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Post/pandemisches Leben E-Book

Yener Bayramoglu

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Beschreibung

Die Corona-Pandemie und der damit einhergehende »Ausnahmezustand« bieten die Gelegenheit, Normativitäten infrage zu stellen, aber auch einen Blick in die Zukunft zu werfen. Mit ihrer neuen Theorie der Fragilität verdeutlichen Yener Bayramoglu und María do Mar Castro Varela, dass es im Sinne sozialer Gerechtigkeit weniger um eine Akzeptanz heterogener Lebensweisen gehen sollte als vielmehr um die Beachtung und Akzeptanz von Vulnerabilitäten, die strukturell befördert und stabilisiert werden. Ihr Ansatz bringt unterschiedliche Perspektiven aus Ethik, Politik und Kunst zusammen und bietet - u.a. im Kontext von Digitalität, Rassismus und Solidarität - die Möglichkeit, die Pandemie anders zu evaluieren.

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Seitenzahl: 304

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Yener Bayramoğlu, María do Mar Castro Varela

Post/pandemisches Leben

Eine neue Theorie der Fragilität

Die freie Verfügbarkeit der E-Book-Ausgabe dieser Publikation wurde ermöglicht durch das Projekt EOSC Future.

The EOSC Future project is co-funded by the European Union Horizon Programme call INFRAEOSC-03-2020, Grant Agreement number 101017536

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution 4.0 Lizenz (BY). Diese Lizenz erlaubt unter Voraussetzung der Namensnennung des Urhebers die Bearbeitung, Vervielfältigung und Verbreitung des Materials in jedem Format oder Medium für beliebige Zwecke, auch kommerziell. (Lizenztext: https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de) Die Bedingungen der Creative-Commons-Lizenz gelten nur für Originalmaterial. Die Wiederverwendung von Material aus anderen Quellen (gekennzeichnet mit Quellenangabe) wie z.B. Schaubilder, Abbildungen, Fotos und Textauszüge erfordert ggf. weitere Nutzungsgenehmigungen durch den jeweiligen Rechteinhaber.

Erschienen 2021 im transcript Verlag, Bielefeld© Yener Bayramoğlu, María do Mar Castro Varela

Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld

Umschlagabbildung: ».behind«, 2017. Installation by Leman Sevda Darıcıoğlu. Aksanat Contemporary Artist exhibition. Curated by Hasan Bülent Kahraman, Istanbul. Photo by Serkan Yıldırım

Korrektorat: Parmida Dianat, Graz

Print-ISBN: 978-3-8376-5938-2

PDF-ISBN: 978-3-8394-5938-6

EPUB-ISBN: 978-3-7328-5938-2

Buchreihen-ISSN: 2364-6616

Buchreihen-eISSN: 2747-3775

Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de

Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

Geleitworte

Vorwort

I.Einleitung: Post/pandemische serendipity

II.Eine neue Theorie der Fragilität

Ambivalente Fragilitäten

Pandemische Gespenster

Quo vadis? Fragile Hoffnung in dystopischen Zeiten

III.Zurück zu welcher Normalität?

Das ›gute Leben‹ und die unerfüllte Sehnsucht nach Gerechtigkeit

Status necessitatis – Ausnahmezustand

IV.Biopolitik und Nekropolitik in post/pandemischen Zeiten

Miasmatische Perspektiven: Politik des Atmens

Digitale Biopolitik

Posthumanistisches sterben machen

Algorithmen, die verletzen

Agnotologische Nekropolitik

V.Üble Launen und marginalisierte Körper

Pandemien und die Angst vor den ›Anderen‹

Traumatische Iterationen: Die ›Anderen‹ und die Medizin

Erinnerungen an die Aidskrise

Pandemische Grenzpolitiken

VI.Pandemisierte Körper

(Un-)Mögliche Umarmungen

›Saubere‹ Sexualität

VII.Influenza und influencer

Die Macht der Gerüchte

Mediale Konspirationen und Antisemitismus

Soziale Medien: Beziehung und Hass

Querdenker*innen und die Wiederkehr des Faschismus

VIII.Dénouement. Entknotung

Abbildungsverzeichnis

Literatur

Geleitworte

»Dieses bemerkenswerte Buch bietet eine neue Theorie der Fragilität, die sich durch Ambiguität, Ambivalenz und ein erweitertes Verständnis des prekären Charakters sozialen Lebens auszeichnet. Auf Nekropolitik bezugnehmend, betrachten María do Mar Castro Varela und Yener Bayramoğlu die Unbeständigkeiten des pandemischen Lebens und argumentieren, dass die Pandemie ein neues Licht auf globale Ungleichheiten, Formen rassistischer Ungerechtigkeit sowie die ambivalente Rolle digitaler Technologien wirft, die sowohl verbindend als auch zerstörerisch wirken. Mit Hilfe einer beeindruckenden Reihe politischer Denker*innen und Kultur-Analytiker*innen entwerfen diese Autor*innen eine umfassende Vision von Zwängen und Möglichkeiten pandemischer Bedingungen. Für sie ist das Leben nicht zerbrechlicher geworden als zuvor, wir sind, so argumentieren sie, uns dieser Zerbrechlichkeit lediglich stärker bewusst. Einer »Politik der Stärke«, die auf den Tod ausgerichtet ist, setzen sie eine queere Politik entgegen, die das »gute Leben« neu überdenkt und den ultimativen Wert des gemeinsamen Denkens und Handelns in unserer gegenseitigen Abhängigkeit bekräftigt.«

Judith Butler,Philosophin, ist Lehrstuhlinhaberin für Rhetorik und Komparatistik an der University of California, Berkeley.

»Wer denkt, der*die findet. Und zwar das, was sich abseits der geordneten und planmäßigen Routen und tradierten Bezugs- und Referenzsysteme in einer als stabil und »normal« geltenden Welt befindet. Bayramoğlu und Castro Varela schlagen den Weg eines offen suchenden Denkens ein und finden so einiges: Sie zeigen, dass wir das fragile post/pandemische Leben, das Zeitalter der Unbestimmtheiten und technologischen, ökologischen, sozialen, ökonomischen und politischen Transformationen mit bestehenden theoretischen Zugängen nicht ausreichend verstehen können. Stattdessen schlagen sie eine Theorie der Fragilität vor, eine die das eigene fragile Denken genauso anerkennt wie die Zerbrechlichkeit des Lebens im Allgemeinen. Die Autor*innen gehen das Wagnis ein, die Unsicherheit der Pandemie in Worte zu fassen und das Unbegreifliche zu vermitteln. Und das alles als Chronist*innen, als Zeitzeug*innen, als Kommentator*innen, als Analytiker*innen, die in atemberaubender Geschwindigkeit und in queer-pandemischer Manier Bezüge zwischen (Nekro- und Bio-)Politik, Medizingeschichte, Aidskrise, Ideologien, Influencer*innen, Social Media, Faschismen, Kapitalozän u.v.m. herstellen, ohne die sichere Bank an Antworten sein zu wollen.

Denn nichts ist sicher und auch die viel beschworene Normalität, die vor allem über die unsichtbare Verdrängung alles Störenden als Selbstverständlichkeit den Privilegierten dieser Welt zustand, wurde durch die Pandemie erschüttert. Themen der Fragilität, Sterblichkeit, Verletzlichkeit, der Grenzen und der Ausgrenzung, der gegenseitigen Abhängigkeiten menschlicher Körper, der Berührungen, der Gemeinschaften, der Notwendigkeit des*der »Anderen« verunsicherten durch ein kleines unsichtbares, aber machtvolles Virus unsere Leben. Das Leben mit der permanenten potentiellen Gefahr und der Ungewissheit zog Fragen, Ängste und Sehnsüchte nach sich, verstärkte Abschottungsmechanismen, Rassismen, Konspirationen, Ideologien – kurz: hatte und hat weitreichende soziale, politische und subjektive Auswirkungen, deren Ausmaß wir bei Weitem noch nicht absehen können. Was wir aber können, steht in der Theorie der Fragilität: Denken wagen, unsere Imaginationen erweitern und unsere ethischen Reflexe ausbilden. Must read.«

Hayat Erdoğan ist Dozentin an der Zürcher Hochschule der Künste und Direktorin und Dramaturgin am Theater Neumarkt in Zürich.

Vorwort

»Der einzige unbestreitbare Unterschied ist nicht der zwischen den Geschlechtern oder dem Alter oder der Stärke, sondern der zwischen den Lebenden und den Toten: die Ersteren haben alle Macht, die sie nicht immer zu nutzen wissen, während die Letzteren nur ein machtloses Wissen haben.«(Cixous 1969, S. 122)1

Dieser Text entstand während eines historischen Lockdowns. In Deutschland waren Restaurants, Cafés, Läden, Friseursalons etc. monatelang geschlossen. Auch die Bewegungsfreiheit wurde erheblich eingeschränkt. Reisen wurden unmöglich gemacht oder zumindest deutlich erschwert. Berührungen wurden zwar nicht unter Strafe gestellt, jedoch wurde kontinuierlich auf die damit einhergehenden Gefahren aufmerksam gemacht. Gerade in den ersten Monaten schienen die empfohlenen und durchgesetzten Maßnahmen nicht immer nachvollziehbar. Was aber greifbar wurde, war die Zerbrechlichkeit, die Fragilität von Leben, Beziehungen und Gemeinschaften, aber auch des Staates. Eine Fragilität, die nicht länger verborgen werden konnte, da den Menschen die wichtigsten Strategien, um sie zu ignorieren, entzogen wurden: Ortswechsel, Begegnungen, Ablenkungen jeglicher Art, vom gemeinsamen Ausgehen über das Tanzen und Kirmesbesuche bis hin zu Sportereignissen. Ein post/pandemischesLeben2 ist unweigerlich angereichert von einem Gefühl der Fragilität. Deutlich geworden ist die Abhängigkeit von den ›Anderen‹ und vom Wissen der ›Anderen‹. Vielen, die sich selbst als autonom, emotional stabil, gesund, erfolgreich und glücklich porträtieren, ist das zuwider. Das Wissen um die Abhängigkeit von den ›Anderen‹ ängstigt sie. Rücksichtsloser Individualismus hat keine Chance in Zeiten, in denen besonders jene von Depressionen heimgesucht werden, die zuvor keine belastbaren sozialen Bindungen haben aufbauen können. Clubs und Bars sind geschlossen; die Einsamkeit breitet sich in den Großstädten endemisch aus. Videokonferenzen stillen den Hunger nach Nähe nur sehr dürftig: Die Bilder der Menschen, eingerahmt vom Computerbildschirm, erlösen uns nicht von der Hölle, immer wieder nur uns selbst zu begegnen. Auch die psychische Gesundheit bleibt kaum stabil, wenn wir uns andauernd auf dem Bildschirm selbst begegnen: mal müde, mal zermürbt, mal glücklich, aber in unglückliche Gesichter schauend. Ebenso beunruhigt uns die Ahnung, vieles einfach glauben zu müssen, weil wir nicht in der Lage sind, es wirklich zu verstehen: die Ausbreitung des Virus, die Wirkung der Impfung oder die Sinnhaftigkeit der wechselnden staatlichen Verordnungen.

Pandemien nötigen uns dazu, uns mit der Unbestimmtheit von Zukunft, mit unserem fehlenden Wissen und mit der Kakofonie miteinander konkurrierender Argumente auseinanderzusetzen. Solche chaotischen Zeiten sind fruchtbar, jedoch auch für Verschwörungsideologien. In einem Interview mit Jeremy Scahill von Intercepted beschreibt Masha Gessen (2019) Verschwörungstheorien als politisch gefährlich, da sie vorgeben, einfache Antworten auf beunruhigende und komplexe Fragen zu geben. In dem Interview geht es um die Frage, wie es Donald Trump in den USA gelingen konnte, nach Barack Obama an die Macht zu kommen. Es kursierte die Theorie, der russische Geheimdienst stecke dahinter. Laut Gessen ist selbst im Fall einer Unterstützung Trumps von russischer Seite die wirklich dringende Frage, warum Trump in den USA so viele Unterstützer*innen habe. Ihrer Meinung nach sei es der politische Diskurs in Trumps Zeiten, der einen kruden Dualismus von Gut gegen Böse propagiere und dadurch Verschwörungstheorien, die klar darlegen, wer und wo das Böse ist, gedeihen ließe. Deshalb gelte es, so Gessen, Verschwörungserzählungen nicht in die politische Analyse einzubeziehen, egal wie viele Menschen ihnen auch Glauben schenken mögen. Dasselbe lässt sich über Pandemien behaupten: Wir wissen nur wenig über die Ursachen der Pandemie und haben lediglich erste Ahnungen von ihren Folgen. Diese Ungewissheiten machen es verständlich, dass Menschen versuchen, die Flucht nach vorne anzutreten und dass daher einfache Antworten Hochkonjunktur haben. Ein post/pandemisches Leben verlangt vielleicht nach mehr, als was Gessen vorschlägt: nach einem Leben außerhalb des Pandemischen, einer unsentimentalen Klarheit und dem Mut, uns unser Unwissen einzugestehen, ohne uns diesem zu ergeben. Unser Denkvermögen ist fragil und limitiert. Die Irrationalität lockt uns gerade dann, wenn strategisches und kritisches Denken so wichtig wäre.

Wir müssen uns die Frage stellen, wie wir post/pandemisches Leben in unserem eigenen, stets zu engen Begriffshorizont verstehen können und was im Zeitalter von Algorithmen, Künstlicher Intelligenz (KI), Finanzkapitalismus und ökologischer Transformationen aus dieser dekameronischen3 Situation zu lernen ist. Wir mussten erkennen, dass keiner der uns zur Verfügung stehenden theoretischen Zugänge alleine ausreicht, um diese gigantische globale Krise und ihre Folgen in all ihrer Komplexität zu verstehen. Das Ergebnis des Zusammendenkens unterschiedlichster Entwicklungen ist eine Theorie, die aus Geschichten, Bildern und differenten, inkommensurablen Theoriefragmenten zusammengefügt ist. Eine fragile Theorie ganz nach unserem Gusto. Es ist eine Theorie der Fragilität, die das Wagnis eingeht, die Unschärfe, die Unklarheit, die Unsicherheit, die die Pandemie begleiten, in Worte zu fassen und die versucht, das Unbegreifliche zu vermitteln. Es ist eine Theorie, welche die ebenso ermächtigenden wie zerstörerischen Potenziale von Ambiguitäten und Widersprüchen sichtbar macht.

Dieses Buch wurde folglich für all jene geschrieben, die es wagen, Fragen zu stellen und die sich widerstandsfähig zeigen gegen einfache Erklärungen und simplifizierende Antworten; die sich trotz ihrer Ängste nicht von Ressentiments und diskriminierenden Begehren treiben lassen. Ein post/pandemisches Leben ruft nach neuen Formen der Solidarität und nach der Fähigkeit, den uns einengenden Dystopien neue planetarische Utopien entgegenzustellen. Die Beschreibungen, die Gedanken, die Thesen und Argumente, die in diesem Buch versammelt sind, sollen Mut machen und empören. Und doch sollen sie gleichsam ein Plädoyer für einen scharfen Verstand und eine erweiterte Denkungsart, bei der die Welt nicht an den Grenzen des Selbst endet und das eigene Urteil selbstkritisch überdacht wird, sein.

Unser Dank geht an all die, die uns während post/pandemischer Zeiten nicht im Stich gelassen haben. Menschen, die uns berührt haben (emotional wie körperlich) und die sich von unseren Zweifeln haben berühren lassen. Wir danken dem transcript Verlag für die Unterstützung des Projekts und Jakob Horstmann für die Kommentierung der ersten Entwürfe. Unser Dank geht auch an Lars Breuer, der das Manuskript nicht nur lektoriert hat, sondern uns mit seinen vielen Fragen und Kommentaren herausgefordert hat und Lisa Hell, die einen letzten kritischen Blick auf das Manuskript geworfen hat. Ohne die Unterstützung unseres tollen Forschungsteams an der Alice Salomon Hochschule hätten wir dieses Buch allerdings nicht so schnell auf den Weg bringen können: Annika Bauer, Vered Berman, Bahar Oghalai, Verónica Orsi. Ein großes Dankeschön geht auch an Hasan Aksaygın, der uns nicht nur mit seiner Kunst inspiriert hat, sondern mit uns lange Gespräche zu den zentralen Argumenten des Buches geführt hat. Wir sind außerdem Leman Sevda Darıcıoğlu sehr dankbar, die* bereit war, ihre* berührende Kunst zu pandemischen Fragilitäten für unser Cover freizugeben. Keine andere bildliche Darstellung hätte derart pointiert das Anliegen des Buches zusammenfassen können wie die von Darıcıoğlus ».behind«. Wir bedanken uns auch bei Fadi Saleh für die anregenden Gespräche zu Fragilitäten und die wunderbare Nikita Dhawan, die die Entstehung des Buches mit klugen Fragen begleitet hat – immer bereit zentrale Argumente zu dekonstruieren. Last but not least, danken wir ganz herzlich Judith Butler und Hayat Erdoğan für das Lesen des Manuskripts und die Großzügigkeit, das Buch unumwunden zu empfehlen und mit Geleitworten einzuleiten.

Berlin, im Juli 2021

1Sofern nicht anders gekennzeichnet, wurden sämtliche nichtdeutschen Zitate und Titel von den Autor*innen ins Deutsche übersetzt.

2Wir verwenden den Begriff post/pandemisches Leben, um auf die sozialen, politischen und subjektiven Auswirkungen der Pandemie zu verweisen. Die Schreibweise deutet nicht nur auf die temporale Unbestimmtheit hin, in der ein Ende der Pandemie schwer einzuschätzen ist, sondern auch auf die allgemeine soziale Fragilität, die mit dem Durchleben der Pandemie sichtbarer und spürbarer geworden ist.

3Im 14. Jahrhundert entstand Giovanni Boccaccios Il Decamerone, ein Stück Weltliteratur, eine Sammlung von insgesamt 100 Erzählungen aus der Zeit der Pest. Sieben junge Frauen und sieben junge Männer flüchten sich vor der Pest in ein Landhaus unweit von Florenz. Um sich die Zeit zu vertreiben, wählen sie jeden Tag eine Person aus, die einen Themenkreis vorgibt, zu dem sich dann alle zehn Anwesenden jeweils eine Geschichte ausdenken und vortragen müssen. Nach zehn Tagen kehren alle zurück nach Florenz. Eingeschlossen im Landhaus geben sich die zehn jungen Menschen ihren Fantasien hin. Die Erzählungen eröffnen eine heterotopische Vielfalt an Erfahrungen und Lüsten. In den lustigen und tragischen Erzählungen treffen wir auf Könige und Bauern, Sultane und Handwerker, Dirnen und Diebe. Boccacio spart nicht an Erotik und der Kritik an kirchlichen Würdenträgern.

I.Einleitung: Post/pandemische serendipity

Das Serendipity-Prinzip besagt, dass wir beizeiten zufällig Dinge finden oder Ideen haben, nach denen wir nicht gesucht haben. Manchmal fällt ein Gedanke auf fruchtbaren Boden und bringt unverhofft neue Erkenntnisse. Deshalb ist es durchaus sinnvoll, dass wir uns zick-zack-förmig durch Texte, Theorien, Bilder, Filme und Poesie bewegen und dabei unser Denken von zuvor Nicht-Gedachtem kontaminieren lassen. Zuweilen ist es auch zielführend, jenen zuzuhören, die nicht das sagen, was wir selber sagen würden. Nur so können wir den sozialen Blasen entkommen, die uns ein trügerisches Selbstbewusstsein bescheren.

Als Autor*innen haben wir uns nicht bewusst auf den Weg gemacht, ein Buch zu schreiben. Wir wollten keine Thesen prüfen oder Ergebnisse empirischer Analysen präsentieren. Wir hatten keine festgelegte Forschungsfrage (wenn auch viele drängende Fragen). Stattdessen hat es mit ungerahmten, unmoderierten Gesprächen begonnen. Wir haben uns ausgetauscht, Fragen gestellt und uns gegenseitig zugehört. Immer wieder sind wir dabei auf die Frage der Fragilität zu sprechen gekommen – eine Fragilität, die wir verspüren, die uns verstört und die Fragen wie die folgenden aufwirft: Was bedeutet Solidarität in einer Situation, in der Berührungen und Treffen unter Freund*innen illegitim sind? Was bedeutet Zugehörigkeit in einer Welt, die gleichzeitig entgrenzt und begrenzt erscheint? Wie können wir eine Beziehung zu unserem Körper aufbauen, die nicht auf Kontrolle basiert und einer gewaltvollen Normativität folgt? Wie umgehen mit den multiplen Tragödien und Dramen, die unser Leben begleiten? Kann Denken helfen, wenn Bindungen und Beziehungen zerbrechen? Wie kommt es, dass sich einige Menschen besonders resilient gegen Desinformation und Verschwörungstheorien zeigen? Was macht uns alle zugleich doch auch anfällig dafür? Wie lassen sich die postkolonialen Kontinuitäten im digitalen Zeitalter verstehen? Was tun mit unserem Verstand, der uns immer wieder in Stich lässt? Wie lieben in einer Zeit der Distanzierung? Was hoffen in einer Zeit der Verzweiflung? Wem glauben in einer Zeit der Gerüchte und Desinformation? Wie die Demokratie retten und den Klimawandel aufhalten? Wir können all diese Fragen nicht eindeutig beantworten, aber die Verfolgung dieser Fragen hat uns eine Theorie der Fragilität formulieren lassen. Es sind Fragen, die einen Weg zu unterschiedlichen Epistemologien, Affekten, Zugehörigkeiten und Technologien weisen. Unserer Einschätzung nach legen sie Auseinandersetzungen mit queeren, feministischen, postkolonialen und posthumanistischen Ansätzen nahe, die alle auf ihre je spezifische Art und Weise die hegemoniale Selbstverständlichkeit hinterfragen und die Fragilität von ›Normalität‹ sichtbar und begreifbar machen.

Während der COVID-19-Pandemie drangen neue Phänomene an die Oberfläche, die nach Erklärungen riefen. Plötzlich befanden wir uns inmitten neuer Diskussionen über körperliche Nähe und Distanz und sprangen in die Zwischenzonen von Wissen und Unwissen. Wir erkannten den Wunsch nach digitaler Verbindung und Kommunikation und blickten gleichzeitig auf deren Schattenseiten: vermehrte Kontrolle des Lebens, Entgrenzung der Arbeit, Verlust von direkter Sozialität. Wir stießen dabei auf eine komplexe kontingente Verwobenheit, die wir als Fragilität bezeichnen. Als Menschen sind wir bestimmt von der Angst vor Abhängigkeit und der Notwendigkeit einer Akzeptanz derselben. Wer versucht, die Pandemie und ihre Folgen zu verstehen, schlittert auf dünnem Eis und droht immer wieder einzubrechen. Jeder Schritt hat das Potenzial, unerwartete Folgen auszulösen und auf Wege zu weisen, die nicht gegangen werden wollen. Die Fragilität des Lebens, unsere Unsicherheiten, Ängste und Ohnmacht werden uns so schmerzlich bewusst wie selten zuvor. Pandemien im Allgemeinen nötigen uns geradewegs dazu, Serendipitist*innen zu werden und Hoffnung dort zu suchen, wo niemand diese erwartet.

Die spannungsvolle, tödliche Verwobenheit eines post/pandemischen Lebens und des Fragilen sind in sehr unterschiedlichen Facetten des Lebens zu beobachten. Zunächst wurde uns während der Pandemie schmerzhaft bewusst, wie schnell wichtige Infrastrukturen, die erforderlich sind, um den Alltag am Laufen zu halten, drohen zu kollabieren, weil sie jahrzehntelang vernachlässigt wurden. So brachen in vielen Ländern die Gesundheitssysteme zusammen – und zwar auch in Staaten, die als ressourcenstark und mächtig gelten. Der Wunsch nach einem »Zurück zur Normalität« kann daher nur zynisch erscheinen. Die Normalität vor der Pandemie war gekennzeichnet durch eine Vernachlässigung des Care-Bereichs, von der Ausgrenzung von mit Differenzen markierten Leben sowie von der Ausbeutung von Menschen, die für die Gesellschaft sehr wichtige Arbeit leisten, dafür aber nur unzureichend vergütet werden. Diese von sozialer Kurzsichtigkeit geprägte Politik bezeichnen wir als Politik der Starken. Sie basiert auf einer Verzerrung der Realität sowie der bewussten Produktion von Ignoranz. Wir bezeichnen diese Politik als zerstörerisch und mörderisch: Für das eigene sofortige Wohlgefühl werden reale Gefahren externalisiert, verleugnet und Lügen verbreitet. Einige ihrer Konsequenzen sind der Zulauf rechter Parteien und das Phänomen der Querdenker*innen-Demonstrationen, aber auch Politiker*innen, die die Pandemie verleugnen und nekrokapitalistische Unternehmen, die zur Maximierung des eigenen Profits im Bereich der öffentlichen Gesundheit oder der Umwelt irreversible Schäden verursachen. Die Nekropolitik zeigt sich verflochten mit Praktiken der Unterwerfung und der Enteignung des Lebens wie auch der natürlichen Ressourcen, die als unbegrenzt verstanden werden. Die aktuelle Nekropolitik und ihre spezifischen Regierungspraktiken, dienen einem Nekrokapitalismus, dessen Ziel insbesondere die Profitmaximierung ist – ganz gleich wie viel Leid damit erzeugt wird (Banerjee 2006).

Der Ausnahmezustand während der Pandemie deutete auf weitere Fragilitätsfelder hin: Das für die emotionale und mentale Gesundheit so wichtige Bedürfnis nach körperlicher Nähe erwies sich während der Pandemie als potenziell tödlich. Dieses unerträgliche und toxische Paradox verweist darauf, dass Praxen und Begehren gleichzeitig notwendig und verletzend sein können. Ein weiteres Beispiel für einen solchen double bind ist die digitale Technologie. Während der Pandemie ermöglichten digitale Technologien nicht nur ein Gefühl physischer Nähe und hielten bestimmte Dinge am Laufen. Zugleich wurden geradezu unheimlich viele Daten produziert und gesammelt, die auch dazu dienen, Algorithmen zu füttern, die potenziell eine manipulative Macht entfalten können. Ein weiteres Nachdenken über ein post/pandemisches Leben muss sich daher unweigerlich mit den möglichen Auswirkungen der Digitalisierung auf die Gesellschaft, das menschliche Leben sowie die Demokratie auseinandersetzen. Die digitale Vernetzung rechtsradikaler Gruppierungen während der Pandemie etwa wird auch nach derselben, politische Auswirkungen haben. Und die Weiterentwicklung Künstlicher Intelligenz (KI) wird sicher Arbeitsstellen zerstören. Im Namen des Schutzes der öffentlichen Gesundheit wird sie bei späteren Pandemien heute noch unvorhersehbare biopolitische Überwachungsmechanismen schaffen. Die ungewisse Zukunft lässt das hic et nunc fragil erscheinen. Muss von einer nächsten Pandemie ausgegangen werden, die bald kommen wird? Was wird die nächste globale Krise verursachen?

Einige Menschen stürzte die Pandemie in tiefe Krisen, während andere sich in ihren politischen Ideologien bestärkt sahen. Gleichzeitig wurden Ideologien befördert, die sich gegen Eliten richten und den Staat als den Feind präsentieren. Eliten, Intellektuelle und die Wissenschaft im Allgemeinen wurden immer wieder als Schuldige ausgemacht: für den Verlust von Freiheiten, für den Ausnahmezustand, für den Verlust bezahlter Arbeit, ja sogar für die Pandemie selbst. Die Schuldigen waren viele, aber sie schienen festzustehen. Gleichzeitig wurden historische Verschwörungen neu entdeckt und zirkuliert. Die Rede von ›jüdischen Kinderschändern‹, der ›gelben Gefahr‹ oder den ›muslimischen Verrätern‹ erlebte ein neues Hoch und vermischte sich mit Esoterik und (Halb)Wissen zum Klimawandel, zu den unethischen Praxen von Pharmaunternehmen oder auch mit der wachsenden Sorge, die Kontrolle über die von Menschen geschaffenen Algorithmen zu verlieren. Bei vielen löste die Pandemie den Wunsch aus, die eigene Freiheit zu retten und die individuelle Souveränität mit allen Mitteln zu verteidigen. Die Illusion der Souveränität lag allerdings über Kreuz mit der Notwendigkeit, eine reale soziale Abhängigkeit anzuerkennen, die uns unser aller Fragilität spüren lässt: Wir bedürfen der ›Anderen‹; wir sind abhängig von ihrer Liebe, Anerkennung und Solidarität. Und wir bedürfen der Menschen, die uns Dinge erklären, die wir selbst nicht verstehen. Zugleich sind wir aber auch abhängig von der nicht-humanen Welt: von den Tieren, Pflanzen und auch Dingen, die uns umgeben. Eine Welt, die die Zerbrechlichkeit des Lebens und die Begrenztheit des eigenen Wissens unbeachtet lässt, ist eine dystopische Welt.

Die während der Pandemie geführten Debatten um die Frage nach der Freiheit des Einzelnen machten schnell deutlich, dass der Ruf nach Freiheit in unterschiedlichen Ideologien sehr different ausgelegt wird: Liberale, Linke, Rechte und Konservative setzen ihren je eigenen ›Ruf nach Freiheit‹ effektvoll ein,um ihre jeweiligen Anliegen auf die Tagesordnung zu bringen und die Massen zu mobilisieren. So konnten wir unrühmliche, ja geradezu widerwärtige Parolen an Wänden und auf Plakaten sogenannter Querdenker*innen lesen, die etwa behaupteten, nur »Sklaven« trügen Masken. In Berlin begegneten uns Querdenker*innen, die anstatt einer FFP2-Maske eine Stofftasche über dem Kopf trugen, auf der »Be a Slave. Obey« stand und den »Schweinestaat« kritisierten. Überall wurden Kontrolle und Disziplinierung gesehen. Zu tun, was die Regierung von einem erwartete, galt als dumm und gefährlich. Es war gleich die Rede von vorauseilendem Gehorsam. Diejenigen, die den Vorgaben der Regierungen zur Eindämmung der Pandemie folgten, wurden auch schon mal als faschistische Mitläufer*innen denunziert. Auch während der Pandemie gab es diesbezüglich kaum Tabus. So wurden Kinder, die ihren Geburtstag nicht zusammen mit ihren Freund*innen feiern konnten, mit Anne Frank verglichen. Diese hatte mit ihrer Familie in einem engen Versteck leben müssen, um den NS-Schergen zu entkommen – was ihr bekanntlich nicht gelang. Die Gleichsetzung mit Opfern der NS-Vernichtungspolitik ist nicht nur geschmacklos, sondern auch antisemitisch. In diesem Zusammenhang lohnt sich ein Blick auf John Stuart Mills (1988/1859) Schrift On Liberty. Darin formuliert Mill das sogenannte Freiheitsprinzip (liberty principle), dass auch als Schadensprinzip (harm principle) bekannt ist. Es besagt,

»daß der einzige Grund, aus dem die Menschheit, einzeln oder vereint, sich in die Handlungsfreiheit eines ihrer Mitglieder einzumengen befugt ist, der ist: sich selbst zu schützen. Daß der einzige Zweck, um dessentwillen man Zwang gegen den Willen eines Mitglieds einer zivilisierten Gemeinschaft rechtmäßig ausüben darf, der ist: die Schädigung anderer zu verhüten.« (Mill 1988/1859, S. 16)

Der entscheidende Punkt lautet, dass eine Verhütung der Schädigung anderer der einzig legitime Grund ist, die Freiheit der Bürger*innen einzuschränken. Wenn wir bei der Entfaltung der Theorie der Fragilität von rassistischen Strukturen und Praxen sprechen oder heteronormative Gewalt thematisieren, so berufen auch wir uns dabei zumindest indirekt auf das Mill’sche Schadensprinzip. Freiheit auf Kosten anderer ist keine Freiheit. Das können natürlich nur diejenigen nachvollziehen, die auch Menschen als Teil des demos, des Staatsvolkes, verstehen, die immer wieder strukturell ausgeschlossen werden, wie Migrant*innen, Schwarze Menschen oder Queers.

Die Pandemie hat erneut gezeigt, wie ein globaler Kapitalismus funktioniert. Sie hat uns Jason Moores Capitalocene (2015, 2016) und die dort vorgebrachte Kritik am Konzept des Anthropozän in Erinnerung gebracht. Das Narrativ des Anthropozän, so Moore, ist zu simpel gestrickt. Es fordert seiner Ansicht nach nicht die naturalisierten Ungleichheiten, die in den Strategien der Moderne eingeschrieben sind heraus (Moore 2015, S. 170). Die vermeintlich multiplen Krisen wie Klimawandel, Finanzkrisen, Zunahme der globalen Migration, aber auch unterschiedliche Pandemien, seien lediglich Nebenprodukte des globalen Kapitalismus und aufs Engste verflochten mit post/kolonialen Verhältnissen. »Die heutige Krise ist deswegen«, so Moore, »nicht multipel, sondern singulär und mannigfaltig. Es handelt sich nicht um eine Krise des Kapitalismus und der Natur, sondern der Moderne-in-der-Natur.« (Moore 2015, S. 4) Moore folgend hat die Moderne eine kapitalistische Weltökologie hervorgebracht, die nun am Rande ihrer Zerstörung steht. Die COVID-19-Pandemie hat diese enge Verflechtung zwischen Natur, Moderne und Zerstörung erneut ins Bewusstsein gerückt – und zwar auf sehr deutliche Weise. Während der Pandemie wurden daher nicht nur Debatten über bürgerlich-liberale Freiheiten geführt. Gleichzeitig nahm die Gewalt in Familien und an Frauen und Kindern zu (Peterman/O’Donnell 2020), ebenso wie die Verzweiflung vieler Menschen, die etwa Freund*innen oder Familienangehörige nicht mehr sehen konnten, weil sie Angst davor hatten, diese anzustecken. Menschen starben allein auf Krankenstationen, weil Besuche untersagt wurden, psychische Diagnosen wie Depressionen oder Klaustrophobie nahmen rapide zu. In vielen Ländern Lateinamerikas, Asiens und Afrikas erlebten wir zunehmend Hungersnöte. Wir sahen Bilder von Leichen, die auf der Straße lagen, weil die Bestattungsunternehmen überfordert waren – etwa in Ecuador, Kolumbien, Brasilien oder Indien. In Indien kam es zu dramatischen Engpässen bei den Sauerstoff-Lieferungen: Menschen erstickten vor den Toren von Kliniken. Sie bekamen wortwörtlich keine Luft mehr. Während Menschen starben, blühten die extra-legalen Märkte und die Preise für Sauerstoffzylinder kletterten ins Wahnwitzige1. Gleichzeitig wollten sich immer weniger US-Bürger*innen impfen lassen. Die Impfkampagnen erreichen ihr Limit, einige Impfzentren mussten schließen. Die USA kündigten an, 60 Millionen Impfdosen nach Indien zu senden, die sie zur Sicherheit gelagert hatten (wie andere Länder der westlichen Hemisphäre auch). Doch während die BBC einen Bericht über die indische COVID-19-Hölle mit »India: A Country Struggling to Breathe« ankündigte2, waren jene, die behaupteten, bei COVID-19 handle es sich nur um eine gemeine Grippe, nicht zum Verstummen zu bringen. Der Weg aus der Krise schien zumindest für einige ihre Leugnung zu sein. Doch wo endet der Glaube an die eigene Unsterblichkeit, wo beginnt die Anerkennung der menschlichen Fragilität? Fragilität anzuerkennen bedeutet auch, Verantwortung zu übernehmen und eine möglichst genaue Analyse der Gesellschaftsverhältnisse vorzunehmen. Françoise Vergès (2017) zufolge ist das Kapitalozän stets rassifizierend, weswegen etwa der Klimawandel weniger durch allgemeine menschliche Unfähigkeit begründet sei, sondern vielmehr als eine Konsequenz des Kolonialismus und eines rassistischen Kapitalismus zu sehen ist. Das Kapitalozän geht zudem mit der verrückten Vorstellung einher, dass der Mensch für jedes Problem eine technische Lösung finden wird: »Eine Geschichte des rassifizierten Kapitalozäns«, so Vergès, »wird uns helfen zu verstehen, dass der Klimawandel nichts mit menschlicher Hybris zu tun hat, sondern ein Ergebnis der langen Geschichte des Kolonialismus, des rassifizierten Kapitalismus und seines prometheischen Denkens ist – der Vorstellung, dass ›der Mensch‹ eine mechanische, technische Lösung für jedes Problem erfinden kann.« (Ebd., S. 80)

Gleichzeitig machten uns die endlosen politischen Diskussionen über Maßnahmen rund um den Lockdown sowie über die Wirksamkeit und Nebenwirkungen von Impfstoffen erneut deutlich, dass auch Medizin und Naturwissenschaften alles andere als unfehlbar sind. Positivistische Ansätze passen scheinbar besser in eine Zeit von Unsicherheit, Ängsten und rasantem Individualismus. Doch das Pochen auf Fakten als Antwort auf das dauernde Abqualifizieren von Erkenntnissen als fake news ist nicht ungefährlich. Dadurch wird kritisches Wissen an die Ränder des Wissenschaftlichen gedrängt und als ideologisch abgestempelt: Das gilt für queere Ansätze, postkoloniale Perspektiven, feministische Theorien, rassismuskritisches oder auch diasporisches Wissen. Auf den ersten Blick mag es so scheinen, als sei dieser Fokus zu breit. Mit unserem Buch wollen wir das Gegenteil beweisen: Eine geeignete Gesellschaftsanalyse macht es notwendig, disziplinäre Grenzziehungen zu überschreiten. Außerdem ist es wichtig, die wieder erstarkenden positivistischen Paradigmen in der Wissenschaft herauszufordern.

Der rapide gesellschaftliche Wandel war bereits lange vor der Pandemie spürbar. Die freitäglichen Schüler*innen-Proteste für ein rasches Handeln gegen den Klimawandel auf den Straßen europäischer Metropolen sind ein Zeichen dafür, dass sich neue Bewegungen entwickeln, die zukünftig weitere Kraft entfalten werden. Diejenigen, die heute noch die Diskursmacht innehaben, drohen diese zu verlieren. Sie nutzen jetzt ihre Positionen und Ressourcen, um die Universitäten abzuschotten vor jenen, die es wagen, sie zu kritisieren und ihre Paradigmen der Neutralität und der Objektivität (erneut) infrage zu stellen, aber auch vor jenen, die dort ihrem Empfinden nach nichts zu suchen haben. Die Folgen eines solchen Denkens, das die Fragilität negiert, sind zahlreich. In Frankreich mischte sich Frédérique Vidal, die Ministerin für Hochschule und Forschung, in die Debatte um die Rolle der Universität mit der Rede von einer »Islam-Linken« (islam-gauchisme) ein. Sie sieht in den Gender Studies, der intersektionalen Forschung und der Postkolonialen Theorie eben jene Kräfte am Werk, die demokratiefeindliche, fundamentalistische und populistische Bewegungen befeuern – als ginge es bei der Analyse intersektionaler Diskriminierungen und bei der Postkolonialen Theorie darum, die Demokratie zu stürzen.

Wir mischen uns ebenfalls in diese Debatte ein und fordern, die Kritik an exkludierenden Strukturen und Strategien der Universitäten ernst zu nehmen. Seit Beginn der Moderne verändern sich die Parameter des Wissens. Nachdem Wissen lange Zeit als eine Domäne Gottes galt, fand es sich lange Zeit im (selbst)reflexiven Geist des Menschen.3 Der Blick auf die natürliche Welt ermöglichte eine Beherrschung derselben. Das eigene Wissen konnte gedacht werden. Die Selbstgewissheit des cogito im abstrakten Modus der Selbstreflexion birgt jedoch eine Gefahr, auf die Shildrick (2001) zu Recht hinweist: Es tendiert dazu, jene Dinge als ›Andere‹ abzustemplen, die keine ontologische Konsistenz aufzuweisen scheinen. Das Selbst ist den ›Anderen‹ nicht intelligibel. Das Selbst stellt entweder in Bezug auf die Identität das Gleiche oder in Bezug auf die Differenz das ›Andere‹ des Gleichen dar. In beiden Fällen sind das Selbst und das ›Andere‹ in unzweifelhafter Weise voneinander abhängig (ebd., S. 104):

»Die Implikation ist, dass, da Selbstidentität und Selbstbild grundsätzlich instabil sind, sie vor jeder*jedem geschützt werden müssen, der*die entweder unsicher in sich selbst begrenzt ist oder die*der droht, die körperliche und ontologische Verwundbarkeit des singulären Subjekts zu nutzen oder bloßzustellen.« (Ebd., S. 106)

Es sind gerade die Fragilität des Lebens und die Unsicherheit der Epistemologien, aber auch die Fragilität unserer (post)humanistische Beziehungen, die – vielleicht paradoxerweise – dazu aufrufen, neue Theorien bereitzustellen, die Unsicherheit, Ambivalenz und Widersprüche versteh- und lebbar machen. Eine Politik der Starken, die mit kalten Statistiken und Kriegsmetaphorik um sich schlägt, wird uns kaum retten können. Auf den Wellen der Pandemie reitend sollten wir nach Möglichkeiten suchen, Fähigkeiten und Reflexe zu schulen, die unsere Gabe zu Solidarität, Empathie und Fürsorge am Leben erhalten, ebenso wie unsere Gabe, die ›Anderen‹ zu sehen und ihr Leid zu spüren. In Anlehnung an Gayatri Chakravorty Spivak (2012) plädieren wir für ein Training unserer ethischen Reflexe. Gewissen, moralische Urteilskraft und kritischer Verstand müssen funktionieren. Dies ist ohne ein Lernen, dass es uns ermöglicht, Komplexität zu erfassen, nicht realisierbar. Es kann nicht alleinig darum gehen, möglichst schnell eine Impfung zu bekommen, damit Reisen und Restaurantbesuche wieder möglich werden. Die Pandemie ist eine globale Situation, die nach globaler post/pandemischerReflexion ruft. Sie ist auch eine permanente Herausforderung. Sie fordert Geduld und Intelligenz von uns. Zugleich erwartet sie von uns, einen Umgang mit der Ungewissheit der Zukunft zu finden. Wir wissen nicht, wann die Pandemie wirklich vorbei sein wird oder ob die nächste Pandemie nicht bereits an die Tür klopft. In diesem Unwissen darüber, was die Zukunft bringen wird, kann uns die Hoffnung auf das Serendipity-Prinzip helfen. Denn dieses besagt, dass gerade Zufälle, Ambiguitäten und Vagheit Lösungen oder zumindest neue Wege aufzeigen können. Wenn alle Pläne scheitern, bleibt die Hoffnung auf das nicht Planbare. »Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst.« (Bloch 1975 S. 13)

Sich dem Serendipity-Prinzip hinzugeben, verlangt zu verstehen, dass Wissen stets fragil ist. Ludwig Wittgenstein stellte sich in seinen Aufzeichnungen Über Gewissheit (1992/1950-51) die Frage des Zusammenhangs zwischen Erkenntnistheorie und Zweifel (1992/1950-51, S. 145). Zweifel, so Wittgenstein, funktionieren unterschiedlich, je nachdem in welchem Kontext sie wirksam werden. Wittgensteins »Sprachspiele« verweisen darauf, dass in unterschiedlichen Kontexten unterschiedliche Regeln wirksam werden. Sie erklären auch, warum in disparaten Kontexten und Situationen Zweifel unterschiedlich wirksam sind. Ein spezifisches Sprachspiel ist nur möglich, weil wir uns auf bestimmte Aussagen verlassen. Doch »[e]s ist nicht so«, schreibt Wittgenstein, »daß der Mensch in gewissen Punkten mit vollkommener Sicherheit die Wahrheit weiß. Sondern die vollkommene Sicherheit bezieht sich nur auf seine Einstellung« (Ebd., S. 199, Nr. 404). Unzweifelhaft ist womöglich nur, dass das Leben auf Erden, was immer wir auch damit tun, mit dem Tod endet. Selbst was danach kommt, wissen wir nicht endgültig. Die Hoffnungslosigkeit, die manch eine*r angesichts des Todes verspürt, kann zerstörerisch sein. Doch die Konfrontation mit dieser Sinnlosigkeit ermöglicht es eben auch, Fragilität nicht nur zu erkennen, sondern sie als Basis menschlichen Denkens und Handelns zu verstehen. Umberto Ecos (2003) tour de force falscher Erkenntnisse, Verschwörungen und Lügen, derer die Menschheit im Laufe der Geschichte anheim fiel – von der »ptolemäischen Hypothese« bis zu den »Protokollen der Weisen von Zion« – endet mit der einfachen Einsicht, dass es nicht darum gehen kann, die Falschheit von Aussagen zu beweisen, sondern um die Richtigkeit dessen, was wir als Wahrheit annehmen. »Im Grunde«, so Eco, »ist es die erste Pflicht des gebildeten Menschen, sich bereit zu halten, die Enzyklopädie jeden Tag neu zu schreiben« (Eco 2003, S. 305). Wissen ist fragil, weshalb es nicht proklamiert, sondern persistent überprüft werden sollte. Sterben werden wir dennoch, aber das Leben erweist sich so vielleicht als ein wenig sinnvoller.

Dieses Buchentwirft eine fragmentarische Theorie, die unsere Unsicherheiten, die unseren Darlegungen innewohnen, sichtbar macht. Denn wir intendieren nicht, eine allumfassende, vollkommene Theorie zu entwerfen, sondern der Frage als Frage Raum zu geben. Wir werden versuchen, Verbindungspunkte sichtbar zu machen, die die Ängste während der Pandemie ins Bewusstsein gespült haben. Verletzlichkeit und Prekarität werden dabei als Symptome gelesen, deren Ursache unser aller Fragilität ist, die gebunden bleibt an unterschiedliche historische Verantwortungen angesichts von Macht- und Herrschaftsstrukturen, denen wir uns auf je spezifische Weise zu stellen haben. Die Zerbrechlichkeit von Leben, die mit der Verbreitung von SARS-CoV-2 allzu spürbar wurde, gerät so zum Ausgangspunkt für eine post/pandemische Gesellschaftsanalyse. Wir bezeichnen unsere dabei zum Einsatz kommende Analyseform als queer/pandemisch, da sie zum einen über eine Politik spricht, die die Welt von ihren Rändern aus betrachtet, und sie zum anderen unsere fragilen Körper und unsere unkontrollierbaren, unverständlichen Affekte als Ausgangspunkt für eine notwendige Refokussierung einer sozio-politischen Analyse nutzt. Wir lehnen uns dabei u. a. an Jack Halberstams (1998) »Scavenger-Methode« an. Dies ist eine queere Methode, die keine disziplinären Grenzen beachtet, die differente und sogar miteinander konkurrierende Theorien zusammenbringt und dabei versucht, jeglicher Art von Kategorisierung zu entkommen. Eine Methode, die viele Wissenschaftler*innen und Denker*innen der Queer Studies gut kennen, denn queeres Leben, queere Geschichten, queere Gedanken entziehen sich – durchaus bewusst – herkömmlichen Ordnungsstrategien. Nur einer plündernden Herangehensweise kann es gelingen, Wissen über queere Subjekte zu erzeugen und Ahnungen von nicht-normativen Leben, nicht-normativen Geschichten und Erfahrungen zu vermitteln. Denn diese, schreibt Halberstam, wurden zum Teil absichtlich, zum Teil aus Missachtung gelöscht. Je zerbrechlicher ein Leben, desto kurzlebiger die Spuren, die es hinterlässt. Kaum da, schon wieder verschollen und nie mehr erinnert. Dieses Buch versucht sich nicht an der Proklamierung einer neuen Wahrheit, sondern bleibt einem queeren Denken verpflichtet. Das verlangt, sich Unzulänglichkeiten zu stellen und diese besprechbar zu machen. Das Gleiten durch die Pandemie hat uns einiges abverlangt, aber uns auch darin bestärkt, die Widersprüchlichkeiten des Lebens nicht zu verwünschen, sondern sie als Trost zu verstehen, ja als Möglichkeit, uns und die ›Anderen‹ zu erkennen, uns selbst und den ›Anderen‹ näher zu kommen.

In Kapitel II illustrieren wir zunächst unsere Theorie der Fragilität anhand unterschiedlicher theoretischer Zugänge sowie von Beispielen, die durch die Pandemie eine neue Bedeutung bekommen haben. Anschließend diskutieren wir in Kapitel III die Frage, warum nicht alle Menschen zur vorherigen ›Normalität‹ zurückkehren wollen, selbst wenn dies nach der Pandemie vielleicht möglich werden sollte. Wenn aber die Hoffnung auf ein Zurück an eine Idee von einem guten Leben gebunden bleibt, so müssen wir uns fragen, ob diese Idee nicht schon immer problematisch war, weil sie von einer kleinen hegemonialen Minderheit entfaltet wurde, der es gelungen ist, die Mehrheit an die Ränder zu drängen. In Kapitel IV beschreiben wir post/pandemische Zeiten mithilfe der Konzepte der Nekro- und der Biopolitik. Hier kommt die grausame Hinnahme von Toten zur Sprache, die nur noch als Zahlen repräsentiert werden. Zudem geht es um eine gewaltvolle Differenzpolitik, die alles dafür tut, die einen zu retten, sich aber nur wenig darum schert, wenn andere ihr Leben (symbolisch oder faktisch) verlieren. Hier entwerfen wir unter anderem eine Politik des Atmens, die von der unglücklichen Rede über ein glückliches Leben spricht. Im Anschluss daran veranschaulichen wir, wie die Pandemie soziale Exklusion befördert hat und wie es gelungen ist, das Wissen um diese Exklusion zu löschen. Auf diese Weise wird die Allgegenwärtigkeit des Rassismus thematisiert und sichtbar gemacht, warum Rassismus und der Widerstand dagegen in Zeiten der Pandemie neue Gestalt angenommen haben; weswegen die Black-Lives-Matter-Bewegung gerade in post/pandemischen