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Winter 1985. Sina befindet sich auf der Flucht. Wie innerlich geführt landet sie auf Sylt, lernt die einheimischen Punks kennen und erlebt einen Wandel, den sie sich nie hätte vorstellen können. Der Zusammenhalt der Truppe und die wilde Nordsee reißen sie mit wie ein Sturm. Doch die Gefahren lauern. Ist sie bereit, den Preis für ihre Freiheit zu zahlen? Eine Geschichte nach wahren Begebenheiten voller brisanter Themen - Realität pur.
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Preis der Freiheit
Flucht nach Sylt
Inspiriert von wahren Begebenheiten
Band 1
Tanja Neutakt
Impressum
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar.
3. Auflage © 2025 Tanja Neutakt
c/o IP Management #38147, Ludwig-Erhard-Str. 18, 20459 Hamburg
www.tanjaneutakt.de
Coverdesign: Renee Rott, Dream Design – Cover and Art
Lektorat/Korrektorat: T.I. Wiltshire
Veröffentlicht über tolino media
ISBN: 9 783759 242082
Preis der Freiheit
Flucht nach Sylt
Inspiriert von wahren Begebenheiten
Band 1
Tanja Neutakt
Vorwort
Diese Geschichte ist inspiriert von wahren Begebenheiten aus den Jahren 1985-1987. Die Namen der Personen, sowie ihre Lebensumstände wurden zum Schutz der Privatsphäre verändert.
Einige Themen in diesem Buch können manche Personen belasten (triggern). Bitte eigenverantwortlich entscheiden, oder entsprechende Unterstützung in Anspruch nehmen.
Ein künstlerischer Hinweis: Die Trilogie „Preis der Freiheit“ ist Entwicklungs-stilistisch und multiperspektival geschrieben. Dies ist bewusst so kreiert, um die junge Prosa-Poesie dem Entwicklungsstand und innerem Wachstum der Protagonisten zu entsprechen. Mit jedem weiteren Band verändert sich die Stilart.
Nun wünsche ich einen guten Start in eine berauschende Story, die nur das Leben schreiben kann.
Die Zeilen dieser Trilogie sind den Menschen gewidmet, die mein Leben für immer verändert haben.
Nun sind wir unsterblich.
Inhaltsverzeichnis
Eingesperrt8
Dem Schmerz entfliehen16
So weit weg wie nur möglich22
Moin27
Erwartungen33
Der einzige Ausweg39
Tequila45
Süchtig54
Sag es mir59
Liebes-Gen65
Stress73
Punkerpuppen82
Angst89
Ganz nah98
Wut106
Alles, was zählt114
Luft holen122
Vorboten131
Verscheuchter Spuk144
Tag und Nacht151
Der Verdacht161
Hauptsache bei dir171
Das Gift der Insel178
Wir sind doch Männer186
Atmen195
Besuch aus der Klapse202
Trotz209
Absturz216
Er weiß, was du getan hast225
Weg234
Inhaftiert241
Die Mission249
Der Brief255
Spürspuren265
Niemals274
Plan B283
Sturmflut291
Bedrohlich299
Augen auf und durch309
Preis der Freiheit319
Über die Autorin327
Eingesperrt
Ein lautes Klirren ließ sie aus dem Schlaf aufschrecken. Mist, sie war eingeschlafen! Hektisch richtete sie sich auf. Ihre Augen suchten nach dem Schein des Weckers auf dem Nachttisch. Benommen und in die Dunkelheit blinzelnd, versuchte sie sich zu erinnern. Sie befand sich nicht in ihrem Zimmer, erkannte keinen der vertrauten dunklen Umrisse, vernahm nicht das gewohnte Licht des Mondes durch ihr Fenster, das ihr seit ihrem sechsten Lebensjahr so bekannt war. Sie schlief ja bei der Nachbarin! Im verwaisten Nebenhaus ihrer Eltern, die im Urlaub auf den Seychellen waren, da wartete doch ein Freund, dem sie versprochen hatte, sich herauszuschleichen und bald heimlich wiederzukehren! Seufzend ließ sie sich in ihr Kopfkissen fallen. Vermutlich waren Stunden vergangen und er inzwischen wieder abgehauen.
Es nervte sie maßlos, dass sie hier sein musste, als ob sie einen Babysitter bräuchte. Sie war doch schon dreizehn und konnte bestens für sich selber sorgen. Allerdings wussten die Eltern ganz genau, dass sie stets jede Möglichkeit ausnutzte, um das Gegenteil von dem zu tun, was von ihr erwartet wurde. Erwartungen ... warum nur fühlte sich das alles so düster und eng an? Warum nur konnte sie nicht sie selbst sein? Diesen schmerzenden Druck in ihrer Brust nicht mehr spüren, der ihr stets die Tränen der Enttäuschung in die Augen trieb? Denn das war sie. Eine Enttäuschung. Ihr Leben fühlte sich falsch an, als wäre sie ein Statist in einem dramatischen Theaterstück, das irgendwann doch enden müsste. Aber es endete nicht.
Ihre Mutter hatte wieder geheiratet, zu ihrem Glück war der neue Mann vermögend und sie lebten in einer Gegend, in der andere Menschen ihren Urlaub verbrachten. Der Stiefvater war ein seltsamer Vogel. Er erinnerte sie stets an einen englischen Edelmann, akkurat und kontrolliert im Verhalten, ständig die größtmögliche Perfektion im Blick, ohne jegliche Emotion. Machte Reichtum so etwas aus Menschen? Sie fühlte sich in seiner Gegenwart kritisch beobachtet. Kam er nach Hause, zog sie sich in ihr Zimmer zurück. Vielleicht lag das daran, dass er zehn Jahre älter als die Mutter war, doch verwirrte sie das Verhalten der beiden. Heiratete man nicht ... aus Liebe? Die einzige körperliche Nähe, die sie jemals zwischen ihnen beobachten konnte, war ein flüchtiger Guten-Morgen-Kuss. Kein Händchenhalten, kein Kuscheln, auch kein liebevolles Wort. Wie anders war es da bei den Großeltern, die weit weg in Westfalen wohnten. Warum er ihr gegenüber so ablehnend war, konnte sie nur erahnen, denn für die neue Ehe hatte er Frau und Tochter verlassen. Hatte er ein schlechtes Gewissen? Besaß er denn so etwas – ein Gewissen? Sie musste ungläubig grinsen. War sie nicht das lästige Anhängsel der vorherigen Ehe der Mutter, die bereits zu Beginn zum Scheitern verurteilt war? Zu viel und nicht erwünscht. Warum nur verging die Zeit nicht schneller? Unerträglich war das Warten, das Warten, bis sie volljährig und endlich frei sein könnte. Ungeduldige Rebellion brodelte in ihr, vermischt mit Wut. Doch die stand ihr nicht zu, wie die Mutter ihr einst sagte. Sie hätte sich zu fügen, bis sie alt genug wäre, eigene Entscheidungen zu treffen.
Für alle schien ihre Anwesenheit unangenehm zu sein, auch für ihre Mutter. Sie fühlte sich gefangen, in einem goldenen Käfig, ohne von alldem irgendeinen Wert zu haben. Das alles interessierte sie nicht. Weder das Geld, die protzigen Autos, die Yacht, die riesige Villa und die teure Umgebung. Um all dem zu entfliehen, vergrub sie sich in Texte, fantastische Bücher, verfasste eigene Gedichte und Geschichten, um das, was dort in ihrem Inneren brodelte, irgendwie zu verdrängen.
Inzwischen war sie ein Meister darin, nachts aus dem Haus zu schleichen, Türen leise zu schließen und so ihren Drang auszuleben, der ihr sonst verwehrt war. Freiheit! Sie wollte weg von diesen Menschen, von dem Gefühl das sie in ihr weckten, Luft bekommen, Beachtung erhalten. Sie durfte niemals sie selbst sein, wie ein Püppchen, angekleidet und nett frisiert, schien eine Kopie einer Wunschvorstellung, wurde in einen Kokon gepackt, um dem zu entsprechen, was in den höheren Kreisen erwartet wurde.
Sie rümpfte die Nase. Was sollte sie denn nun mit dem Jungen machen? So ganz ignorieren konnte sie das nicht. Und wenn er doch noch wartete, nach all den Stunden? Sie setzte sich im Bett auf und lauschte in die Dunkelheit, um das Haus so leise wie möglich zu verlassen. War dort ein Knacken zu hören, ein Laut? Schlich die Nachbarin über ihre Töchter wachend durch die Hallen ihrer alten Villa? Sie vergewisserte sich und öffnete leise die Tür des Gästezimmers.
Jasmin war in die Küche gegangen, um ihre Teetasse in die Spüle zu stellen. Sie wischte nochmals sorgsam über die Arbeitsflächen, rückte den struppigen Basilikum zurecht und schaute gedankenverloren aus dem Küchenfenster in die finstere Nacht. Vorsichtig öffnete sie ihre Haarklammer, schüttelte ihr schwarzes Haar mit den Händen aus und ließ es auf die Schultern fallen. Das tat gut, ein bisschen weniger Enge. Ihre lange Strickjacke zog sie fester um sich, strich sich über die Arme, als müsste sie sich selbst Trost spenden. Sie löste sich aus ihren Gedanken und drehte sich abrupt um, mit der Entscheidung nun doch etwas Schlaf zu finden. Da entdeckte sie den sanften Lichtstrahl des Mondes, der durch den Spalt der geöffneten Türe des Gästezimmers fiel.
„Ja, Sina! Was ist los, kannst du nicht schlafen?“ Besorgt trat sie ihr entgegen.
Sina zuckte zusammen und wich zurück. Es tat gut und doch schmerzte es, unbekannte Fürsorge zu erleben in dem Moment, der eigentlich ihrem Betrug, der Flucht zu dem geparkten Jungen galt.
„Ich ... äh ... nein, ich muss noch auf Toilette“, log Sina.
„Sei nur bitte leise, damit die Mädchen nicht aufwachen.“ Jasmin nickte ihr liebevoll zu und wandte sich mit einem Handgruß um, in Richtung ihres Schlafzimmers.
Jasmin fühlte den weichen Teppich unter ihren Füßen, als sie nachdenklich ins Bad schritt. Das Spiegelbild, das ihr entgegensah, erschreckte sie. Nachts fand sie schlecht Ruhe, den Schlafmangel sah man ihr schon länger an. Oder war es die Einsamkeit, die anhaltende Trauer? Vor über zehn Jahren hatte sie ihren Mann durch einen Bootsunfall verloren, ein Deutscher, der sie damals aus dem Iran mit nach Deutschland brachte. Es war Liebe auf den ersten Blick. Mit ihm bekam sie zwei wunderbare Töchter, die ihm so ähnlich sahen. Die Villa, in der sie lebten, war wunderschön, doch auch so leer ohne die Wärme und Stütze ihres Gatten. So wenige Jahre waren ihnen vergönnt gewesen. Für ihre Töchter versuchte sie sich zusammenzureißen, ihnen ein gutes Leben zu bescheren, denn sie mussten ja ohne ihren Vater aufwachsen. Sie waren damals noch so klein gewesen, als ihr Mann starb.
Vor einigen Jahren hatte etwas Neues ihr Einsiedlerdasein durchbrochen. Die Nachbarvilla, die lange leer gestanden hatte, war gekauft und restauriert worden. Eine Familie war eingezogen und sie hatte sich mit der Frau angefreundet. Sie schienen sehr wohlhabend zu sein, der Mann war stets höflich und zuvorkommend, doch auch in einem befremdlichen Maße unnahbar. Oft fröstelte es sie, wenn er mit ihr sprach. Schwierig schien es mit der Tochter Sina zu sein, das Mädchen wirkte auf sie einsam. Was hinter den Mauern vorging, konnte sie natürlich nicht sagen, doch hatte sie ein sehr seltsames Bauchgefühl, wollte aber die Mutter nicht darauf ansprechen. Bedenklich fand sie, dass Sina nicht mit auf die Seychellen genommen wurde. Ihr Bruder, auch wenn er noch jünger war, hingegen schon. Es schien ihr jedoch selbstverständlich anzubieten, Sina für diese zwei Wochen bei sich aufzunehmen. Oftmals reagierte das Mädchen etwas komisch, wenn man liebevoll mit ihr umging, so als wäre ihr dies fremd. Sie wirkte sehr in sich gekehrt, still und doch sah man ihren wachen Augen an, dass sie alles wahrnahm, was um sie her geschah. Sie sprach nicht viel, schien stets, als wäre sie auf der Hut, auch immer das Richtige zu tun und zu sagen. Jasmin schüttelte den Kopf. Jasmin, das ist nicht dein Problem!, ermahnte sie sich selbst, wohl wissend, dass sie ihr mitfühlendes Herz nicht abstellen konnte.
Sina spülte die Toilette und schlich zurück in das Bett. Der Mond strahlte hell heute Nacht und schien durch das große Fenster. Sie betrachtete eine Weile das kalt-weiße Strahlen. Die nächtliche Begegnung mit Jasmin stimmte sie nachdenklich. Diese Frau war für sie ein Beispiel, wie eine Mutter mit ihren Töchtern umgehen sollte. Eine kleine Familie, wenn auch ohne Vater, voller Lachen, Freude, Umarmungen, lieben Worten. Stets wurde Mut zugesprochen, samt der Aufforderung, die ehrliche Meinung zu sagen, auch wenn diese unangenehm war. Erstaunt hatte Sina immer wieder erlebt, dass Jasmin sogar die Wut ihrer Töchter ertrug und sie darin bestärkte, alles rauszulassen. Sie war eine stille Frau, geduldig und blieb meist für sich, wenn sie nicht um ihre Kinder herumwirbelte. Doch strahlte sie stets etwas Liebevolles, Ruhiges und Warmherziges aus. Dass Familie so sein konnte, ließ Sina hoffen, dass nicht alles an ihr falsch war. Vielleicht lag das, was sie täglich so schmerzte, doch nicht an ihr? Gäbe es einen Weg, neue Erfahrungen zu machen? Einen Weg, all dem zu entfliehen? Sich frei zu fühlen und geliebt und nicht eingesperrt und geduldet?
In all diesen sonderbaren Eindrücken wandelte sich das Mondlicht zu Schwärze. Ihr fielen die Augen zu, verstummt waren die Gedanken an den Jungen und das Herausschleichen. Zu wohlig war es in diesem Moment und sie ließ sich gerne in die Arme des Schlafes sinken.
Dem Schmerz entfliehen
Eine Flucht aus dieser Familie hatte Sina schon so oft geplant. Ein paar Jahre zuvor, war sie nach der Grundschule eines Tages einfach losgelaufen. Es hatte Streit am dem Morgen gegeben, weil sie ihr Frühstück nicht aufessen wollte. Dabei sagte sie doch immer wieder, dass Früchte ihr Bauchschmerzen bescherten. Die Mutter hatte sich aufgeregt, wie undankbar sie wäre. Unter Tränen war sie dem Zwang gefolgt und ertrug den Redeschwall der angedrohten Konsequenzen.
Gefrustet war sie nach Unterrichtsschluss die Weinberge entlanggelaufen, die sich hinter ihrer Schule auftürmten, ohne eine Ahnung, wohin sie wollte. Sie kam an Apfelplantagen vorbei und dort stand ein Fahrrad. Es lehnte einsam und verlassen an einem Baum. Das konnte doch nur eine Einladung sein – dann wäre sie wesentlich schneller unterwegs. Zu Fuß, mit der schweren Schultasche auf dem Rücken war der Marsch schon sehr mühsam. Sie hatte sich vorsichtig umgesehen, weit und breit niemanden entdeckt, klemmte die Tasche auf den Gepäckträger und radelte los.
„Hey! Stop! Anhalten, das gehört mir!“ Ein großer, zorniger Mann in dreckiger Arbeitskleidung war aus den Baumreihen herausgeschossen und hinter ihr hergerannt, ergriff das gesamte Rad und schleuderte Sina herunter, sodass sie hart auf den asphaltierten Gehweg aufschlug. Er riss unter lautem Fluchen und Schimpfen den Ranzen aus der Klemmung und schmiss ihn neben sie. All die Stifte und Hefte, ihr Schulbrot und die Trinkflasche breiteten sich auf dem Weg mit lautem Scheppern aus.
Mit Tränen in den Augen hatte sie versucht, eine Erklärung zu stammeln. „Aber ... aber, das ist doch das Fahrrad von meinem Freund“, log sie ängstlich, wagte nicht aufzublicken oder sich aufzurichten. Der Mann war so zornig, hatte die Hände über ihr bedrohlich erhoben, als wollte er sie schlagen. Weiter fluchend schnappte er sich das Fahrrad unter den Arm, drehte sich um und lief davon in Richtung Apfelbäume, um seine Arbeit wieder zu verrichten. Das war ein belustigendes Bild gewesen und Sina kicherte in sich hinein. Dieser Mann war ein Riese, das Rad viel zu niedrig für ihn. Er erinnerte sie an Obelix und seinen Hinkelstein, es fehlte nur der fröhlich hüpfende Idefix. Ein kleiner Trost, dass sie dies amüsieren konnte. Ihr Knie war blutig aufgeschlagen, es schmerzte, doch weniger als diese Niederlage und die Peinlichkeit. Entmutigt machte sie sich humpelnd auf den Rückweg.
Natürlich hatte es zu Hause ein Riesentheater gegeben, weil sie schon gesucht wurde. Zu allem Überfluss hatte ihr kleiner Bruder, der auf einen Baum geklettert war und einem Seil hinterher sprang, das aus seiner Hand glitt, schwere Verletzungen erlitten und musste ins Krankenhaus eingeliefert werden.
Als die ältere Schwester bekam Sina die geballte Wucht der Angst und Wut der Mutter ab, sodass ihr, wie sie es nannte, die Hand ausrutschte. Sie schlug Sina mitten ins Gesicht, zähes Blut tropfte ihr unaufhaltsam auf die Hose, während sie auf einem Stuhl der Predigt lauschte.
„Wie konntest du nur?“ Die Mutter war klagend und schreiend mit hochrotem Kopf in der Küche auf und abgelaufen. Ihr war völlig klar, dass sie keine Antwort erwartete, es war das übliche Ritual des Donnerwetters im Folterzimmer, wie Sina es nannte. Sie war damals erst in der dritten Klasse, doch kannte diesen Ablauf schon in- und auswendig.
„Dein Bruder hätte sterben können! Und du verschwindest einfach stundenlang, kommst nicht nach Hause! Wir werden jetzt wohl andere Saiten aufziehen müssen! Du hast Hausarrest und kein Fernsehen!“ Wütend starrte sie Sina an. „Nie machst du was richtig! Immer muss ich mich aufregen!“
Als Sina daraufhin energisch in ihr Zimmer geschickt wurde, war es klar. Sie musste flüchten, nur an der Planung haperte es noch.
Die darauffolgenden Jahre gab es die unterschiedlichsten Ideen und Überlegungen. In die Berge fliehen? Dort fand man immer wieder verlassene Hütten, in denen sie sich sicherlich verkriechen könnte. Doch würde es im Winter nicht bitterkalt werden? Und wenn sie krank wurde? Wenn der Blinddarm raus müsste? Das war definitiv ein Problem. Also hatte sie diesen Plan ganz schnell wieder gestrichen. Die nächste Idee war gewesen, die Yacht über den Bodensee den Rhein hinauf in die Nordsee zu entführen. Hier war sie ziemlich geschickt in ihren Recherchen, fragte ihren Stiefvater ganz hinterlistig, ob man eigentlich mit dem Boot über den Rhein segeln könnte.
„Ja“, meinte er. „Das geht, man muss aber wegen den Brücken den Mast legen“.
„Den Mast legen? Wie geht das denn?“
„Mit einem Kran in einer Werft auf dem Rhein.“ Als er dies erklärte, hatte er von seinem Schreibtisch nicht einmal aufgesehen. Zum Glück interessierte es ihn auch nicht weiter, warum sie plötzlich so viel Interesse an der Yacht zeigte. Segeln konnte sie ja, das hatte sie am Bodensee gelernt – aber den Mast legen? Kran? War es aussichtslos? Konnte sie denn gar nichts tun, um dem Schmerz zu entfliehen?
Sina versuchte sich anzupassen, sie versuchte es wirklich. Vermutlich war ihr Wesen einfach zu wild, zu trotzig, da sie in ihrem Herzen doch stets wahrnahm, wie wenig erwünscht sie war, wie lästig ihre Anwesenheit. Tief in ihrem Inneren sehnte sie sich nach der Liebe der Mutter, sollte sie ihr nicht ohne Bedingung gehören? In ihr schlug ein rebellisches Herz. Das konnte nicht ihr Leben sein. Sie vollführte täglich ein Theaterstück, spielte eine Rolle in einem emotional kalten Horrorstreifen.
Ihre belastete Art schien aufzufallen. Oft kam sie mit Gleichaltrigen in Konflikt. Sie reagierte meist zu schüchtern, wusste nicht, was sie sagen sollte. Trost fand sie in ihrer Musik. Düstere, rockige Klänge, ergreifende Texte, die sie in ihren Gefühlen und dem Drängen nach Selbstbestimmung bestätigten. Alleine und in ihrer eigenen Innenwelt erschien ihr das Leben erträglich. Sie versuchte, wann auch immer, bloß nicht aufzufallen. Sie hielt sich für hässlich, denn so hatte es ihr die Mutter ja gesagt.
„Sina, du bist, warum auch immer, keine Schönheit. Du musst dir andere Vorzüge aneignen.“ Während sie dies gesagt hatte, betrachtete sie sich im Spiegel, strich ihr langes dunkles Haar zurück, prüfte zufrieden ihr Gesicht von allen Seiten und zog einen gekünstelten Kussmund. Sie erinnerte sich noch gut an das seltsame Gefühl, als die Mutter übertrieben begeistert über die strahlende Schönheit einer ihrer Freundinnen gewesen war. Euphorisch überschüttete sie diese mit Komplimenten, während sie Sina mit traurigen und enttäuschten Blicken von der Seite gemustert hatte.
Manuela hatte ihr eines Tages eine Jeansjacke geliehen, die neueste Mode. Sina fühlte sich stark, schön und hatte plötzlich so wahnsinnig gute Laune. Als sie nach Hause kam, blickte ihre Mutter sie geschockt an. Sie donnerte los, verbot ihr diese Punkerkluft und sie musste das wertvolle Stück umgehend zurückgeben.
Doch irgendetwas schien nicht zu stimmen. Wenn sie so unansehnlich war, wieso schaute ihr jeder Junge hinterher? In jeglicher Struktur schien sie falsch zu sein und doch so kämpferisch und voller Entschlossenheit, sich aus dieser Hölle zu befreien. Doch spürte sie auch stets diese lähmende Angst. Würde sie diesen Schritt wagen zu flüchten – wäre sie dann nicht ganz allein? Allein aber frei, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen, um herauszufinden, wer sie wirklich war.
So weit weg wie nur möglich
Ihr fünfzehnter Geburtstag Ende November 1985 war wie immer höchst unspektakulär. Als sie sich zum Frühstück aus dem Zimmer wagte und an den Esstisch trat, reichte ihr der Stiefvater schweigend die Hand und nickte ihr zu. Was auch immer dies bedeuten sollte. Konnte er es kaum erwarten, dass sie alt genug war, das Haus zu verlassen?
Immerhin wurde ihr am Nachmittag erlaubt, mit ihren Großeltern zu telefonieren, nur kurz, denn es war ja teuer. Die liebevollen Stimmen zu hören, die Begeisterung über ihren Ehrentag, machten sie noch trauriger. Sie log, um die beiden zu beruhigen, als sie von der Oma gefragt wurde, ob sie schöne Geschenke und einen leckeren Kuchen bekommen hätte. Opa schwieg im Hintergrund, nachdem er fast am Telefon weinte, dass er seine Enkelin an diesem Tag nicht in die Arme schließen konnte. Er murmelte immer wieder, wie lieb er sie hatte und dass sich das nie ändern würde.
Warum nur hatte ihre Mutter sie nicht bei ihnen gelassen, holte sie nach fast sechs Jahren wieder ab und verfrachtete sie in diese Hölle, so weit weg von Menschen, die sie liebten? Es tat weh, nicht bei ihnen zu sein, so furchtbar weh. Doch war ihr auch völlig klar, sollte sie weglaufen, könnte sie nicht zu den beiden, denn dann wäre das eine kurze Flucht. Sie erinnerte sich noch gut an ihr Betteln beim letzten Besuch bei ihren Großeltern. Sie war auf Opas Schoß gelegen, der wie immer auf seinem Fernsehsessel ruhte und sie fest im Arm hielt.
„Opa, kann ich bitte wieder bei euch wohnen?“ Mit Tränen in den Augen hatte sie ihn angefleht. Er erwiderte den Blick nur ebenso und schüttelte langsam den Kopf.
„Wie gerne hätten wir dich wieder bei uns, mien Deern, wie gerne, doch deine Mutter hat das Sorgerecht. Wir haben es versucht, doch kommen nicht dagegen an!“ Dabei hatte er sie gedrückt und sie weinen lassen, auch seine Brust bebte auffällig.
Fünf Tage nach ihrem Geburtstag war es soweit. Dieses Mal schien sie vorbereitet. Sina hatte Geld gespart, alles, was sie zusammenkratzen konnte, befand sich in ihrem rosa Sparschwein, das sie jahrelang nicht angefasst hatte. Sie war unterwegs. Das musste sie sich immer wieder selber sagen. Es war kalt, Dezember, dicke Flocken flogen ihr ins Gesicht und versperrten den Blick auf den Weg. Der Schnee schmolz auf ihrer Haut und blieb an ihren Lippen hängen. Oder waren es Tränen? Tränen der Enttäuschung, dass sie wieder versagte, Tränen der Trauer, weil sie tief in ihrem Inneren sich so sehr danach sehnte, die Tochter zu sein, auf die die Mutter stolz war? Tränen der Wut, dass sie nicht das Zuhause hatte, das all diese düsteren Gefühle abwehren konnte?
Etwas in ihr zögerte. Etwas in ihr hatte panische Angst. Wenn sie nun weitergehen würde, gab es kein Zurück mehr. Würde sie erwischt werden, gäbe es ein Donnerwetter, das sie nicht überleben könnte.
War es denn klug, zu dieser Jahreszeit loszugehen? Immerhin hielt sie es für gut durchdacht, zunächst zum Bahnhof zu fahren. Wo wollte sie hin? Am besten in das nächstgelegene Land, dann wäre sie in Sicherheit. Dachte sie. Der antike Lindauer Bahnhof, der ihr so gut bekannt war, wirkte mächtig, kalt und düster, wie ein Ungeheuer, das sie aus allen Mauerritzen zu beobachten schien. Mit geducktem Kopf durchquerte sie die von Tauben bevölkerte hohe Halle, um schnell zu den Gleisen zu gelangen. Dort war es dunkler, dort konnte sie sich besser vor verräterischen Blicken verbergen. Das Herz klopfte bis zum Hals. Es musste sie nur jemand sehen, sie erkennen, die Mutter anrufen und es wäre vorbei mit der Freiheit.
Der Horizont der dunklen Eisenbahnschienen gähnte sie an, als würden sie ins Nichts führen, in ein Niemandsland ohne Rückkehr. Angst, Kälte und Beklemmung legten sich um sie wie ein düsterer Mantel.
„Vorsicht an den Gleisen. Auf Gleis 4 fährt der Transit 1781 ein, mit Weiterfahrt nachStraßburg“, dröhnte es aus den antiken Lautsprechern, die dabei bedrohlich wackelten, fast abzufallen schienen.
Frankreich könnte eine gute Wahl sein, das war ein anderes Land. Mutig ergriff sie die schwere Waggontür und schlich sich in die Abteile weit hinten, wo niemand saß. Jede Minute auf diesem Bahnhof, in greifbarer Nähe für ihre Mutter, war zu viel. Fahr endlich los!, bettelte sie. Da! Ein Ruckeln, das Pfeifen des Schaffners, knallende Türen und der Zug setzte sich langsam in Bewegung, nahm Fahrt auf. Es schien ihr, als würde sich ihr Körper mit jedem Kilometer mehr und mehr entspannen.
„Guten Tag junge Dame, wo soll es denn hingehen?“ Der Schaffner schaute prüfend auf Sina herab.
„Ich möchte nach Straßburg, bitte.“ Ihre Stimme war leise, der Blick ängstlich. Er verzog das Gesicht samt den buschigen Augenbrauen und bat um ihren Ausweis, den sie nicht vorzeigen konnte. Plötzlich fiel es ihr ein! Sie war ja minderjährig und musste irgendwie so tun, als wäre sie mindestens achtzehn. Am besten brauchte sie einen anderen Namen.
„Na ohne Ausweis Fräulein, stelle ich Ihnen die Fahrkarte bis Kehl aus, über die Grenze darf ich Sie so nicht lassen.“ Sein Blick gefiel Sina nicht. Was, wenn er die Polizei informieren würde, es war immerhin spät abends. Erleichtert fiel sie im Sitz zurück, als er sich schulterzuckend von ihr entfernte. Mist. An so viel hatte sie nicht gedacht. Natürlich würde man sie nicht über die Grenze lassen, sie hatte ja keinen gefälschten Ausweis. Also war sie wohl in Deutschland gefangen.
Der Bahnhof von Kehl wirkte kalt, grau und düster. Die Dunkelheit umfing die wenigen Menschen auf dem Bahngleis und verwandelte sie in Schatten, die Sina kaum wahrnahm. Ob man sie bereits suchen würde? Lebendig malte sie sich den Groll und die Klagen aus, die Zuhause über ihr neues Versagen erklangen. Diese Gedanken musste sie verdrängen, ihr Bauch verkrampfte sich dabei. Doch wo könnte sie denn nun hin? War dies erneut eine Sackgasse?
Verloren und ziellos schlich sie über das Gelände. In der Bahnhofshalle hing eine Deutschlandkarte, die sie wie magisch anzog. Aufmerksam betrachtete sie die verschiedenen Bundesländer. Sie befand sich immer noch im unteren Teil dieser Landkarte. Wo wollte sie hin? Soweit weg wie nur möglich, erklang es in ihr. Sie beobachtete ihren Finger, wie er die gesamte Karte bis ganz nach oben wanderte, bis es nicht mehr weiterging – bis nach Sylt.
Moin
Sina klammerte sich an ihrer Tasche fest. Sie blickte in die gähnende Schwärze der Nacht durch das große schmutzige Fenster des Zuges und versuchte etwas mehr zu erkennen, als vorbeifliegende Lichter und ihr eigenes Spiegelbild, das sie auf keinen Fall sehen wollte.
Das Rattern der Schienen unter dem Zug erzeugte einen beruhigenden Takt. So weit war sie schon gekommen. Ein wenig Stolz stieg in ihr auf. Die Angst und die Enge, ebenso wie dieser düstere Mantel, der sich über sie gelegt hatte, wichen einem ganz neuen Gefühl. Einem Gefühl von Mut, einem Gefühl von Abenteuer. Von nun an bestimmen zu können, was sie dachte, wohin sie ging, was sie aus ihrem Leben machte und mit welchen Menschen sie sich umgeben würde. Etwas seltsam Neues, das sich aber unheimlich gut anfühlte.
Endlose Stunden verstrichen, in denen sie eingenickt war und die Menschen beobachtete, die einstiegen und den Zug an ihrem Ziel wieder verließen. Stumme, unsichtbare Nachtreisende, ebenso wie sie.
Es fing schon an zu dämmern. War dort hinten das Meer? Immer deutlicher zeigte sich das große Wasser, es schien, als würde der Zug wie ein monströses Boot darüber hinweg gleiten, hin zu noch nicht erkennbaren Landmassen.
„Nächster Halt: Endstation Westerland, Sylt. Der Zug endet hier.“
Sina grinste. Sie hatte es geschafft. Für sie würde dies keine Endstation sein, sondern der Schritt in ihre Freiheit. Bedeutungsvoll setzte sie ihren Fuß auf den Bahnsteig und fühlte sich wie in einer anderen Welt, wie ein anderer Mensch. Sie sog die Luft tief in ihre Lungen. Diese salzige Frische – es schien ihr, als hätte sie nie zuvor so frei geatmet. Die Sonne ging gerade auf und tauchte die leer gefegten Bahnsteige, weiten Plätze und Straßen in ein goldenes Willkommenslicht.
Wie benommen beschritt sie die gepflegten Platten der Promenade. Ein riesiger Anker wurde auf ihnen dargestellt, verziert mit den Himmelsrichtungen: Nord, Süd, Ost und West. Wo Süden war, wollte Sina gar nicht wissen. Ihr Blick war wie hypnotisiert. Er lag direkt vor ihr, der Strand! Das Meer, nein – berichtigte sie sich, die Nordsee! Die wilde See, die sich scheinbar gegen den Winter und das drohende Einfrieren zu wehren versuchte. Wie weit sie blicken konnte! All diese Gefühle von Staunen und überwältigender Naturschönheit ließen sie wie angewurzelt stehen. Sie sah auf ihre Füße, auf die festen Stiefel und bedauerte es zutiefst, dass Winter war.
Scheiß drauf ... dachte sie trotzig, zog die Schuhe und Socken von den Füßen und betrat andächtig den Strand. Sie spürte den frostigen Sand unter ihren Fußsohlen und grub die Zehen ein. Fröstelnd biss sie die Zähne zusammen, denn es war kalt, sehr kalt. Mit jedem Schritt auf die Gischt zu, wurde offensichtlich, dass sie eine andere Welt betreten hatte, eine magische Welt. Sie hatte die Gefahr hinter sich gelassen und war in ihrem Nimmerland angekommen. Sie war Peter Pan, sie war der Held ihrer eigenen Geschichte.
„Hey!“
Sina zuckte zusammen und fuhr herum. Vor ihr stand ein Junge, wenig älter als sie selbst, mit einer halb leeren Bierflasche in der Hand und sah sie belustigt an.
„Was machst du da?“ Er nahm eine Schachtel Zigaretten aus seiner Tasche, fingerte eine etwas umständlich und leicht schwankend heraus und nickte ihr zu.
„Du auch?“
„Nein, nein ... danke“, wehrte Sina ab, etwas verwirrt, so aus ihrer Trance katapultiert worden zu sein.
„Und?“, fragte er fordernd.
„Was und?“ Sina hob eine Augenbraue.
„Was du da mahachst“, wiederholte er genervt.
„Nichts. Was machst du?“
Er lachte schallend, wies auf sein Bier, drehte sich um und rief hinter sich: „Ich gehe jetzt nach Hause, eine Mütze Schlaf nehmen! Sehen wir uns heute Abend im Juze?“ Eine Antwort wartete er nicht ab und wankte davon.
Er war süß. Betrunken, aber süß. Sina beendete ihr doch etwas zu kaltes Sandbad, zog sich die Stiefel wieder an und beschloss, Westerland zu erkunden. Die Stunden verflogen im Nu und abenteuerlustig fragte sie bei Jugendlichen in der Stadtmitte nach, was denn das Juze sei, von dem der Junge gesprochen hatte.
„Da gibt es nur eins“, sagte eines der Mädchen gelangweilt, das mit ihrem Hund und einer Gitarre auf dem Boden saß. „Das Jugendzentrum, da treffen sich eigentlich alle, wenn es dunkel wird.“ Sie beschrieb Sina den Weg und widmete sich wieder ihrem Geklimper, zu dem ihr Hund ein lautes Jaulen ansetzte. Das alles war keinesfalls befremdlich für Sina. Es schien ihr, als würden das Leben und ihre Kraft immer mehr in sie einziehen, mit jeder Stunde, die verging. Niemand, der sie kontrollierte. Niemand, der ihr vorschrieb, was sie zu tun hatte. Niemand, der ihr erklärte, was sie alles falsch machte. Sie entschied. Und das fühlte sich saugut an.
„Moin!“, rief der Junge, als Sina das Juze betrat und er sich zu ihr durch die Menschenmassen wühlte. „Da bist du ja!“ Er hatte zwei Flaschen Bier in der Hand, im Mundwinkel eine brennende Zigarette. Er war sogar etwas attraktiver als am Morgen, schien geschlafen zu haben und wirkte frischer und weniger betrunken. Noch. Er hatte kurze, zerzauste schwarze Haare, stahlblaue Augen, ein faszinierend freches Lachen und freute sich offensichtlich, Sina wiederzusehen. Er reichte ihr ein Bier, das seltsam aussah. Es hatte einen Verschluss, mit einem Bügel.
Umständlich öffnete Sina die Flasche mit einem lauten Plopp. Frech grinsend klopfte er kurz mit seinem Flaschenboden auf die Öffnung von ihrem Bier. Wild schäumend ergoss sich der Inhalt auf dem Boden.
Er schüttelte sich vor Lachen. „Sag mal, wo kommst du denn her?“
„Von woanders“, antwortete sie genervt. Sie trat einen Schritt zur Seite, um nicht in der Bierpfütze zu stehen, und überprüfte ihre Kleidung, ob diese nass geworden war.
„Sag mal, hast du gerade Guten Morgen gesagt?“ Erstaunt sah sie ihn an.
Wieder konnte er sich vor Lachen kaum einkriegen. „Okay, Süße vom anderen Stern ... ich habe nicht GutenMorgen gesagt! Ich habe Moin gesagt!“
„Am Abend?“ Sina blinzelte ihn ungläubig und verwundert an, musste aber ein wenig grinsen, dass er so herzlich lachte. Das stand ihm. Er hatte ein sehr schönes Lachen.
Schon wieder was gelernt, dachte sie sich. Bier mit Bügeln und in meinem Nimmerland ist offensichtlich immer morgens.
Erwartungen
„Rik! Reich mir mal die Buddeln!“, brummte der Juzewirt, sichtlich gestresst. „Trinkt alle aus! Ich will zu machen!“
Sina war mit dem Jungen ins Gespräch vertieft. Er schreckte auf, als er seinen Namen hörte. Er hieß, wie er ihr vor Stunden verraten hatte, eigentlich Hendrik, wurde aber nur Rik gerufen. Die beiden unterhielten sich angeregt, verstanden sich gut, genossen die gemeinsame Zeit. Sie konnte einfach nicht widerstehen, ihn genauer zu betrachten. Das T-Shirt, das er trug, ließ einen schönen Oberkörper vermuten. Die Jeans, die locker auf seiner Hüfte saß, wurde nur mit einem Nietengürtel festgehalten. Als er einige Flaschen zum Tresen rüber trug, blickte sie ihm nach. Wie er sich bewegte, so selbstbewusst und geschmeidig.
Für Sina war es etwas ganz Besonderes, nicht auf die Uhr zu schauen, nicht damit rechnen zu müssen, dass ein Erwachsener durch die Türe stürmen würde und sie am Arm nach Hause zerrte. Hier kannte sie niemanden und niemand kannte sie, sie war völlig inkognito.
„Ich glaube, wir müssen gehen.“ Rik schaute ihr vielsagend in die Augen, als er wieder zurückkam. Sina schluckte und nickte leicht. Gehen? Wohin denn? Sie hatte sich heute nicht einmal darum gekümmert, wo sie übernachten könnte. Geld hatte sie ja dabei, aber so spät nachts würde sie jetzt kein Hotelzimmer mehr finden. Rik hatte sie komplett abgelenkt und aus ihrem klug durchdachten Konzept gebracht. Er war aber zu süß, Schmetterlinge tanzten wie wild in ihrem Bauch.
„Mach’s gut Peer!“, rief Rik dem Wirt zu. Er schnappte seine Lederjacke, nahm Sinas Hand und führte sie in die kalte Schwärze der Nacht. Mit lautem Gegröle verabschiedete sich auch eine weitere bunte Truppe, die zu Sina und Rik auf die Straße zu stolperte.
Punks!, dachte Sina, freudig überrascht. Einer von ihnen, ein dünner, langer Kerl, dessen wasserstoffblondierter Iro ihn noch mal gut 20 cm größer machte, blickte Sina aus dem Augenwinkel an, stutzte kurz und zwinkerte ihr zu. Sein Blick blieb an Rik hängen, er runzelte die Stirn, wankte dann aber seinen Freunden hinterher.
Plötzlich legte Rik seine Hand um Sina, umgriff ihre Taille und zog sie zu sich heran. Sein Gesicht kam dem ihren so nah, dass sie seinen warmen Atem spürte, der sichtbar in dieser kalten Nacht zwischen ihnen schwebte. Verlegen senkte sie den Kopf, ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Ganz sanft hob Rik mit der anderen Hand an ihrem Kinn ihr Gesicht an und näherte sich mit seinen Lippen, stoppte kurz davor.
Sina rutschte das Herz in die Hose. Sie gab sich diesem übermächtigen Gefühl hin, wünschte sich wie niemals in ihrem Leben zuvor, dass Rik sie endlich küssen würde, wagte es aber nicht, sich zu rühren.
„Wo wohnst du?“, hauchte Rik.
„Ich ... weiß es nicht.“ Sina konnte kaum sprechen, ein warmes, aufgeregtes Gefühl erfüllte ihren Unterleib. Er zog sie noch ein Stückchen näher an sich heran und küsste sie, ganz sanft und langsam. Schwer atmend blieben die beiden so stehen, eng aneinander und schwiegen.
„Wir gehen zu Bonnie und Clyde“, beschloss Rik.
Sina folgte ihm, amüsiert über diese Namen, aber ohne ein weiteres Wort. Arm in Arm liefen sie die verlassenen Straßen entlang. Sie ließ sich von ihm führen, sie hätte niemals sagen können, wo sie genau war. Rik klopfte an die dreckige Fensterscheibe eines heruntergekommenen Wohnhauses, das sich in einem Hinterhof befand. Drinnen brannte Licht und es dauerte nicht lang, bis ein mit Unterhemd und Jogginghose bekleideter, dickbäuchiger Mann öffnete.
„Rik! Ist die Party vorbei?“ Er lachte und verschwand wieder im Haus, Sina und Rik folgten ihm. Die schäbigen dunklen Flure waren vollgestellt mit allem möglichen Krimskrams. Die alten Teppiche wirkten dreckig, einige Fenster waren zerbrochen. Das einzige Zimmer, das eingerichtet schien, war das Schlafzimmer, in dem eine Frau im Bett lag, halb nackt, auf den Fernseher starrend.
„Es ist Rik!“, rief der Mann ihr zu und legte sich wieder hin. „Du weißt ja, wo du schlafen kannst ... oder ihr“, sagte er grinsend zu Rik. Er musterte Sina. „Ich bin übrigens Clyde und das ist Bonnie!“
Ein mulmiges Gefühl stieg in Sina hoch. Wo war sie hier nur gelandet? Ob es Ratten gab? Spinnen ganz sicher. Es war kalt. Der einzige beheizte Raum war das Schlafzimmer der beiden.
„Komm mit!“ Rik ging durch die dunklen Zimmer voraus, nicht weit entfernt war eine kleine Kammer, in der Mitte lag eine Matratze. Neben ihr eine halb abgebrannte Kerze, elektrisches Licht gab es nicht. Der Raum war angefüllt mit hohen Regalen, mit allen möglichen Gegenständen, die Sina in der Dunkelheit nicht erkannte. Sie stellte ihre Tasche neben der Matratze ab und warf Rik einen fragenden Blick zu, in der Hoffnung, dass er diesen in der Düsternis sehen würde. Das tat er nicht. Sie wollte nicht zickig oder uncool wirken und beließ es dabei. Jedoch war ihre sehnsüchtige Stimmung von zuvor vollkommen verflogen und sie fragte sich, was nun folgen würde.
Rik zog Sina auf die Matratze und deckte sie beide mit ihren Jacken zu. Die Kerze flackerte und warf gespenstische Schatten an die Wände. Rik küsste sie und hielt sie im Arm. Gleich würde es wärmer werden. Noch zitterten beide vor Kälte.
Als Sina am Wegdösen war, spürte sie, wie seine Hände ihren Körper erkundeten und unter ihre Kleidung schlüpften. Er zog seine Jeans aus, öffnete ihre Hosenknöpfe, streichelte sanft ihren Schritt und glitt in ihre Unterhose. Sina stöhnte leicht auf, sie war erschrocken und da war wieder dieses Gefühl in ihrem Unterleib, das sich nun aber völlig anders anfühlte. Sie wagte es kaum, sich zu rühren. Zaghaft erwiderte sie seine Küsse und hielt ihn im Arm, fühlte sich wie erstarrt.
In diesem Moment erinnerte sie sich an Andreas, ein Junge, den sie aus ihrer Heimatstadt kannte, mit dem sie ab und zu etwas unternommen hatte. Meistens waren sie miteinander im See schwimmen und danach bei ihm zum Essen oder sie hingen einfach in seinem Zimmer ab. Eines Tages hatte Sina nach einem Ausflug am See nur ihren Badeanzug an, da begann er an ihr rumzuspielen, und sie zu küssen. Da wusste sie auch nicht, was geschah, wollte dann aber nach Hause. Genau das ging jetzt nicht, sie musste wohl irgendwie mitmachen. Wo waren die Sehnsucht und die Zuneigung für Rik hin? Im Moment fühlte sie sich nur noch sehr seltsam und unwohl.
„Jetzt entspann dich doch mal“, flüsterte Rik. Verzweifelt versuchte er, etwas bei ihr zu erreichen, wogegen sich ihr Körper aber sperrte. Aus dem Nebenzimmer klangen eindeutige Geräusche von Sex, von wildem Sex, lautem Stöhnen.
„Na toll! Die haben es geschafft!“ Rik ließ genervt von Sina ab und drehte ihr den Rücken zu. So richtig verstand sie nicht, was geschehen war. Offensichtlich hatte er Erwartungen, die sie hier, in dieser Umgebung, mit diesem ernüchterten Gefühl nicht erfüllen konnte. Und wieder hatte sie etwas falsch gemacht. Wieder versagte sie. Was stimmte nur mit ihr nicht? Nun war er sauer. Nachdenklich betrachtete sie die Umrisse seines Rückens neben ihr und hörte, wie er langsam immer tiefer atmete.
Ihr war schwindlig. Vom Bier, dem Erlebnis und der Ablehnung, den Gerüchen in dieser Wohnung. Schlaf würde helfen, ganz sicher.
Der einzige Ausweg
Benommen erwachte Sina. Die Matratze stank, das merkte sie erst jetzt. Rik war verschwunden und ihre Jacke lag nur noch auf ihren Füßen, ihr war kalt. So bitterkalt. Kein Geräusch erklang in der Wohnung, auch der Fernseher im Schlafzimmer von Bonnie und Clyde dröhnte nicht mehr, wie er es die ganze Nacht getan hatte.
Was war denn nur geschehen? So langsam fiel es ihr wieder ein. Was für eine Blamage! Wo war Rik nur hin? War er so enttäuscht von ihr, dass er sie nicht mehr mochte? Dass er sie hier, bei Fremden alleine gelassen hatte? Traurigkeit stieg in ihr auf, sie fühlte sich verlassen in ihrem neuen Nimmerland, das sich auf so grausige und enttäuschende Weise gezeigt hatte. War ihr kein Glück vergönnt? Keine neue Freiheit? Ihre Augen füllten sich mit Tränen und schluchzend vergrub sie ihr Gesicht in der modrigen Matratze.
Sie wartete. Stunde um Stunde und bei jedem Geräusch hoffte sie, dass Rik mit seinem umwerfenden Lachen zurückkehren und sie liebevoll in den Arm nehmen würde. Doch er kam nicht. Irgendwann schob Bonnie den Vorhang, der eine Türe ersetzte, zur Seite und trat in die Kammer.
„Na, wie geht es dir?“ Ihr Blick drückte Bedauern aus. Als sie Sinas Tränen sah, schüttelte sie den Kopf, wandte sich wieder um und murmelte: „Junges Volk ...“
Bis zum frühen Abend hatte sich niemand um sie gekümmert, oder sie aufgefordert, zu gehen. Sie verließ den Raum und die Matratze nicht, als wäre dies ein Rettungsfloß in einem bedrohlichen Ozean. Der Fernseher dröhnte erneut im Wohnzimmer, Bierdosen wurden mit einem Zischen geöffnet. Ein paar Freunde kamen zu Besuch, um mit Bonnie und Clyde zu feiern, wie sie es nannten. Lautstark. Ohrenbetäubend.
Sina suchte in ihrer Reisetasche nach ein paar wärmeren Klamotten. Sie fühlte sich wie betäubt, konnte keinen klaren Gedanken fassen, geschweige denn einen Plan entwerfen, wie es nun weitergehen könnte. Sollte sie hierbleiben und warten? Vielleicht hatte er etwas Wichtiges zu tun, und wenn sie ging, würde er sie nicht finden. Verwirrung machte sich in ihr breit, lähmte sie noch mehr.
Verdutzt wühlte sie in ihrer Tasche. Da fehlten doch die 100 DM, die für das Alltägliche waren. Sie hatte all ihr Geld mitgenommen, es aber in verschiedene Abteile ihrer Tasche oder kleine Beutel verstaut, doch diesen fand sie nicht mehr. Hatte sie es gestern versoffen? Nein, erinnerte sie sich, Rik hatte gezahlt.
Wie vom Donner gerührt erkannte sie, dass sie bestohlen worden war. Ja, das andere Geld hatte sie gut versteckt, das befand sich noch in ihrem Gepäck. Aber 100 DM war viel, sie musste ja damit klarkommen. Wer wusste wie lange. Rik? Sie wollte es nicht glauben, doch ihr Bauchgefühl bestätigte ihr immer deutlicher, dass sie nicht ihre große Liebe auf bedeutsame Art und Weise getroffen hatte. Sie wurde verarscht.
Jämmerlich brach sie in Tränen aus, schlug wütend gegen ihre Tasche, hämmerte sich auf die Schenkel und verfluchte ihre eigene Dummheit und Unfähigkeit. Warum nur fühlte sie sich so dermaßen verloren? Menschen waren nun mal Arschlöcher und sie schien ein Magnet dafür zu sein. Wenn das ihr Leben sein sollte, nach all ihren Mühen, hatte es dann noch einen Sinn?