Populismus - Karin Priester - E-Book

Populismus E-Book

Karin Priester

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Beschreibung

Als populistisch werden Politiker oder Parteien bezeichnet, die mit wohlfeilen Parolen über »die da oben« schimpfen. Karin Priester zeigt, dass der Populismus weit mehr als das ist, nämlich eine spezifische politische Strömung. So setzen sich populistische Bewegungen für den selbstständigen Mittelstand ein und wehren sich gegen politische Bevormundung und zentralistische Tendenzen. Viele ihrer Forderungen wie Dezentralisierung, Bürokratieabbau und Föderalismus wurden von den großen Volksparteien aufgegriffen. So ist es ihnen bislang gelungen, populistische Proteste zu neutralisieren. Doch gerade der rechte Populismus gewinnt an Boden – eine ernsthafte Auseinandersetzung ist unerlässlich.

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Priester, Karin

Populismus

Historische und aktuelle Erscheinungsformen

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Copyright © 2007. Campus Verlag GmbH

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E-Book ISBN: 978-3-593-40348-9

|7|Einleitung

»Das Volk ist das natürlichste, breiteste und erdnächste und darum auch das einzig wirklich organische und die Schwankungen der Zeit überdauernde Fundament wirtschaftlichen und staatlichen Lebens«. Wo von Erdnähe und »organischen« Fundamenten die Rede ist, stellen sich rasch Assoziationen mit rechtslastigem, wenn nicht gar völkischem Gedankengut ein. Tatsächlich stammt der Satz aus einer Rede des damaligen SPD-Abgeordneten und späteren KZ-Häftlings Kurt Schumacher, gehalten 1928 vor dem Württembergischen Landtag (Schumacher 1928: 4).

Kein Politiker oder Journalist könnte es heute noch wagen, sich so emphatisch auf das Volk zu beziehen, ohne Verdächtigungen und unangenehme Fragen auf sich zu ziehen. Das Volk, ob erdnah oder nicht, ist politisch gründlich diskreditiert und als politische Kategorie obsolet. Wo von soziokulturellen Milieus und Individualisierung die Rede ist, scheint das Volk als ehemals vierter Stand nicht nur der Vergangenheit anzugehören, sondern vielmehr auch negativ besetzt. Die Zuschreibung »Populist« gilt heute als Beleidigung; Populisten sind gewissermaßen die Schmuddelkinder unter den Politikern.

War die Stimme des Volkes, des menu peuple, des popolo minuto, bis zur Französischen Revolution nur in vorübergehenden, meist niedergeschlagenen Revolten und Aufständen vernehmbar, so ist sie seitdem unumkehrbar ein politischer Faktor, mit dem die Politik rechnen muss. Insbesondere seit der Einführung des allgemeinen Wahlrechts gehört der Begriff »Volk« als fester Bestandteil zum politischen und kulturellen Vokabular. Schlechterdings alle politischen Kräfte, Demokraten ebenso wie Antidemokraten, waren im 20. Jahrhundert an der Okkupation, zugleich auch der Inflationierung, des Volksbegriffs beteiligt: Volksparteien, Volksversammlung, Volksvertreter, Volkskunde|8|, Volkskirche, Volksbank, Volkssport, Volksausgabe, Volksbühne, Volksfürsorge, Volkshochschule, Volksdemokratie, Volksrepublik, Volkspolizei, nicht zu vergessen die völkischen Bewegungen im Vorfeld des NS-Regimes und das gerade von diesem Regime propagandistisch genutzte Medium des Volksempfängers und die serielle Fertigung des Volkswagens für die »Volksgenossen« in der »Volksgemeinschaft«.

Als ein Grundmerkmal des Populismus gilt die Polarisierung von Volk und Eliten. Aber berufen sich heutige Populisten tatsächlich noch auf das Volk und nicht eher auf das neue Leitbild des »mündigen Bürgers«? Auffallend ist, dass die Berufung auf das Volk gerade bei neueren Populisten, denen dies doch nachgesagt wird, kaum noch eine Rolle spielt. Zwischen dem Poujadismus der 1950er Jahre mit seiner Idealisierung des brave peuple und Pim Fortuyns Anrufung des »mündigen, kalkulierenden Bürgers« liegen rund vierzig Jahre gesellschaftlichen Wandels, der in Westeuropa im Durchschnitt zu höheren Bildungsabschlüssen, zu Emanzipationsbewegungen und Modernisierungsschüben geführt hat. Populisten tragen diesem Umstand in ihrer Sprache und Begriffswahl Rechnung, ohne doch ihren eigentlichen Adressaten aus den Augen zu verlieren: den selbstständigen Mittelstand.

Wurde der Begriff des Populismus lange Zeit für außereuropäische Länder reserviert, so haben ihm verschiedene gesellschaftliche und politische Veränderungen auch in Europa zu Aktualität verholfen: a. Die Krise des europäischen Wohlfahrtsstaats und das Ende des »sozialdemokratischen Zeitalters« (Ralf Dahrendorf) wirft Fragen nach neuen Formen gesellschaftlicher Integration und Steuerung auf, was zur Suche nach dritten Wegen zwischen Staat und Gesellschaft geführt hat. Kulturell profitieren Populisten überdies von postmodernen, auf Dezentrierung, Pluralisierung und normative Antistaatlichkeit setzenden Zeitströmungen. b. Veränderungen in der Produktionsstruktur haben zur Herausbildung eines neuen, selbstständigen Mittelstandes geführt. Die zentralisierte, konzentrierte, hierarchisch geführte Großindustrie (das »fordistische« Modell) befindet sich in einer Krise. Vielfach sind die industriellen Großagglomerate nachfordistischen, dezentrierten, Kleinbetrieben gewichen. Prägen vernetzte, |9|weniger hierarchische Managementtechniken und Produktionsstrukturen als Signatur einer »postmodernen« Entwicklungsphase auch die politischen Entwicklungen in Richtung auf Föderalisierung und Dezentra-lisierung? c. Die Ausweitung der Märkte und der Prozess der euro-päischen Vereinigung werfen Fragen nach der Rolle des Nationalstaats im Binnen- und Außenverhältnis auf. Wird dies zur Dispersion von Souveränität(en) und damit zum Ende der Staatlichkeit in seiner bisherigen Form führen und welchen Anteil haben populistische Bewegungen an diesen Tendenzen? d. Die Beobachtung des politisch rechten Spektrums zeigt, dass man sich auch hier auf die Suche nach dritten Wegen jenseits zentralstaatlich-nationalistischer, hierarchischer Modelle begibt. Ist der Populismus der dritte Weg von rechts oder zeichnet sich, etwa unter dem Begriff des associationalism, auch ein linker Populismus ab und was unterscheidet diesen von linkssozialistischen Konzepten?

In der Diskussion um den Populismus standen bisher zwei Aspekte im Vordergrund: erstens die sozialpsychologische Ebene, auf der vor allem nach manifesten oder latenten Einstellungssyndromen wie Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Ethnozentrismus und Antisemitismus gefragt wird; zweitens die Beschäftigung mit dem so genannten populistischen Politikstil, also dem Auftreten, der Diskursführung oder der Rhetorik von Populisten.

Beide Untersuchungsgegenstände sind wichtig, aber nicht ausreichend und überdies zu weit gefasst, um das Spezifische des Populismus in den Blick zu nehmen. Es wird zu zeigen sein, dass der Populismus eine durchaus konsistente, wenn auch ambivalente und wenig ausgearbeitete Philosophie mit klar identifizierbaren gesellschafts und staatstheoretischen Vorstellungen beinhaltet. Populismus ist, zugespitzt formuliert, die Revolte gegen den modernen Staat und wird hier, angesiedelt in einem Dreieck von Anarchismus, Liberalismus und Konservatismus, als eine Volksvariante des konservativen »Denkstils« (Karl Mannheim) analysiert. Im 20. Jahrhundert hat die Entstehung des modernen Wohlfahrtsstaates, in den USA beginnend mit der Politik des New Deal, dem Populismus Auftrieb gegeben. Dem intervenierenden Staat mit seinen durch social engineering sozialstrukturell steuernden und planenden Technokraten und Experten gilt die eigentliche Gegnerschaft von Populisten. Nach der Institutionalisierung |10|des Klassenkonflikts zwischen Kapital und Arbeit zeichnet sich hier ein neues, populistisch besetztes Feld sozialer Kämpfe zwischen dem Staatssektor und dem staatsfreien Sektor des selbstständigen Mittelstandes ab.

Um das Phänomen des Populismus also einzugrenzen und nicht als bloßes Stilmerkmal ubiquitär ausufern zu lassen, wird in einem ersten Teil nach dem grundlegenden Verhältnis von Populismus und Staat gefragt. Anschließend werden historisch-deskriptiv verschiedene, auch zeitlich auseinander liegende populistische Bewegungen exemplarisch rekonstruiert. Dabei wird dem US-amerikanischen Populismus besondere Aufmerksamkeit gewidmet, weil populistische Strömungen dort ein durchgängiges Phänomen sind. Besser als bei europäischen, immer nur kurzfristig aufwallenden populistischen Bewegungen, können an diesem Fallbeispiel unterschiedliche Ausprägungen von Populismus herausgearbeitet werden. Darüber hinaus lässt sich an diesem Beispiel auch das Umschlagen oder die »Inversion« des Populismus zu einem qualitativ anderen politischen Typus aufzeigen: dem Semifaschismus oder führerzentrierten Massenklientelismus.

Für Europa werden exemplarisch drei genuine populistische Bewegungen ausgewählt, der Poujadismus, die italienische Lega Nord und die Bewegung Pim Fortuyns in den Niederlanden. Als Grenzfälle werden die »politischen Unternehmer« Bernard Tapie und Silvio Berlusconi behandelt und die Frage gestellt, inwieweit es sich bei diesen Politikern überhaupt um Populisten in dem hier entwickelten Sinne handelt, oder nicht eher um mediengewandte Sumpfblüten des Liberalismus in der Phase seines Niedergangs, um Vorboten eines generellen, keineswegs Populisten allein vorbehaltenen Trends zur entideologisierten, personenzentrierten Politik des leadership.

Wenn ich bei meinen Ausführungen mit einer gewissen Penetranz darauf beharre und mich in diesem Punkt auch gelegentlich wiederholen werde, dass der Populismus nicht nur eine Frage des Politikstils oder popularer »Anrufungen« ist, so geschieht dies auch vor dem Hintergrund der Krise der großen Volksparteien. Um die Konstellation umrisshaft zu verdeutlichen: Abgesehen vom kollektivistischen Modell des östlichen Staatssozialismus waren und sind die Sozialdemokratien als Parteien der Modernisierung und der technokratischen |11|Problemlösungen im interventionistischen Wohlfahrtsstaat die eigentlichen Gegner von Populisten, auch jenen, die sich in den angelsächsischen Ländern als links verstehen. Dagegen ist es den christdemokratischen Parteien lange Zeit gelungen, unter Berufung auf das am Personalismus ausgerichtete Menschenbild und das Subsidiaritätsprinzip populistische Potentiale zu absorbieren und mit anderen Strömungen zu amalgamieren. Diese Syntheseleistung wird heute immer weniger erbracht. Die Suche nach dritten Wegen geht weiter.

|12|2. Populismus – Versuch einer Eingrenzung

Der Begriff des Populismus ist durchweg negativ besetzt und mit dem Stigma der Emotionalisierung und Personalisierung von Politik belegt.1 Mehr als eine bestimmte Art des Auftretens und der Rhetorik scheint der Begriff allerdings nicht zu implizieren. Dies macht ihn dehnbar, schwammig und inhaltsleer. Wo aber die Konturen eines zu untersuchenden Gegenstandes nicht nur unscharf sind – das sind sie immer –, sondern sich in einer Nebelwolke immer wieder dem Blick entziehen, stellt sich die Frage, ob der Begriff wissenschaftlich überhaupt tragfähig ist oder nicht eher aufgegeben werden sollte. Allerdings würde er damit freigegeben für publizistische Willkür und eine antipopulistische, deswegen aber nicht minder demagogische Handhabung. Populismus wäre dann die Chiffre für eine politische Restgröße und ein Störpotential, das nicht zugeordnet und analytisch dingfest gemacht werden kann.

Das Unbehagen an der Mehrdeutigkeit des Begriffs hat dazu geführt, ihn meist nur noch als Adjektiv oder Modaladverb zu benutzen. Als populistisch werden bestimmte Formen des Auftretens politischer Akteure bezeichnet, leicht erkennbare und sich wiederholende Merkmale von Stil (hemdsärmelig, marktschreierisch), Sprache (deftig, volkstümlich) und Diskursführung (vereinfachend, emotional).

Versuche, den Populismus unter Ausklammerung von Inhalten und Zielsetzungen lediglich formal zu definieren als Stilausprägung oder |13|eine sich auf das Volk beziehende Anrufungspraxis, hat zunächst einiges für sich, denn was haben schließlich die russischen Narodniki mit einem Pim Fortuyn gemeinsam, was ein Pierre Poujade mit Henry Ross Perot oder Jesse Ventura? Was schließlich der französische Bauernführer José Bové mit dem Hamburger Richter Ronald Schill? Wenig, so scheint es zunächst, und doch gibt es starke Gemeinsamkeiten. Wie ein roter Faden ziehen sie sich durch alle Bewegungen, die auch nur entfernt im Ruch des Populismus gestanden haben oder stehen: ein bestimmtes Verständnis von Freiheit, verstanden als Freiheit vom Staat, als Freiheit zu selbstbestimmter Tätigkeit, zu Autonomie, als Freiheit von Bevormundung aller Art, sei es die des Staates, der Intellektuellen, Experten oder Technokraten. Populisten vertreten, immer bezogen auf die westliche Hemisphäre, zutiefst bürgerlich-liberale Werte und sind als Kleinproduzenten selbst Teil des Bürgertums.

In der neueren Literatur zum Populismus ist viel untersucht worden, wie Populisten auftreten und kommunizieren, zu wenig dagegen, was sie eigentlich zu sagen haben. Konzentriert man sich aber nur auf den Politikstil, muss man zwangsläufig zu dem Ergebnis gelangen, der Populismus sei inzwischen ubiquitär geworden. Es sei, schreibt Hans-Jürgen Puhle, heute noch weniger angemessen als vor zwanzig Jahren, von Populismus in einem inhaltlichen Sinne zu sprechen (Puhle 2003: 43). Dem ist zu widersprechen, zeigt sich doch, dass der Populismus, zumindest in seiner nordamerikanischen und europäischen Ausprägung,2 erstens eine recht genau lokalisierbare soziale Basis, zweitens eine zwar wenig elaborierte, dennoch konkrete Gesellschaftsvorstellung und drittens ein spezifisches Verständnis vom Staat und seinen Funktionen hat.

|14|Da wir heute nur noch eine vage Vorstellung von Konservatismus haben, wird übersehen, dass Populismus ein konservatives Phänomen ist, das jedoch meist in Verschmelzung mit anderen politischen Richtungen auftritt. Der Populismus kann auf eine lange sozial- und ideengeschichtliche Tradition zurückblicken und ist inhaltlich keineswegs konturenlos. Vielmehr steht er ökonomisch, kulturell und politiktheoretisch in einem Umfeld, das seit den 1970er Jahren neuen Auftrieb erhalten hat. Ökonomisch liegt populistischen Tendenzen die nachfordistische Produktionsweise zugrunde, also die Wiederkehr von Kleinbetrieben in moderner, vernetzter Form. Kulturell hat er starken Aufwind erfahren durch die postmoderne Philosophie und Gesellschaftstheorie. Politiktheoretisch ist er in einem Dreieck von Kommunitarismus, Netzwerktheorien und der Renaissance von föderalismus- und pluralismustheoretischen Ansätzen wie dem associationalism zu verorten.

Historische Hintergründe

Das Misstrauen gegenüber populistischen Tendenzen ist weit verbreitet, sieht man in ihnen doch häufig nur den Ausdruck von Fremdenfeindlichkeit, Ausländerhass und unsolidarischem Egoismus. Um den eigentlichen Charakter populistischer Tendenzen verstehen zu können, muss man sich kurz die Grundkonstellation seit der Französischen Revolution vergegenwärtigen und damit die Wurzeln und Verästelungen populistischer Strömungen freilegen. Zwischen 1789 und 1793 standen sich in der Französischen Revolution zwei große Richtungen gegenüber, die Liberalen (Girondisten) und die Jakobiner. Einer der zentralen Konflikte, an dem sich in der Folgezeit immer wieder populistische Bewegungen diesseits und jenseits des Atlantiks entzündeten, ging weniger um »rechts« oder »links«, sondern um die Frage: dezentrale (lokale, föderale) Macht oder Zentralstaat? Die Jakobiner vertraten ein zentralistisches Staatsmodell, darauf ausgerichtet, alle lokalen Zentren, die meist auch Zentren des Widerstandes waren, zu entmachten und alle Macht in der Hauptstadt Paris zu konzentrieren. Schon früh sprach Alexis de Tocqueville vom »Doppelwesen« der Französischen Revolution, von zwei entgegengesetzten |15|Bewegungen, »die man nicht miteinander verwechseln darf: die eine war der Freiheit, die andere dem Despotismus günstig«. Letztere, die jakobinische Richtung, habe aus dem Hass gegen das alte Regime unterschiedslos alles Vorangegangene verworfen, »die absolute Gewalt ebenso wie das, was deren Härten mildern konnte; sie war republikanisch und zentralistisch in einem. […] So kann man für das Volk sein und Feind der Volksrechte bleiben; heimlich ein Diener der Tyrannei und nach außen ein Freund der Freiheit«. (Tocqueville [1835ff.] 2004: 77)

Als sich im 19. Jahrhundert die marxistisch-sozialistische Arbeiterbewegung formierte, vertrat auch sie, in diesem Sinne Erbin der Jakobiner, das unitarische Modell. Marx und Engels waren zu ihrer Zeit Zentralisten und gingen davon aus, dass erst in ferner, nachrevolutionärer Zukunft der Staat in seiner Funktion als »ideeller Gesamtkapitalist« in der Gesellschaft aufgehen und absterben würde. Diese Position gilt es vor dem Hintergrund zu sehen, dass die lokalen Machtzentren in den französischen Provinzen ein Hort der Reaktion und Gegenrevolution waren.

Dieses zentralistische, bis heute mit dem Jakobinismus verbundene Modell eines starken Zentralstaats prägte alle späteren, sich auf Marx und Engels berufenden Regime. Plurale Machtzentren waren suspekt und wurden bekämpft, lokale Autonomie galt als Einfallstor des Klassenfeindes, als Hort von Rückständigkeit, Widerstand, Diversion oder Separatismus. Nach dem Sieg der Bolschewiki in Russland wurde unter Lenin und Stalin das gesamte sowjetische Imperium zentralistisch auf Moskau als der alleinigen Zentrale des Weltkommunismus ausgerichtet, ein Modell, das sich Ende des 20. Jahrhunderts zunehmend als dysfunktional erwies. Die staatszentralistische Position war auf die Kämpfe und cleavages des 19. Jahrhunderts zugeschnitten, auf einen starken bürgerlichen Nationalstaat auf der einen und eine schlagkräftige, zentral von Avantgarden und Berufsrevolutionären gelenkte, advokatorisch »von oben« geführte Arbeiterbewegung auf der anderen Seite.

|16|Die anarcho-konservative Tradition des Populismus

Schon im 19. Jahrhundert vertraten die Anarchisten hier die antietatistische Gegenposition, die sich aber, im Gegensatz zu den romanischen Ländern, in der mitteleuropäischen Arbeiterbewegung nicht durchsetzte. Aus der Sicht der Anarchisten sollte die künftige Gesellschaft kommunitär in konzentrischen Kreisen von Gemeinschaften aufgebaut sein. Diese Gemeinschaftsutopie hinterließ nicht nur in den großen populistischen Bewegungen des 19. Jahrhunderts ihre Spuren, sondern erfuhr auch in den 1980er Jahren im Kommunitarismus und generell nach dem Ende der ideologischen »Großerzählungen« in der Postmoderne eine Aufwertung. Die Forderung nach Dezentrierung, Vernetzung, Pluralisierung und einer normativen Antistaatlichkeit, für die Theoretiker wie Michel Foucault, Zygmunt Bauman oder Richard Rorty stehen, erlebte eine ungeahnte Renaissance, bis hin zu einer grundsätzlichen Kritik an der Tradition der Aufklärung.

Nimmt man die sich während der Französischen Revolution befehdenden Kräfte als Grundkonstellation, die bis heute nachwirkt, so lässt sich resümieren: Die Kontroverse um Unitarismus gegen Föderalismus und jede andere Form von lokaler Autonomie wurde in den westlichen Gesellschaften zugunsten des Zentralstaats entschieden. In einem Land wie Frankreich behielten die jakobinisch-zentralistisch-republikanischen Tendenzen lange Zeit die Oberhand und wurden erst im späten 20. Jahrhundert allmählich abgebaut. Ähnliches gilt für Italien. Die kommunistischen Länder folgten auch in dieser Frage den Klassikern des Marxismus-Leninismus. Und selbst die nur noch dem Buchstaben nach marxistischen, längst reformistisch agierenden sozialdemokratischen Parteien, insbesondere die deutsche, blieben auf den Staat fixiert.

Spätestens der Faschismus zeigte nun, dass ein starker Zentralstaat nicht nur eine Forderung von Jakobinern und Marxisten, sondern auch der antiliberalen Rechten war. In Frontstellung gegen diese Konstellation treten populistische Bewegungen schon im 19. Jahrhundert als dritte Kraft auf, als Anwälte des Lokalismus, der dezentralen Organisation in Staat und Gesellschaft. Sie richten ihren Protest gegen die Verfestigung von Herrschaft in einem Zentrum, in den |17|großen Organisationen von Staat und Wirtschaft, seien es bürokratische Großapparate, Konzerne und Trusts oder die Hauptstadt. Ein Moment konservativer Beharrung und konservativen Eigensinns verbindet sich mit der Forderung nach Selbstbestimmung jenseits aller Stellvertreterpolitik durch Parteien oder Intellektuelle.

Karl Mannheims wissenssoziologischer Blick

Hinter der Konfliktlinie zwischen Jakobinern und Girondisten steht aber noch eine ältere und grundlegendere: Die Herausbildung des modernen Staates ab dem 16. Jahrhundert mit seiner Bürokratie, seinem stehenden Heer und seinem Steuermonopol, mit zentral von absolutistischen Monarchen gelenkter Wirtschafts-, Rechts- und Bildungspolitik. Der Begriff des »aufgeklärten Absolutismus« brachte die Verbindung von Aufklärungsphilosophie und staatlich gelenkter Modernisierungspolitik zum Ausdruck.

Gegen diese Machtkonzentration im Staate artikulierte sich schon früh Widerstand im Namen »organisch« gewachsener Vielfalt und Pluralität von Rechtsbeziehungen, Privilegienstrukturen, Lebensformen, Ständeordnungen und staatsfreien Zusammenschlüssen wie den Zünften, Gilden oder Stadtkommunen. Die Französische Revolution wirkte hier nur als Katalysator einer Entwicklung von »langer Dauer«, bei der es, unabhängig von den Regimeformen (absolutistische Monarchie oder Republik), auf der einen Seite um Modernisierung durch staatliche Machtkonzentration, auf der anderen Seite um Verteidigung pluraler, staatsfreier Sphären der Selbstorganisation und Selbstbestimmung ging. Im 19. Jahrhundert formierte sich dieser Widerstand als Konservatismus und in diese Traditionslinie fällt auch der Populismus.

In seinem klassischen Werk zum Konservatismus hob der Wissenssoziologe Karl Mannheim hervor, dass sich neben den dominierenden Zügen der modernen, mechanisierten Gesellschaft mit ihrer Rechenhaftigkeit, ihrem Rationalismus, ihrem abstrakten Erleben und Denken historisch vorgängige Denkstile erhalten haben, die der modernen Welt als Komplementärerscheinungen zur Seite stehen. Mannheim fragt:

|18|»Was geschah mit all jenen lebendigen Beziehungen und den ihnen entsprechenden Denkformen, die durch diese konsequent werdende Abstraktion verdrängt worden sind? Versanken sie in der Vergangenheit oder blieben sie irgendwo erhalten? Und wenn das letztere der Fall ist, in welcher Gestalt kamen sie auf uns über? Sie bestanden, wie zu erwarten, auch weiterhin; aber wie dies in der Geschichte zumeist geschieht, war ihr Vorhandensein latent geworden und wirkte sich höchstens in komplementären Gegenströmungen zu der Hauptströmung aus«. (Mannheim 1984: 83)

Zunächst seien diese Gegenströmungen von jenen geistigen und sozialen Schichten weitergetragen worden, die noch außerhalb des kapitalistischen Rationalisierungsprozesses standen oder keine führende Rolle in ihm einnahmen: bäuerliche und kleinbürgerliche, noch dem Handwerkerleben nahe stehende Schichten, aber auch Teile der industriellen Arbeiterschaft, die ihre ursprüngliche Lebenshaltung noch nicht ganz verloren hatten.

»Wir sind zumeist geneigt, die Kritik des Kapitalismus der proletarisch-sozialistischen Bewegung, die erst später einsetzt, zu-zuschreiben. Es sprechen aber sehr viele Anzeichen dafür, dass diese Kritik von der Rechtsopposition inauguriert wurde und von hier erst in die Intentionen der ›Linksopposition‹ übergegangen ist, wobei es selbstverständlich wichtig sein muß, zu erforschen, durch welche Verschiebung der ›Pointe‹ dieses ›Übergehen‹ vonstatten geht«. (Ebd.: 87)

Mannheim ist so ausführlich zu Worte gekommen, weil seine Ausführungen inhaltlich und methodisch als Schlüssel zum Verständnis nicht nur des Konservatismus, sondern auch des Populismus dienen können. Inhaltlich besteht eine starke Affinität zwischen Konservatismus und Populismus, die sich beide durch inhaltliche Unbestimmtheit und Theorieferne auszeichnen. Methodisch aber hat Mannheim mit den Formulierungen ›Verschiebung der Pointe‹ und ›Übergehen‹ etwas erfasst, was gerade am Populismus immer wieder irritiert, nämlich die ihm innewohnende Tendenz, zwischen links und rechts zu changieren und unter bestimmten, genauer zu analysierenden Bedingungen zu einem anderen politischen Typus zu mutieren.

|19|Populismus als fluider Volkskonservatismus

Neben den Hochideologien von Liberalismus, Sozialismus und Konservatismus erscheint der Populismus als »kleiner Bruder« mit minderem Anspruch auf Welterklärung und Gesellschaftsanalyse. Er war und ist eher ein Syndrom als eine Doktrin (Peter Wiles). Damit ist allerdings nicht seine Verknüpfungsfähigkeit mit anderen Ideologemen gemeint. Eine derartige Kombinatorik ist, insbesondere seit der Herausbildung von Volksparteien, gängige Praxis. Schon im 19. Jahrhundert spaltete sich der deutsche Liberalismus in Nationalliberale und Freisinnige, und erst recht im 20. Jahrhundert finden sich bei allen großen politischen Formationen diese Amalgamierungen und Legierungen, etwa als Sozialliberale, Liberalkonservative, Linksnationalisten und Sozialdemokraten bis hin zur Verknüpfung von Gegensätzen, wie bei Nationalsozialismus oder Konservative Revolution.

Diese Legierung – Mannheim spricht von Synthesen − diverser ideologischer Komponenten ist also nicht neu. Schon im 19. Jahrhundert hob Lord Acton hervor, die wechselseitige Durchdringung, die permeation politischer Ideengebäude sei wichtiger als der Sieg des einen über das andere. Von solchen Permeationen ist auch der Populismus nicht ausgenommen. Wie den Konservatismus, so zeichnet auch ihn ein tiefes Misstrauen gegen alles Neue und Fremde aus, aber im Gegensatz zu jenem bleibt er auf der Ebene subpolitischer Überzeugungen und somit, nach der Unterscheidung von Karl Mannheim, eher ein vorreflexiver Traditionalismus. In höherem Maße noch als für den Konservatismus gilt für ihn das »Seinsprimat« vor dem »Denkprimat« der Aufklärung (ebd.: 132f.).

Paul Taggart hat diesen populistisch-lebensweltlichen Konservatismus als rückwärtsgewandte Fixierung auf das heartland bezeichnet (Taggart 2002: 67f.). Heartland in seiner kaum übersetzbaren Bedeutung von Zentrum, Kernland, Landesinneres, evoziert ein emotionales, eher Herz und Gefühl als Verstand und Theorie ansprechendes, immer schon vorhandenes Wissen um die ›gute Gesellschaft‹, die, ländlich oder kleinstädtisch geprägt, in ihrem So-Sein unhinterfragbar ist. In diesem mentalen Kernland des Populismus herrschen in der Formulierung Alexis de Tocquevilles die »Gewohnheiten des Herzens«.

|20|In der französischen Wendung La France profonde erhält dieser Denkstil zusätzlich noch eine Tiefendimension – die Vorstellung einer tief in der Tradition verwurzelten Identität des Volkes mit sich selbst, eines unvergänglichen, ontologischen Seinsgrundes, der von künstlich geschaffenen neuen Zentren der Machtakkumulation bedroht wird, im einzelnen durch Immigration, Globalisierung, staatliches Steuermonopol, bürokratische Gängelung und Staatsinterventionismus. Dahinter, so wird vermutet, stehen aufklärerische Eliten, die, verbunden mit eigenen Machtinteressen, ihre Utopien von Gesellschaftsveränderung und Weltverbesserung umzusetzen trachten. Im konservativen wie auch im populistischen »Denkstil« (Mannheim) rangiert das auf Erfahrung und Tradition beruhende Wissen des Volkes vor dem rationalen, abstrakten Expertenwissen. Werden aber im Zuge von Modernisierungsprozessen Erfahrung und Tradition entwertet, so erleben Populisten dies als Bevormundung und elitäre Arroganz, hinter der sie eher intuitiv als reflektiert auch bestimmte Klasseninteressen vermuten und als Verschwörung wahrnehmen.

Populistische Beimischungen in den Volksparteien

Diese auch für Konservative typische Skepsis gegenüber Rationalismus, Abstraktion und Theorie führt einerseits zu einer höheren Anlehnungsbedürftigkeit des Populismus an andere, theoretisch elaboriertere politische Familien. Andererseits birgt seine inhärente Schwammigkeit die Gefahr der Überdehnung des Begriffs in sich. Um das Problem metaphorisch zu formulieren: Ist Populismus eher eine Zutat oder eine Speise? Fasst man ihn als Ferment oder Würze, kann man heute bei allen großen westlichen Parteiführern solche populistischen Zutaten erkennen, sei es bei Margaret Thatcher, Ronald Reagan oder Gerhard Schröder, bei Silvio Berlusconi oder Tony Blair. Jede Volkspartei muss darauf bedacht sein, klassen-, schichten und milieuübergreifend alle Wählerinnen und Wähler in ihrer Eigenschaft als Volk anzusprechen. Vertreter von Volksparteien versäumen es daher nicht, an Werte wie Anstand und Ehrlichkeit zu appellieren, ihre bescheidene Herkunft in die Waagschale zu werfen, ihre ärmliche Kindheit als Söhne rechtschaffener Kriegerwitwen hervorzukehren|21|, mit Prinz-Heinrich-Mütze, offenem Hemdkragen oder Lodenjacke ihre Volksverbundenheit unter Beweis zu stellen. Dies als Populismus »von oben« zu bezeichnen, heißt der Mimikry zu viel Ehre zu erweisen, wie es auch umgekehrt in die Irre führt, rechtsextreme oder neofaschistische Parteien als »national-populistisch« zu verharmlosen.

Um auf meine Metapher zurückzukommen: Die Beigabe einer Zutat oder eines Gewürzes kann, je nach Grad der Verabreichung, eine Speise so verändern, dass sie eine ganz andere wird, die dann in der Regel auch anders bezeichnet wird. Es kommt also auf das Mischungsverhältnis an und darauf, welche Komponenten in einem ideologischen Konglomerat überwiegen und dominant werden. Dabei handelt es sich oft nur um einen Schritt, der vom Populismus in reaktionäres Fahrwasser führt. Victor Khoros bemerkt dazu: »Im Regelfalle scheut der Populist diesen letzten Schritt; wagt er ihn aber, kann die Ideologie, für die er steht, nicht mehr als populistisch bezeichnet werden«. (Khoros 1980: 77)

Am Beispiel des amerikanischen Populismus wird zu zeigen sein, dass die Mutation des Populismus zu etwas anderem, in diesem Falle zum Semifaschismus oder Bonapartismus, eingeleitet wird durch eine Fokusverschiebung, weg von materiellen (ökonomischen, sozial-politischen) Forderungen und Reformvorschlägen, hin zu »kompensatorischer Kriegführung« (David J. Saposs) durch sozialpsychologische Ersatzstrategien wie der Suche nach Sündenböcken und Verschwörungstheorien, gepaart mit Fremdenfeindlichkeit und Rassismus.

Postmoderne und Populismus

Seit den siebziger Jahren zeigen sich auf kulturellen und künstlerischen Gebieten Tendenzen, die als postmodern bezeichnet werden. Der Zusammenhang zu neuen Erscheinungsformen des Populismus wurde dabei bisher wenig untersucht. Die Begriffe »postmodern« und »Postmodernismus« sind ebenso unbestimmt wie schillernd und ihre Definitionen so zahlreich, wie die daran beteiligten Autoren. Umstritten ist zudem, ob es sich dabei um eine inzwischen überholte intellektuelle Mode, um das Kennzeichen einer neuen Epoche oder nur |22|um einen Verlegenheitsbegriff handelt, der die epigonalen Züge einer erschöpften und ausgelaugten Moderne zum Ausdruck bringt.

Die Kritik postmoderner Autoren setzt hoch und generell an. Im Zentrum steht die Abwehr des Totalitarismus, verstanden nicht nur als politische Regime der Zwischenkriegszeit, sondern als inhärente Triebkraft der Moderne. Der Generalvorwurf lautet, die Moderne ziele auf Vereinheitlichung, seien es Uniformierungstendenzen des internationalen, funktionalistischen Stils in Architektur und Städtebau, Zusammenschlüsse nationalstaatlicher Märkte zu Großwirtschaftsräumen wie der EU, Homogenisierungstendenzen durch die Globalisierung oder die weltweite Verbreitung des westlichen Demokratiemodells. Gegen diese totalisierenden Tendenzen der Moderne gerichtet, konstatieren Postmodernisten ein generelles Scheitern der ideologischen »Großerzählungen«, wie sie sich im 18. und 19. Jahrhundert herausgebildet haben, insbesondere der Aufklärungsphilosophie und des Marxismus.

Im Gegensatz dazu plädieren sie für eine Welt der Vielfalt, der Differenz, der Unterschiede und politisch für die Vernetzung regionaler Zentren, in denen sich Lebenswelten gegen das »System« behaupten und sich der politische Wille »von unten« als subversiver Drang nach Selbstbestimmung artikuliert. Die subjektive Erfahrung und Gestaltungsfähigkeit des Individuums wird aufgewertet gegenüber strukturellen Gegebenheiten oder vermeintlich ontologischen Wahrheiten. Hinter dieser Tendenz zu Subjektivismus und Konstruktivismus stehen mehrere, durchaus paradoxe Erfahrungen. Dazu zählt vor allem die Erosion fester Strukturen in fast allen das Individuum betreffenden Bereichen: Arbeitsmarkt, Familie, gewachsene Lebenswelten in bestimmten Wohnvierteln, Auflösung von Homogenität und Gleichförmigkeit durch Einwanderung, durch neue Formen des Zusammenlebens, durch Wertewandel und nicht zuletzt durch Veränderungen der Berufsbiographie. Individualisierung, Pluralisierung und Diversifizierung lauten die Schlagworte. Neben Ideologien oder politischen Konstrukten wie der Nation werden auch Individuen in ihrer Identität in Frage gestellt und dekonstruiert. Metaphern wie patch-work oder bricolage avancieren zu Schlüsselbegriffen der sozialen und politischen Analyse.

|23|Aber nicht nur der Einzelne wird in der Postmoderne zum Dauerbastler an seinem Ich. Auch politische Parteien sind von diesem Auseinanderbrechen systemischer Einheiten und der Verflüssigung ihrer Homogenität betroffen. Welt- und Lebenserfahrungen werden beherrscht von Fragmentierung. Für politische Parteien hat dies zur Folge, dass sie nicht mehr als Katalysatoren von sozial homogenen Schichen fungieren. Weder sind sie die Filter eines politischen Willens von unten nach oben noch eine Erziehungsinstanz, die eine ›objektiv‹ richtige Ideologie von oben nach unten durch Aufklärung und Schulung verbreitet. Gerade die großen Volksparteien sind zunehmend in die Modernisierungsfalle geraten, denn einerseits sind sie, verstärkt seit den 1960er Jahren, für die Anhebung des Bildungsniveaus eingetreten ohne andererseits verhindern zu können, dass viele der besser Gebildeten heute zu unberechenbaren Wechselwählern werden. Diese haben andere Erwartungen an Parteien und wollen nicht mehr »von der Wiege bis zur Bahre« in einem soziopolitischen Milieu verharren. Die Lage der Parteien ist schwieriger und zugleich unbestimmter geworden.

Selbstbestimmung gegen Kollektivismus

Das klassisch populistische Leitmotiv war und ist das der individuellen Selbstbestimmung (self-reliance). Die amerikanischen Gründerväter, insbesondere Thomas Jefferson und Andrew Jackson3, verstanden diesen Begriff als Kampfbegriff gegen Monopolisierungsprozesse. Populisten berufen sich auf dieses frühliberale Ideal staatsfreier ökonomischer Selbstständigkeit und Selbstorganisation. Gegen das Big Business mit seinen Sonderinteressen gelte es, die Gesellschaft so zu gestalten, dass die Menschen wieder über ihr eigenes Leben bestimmen können. Individuelle Selbstbestimmung steht gegen Kollektivismus. Darunter wird nicht nur der Systemgegensatz zwischen Ost und West zur Zeit des Kalten Krieges verstanden, sondern die Tendenz zum Kollektivismus durchzieht für Populisten die gesamte |24|Moderne. Dazu zählten die großen Aggregate im Industrie- und Finanzsektor, die großen bürokratischen Apparate ebenso wie die großen Parteimaschinen und nicht zuletzt der Moloch Staat.

Populisten teilen mit Postmodernisten zahlreiche Gemeinsamkeiten: Sie sind anti-totalitär, anti-hierarchisch, anti-elitär, anti-autoritär (vgl. Welsch 1987: 4ff. und 319−328). Sie stehen für die Aufwertung anderer als der mathematisch-naturwissenschaftlichen Wissensformen und sind skeptisch gegenüber Rationalismus und »großer« Theorie, denen sie lebensweltliche Erfahrung und Pragmatismus gegenüberstellen. Sie treten für die Pluralisierung der Lebenswelten und ihre Aufwertung gegenüber allen Tendenzen zur Megalomanie ein. Sie plädieren für dezentrale Vernetzung, Selbstorganisation und Selbsthilfe.

Auf dem Spiel stehen für Postmodernisten und Populisten zentrale Fragen nach dem Selbst, nach Gerechtigkeit, Freiheit und Identität. Verstehen sich postmoderne Denker teils als Liberalkonservative in der Nachfolge Tocquevilles, teils als Anarcho-Liberale, so gilt dies auch für Populisten. Auch für sie haben Werte wie Selbsttätigkeit, Selbstorganisation, Selbstständigkeit, Vertrauen auf die eigenen Kräfte ohne Bevormundung »von oben«, oberste Priorität. Nicht zuletzt problematisieren sie den Zusammenhang zwischen dem aktiven, modernisierenden, soziale Gerechtigkeit anstrebenden Staat und der Herausbildung neuer Zentren der Macht. Auch ein des Populismus gänzlich unverdächtiger Theoretiker wie Jürgen Habermas muss konstatieren: »Daß der aktive Staat nicht nur in den Wirtschaftskreislauf, sondern auch in den Lebenskreislauf seiner Bürger eingriff, hatten die Reformer als ganz unproblematisch angesehen – die Reform der Lebensbedingungen der Beschäftigten war ja das Ziel der sozialstaatlichen Programme«. Darin liege die spezifische »Einäugigkeit« des staatszentralistischen Projekts der Moderne, das neben mehr sozialer Gerechtigkeit auch mehr Machtkonzentration mit sich gebracht habe. »So überzieht ein immer dichteres Netz von Rechtsnormen, von staatlichen und parastaatlichen Bürokratien den Alltag der potentiellen und tatsächlichen Klienten«. (Habermas 1985: 150f.)

Seit Beginn der modernen, industriekapitalistischen Welt hat die Soziologie die Modernisierungsprozesse begleitet und versucht, die |25|Unterschiede zwischen vormodernen und modernen Gesellschaften in idealtypische Gegensatzpaare zu fassen wie: System und Lebenswelt, Gesellschaft und Gemeinschaft, Zentrum und Peripherie, Universalismus und Partikularismus, technokratisches Machen und organisches Wachsen usw. In welchem Verhältnis stehen diese Dimensionen zu einander? Wurden sie vom modernen industriekapitalistischen System mit seinem Rationalismus, seiner inhärenten Tendenz zu Konzentration und Monopolbildung unterdrückt, vereinnahmt, transformiert oder leben sie irgendwie weiter, sei es an der Peripherie oder in bestimmten sozialen Schichten und Denkweisen? Ungefähr seit Beginn der siebziger Jahre wird jedenfalls von verschiedenen Seiten der Weg in die Moderne als zu eindimensional wahrgenommen. Kritik an der Megalomanie und an einem überbordenden Individualismus wird laut, an der Verselbstständigung von systemischen Einheiten gegenüber der lebensweltlichen Erfahrung der Menschen. Die Rückbesinnung auf Gemeinschaftssinn und Partikularismus, auf Tradition und regionale Verankerung, auf das menschliche Maß, wird eingeklagt.

Auch die intellektuelle Neue Rechte tritt inzwischen als Herold gewachsener Gemeinschaften und regionaler Autonomie auf. Sie mobilisiert Widerstand gegen die politische »Kaste«, gegen supranationale Zusammenschlüsse mit ihrer Großbürokratie im Namen einer inkommensurablen Pluralität von Ethnien und Völkern. Wie auf der linken, so gibt es auch auf der rechten Seite einen Entfremdungsdiskurs, dessen Schnittmenge in der gemeinsamen Ablehnung von Bevormundung und Fremdbestimmung liegt, sei es die der EU, des Kapitals, der Bürokratie, der politischen Eliten, des amerikanischen Kulturimperialismus, der Intellektuellen, der Experten, der Kulturindustrie bis hin zur Chimäre von Weltverschwörungen mit antisemitischen Anklängen.

Historische Vorläufer

Abgesehen von den beiden großen historischen Vorläufern des 19. Jahrhunderts, den russischen Volkstümlern (Narodniki) und dem Populismus der US-amerikanischen Farmer, ist der Populismus ein |26|Phänomen des 20. Jahrhunderts und wurde nach 1945 in einer ersten Phase von Autoren wie Seymour M. Lipset und Richard A. Hofstadter als Protofaschismus identifiziert. Diese Sicht prägt in ihrer Abwehrhaltung bis heute die Wahrnehmung des Phänomens, auch wenn sich seit Beginn der siebziger Jahre ein Umdenken angebahnt hat. Jüngere amerikanische Forscher wie Norman Pollack, Lawrence Goodwyn oder Michael Kazin konnten zeigen, dass der amerikanische Agrarpopulismus eher links als rechts anzusiedeln ist, auch wenn gewisse fremdenfeindliche Tendenzen nicht zu übersehen sind.

Augenfällig am Populismus ist seine kaum vorhandene Ausprägung als Doktrin oder Ideengebäude. Es gibt keine populistischen Theoretiker, sieht man vom Philosophen des amerikanischen Pragmatismus, John Dewey, ab, der Sympathien für den Populismus hegte, aber keine Doktrin oder Theorie dieser Bewegung im engeren Sinne hinterließ. Kommunitaristische Anklänge, die nicht immer deutlich von populistischen abzugrenzen sind, finden sich auch im Werk von Hannah Arendt oder in dem des Sozialwissenschaftlers Christopher Lasch (vgl. Lasch 1995: 92ff.).

Der britische Distributism brachte eine rudimentäre populistische Doktrin mit antimodernistischem Akzent hervor, die nicht zufällig von katholischen Autoren wie Gilbert Keith Chesterton4 und Hilaire Belloc getragen wurde. Der Distributismus verfolgte das Ziel der Streuung von mittelständischem Kleinbesitz als Bollwerk gegen die Entfremdung in der modernen Welt. Es handelte sich um eine »Dritte Weg«-Bewegung jenseits von Sozialismus und Kapitalismus, in die Elemente der katholischen Soziallehre, des Gildensozialismus und die anarchistischen Ideale Kropotkins in einer Mischung von anarchistischem und konservativem Gedankengut eingeflossen sind. Ziel war die Verteidigung oder Wiederherstellung der ökonomischen Unabhängigkeit von Individuum und Familie gegenüber den großen Unterdrückungssystemen der Moderne: Kapitalismus, Kommunismus, Imperialismus mit ihrer Tendenz zu Vermassung und Konformismus, zu Bürokratie und Expertokratie.

|27|Die »bürokratische Klasse«, die »Neue Klasse« als staatsnahe Steuerungselite ist für Populisten der Gegner schlechthin. Diese Kräfte fungieren als elitäre, bevormundende »Macher« des homogenisierenden Zentralstaats, der staatlichen Schulaufsicht, des »Steuerstaats«, der Herrschaft der Parteien, der »Verschwörung« der Großen gegen die Kleinen und nicht zuletzt des universalisierenden Rechtsstaats. Dagegen stellen Populisten Eigentum nicht in Frage: Privateigentum wird grundsätzlich befürwortet, aber in überschaubarem Umfang als Familien- oder Kleinbesitz.

Keine der genannten Tendenzen konnte jedoch im 20. Jahrhundert, dem Zeitalter des Produktivismus, des Fordismus und der zunehmenden Verstädterung, längere Zeit auf sich gestellt existieren. Dies auch deshalb, weil zwei weitere Bewegungen gleichfalls den Anspruch auf einen dritten Weg erhoben: Die Sozialdemokratie auf der einen Seite, in die grosso modo die von Dewey vertretene Linie einfloss, und der Faschismus auf der anderen. Letzterem wandten sich zahlreiche angelsächsische Distributisten Mitte der 1930er Jahre zu, darunter der zum Katholizismus konvertierte britisch-amerikanische Schriftsteller T.S. Eliot und der amerikanische Dichter Ezra Pound, der mit Mussolinis Korporativstaat sympathisierte.

In Deutschland, einem Land mit einer ausgeprägten Staatsmetaphysik und lange nachwirkenden obrigkeitsstaatlichen, protestantisch geprägten Traditionen, waren populistische Tendenzen wenig verbreitet, obwohl es sie als ephemere Aufwallungen auch hier gab und gibt. Typisch populistische Kampfparolen lauten gestern und heute in stereotyper Einförmigkeit: »Bullen, Bonzen, Banken – alle müssen wanken!« Diese gegen die »Bonzen« gerichtete Stoßrichtung hat eine lange Tradition, verharrt aber meist in der Latenz. Sie manifestiert sich erst dann mit besonderer Schärfe, wenn sich der Verdacht erhärtet, ›die da oben‹ hätten sich vom Volk abgeschottet und lebten in Saus und Braus. So wurde im NS-Regime, das sich zu Beginn selbst populistischer Elemente bedient hatte und gegen die »Plutokratien« anzugehen versprach, eine sich nur in Witzen und Redeweisen artikulierende Regimekritik laut, die um die NS-Bonzen kreiste.

Im »Bonzen« personifiziert sich ein ganzes Bündel von teils berechtigter Kritik, mehr aber noch von Ressentiments, Vorurteilen und dumpfer, schwärender Wut. Der »Bonze« verweist auf ein vorpolitisches |28|Einstellungssyndrom, das aus dem Gefühl der Machtlosigkeit, der materiellen, aber auch intellektuellen und kulturellen Unterlegenheit erwächst. Das plastische Bild kommt der figürlichkonkreten, gegen Begrifflichkeit und Abstraktion gerichteten Denkweise entgegen, verhindert aber gleichzeitig jede differenzierte Auseinandersetzung mit komplexeren Sachverhalten.

In der Weimarer Republik gab es beispielsweise populistische Strömungen in der norddeutschen, gegen die bürokratischen »Bonzen« gerichteten Landvolkbewegung.5 In geringer Dosierung und mit instrumentalisierender Absicht finden sich populistische Tendenzen auch in der KPD der Weimarer Zeit, z.B. im Scheringer-Kurs mit der Strategie des Volkskampfes und der Perspektive einer Volksaktion aller Deklassierten an Stelle des Klassenkampfes. Nach 1945 existierten in der Bundesrepublik kaum Ansatzpunkte für einen Populismus. Zum einen verhinderte dies der bundesrepublikanische Föderalismus, zum anderen ging die christliche Soziallehre mit ihrem Subsidiaritätsprinzip in eine der großen Volksparteien, die CDU, ein und konnte mit Beginn der Globalisierung ohne theologischen Mantel und in neoliberaler Form Eingang sowohl in die SPD als auch in die Partei der Grünen finden.

Populismus als Kind der Krise

Populismus ist das Ergebnis einer gestörten Kommunika-tionsbeziehung zwischen Eliten und Volk und kann daher als Frühwarnsystem fungieren. Im engeren Sinne gedeiht er in Phasen der politischen Verkrustung und vermeintlichen Alternativlosigkeit. Im weiteren Sinne findet Populismus einen günstigen Nährboden bei zu schneller, zu abrupter Modernisierung, auf die die politischen Eliten nicht adäquat reagieren. Meist handelt es sich um sektorelle Anpassungskrisen an rasche Modernisierungsschübe in Verbindung mit Ineffizienz oder Inkompetenz der politischen Führung.

|29|Betroffen davon sind jeweils bestimmte Segmente der Gesellschaft. Waren es Ende des 19. Jahrhunderts eher ländlich-agrarische Bevölkerungsteile, so sind es im 20. Jahrhundert Teile des selbstständigen Kleinbürgertums, wie kleine Ladeninhaber und Handwerker. Es können aber auch, was sich Ende des 20. Jahrhunderts abzuzeichnen begann, Teile der neuen, selbstständig Beschäftigen oder Teile der Unterschichten mit ihrer Angst vor »Überfremdung« sein. Ihnen allen war und ist gemeinsam die oft berechtigte Furcht, von den sich schneller modernisierenden, auf internationale Märkte drängenden Sektoren und ihren politischen Protagonisten überrollt, in ihrer Identität in Frage gestellt und politisch nicht gehört zu werden.

In diesem Moment der Beharrung, des Widerstandes gegen gesellschaftliche Dynamik, des Wunsches nach Verlangsamung eines Geschehens, das sich der Beeinflussung zu entziehen scheint, nicht zuletzt in der Verteidigung des lebensweltlichen status quo bis hin zu Idealisierung einer vermeintlich besseren Vergangenheit, liegt die Affinität des Populismus zum Konservatismus, nicht aber zum wesentlich dynamischer auftretenden Faschismus.

Der Populismus ist ein auf sich gestellter, theoretisch armer Konservatismus, gewissermaßen dessen Volksausgabe. Er zeigt sich als Syndrom, das heißt als Kumulation verschiedener Symptome, deren gemeinsames Auftreten zu einem bestimmten Zeitpunkt einen bestimmten gesellschaftlichen Zustand anzeigt. Solche sich kumulierenden Symptome können sein: Die Zunahme von Korruptionsskandalen in Verbindung mit Parteienfilz, die Versäulung der Politik in der Konsensdemokratie durch die Praxis des Aushandelns zwischen den drei »Großen«, den Kapitalvertretern, den Gewerkschaften und dem Staat, ferner unkoordinierte Immigration, Defizite der europäischen Integration, »Überforderung« des Staates durch immer mehr Bereiche, deren Regelung er an sich zieht, daraus resultierend der Eindruck von Inkompetenz bei den Berufspolitikern und zugleich das Gefühl ihrer Abkapselung als professionalisierte »Kaste« und vieles mehr.

|30|Der populistische Blick »von unten«

Um den charakteristischen Merkmalen des Populismus näher zu kommen, muss man sich seinen Blickwinkel zu Eigen machen. Populisten blicken »von unten«, vom Volk mit einer Mischung von Missgunst, Verachtung, Wut und Enttäuschung auf die Eliten. Als außerhalb des politischen Systems Stehende schauen sie von außen nach innen, auf das Innere des politischen Machtgefüges.

Zur Veranschaulichung greife ich auf ein Beispiel zurück. Zwischen 1947 und 1954 gab es in Frankreich eine von General de Gaulle gegründete Bewegung, die sich Rassemblement du peuple français (RPF) − Sammlung des französischen Volkes − nannte. Allein schon der Name verweist auf das Volk, verstanden als Gesamtheit aller Französinnen und Franzosen, die zur Sammlung jenseits von rechts und links aufgerufen werden. In diese Bewegung, die kurzfristig bei Wahlen auch als Partei auftrat, gingen nicht nur ultrarechte Monarchisten, Gemäßigte und Christdemokraten ein, sondern auch Linksrepublikaner und Anhänger der linksliberalen Radikalen, also ein ungewöhnlich breites Spektrum von links (mit Ausnahme der marxistischen Linken) bis weit nach rechts. Diese Partei zeigte etliche populistische Merkmale, darunter einen ausgeprägten Anti-Parteien-Affekt. Ihr Ziel war es, die »ausschließliche« Herrschaft der etablierten Parteien zu überwinden und ihren eigenen Bewegungscharakter zu betonen. Hinzu kam ihr Selbstverständnis als dritter Weg jenseits von Kapitalismus und Kollektivismus, ferner ein charismatischer Anführer, ein gegen die europäische Vereinigung gerichteter Nationalismus und schließlich eine solide Basis im Mittelstand, bei Handwerkern, Kaufleuten, kleinen und mittleren Angestellten. Diese Merkmale sollten eigentlich ausreichen, um den RPF als populistisch zu kennzeichnen. Es zeigt sich indessen, dass diese Sammlungsbewegung in keiner Untersuchung zum Populismus exemplarisch erwähnt oder als populistisch bezeichnet wird.

Der sich wenig später ebenfalls in Frankreich formierende Poujadismus wird dagegen sehr wohl, und zu Recht, als eine der klassischen Ausprägungen des Populismus angesehen. Warum? Der Unterschied, der den Poujadismus populistisch macht, den RPF aber nicht, liegt in der Perspektive. De Gaulles Sammlungsbewegung wurde |31|