-Modell wurde kritisiert, weil es die Gesellschaftsformation nicht als eine bestimmte komplexe Formation begreife, die zusammengesetzt ist aus verschiedenen Praxen, sondern als eine einfache (oder, wie es Althusser in Für Marx und Das Kapital lesen nannte, als eine ›expressive‹) Struktur. Althusser meinte damit, dass eine Praxis – ›das Ökonomische‹ – unmittelbar alle anderen Praxen determiniert und jede Wirkung einfach und gleichzeitig auf allen anderen Ebenen entsprechend reproduziert (d.h. ›ausgedrückt‹) wird.

Wer die Literatur und die Debatten kennt, wird leicht die Hauptlinien der von verschiedenen Seiten im einzelnen vorgebrachten Revisionen dieser Positionen ausmachen. Sie setzen ein mit Engels’ Kommentaren über das, »was Marx gemeint hat« (besonders in den Altersbriefen), mit der Verneinung, dass es solch einfache Entsprechungen gibt oder dass die ›Überbauten‹ gänzlich ohne eigene spezifische Wirkungen sind. Die Bemerkungen von Engels sind ungeheuer fruchtbar, anregend und produktiv. Sie liefern zwar nicht die Lösung, aber den Ausgangspunkt für jede ernsthafte Reflexion des Ideologieproblems. Die Vereinfachungen entstanden seiner Auffassung nach dadurch, dass Marx sich im Kampf gegen den spekulativen Idealismus seiner Zeit befand. Es waren einseitige Verzerrungen, die notwendigen Übertreibungen der Polemik. Die Kritiken werden weitergeführt durch die groß aufgemachten Bemühungen von marxistischen Theoretikern wie Lukács, die – polemisch – an der strengen Orthodoxie einer bestimmten ›hegelianischen‹ Marx-Lektüre festhielten, während sie praktisch eine ganze Reihe von ›vermittelten und vermittelnden Faktoren‹ einführen, die den Hang zum Ökonomismus und Reduktionismus, wie ihn einige originale Formulierungen von Marx beinhalten, abschwächen und verschieben. Dazu gehört – aber aus einer anderen Richtung kommend – Gramsci, dessen Beitrag weiter unten diskutiert wird. Sie gipfeln in den raffinierten theoretischen Eingriffen Althussers und der Althusserianer, die gegen den Ökonomismus und Klassenreduktionismus und den Ansatz der ›expressiven Totalität‹ kämpfen.

Althussers Revisionen (in Für Marx und insbesondere in dem Aufsatz Ideologie und Ideologische Staatsapparate) haben eine entschiedene Abwendung von dem Ansatz, Ideologie als ›verzerrte Ideen‹ und ›falsches Bewusstsein‹ zu denken, gefördert. Sie haben den Weg zu einer stärker linguistischen oder ›diskursiven‹ Ideologiekonzeption geöffnet. Sie haben die gesamte vernachlässigte Fragestellung auf die Tagesordnung gesetzt, wie Ideologie verinnerlicht wird: Wie kommen wir dazu, ›spontan‹ innerhalb der Grenzen der Denkkategorien zu sprechen, die außerhalb von uns existieren und die, genauer gesagt, uns denken? (Das ist das Problem der so genannten Anrufung der Subjekte im Zentrum des ideologischen Diskurses. In der Folge hat dies dazu geführt, in den Marxismus psychoanalytische Interpretationen der Frage einzubringen, wie Individuen in die ideologischen Kategorien der Sprache überhaupt eintreten.) Indem er (z.B. in Ideologie und Ideologische Staatsapparate) an der Funktion der Ideologie für die Reproduktion der gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse und (in Elemente der Selbstkritik) an dem metaphorischen Nutzen der Basis-Überbau-Metapher festhielt, versuchte Althusser noch einmal so etwas wie eine letzte Umgruppierung auf dem klassischen marxistischen Terrain.

Seine erste Revision aber war zu ›funktionalistisch‹. Wenn es die Funktion der Ideologie ist, die kapitalistischen Gesellschaftsverhältnisse gemäß den ›Anforderungen‹ des Systems zu ›reproduzieren‹, wie erklärt man dann subversive Ideen oder ideologischen Kampf? Und die zweite war zu ›orthodox‹. Althusser selbst war es, der die ›Basis/Überbau‹-Metapher so gründlich verschoben hatte. Tatsächlich waren die Türen, die er öffnete, genau die Ausgänge, durch die viele die Problematik der klassischen marxistischen Ideologietheorie insgesamt verließen. Sie gaben nicht nur den spezifischen Ansatz von Marx in der Deutschen Ideologie auf, »herrschende Klasse« und »herrschende Ideen« zu koppeln, sondern auch die Beschäftigung mit der Klassenstrukturierung der Ideologie und deren Rolle für die Herstellung und Aufrechterhaltung von Hegemonie.

Diskurstheorien und psychoanalytische Theorien, die ursprünglich als theoretische Stützen der kritischen Arbeit der Erneuerung und Weiterentwicklung der Theorie gedacht waren, lieferten stattdessen Kategorien, die solche des früheren Paradigmas ersetzten. Auf diese Weise wurden die wirklichen Schwächen und Lücken in der ›objektiven‹ Intention der marxistischen Theorie bei der Frage der Bewusstseinsmodalitäten und der ›Subjektion‹ der Ideologien, auf die Althussers Verwendung der Ausdrücke »Anrufung« (von Freud entlehnt) und »Positionierung« (von Lacan entlehnt) zielen, selbst zum ausschließlichen Gegenstand der Untersuchung. Das einzige Problem der Ideologie war jetzt, wie ideologische Subjekte durch die psychoanalytischen Prozesse geformt werden. Die theoretischen Verbindungsstränge waren damit gelöst. Dies ist der langsame Niedergang der ›revisionistischen‹ Bearbeitung der Ideologie, der schließlich (bei Foucault) mit der Abschaffung der Kategorie ›Ideologie‹ überhaupt endet. Dennoch bestehen diese hochgeistigen Theoretiker – als wären sie von Marx’ Geist verfolgt, der immer noch in der theoretischen Maschinerie herumspukt – aus ziemlich obskuren Gründen weiterhin darauf, dass ihre Theorien ›wirklich‹ materialistisch, politisch, historisch usw. sind.

Ich habe diese Geschichte in stark verkürzter Form rekapituliert, da ich nicht beabsichtige, mich im Detail mit ihren Argumenten und Gegenargumenten zu beschäftigen. Stattdessen möchte ich ihren Faden aufgreifen und ihre Stärke und Überzeugungskraft insofern anerkennen, als sie zumindest die klassischen Aussagen über Ideologie substanziell verändert haben. Angesichts dessen möchte ich einige der früheren Marxschen Formulierungen erneut untersuchen und überlegen, ob sie im Lichte der vorgebrachten Kritiken um- und ausgebaut werden können – wozu die meisten guten Theorien imstande sein sollten – ohne dabei einige ihrer wesentlichen Eigenschaften und Einsichten (die man gewöhnlich den ›rationalen Kern‹ nennt) zu verlieren. Grob gesagt: ich mache das, weil ich – wie ich zu zeigen hoffe – in vielem die Stärke der vorgebrachten Kritiken anerkenne. Aber ich bin nicht davon überzeugt, dass sie jede nützliche Einsicht, jeden wesentlichen Ansatzpunkt in einer materialistischen Ideologietheorie aufheben. Wenn, dem modischen Kanon folgend, im Lichte der vernichtend vorgebrachten, klugen und überzeugenden Kritiken, nichts weiter übrigbleibt, als die Arbeit einer fortwährenden ›Dekonstruktion‹, dann ist dieser Essay einer kleinen, bescheidenen ›Rekonstruktion‹ gewidmet – ohne, wie ich hoffe, durch die rituelle Orthodoxie allzu sehr entstellt zu sein.

3. ›Falsches Bewusstsein‹ oder Pluralität der ökonomischen Diskurse?

Nehmen wir zum Beispiel das äußerst heikle Gebiet der ›Verzerrungen‹ der Ideologie und die Frage des ›falschen Bewusstseins‹. Nun ist unschwer zu sehen, warum solche Formulierungen Marx’ Kritiker dazu brachte, über ihn herzufallen. Der Ausdruck ›Verzerrungen‹ wirft unmittelbar die Frage auf, weshalb Leute, die ihr Verhältnis zu ihren Existenzbedingungen in den Kategorien einer verzerrten Ideologie leben, nicht erkennen können, dass sie verzerrt ist, während wir es mit unserer überlegenen Weisheit, bewaffnet mit richtig gebildeten Begriffen, können. Sind die ›Verzerrungen‹ einfach Unwahrheiten? Sind es absichtlich geförderte Fälschungen? Wenn ja, durch wen? Funktioniert Ideologie wirklich wie bewusste Klassenpropaganda? Und wenn Ideologie vielmehr Produkt oder Funktion ›der Struktur‹ als einer Gruppe von Verschwörern ist, wie erzeugt dann eine ökonomische Struktur einen im voraus garantierten Set ideologischer Effekte? Offensichtlich sind die Ausdrücke, so wie sie sind, hilflos. Sie lassen sowohl die Massen als auch die Kapitalisten wie erklärte Deppen aussehen. Sie ziehen zudem eine merkwürdige Sichtweise der Bildung alternativer Bewusstseinsformen nach sich. Man muss annehmen, dass diese dann entstehen, wenn den Leuten die Schuppen von den Augen fallen, oder wenn sie, wie aus einem Traum erwacht, das Licht erblicken, das durch die Transparenz der Dinge ummittelbar auf ihre essentielle Wahrheit, deren verborgene strukturelle Prozesse strahlt. Dies ist eine Darstellung der Entwicklung des Arbeiterklassenbewusstseins, die auf dem recht wunderlichen Modell des Heiligen Paulus und der Straße von Damaskus beruht.

Machen wir selbst eine kleine Ausgrabung. Marx nahm nicht an, dass Hegel deshalb, weil er den Höhepunkt spekulativen bürgerlichen Denkens darstellte und die ›Hegelianer‹ sein Denken vulgarisierten und verhimmelten, kein Denker ist, mit dem man rechnen musste, von dem zu lernen sich lohnte. Noch mehr gilt dies für die klassische Politische Ökonomie, von Smith bis hin zu Ricardo, wobei wiederum die Unterscheidungen zwischen verschiedenen Ebenen einer ideologischen Formation wichtig sind: der klassischen Politischen Ökonomie, die Marx ›wissenschaftlich‹ nannte; der Vulgärökonomie, die mit ›bloßer Apologetik‹ beschäftigt ist; und dem ›Alltagsbewusstsein‹, mit dem die praktischen bürgerlichen Unternehmer ihre Gewinnchancen kalkulieren – orientiert, aber (bis der Thatcherismus aufkam) völlig unbewusst, am Denken von Ricardo oder Adam Smith. Noch aufschlussreicher ist es, wenn Marx betont, dass (a) die klassische Politische Ökonomie tatsächlich ein mächtiges und gehaltvolles wissenschaftliches Werk war, welches (b) nichtsdestoweniger eine wesentliche ideologische Grenze, eine Verzerrung enthielt. Diese Verzerrung hat Marx zufolge nicht unmittelbar etwas zu tun mit Fehlern oder Lücken in der Argumentation, sondern mit einem weitergehenden Verbot. Die verzerrten oder ideologischen Merkmale entsprangen der Tatsache, dass sie die Kategorien der bürgerlichen Politischen Ökonomie, als Grundlage jeder ökonomischen Kalkulation, voraussetzten, da sie es ablehnten, die historische Bedingtheit ihrer Ausgangspunkte und Prämissen zu sehen. Andererseits entsprangen sie der Unterstellung, dass die ökonomische Entwicklung mit der kapitalistischen Produktion nicht bloß ihren bis dahin höchsten Punkt erreicht habe (damit stimmte Marx überein), sondern ihren endgültigen Abschluss und Höhepunkt. Danach konnte es keine neuen Formen ökonomischer Verhältnisse mehr geben. Die Formen und Verhältnisse der kapitalistischen Produktion würden ewig fortbestehen. Genaugenommen waren die Verzerrungen in der bürgerlichen theoretischen Ideologie, in ihrer ›wissenschaftlichen‹ Form, nichtsdestoweniger real und substantiell. Zahlreiche Aspekte ihrer wissenschaftlichen Gültigkeit wurden aber dadurch nicht beseitigt, und sie war daher nicht einfach deshalb falsch, weil sie innerhalb der Grenzen und des Horizonts bürgerlichen Denkens befangen war. Andererseits beschränkten die Verzerrungen ihre wissenschaftliche Gültigkeit, ihre Fähigkeit, über gewisse Punkte hinauszugelangen, ihre eigenen inneren Widersprüche zu lösen, ihre Kraft, außerhalb der Hülle der in ihr widergespiegelten gesellschaftlichen Verhältnisse zu denken.

Diese Beziehung zwischen Marx und den klassischen Politischen Ökonomen repräsentiert auf weitaus komplexere Weise das Verhältnis von ›Wahrheit‹ und ›Falschheit‹ innerhalb einer so genannten wissenschaftlichen Denkweise, als viele von Marx’ Kritikern angenommen haben. Tatsächlich trugen kritische Theoretiker bei ihrer Suche nach größerer theoretischer Strenge, nach einer absoluten Trennung zwischen ›Wissenschaft‹ und ›Ideologie‹ und einem sauberen epistemologischen Bruch zwischen ›bürgerlichen‹ und ›nichtbürgerlichen‹ Ideen selbst erheblich dazu bei, die Beziehungen zu vereinfachen, die Marx weniger theoretisch ausführte als praktisch herstellte (d.h. in der Form, in der er tatsächlich die klassische Politische Ökonomie sowohl als Stütze wie als Gegner benutzte). Wir können die spezifischen ›Verzerrungen‹, die Marx der Politischen Ökonomie vorwarf, umbenennen, um später auf ihre allgemeine Anwendbarkeit zurückzukommen: Marx nannte sie die Verewigung von Verhältnissen, die tatsächlich historisch spezifisch sind, und den Effekt der Naturalisierung, der die Produkte einer spezifisch historischen Entwicklung als universell gültig behandelt, als seien sie nicht durch historische Prozesse entstanden, sondern gewissermaßen von Natur aus.

Wir können einen der umstrittensten Punkte – die ›Falschheit‹ oder die Verzerrungen der Ideologie – von einem anderen Standpunkt aus betrachten. Es ist bekannt, dass für Marx die spontanen Kategorien des gewöhnlichen bürgerlichen Denkens ihre Grundlage in den Formen auf der ›Oberfläche‹ des kapitalistischen Kreislaufes haben. Marx stellte insbesondere die Bedeutung des Marktes und des Austausches fest, wo Verkäufe und Profite gemacht werden. Dieser Zugang lässt, so Marx, den kritischen Bereich – die ›verborgne Stätte‹ – der kapitalistischen Produktion selbst außer Acht. Einige seiner wichtigsten Formulierungen entspringen diesem Argument.

Zusammengefasst lautet es wie folgt: Der Austausch auf dem Markt erscheint als das, was im Kapitalismus die ökonomischen Prozesse regiert und reguliert. Die Marktverhältnisse stützen sich auf eine Reihe von Elementen, und diese erscheinen (sind repräsentiert) in jedem Diskurs, der von diesem Standpunkt aus versucht, den kapitalistischen Kreislauf zu erklären. Der Markt führt, unter den Bedingungen des gleichen Tauschs, Konsumenten und Produzenten zusammen, die nichts voneinander wissen – und wissen müssen, sofern die ›unsichtbare Hand‹ des Marktes da ist. Ebenso bringt der Arbeits-Markt jene zusammen, die etwas zu verkaufen (Arbeitskraft) und solche, die etwas dafür zu bezahlen haben (Löhne): ein ›gerechter‹ Preis wird ausgehandelt. Da der Markt wie durch Zauberei funktioniert, indem er ›blindlings‹ die Bedürfnisse und ihre Befriedigung aufeinander abstimmt, gibt es darin keine Zwänge. Wir können ›wählen‹, ob wir kaufen und verkaufen wollen oder nicht (und wohl auch die Konsequenzen tragen: diese Seite ist jedoch nicht so gut repräsentiert in den Marktdiskursen, die auf der positiven Seite der Wahlmöglichkeiten mehr ausgearbeitet sind als bezüglich der negativen Konsequenzen). Käufer und Verkäufer brauchen weder den Antrieb durch guten Willen noch Nächstenliebe oder Kameradschaft, um im Markt-Spiel erfolgreich zu sein. In der Tat funktioniert der Markt am besten, wenn jede Partei sich nur durch ihr Eigeninteresse beraten lässt. Er ist ein System, das durch die realen und praktischen Imperative des Eigeninteresses angetrieben wird. Dennoch verschafft er ringsum eine bestimmte Art von Befriedigung. Der Kapitalist stellt Arbeitskraft ein und macht seinen Profit; der Grundbesitzer vermietet sein Eigentum und erhält eine Rente; die Arbeiterin erhält ihren Lohn und kann so die Lebensmittel kaufen, die sie braucht.

Nun ›erscheint‹ aber der Austausch auf dem Markt auch in einem ganz anderen Sinn. Er ist der Teil des kapitalistischen Kreislaufes, den jeder klar sehen kann, das Stückchen, das wir alle täglich erfahren. Ohne zu kaufen und zu verkaufen, würden wir in einer Geldwirtschaft alle sehr schnell physisch und gesellschaftlich zu einem Stillstand kommen. Sofern wir nicht gründlich in andere Aspekte des kapitalistischen Prozesses verwickelt sind, wissen wir nicht unbedingt viel über die anderen Teile des Kreislaufes, die notwendig sind, wenn Kapital verwertet und der ganze Prozess reproduziert und erweitert werden soll. Und doch gibt es nichts zu verkaufen, wenn keine Waren produziert werden, und es ist zuallererst die Produktion – das jedenfalls hat Marx nachgewiesen –, in der die Arbeit ausgebeutet wird. Währenddessen ist die Art der ›Ausbeutung‹, die eine Marktideologie allenfalls sehen und begreifen kann, das ›Profitieren‹ – einen zu großen Anteil am Marktpreis zu erzielen. Der Markt ist damit der Teil des Systems, dem universell begegnet und der universell erfahren wird. Er ist der augenfällige, sichtbare Teil: der Teil, der beständig erscheint.

Wenn man nun diese generative Kategorienreihe, die auf dem Markttausch basiert, extrapoliert, dann ist es möglich, sie auf andere Bereiche des gesellschaftlichen Lebens auszudehnen und auch diese als nach einem ähnlichen Modell konstitutiert zu betrachten. Und dass genau dies der Fall ist, deutet Marx in einer mit Recht berühmten Passage an:

»Die Sphäre der Zirkulation oder des Warenaustausches, innerhalb deren Schranken Kauf und Verkauf der Arbeitskraft sich bewegt, war in der Tat ein wahres Eden der angeborenen Menschenrechte. Was allein hier herrscht, ist Freiheit, Gleichheit, Eigentum und Bentham. Freiheit! Denn Käufer und Verkäufer einer Ware, z.B. der Arbeitskraft, sind nur durch ihren freien Willen bestimmt. Sie kontrahieren als freie, rechtlich ebenbürtige Personen. Der Kontrakt ist das Endresultat, worin sich ihre Willen einen gemeinsamen Rechtsausdruck geben. Gleichheit! Denn sie beziehen sich nur als Warenbesitzer aufeinander und tauschen Äquivalent für Äquivalent. Eigentum! Denn jeder verfügt nur über das Seine. Bentham! Denn jedem von beiden ist es nur um sich zu tun. Die einzige Macht, die sie zusammen und in ein Verhältnis bringt, ist die ihres Eigennutzes, ihres Sondervorteils, ihrer Privatinteressen.« (MEW 23, 189 f)

Kurz, unsere Ideen von ›Freiheit‹, ›Gleichheit‹, ›Eigentum‹ und ›Bentham‹ (d.h. Individualismus) – die herrschenden ideologischen Prinzipien des bürgerlichen Lexikons und die Schlüsselthemen der Politik, die in unseren Tagen unter den Auspizien von Mrs. Thatcher und dem Neoliberalismus ein machtvolles und unwiderstehliches Comeback auf der ideologischen Bühne erlebt haben – können von den Kategorien abgeleitet werden, die wir in unserem praktischen Alltags-Denken über die Marktwirtschaft verwenden. So entstehen aus der täglichen Welterfahrung die mächtigen Kategorien des bürgerlichen, rechtlichen, politischen, sozialen und philosophischen Denkens.

Dies ist ein kritischer locus classicus der Debatte; Marx extrapolierte daraus einige der Thesen, die dann das umkämpfte Gebiet der Ideologietheorie darstellen sollten. Erstens fixierte er als eine Quelle von ›Ideen‹ einen bestimmten Punkt oder ein bestimmtes Moment des ökonomischen Kreislaufs des Kapitals. Zweitens zeigte er, wie die Übersetzung der ökonomischen in ideologische Kategorien bewirkt werden kann: vom Äquivalententausch auf dem Markt zu den bürgerlichen Begriffen von ›Freiheit‹ und ›Gleichheit‹; von der Tatsache, dass jeder die Tauschmittel besitzen muss, zu den juristischen Kategorien der Eigentumsrechte. Drittens definiert er genauer, was er mit ›Verzerrung‹ meint. Denn dieses ›Abheben‹ von der Stelle des Austauschs im Kapital-Kreislauf ist ein ideologischer Vorgang. Er ›verschleiert, verbirgt, versteckt‹ – die Ausdrücke kommen alle im Text vor – ein anderes Set von Verhältnissen: die Verhältnisse, die nicht an der Oberfläche erscheinen, sondern die »in der verborgnen Stätte der Produktion« (MEW 23, 189) versteckt sind (dort, wo Besitz und Eigentum hausen, wo die Ausbeutung der Arbeitskraft und die Enteignung von Mehrwert vor sich gehen). Die ideologischen Kategorien ›verbergen‹ diese darrunterliegende Realität und substituieren all diese Verhältnisse durch die ›Wahrheit‹ der Marktverhältnisse.

In vielfacher Hinsicht enthält nun diese Passage all die so genannten Hauptsünden der klassischen marxistischen Ideologietheorie auf einmal: einen ökonomischen Reduktionismus, eine zu einfache Entsprechung zwischen dem Ökonomischen und dem Politisch-Ideologischen; die Unterscheidungen wahr/falsch, Reales/Verzerrung, ›richtiges‹ Bewusstsein/falsches Bewusstsein. Möglich scheint mir jedoch auch eine ›Re-Lektüre‹ der Passage vom Standpunkt vieler zeitgenössischer Kritiken, und zwar in der Weise, dass (a) viele der grundlegenden Einsichten des Originals erhalten bleiben, während sie (b) erweitert werden durch einige der in letzter Zeit entwickelten Ideologietheorien.

Die kapitalistische Produktion wird im Sinne von Marx als Kreislauf definiert. Dieser Kreislauf erklärt nicht nur Produktion und Konsumtion, sondern auch die Reproduktion – die Art und Weise, wie die Bedingungen aufrechterhalten werden, um den Kreislauf in Gang zu halten. Jedes Moment ist lebenswichtig für die Erzeugung und Realisierung des Werts. Jedes legt gewisse determinierende Bedingungen für das andere fest – d.h., jedes ist abhängig vom anderen oder bestimmend für das andere. Wenn also ein Teil des durch Verkauf Realisierten nicht als Lohn an die Arbeit gezahlt wird, kann die Arbeit sich weder physisch noch gesellschaftlich reproduzieren, um am nächsten Tag wieder zu arbeiten und zu kaufen. Damit hängt auch die Produktion von der Konsumtion ab, auch wenn Marx in der Analyse dazu tendiert, den analytisch vorrangigen Wert der Produktionsverhältnisse zu betonen. (Dies hatte selbst wiederum ernsthafte Konsequenzen, weil es bestimmte Marxisten veranlasste, nicht nur der Produktion Priorität einzuräumen, sondern so zu tun, als hätten die Momente der Konsumtion und des Austauschs weder Wert noch Bedeutung für die Theorie – eine fatale, einseitig produktivistische Lesart.)

Ideologisch kann nun dieser Kreislauf auf verschiedene Weise konstruiert werden. Das ist etwas, worauf moderne Ideologietheoretiker insistieren, gegen die vulgäre Ideologie-Konzeption, nach der Ideologie einer festen und unveränderlichen Beziehung entspringt zwischen dem ökonomischen Verhältnis und der Art und Weise, wie dieses sich in Ideen ›ausdrückt‹ oder repräsentiert. Diesen Bruch mit einer einfachen Vorstellung von ökonomischer Determination der Ideologie strebten moderne Theoretiker an durch ihre Anleihen bei neueren Arbeiten über die Natur der Sprache und des Diskurses. Die Sprache ist das Medium par excellence, durch das Dinge im Denken ›repräsentiert‹ werden, und deshalb das Medium, in dem Ideologie erzeugt und transformiert wird. In der Sprache aber kann dasselbe gesellschaftliche Verhältnis unterschiedlich repräsentiert und konstruiert werden, und zwar deshalb, weil die Sprache ihrer Natur nach zu ihrem Referenten nicht in einer eindeutigen Relation fixiert, sondern ›multireferentiell‹ ist: sie kann unterschiedliche Bedeutungen dessen konstruieren, was offenbar dasselbe gesellschaftliche Verhältnis oder Phänomen ist.

Es mag der Fall sein oder auch nicht, dass Marx in der zur Diskussion stehenden Passage eine feste, determinierte und unveränderbare Beziehung zwischen dem Austausch auf dem Markt und seiner Aneignungsweise im Denken unterstellt. Ich denke jedoch nicht, wie man aus dem bisher Gesagten entnehmen kann, dass dem so ist. Nach meiner Auffassung hat ›der Markt‹ in der bürgerlichen politischen Ökonomie und im spontanen Bewusstsein der praktischen Bürger eine, in der marxistischen ökonomischen Analyse aber eine ganz andere Bedeutung. Mein Argument wäre deshalb, dass Marx implizit sagt, es sei ausgesprochen merkwürdig, wenn in einer Welt, in der es Märkte gibt und der Austausch das ökonomische Leben beherrscht, keine Kategorie existieren würde, die uns erlaubt, in Bezug darauf zu denken, zu sprechen und zu handeln. In diesem Sinne drücken alle ökonomischen Kategorien – bürgerliche oder marxistische – bestehende gesellschaftliche Verhältnisse aus. Ich denke aber, aus dem Argument folgt auch, dass die Marktverhältnisse nicht immer durch dieselben Denkkategorien repräsentiert sind.

Es gibt keine feste und unveränderbare Beziehung zwischen dem, was der Markt ist, und der Art und Weise, wie er in einem ideologischen oder erklärenden Rahmen konstruiert wird. Wir könnten sogar sagen, dass eine der Absichten des Kapital gerade die ist, den Diskurs der bürgerlichen Politischen Ökonomie – den Diskurs, in dem der Markt am geläufigsten und im selbstverständlichsten Sinne verstanden wird – zu verschieben und durch einen anderen zu ersetzen: einen Marktdiskurs, der sich in das marxistische Schema einfügt. Deshalb sind die beiden Zugangsweisen zum Verständnis der Ideologie nicht völlig widersprüchlich, sofern die Stelle nicht allzu buchstäblich genommen wird.

Wie steht es nun mit den ›Verzerrungen‹ der bürgerlichen Politischen Ökonomie als einer Ideologie? Eine Lesart ist, dass sie, da Marx die bürgerliche Politische Ökonomie ›verzerrt‹ nennt, ›falsch‹ sein muss. Diejenigen, die ihr Verhältnis zum ökonomischen Leben ausschließlich in deren Denk- und Erfahrungskategorien leben, haben somit per definitionem ein ›falsches Bewusstsein‹. Hier müssen wir wiederum auf der Hut sein vor zu schnellen Schlussfolgerungen. Zum einen macht Marx einen wichtigen Unterschied zwischen ›vulgären‹ Versionen der Politischen Ökonomie und fortgeschrittenen Versionen wie derjenigen von Ricardo, von der er deutlich sagte, dass sie »wissenschaftlichen Wert« habe. Was kann er aber nun in diesem Kontext mit ›falsch‹ und ›verzerrt‹ meinen?

Er kann nicht meinen, dass der Markt nicht existiere. Der ist in der Tat allzu wirklich. In bestimmter Hinsicht ist er gerade das Lebenselixier des Kapitalismus. Ohne ihn hätte der Kapitalismus niemals den Rahmen des Feudalismus gesprengt; und ohne seine unablässige Kontinuität würde die Zirkulation des Kapitals zu einem plötzlichen und katastrophalen Stillstand kommen. Ich denke, diese Worte machen nur Sinn, wenn wir an eine Darstellung des aus einer Wechselbeziehung zahlreicher Momente bestehenden ökonomischen Kreislaufes denken, die vom Standpunkt eines einzigen dieser Momente erfolgt.

Wenn wir in unserer Erklärung nur ein Moment hervorheben und nicht das differenzierte Ganze oder »Ensemble« berücksichtigen, dessen Teil es ist, oder wenn wir, um den ganzen Prozess zu erklären, Denkkategorien verwenden, die nur einem dieser Momente zugehören – dann riskieren wir eine »einseitige« Darstellung, wie es Marx (im Anschluss an Hegel) nennen würde.

Einseitige Erklärungen sind immer eine Verzerrung. Nicht im Sinne einer Lüge über das System, aber in dem Sinne, dass eine ›Halb-Wahrheit‹ nicht die ganze Wahrheit von irgendetwas sein kann. Mit solchen Vorstellungen wird man immer nur einen Teil des Ganzen repräsentieren. Man wird damit eine Erklärung produzieren, die nur teilweise adäquat – und in diesem Sinne ›falsch‹ – ist. Wenn man ferner nur Marktkategorien und -konzepte verwendet, um den kapitalistischen Kreislauf als ganzen zu verstehen, dann kann man viele seiner Aspekte buchstäblich nicht sehen. In diesem Sinne verdunkeln und mystifizieren die Kategorien des Markts unser Verständnis des kapitalistischen Prozesses: das heißt, sie befähigen uns nicht dazu, Fragen über sie zu sehen und zu formulieren, denn sie machen andere Aspekte unsichtbar.

Hat die Arbeiterin, die ihr Verhältnis zum Kreislauf der kapitalistischen Produktion ausschließlich in den Kategorien eines ›gerechten Preises‹ oder eines ›gerechten Lohns‹ lebt, ein ›falsches Bewusstsein‹? Ja, wenn wir damit meinen, dass es in ihrer Lage etwas gibt, das sie mit den von ihr verwendeten Kategorien nicht begreifen kann; etwas von dem Prozess als ganzem, das systematisch verborgen bleibt, weil die verfügbaren Begriffe ihr nur den Zugriff zu einem seiner vielen Momente erlauben. Nein, wenn wir damit meinen, dass sie sich vollkommen darüber täuscht, was im Kapitalismus vor sich geht.

Die Falschheit entsteht daher nicht aus der Tatsache, dass der Markt eine Illusion, ein Trick, eine Taschenspielerei wäre, sondern sie besteht nur im Sinne einer inadäquaten Erklärung eines Prozesses. Dabei wird ferne an die Stelle des ganzen ein Teil des Prozesses gesetzt – ein Verfahren, das in der Linguistik als »Metonymie‹ und in der Anthropologie, Psychoanalyse und (in einer speziellen Bedeutung) in Marx’ Werk als Fetischismus bekannt ist. Die anderen dabei ›verlorengegangenen‹ Momente des Kreislaufs jedoch sind unbewusst, nicht im Freudschen Sinne als vom Bewusstsein verdrängte, sondern in dem Sinne, dass sie unsichtbar sind bei den gegebenen Begriffen und Kategorien, die wir verwenden.

Dies ist auch hilfreich, um die sonst extrem verwirrende Terminologie im Kapital zu erklären, soweit sie das betrifft, was ›an der Oberfläche erscheint‹ (von dem manchmal gesagt wird, es sei ›bloße Erscheinung‹, das heißt nicht wichtig, nicht die wirkliche Sache), und was ›darunter verborgen‹ und in die Struktur eingebettet ist, weil es nicht auf der Oberfläche liegt. Entscheidend ist jedoch, dass – wie das Beispiel Tausch/Produktion deutlich macht  – ›Oberfläche‹ und ›Erscheinung‹ nicht falsch oder illusorisch im gewöhnlichen Wortsinn bedeutet. Der Markt ist nicht mehr oder weniger ›wirklich‹ als andere Aspekte, zum Beispiel die Produktion. Die Produktion ist in Marx’ Terminologie nur das, womit wir die Kreislaufanalyse beginnen sollten: »… der Akt, worin der ganze Prozess sich wieder verläuft.« (Grundrisse, 15) Aber die Produktion ist vom Kreislauf nicht unabhängig, denn die gemachten Profite und die auf dem Markt gekaufte Arbeitskraft müssen in die Produktion zurückfließen. ›Wirklich‹ drückt deshalb nur einen gewissen theoretischen Primat aus, den die marxistische Analyse der Produktion einräumt. In jedem anderen Sinn ist der Austausch auf dem Markt ein genauso realer, materieller Vorgang und ein absolut ›wirkliches‹ Erfordernis für das System – wie die anderen Teile auch: alle sind »Momente eines Akts« (Grundrisse, 15).

Auch die Ausdrücke ›Erscheinung‹ und ›Oberfläche‹ selbst stellen ein Problem dar. Erscheinungen können etwas konnotieren, das ›falsch‹ ist, Oberflächenformen scheinen nicht so tief zu gehen wie ›Tiefenstrukturen‹. Diese sprachlichen Konnotationen haben den unglücklichen Effekt, dass sie uns die verschiedenen Momente in der Form mehr/weniger real, mehr/weniger wichtig anordnen lassen. Aber von einem anderen Standpunkt aus ist das, was an der Oberfläche ist, was fortwährend erscheint, gerade dasjenige, was wir immer sehen, dem wir täglich begegnen, was wir ganz selbstverständlich als die offensichtliche und manifeste Form des Prozesses annehmen. Es ist dann nicht überraschend, dass wir spontan das kapitalistische System denken im Sinne der Teilstücke, die uns ständig beschäftigen und die so manifest ihre Präsenz bekunden. Was kann die Abpressung von »Mehrarbeit« als ein Begriff ausrichten gegen so handfeste Tatsachen wie die Lohntüte, die Ersparnisse auf der Bank, die Groschen im Automaten, das Geld in der Ladenkasse? Selbst Nassau Senior, der Ökonom aus dem neunzehnten Jahrhundert, konnte die eine Arbeitsstunde, in der die Arbeiter den Mehrwert produzieren statt ihre eigene Subsistenz zu reproduzieren, nicht wirklich als eine solche Tatsache in den Griff bekommen (vgl. MEW 23, 237ff.).

In einer Welt, die vom Geldverkehr durchtränkt und allerorts durch Geld vermittelt ist, ist die Erfahrung des ›Marktes‹ für jeden die unmittelbarste, alltägliche und universelle Erfahrung des ökonomischen Systems. Es ist deshalb nicht überraschend, dass wir den Markt für ganz selbstverständlich nehmen, nicht fragen, was ihn ermöglicht, worauf er gründet oder was er voraussetzt. Es sollte uns nicht verwundern, wenn die Massen der arbeitenden Menschen nicht über die Begriffe verfügen, um an einer anderen Stelle des Prozesses einen Einschnitt zu machen, eine andere Anordnung von Fragen zu entwerfen, und an die Oberfläche zu bringen oder zu enthüllen, was die überwältigende Faktizität des Marktes fortwährend unsichtbar macht. Es ist klar, weshalb wir aus diesen fundamentalen Kategorien, für die wir alltägliche Wörter, Redewendungen und Idiomatische Ausdrücke im praktischen Bewusstsein gefunden haben, das Modell anderer sozialer und politischer Verhältnisse generieren. Schließlich gehören auch sie zum selben System und scheinen ganz nach dessen Muster zu funktionieren. Auf diese Weise sehen wir in der ›Wahlfreiheit‹ auf dem Markt das materielle Symbol der abstrakteren Freiheiten, oder im Eigeninteresse und im Konkurrieren um Marktvorteile die ›Repräsentation‹ von etwas Natürlichem, Normalem und Universalem in der menschlichen Natur selbst.

Ich möchte nun versuchen, einige Schlüsse aus der ›Re-Lektüre‹ der Passage von Marx zu ziehen, die ich vor dem Hintergrund der neueren Kritiken und der vorgebrachten neuen Theorien angeboten habe.

Die Analyse wird nicht mehr durch die Unterscheidung zwischen dem ›Wirklichen‹ und dem ›Falschen‹ organisiert. Die verdunkelnden und mystifizierenden Effekte einer Ideologie werden nicht länger als Produkt einer Täuschung oder einer magischen Illusion betrachtet, noch werden sie einfach einem falschen Bewusstsein zugeschrieben, in das unsere armen, umnachteten, theorielosen Proletarier auf ewig eingekerkert wären. Die Verhältnisse, in denen die Leute leben, sind immer die ›wirklichen Verhältnisse‹, und die Kategorien und Begriffe, die sie verwenden, helfen ihnen, diese gedanklich zu erfassen und zu artikulieren. Aber – und damit bewegen wir uns möglicherweise im Gegensatz zu der Emphase dessen, womit ›Materialismus‹ gewöhnlich assoziiert wird – die ökonomischen Verhältnisse können nicht von sich aus eine bestimmte, festgelegte und unveränderliche Art und Weise vorschreiben, um sie begrifflich zu erfassen. Es kann in unterschiedlichen ideologischen Diskursen ausgedrückt werden. Mehr noch, diese Diskurse können das Denkmodell anwenden und auf andere, im strengen Sinn ideologische Bereiche übertragen. Es kann sich ein Diskurs entwickeln – zum Beispiel der neueste Monetarismus –, der den großen Wert der ›Freiheit‹ ableitet aus der Freiheit vom Zwang, die Frauen und Männer an jedem Werktag wieder auf den Arbeitsmarkt wirft. Auch haben wir die Unterscheidung ›wahr‹ und ›falsch‹ verworfen und durch andere, genauere Ausdrücke wie ›partiell‹, ›adäquat‹ oder ›einseitig‹ und ›in seiner differenzierten Totalität‹ ersetzt. Zu sagen, dass ein theoretischer Diskurs uns ein konkretes Verhältnis adäquat im Denken erfassen lässt, bedeutet, dass der Diskurs uns einen vollständigeren Begriff liefert von den verschiedenen Beziehungen, aus denen dieses Verhältnis sich zusammensetzt, und von den vielfältigen Bestimmungen, die dessen Existenzbedingungen bilden. Das bedeutet, dass unser Zugriff konkret und vollständig ist, statt eine dünne, einseitige Abstraktion zu sein. Einseitige Erklärungen, die partielle, den Teil-fürs-Ganze nehmende Erklärungstypen sind, die uns lediglich erlauben, ein Element (den Markt, z.B.) zu abstrahieren und zu erklären, sind genau auf dieser Grundlage inadäquat; und nur insofern können sie als ›falsch‹ betrachtet werden. Obgleich der Ausdruck streng genommen irreführend ist, wenn wir dabei etwas wie eine einfache Alles-oder-Nichts-Unterscheidung zwischen dem Wahren und dem Falschen oder zwischen Wissenschaft und Ideologie im Kopf haben. Glücklicher- oder unglücklicherweise passen gesellschaftliche Erklärungen selten exakt in solche Schubfächer.

Wir haben bei unserer ›Re-Lektüre‹ auch versucht, einige sekundäre Aussagen aufzunehmen, die aus neueren Theorien über ›Ideologie‹ stammen, im Bemühen zu sehen, ob und inwiefern sie mit den Marxschen Formulierungen inkompatibel sind. Wie wir gesehen haben, bezieht sich die Erklärung auf Begriffe, Ideen, Terminologien, Kategorien, vielleicht auch auf Bilder und Symbole (Geld; Lohntüte; Freiheit), die uns erlauben, einen bestimmten Aspekt des gesellschaftlichen Prozesses im Denken zu erfassen. Sie versetzen uns in die Lage, uns und anderen vorzustellen, wie das System arbeitet, warum es so funktioniert, wie es funktioniert.

Derselbe Prozess – Produktion und Austausch im Kapitalismus – kann innerhalb unterschiedlicher ideologischer Rahmen mit Hilfe verschiedener ›Repräsentationssysteme‹ ausgedrückt werden. Es gibt den Diskurs über ›den Markt‹, den Diskurs der ›Produktion‹, den Diskurs der ›Kreisläufe‹: jeder produziert eine unterschiedliche Definition des Systems. Jeder verortet uns auch unterschiedlich – als Arbeiter, Kapitalist, Lohnarbeiter, Lohnsklave, Produzent, Konsument usw. Jeder platziert uns als gesellschaftliche Akteure oder als Mitglied einer gesellschaftlichen Gruppe in einem besonderen Verhältnis zu dem Prozess und schreibt uns bestimmte gesellschaftliche Identitäten vor. Mit anderen Worten: die verwendeten ideologischen Kategorien positionieren uns in Bezug auf die Darstellung des Prozesses, wie sie im Diskurs geschildert wird. Der Arbeiter/die Arbeiterin, der/die sich als ›Konsument‹ auf seine/ihre Existenzbedingungen im kapitalistischen Prozess bezieht – sozusagen durch dieses Tor in das System eintritt –, hat am Prozess durch eine Praxis teil, die sich von der Praxis derer unterscheidet, die als ›Facharbeiter‹ ins System eingeschrieben sind – oder als ›Hausfrau‹ überhaupt nicht darin eingeschrieben sind. Alle diese Einschreibungen haben Effekte, die real sind. Sie produzieren eine materielle Differenz, da unsere Handlungsweise in bestimmten Situationen davon abhängt, wie wir die Situation definieren.

4. ›Stellungskriege‹: Klassen, Sprache und hegemonialer Kampf