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Flocke hatte keine Ahnung, wo man sie hinbrachte. Mit aller Kraft wollte sie nichts als sich an Bäumen oder Laternen verankern, damit man sie nicht aus ihrer geliebten Heimat Sylt entführen würde … Flocke ist am Ziel ihrer Träume und aller Anstrengungen - ihrer Freiheit. Der Preis war hoch gewesen. Noch kennt Cooper nicht die ganze Wahrheit. Sie befolgen die Auflagen des Gerichts, wollen vernünftig sein. Ruhig bleiben. Doch ihr Bauchgefühl schlägt Alarm. Der Kampf um die Freiheit geht weiter - werden Flocke und Cooper ihn gewinnen?
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Tanja Neutakt
Preis der Freiheit
Für Immer
Inspiriert von wahren Begebenheiten
Band 2
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar.
3. Auflage © 2025 Tanja Neutakt
c/o IP Management #38147, Ludwig-Erhard-Str. 18, 20459 Hamburg
www.tanjaneutakt.de
Coverdesign: Renee Rott, Dream Design – Cover and Art
Lektorat/Korrektorat: T.I. Wiltshire
Veröffentlicht über tolino media
ISBN: 9 783759 243997
Tanja Neutakt
Preis der Freiheit
Für Immer
Inspiriert von wahren Begebenheiten
Band 2
Vorwort
Diese Geschichte ist inspiriert von wahren Begebenheiten aus den Jahren 1988-1989. Die Namen der Personen, sowie ihre Lebensumstände wurden zum Schutz der Privatsphäre verändert.
Einige Themen in diesem Buch könnten manche Personen belasten (triggern), bitte eigenverantwortlich entscheiden, oder entsprechende Unterstützung in Anspruch nehmen.
Ein künstlerischer Hinweis: Die Trilogie ‚Preis der Freiheit‘ ist entwicklungs-stilistisch und multiperspektival geschrieben. Dies ist bewusst so kreiert, um die junge Prosa-Poesie dem Entwicklungsstand und innerem Wachstum der Protagonisten zu entsprechen. Mit jedem weiteren Band verändert sich die Stilart.
Nun wünsche ich viel Vergnügen mit der Fortsetzung der Trilogie, die nur das Leben schreiben kann.
Die Zeilen dieser Trilogie sind den Menschen gewidmet, die mein Leben für immer verändert haben.
Nun sind wir unsterblich.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort4
Sieben Himmel8
Leichtsinnig16
Ungeschrieben25
Tag der Abrechnung33
Kämpferisch44
Ritterlich55
Vertrauen63
Schockstarre74
Entrissen83
Jetzt erst recht!92
Fanatisch101
Herzrasen109
Zeitfragen118
Polster-Prügel125
Nicht grundlos132
Das Unaussprechliche141
Dom-Möwen147
Erpresst155
Skins163
Bauchgefühl170
Mitternacht180
Happy B-day190
Der Rausch199
Kein Iro208
Schuld217
Terror à la Punx226
Verpasste Chancen233
Legendär243
Voll und ganz252
Gegen deinen Willen259
Hört auf damit!268
Anders als die anderen276
Jetzt krachts!285
Überfordert294
Ausreden303
Gefährliche Gefühle312
Check!322
Die eigene Wahl333
Mauerdurchbruch344
Für immer355
Über die Autorin371
Sieben Himmel
Ein Sonnenstrahl fiel auf ihr Gesicht. Wie ein wärmender Lufthauch, der zaghaft, ohne sie zu berühren, mit ihrer Haut spielte. Sie kräuselte die Nase. Das fühlte sich lustig an, es kitzelte. Langsam öffnete sie die Augen. Blinzelte dem Tag entgegen, genoss die Stimmung des anbrechenden Morgens, der sich wie Wellen durch das Fenster über sie ergoss. Sie atmete tief ein und spürte Frieden. Fühlte ihr Herz, das pulsierte und erfüllt war vom Leben und ... von ihm. Vorsichtig drehte sie sich um, ganz sachte, um ihn nicht zu wecken, keine verdächtige Bewegung auf der Matratze zu verursachen. Da lag er. Ihr Cooper. Sie lächelte, ihr Herz klopfte wild. Zärtlich musterte sie jede Einzelheit seines Gesichtes. Seine Augen, sanft geschlossen, dann und wann leicht zuckend. Die freche Nase, die tief und friedlich ein und ausatmete. Wie oft schon hatten sie erlebt, dass der Atem erst in der Nähe des anderen frei und entspannt fließen konnte. Dieses schöne Gesicht, wie sehr brannte es sich in ihre Seele. Die Haare standen ihm wie immer wild und struppig vom Kopf. Wie sie sich zusammenreißen musste, ihn jetzt nicht sanft zu streicheln, doch dann würde sie ihn ganz sicher aufwecken. Lächelte er etwa im Schlaf? Endlich wieder. Zuvor, wenn sie die Augen aufgeschlagen hatte, lag er bereits wach, geradeaus an die Zimmerdecke starrend, grübelnd, die Stirn in nachdenkliche Falten gelegt.
So viele Wochen hatte es gedauert, bis er sich traute, seine Anspannung loszulassen. Zu tief saß der Verrat und all das Drama, das sie die letzten Monate nicht mehr loslassen wollte. Als würde etwas stets an ihnen zerren, in eine Ebene der Realität, die so viel Glück, Erfüllung und Freiheit nicht zuließ. Er traute niemandem, oder nur noch seinem engsten Kreis, das wusste Flocke. Erst recht nicht Peter Janson, dem Jugendamt-Mitarbeiter und vor allem nicht Flockes Eltern. Zu unberechenbar schien ihm das. Er hatte es nicht in der Hand, keine Kontrolle darüber und das machte ihn irre. Wie gerne würde sie ihm diese Sorgen abnehmen – doch hatte er nicht recht? Den Behörden zu vertrauen, dass sie alles in ihrem Interesse klären würden, war leider utopisch. Zu seltsam erschien es ihr, dass sie von ihrer Mutter keinen Ton hörten, das war ganz und gar nicht Margarethes Art. Das alles schwebte bedrohlich über ihnen, wie ein Ablaufdatum ihres Glücks. Und doch mussten sie dieses Spielchen mitmachen und auf einen guten Ausgang hoffen, trotz all ihrer Befürchtungen. Dem Termin für die Gerichtsverhandlung fieberte sie entgegen, doch noch stand er nicht fest. Peter Janson hatte dazu geraten, dass Flocke sich volljährig erklären ließe, auch wenn dies ein wackliges Unterfangen war. Dass sie keine körperlichen Misshandlungen vorweisen konnte oder Vernachlässigung mit Verwahrlosung, machte die Sache enorm schwierig. Andere Grausamkeiten waren irrelevant, wie Peter Janson sagte. Diese Gesetze und die Amtssprache, so fern von jeder Realität schnürten Flocke immer die Kehle zu, wenn er davon sprach. Zudem machte ihm Sorgen, dass ihre Eltern reich waren, angesehene Menschen aus der High Society, die gesamte Familie machtvoll und einflussreich. Sie könnten sich kurzerhand über all die Gesetze hinwegsetzen, auch wenn sie bei Gisela offiziell in einer Pflegefamilie untergebracht war. So oft wie möglich verbrachte sie Zeit bei Cooper in Kampen, das schien ihr sicherer. Ihr Zimmer bei Thorre wirkte verwaist, nur im Notfall benutzte sie es. Allerdings war es der Garant, dass sie nicht wieder als Ausreißerin gelten würde.
Flocke bewegte sich so langsam wie möglich, um aufzustehen. Sie wollte ihn auf keinen Fall wecken, obwohl er immer wieder ungehalten reagierte, wenn sie sich unbemerkt aus dem Bett stahl. Er begann einfach gerne den Tag damit, sie fest an sich zu ziehen, doch meistens blieb es nicht dabei. Mist! Er regte sich, murmelte irgendetwas Unverständliches vor sich hin und drehte sich auf die andere Seite. Flocke zog sich schnell etwas über und schloss leise die Zimmertür. Sie wollte erst mal einen Kaffee trinken, das übliche Ritual.
Wie sehr hatten sie die vergangenen Monate die Hölle durchlebt. Doch schienen ihr Himmel und Hölle nah beieinander, glichen sich fast manches Mal gegenseitig aus. Die Hölle, die kannte sie gut. Aus eigener Kraft hatte sie sich aus ihr herausgekämpft, damals den Entschluss getroffen, ihr zu entfliehen. Sylt zu finden kam ihr heute vor, wie die Ankunft in ihrem ersten Himmel. Der zweite Himmel war Cooper, auch wenn es lange gedauert hatte, bis sie sich aufeinander zutrauten. Ihre Liebe zuzulassen, war definitiv der dritte Himmel. Niemals hätte sie sich vorstellen können, dass solch eine Erfüllung möglich wäre, dass sich so Liebe anfühlte. Die vierte Hölle und gleichzeitig der Himmel war der Vorfall damals mit Rik, als er sie in Düsseldorf angriff. Dort erlebte sie wie niemals zuvor, wie sicher sie sich bei Cooper fühlte und dass er sie mit all seiner Kraft schützen würde. Als dann der Verrat mit voller Wucht in ihr Leben trat und sie die düsterste Hölle durchwandern und das Unaussprechliche erleben musste, dauerte es lange, bis sich der fünfte Himmel zeigte. Der Tag, an dem er sie gefunden hatte und sie die Flucht nach Sylt antraten, in ein neues Leben, in die Freiheit. Der sechste Himmel waren die Punks, ihre Freunde und Gisela, die sich so schützend vor sie stellte, sie in ihrem Haushalt als Pflegetochter aufnahm und ihr stets zur Seite stand. Was für ein Beispiel einer Mutter! Wie glücklich sie war, dass Gisela zu ihrem Leben, zu ihrer neuen Familie gehörte. Würde sich nun der siebte Himmel zeigen? Könnte er abermals die Hölle im Schlepptau haben? Alles war offen, doch gewiss eines: Sie hatte eine intensive Reise hinter sich und das Ergebnis war ihre Verwandlung. Längst schien sie nicht mehr das schüchterne Mädchen zu sein, das damals mit fünfzehn Jahren eine riskante Reise angetreten hatte, das sich selbst nicht sicher war, nicht wusste, was sie wollte. Aus Sina wurde Flocke. Und jeden Tag erforschte sie sich neu, spürte in sich hinein, in ihre Abenteuerlust, in ihren Tatendrang, in das, was die Zukunft ihr bringen würde.
Plötzlich spürte sie Cooper, der sich an ihren Rücken schmiegte. Erst jetzt bemerkte sie, wie gedankenverloren sie gewesen war, sie hatte ihn nicht einmal die Treppe herunterkommen gehört. Das fühlte sich so gut an. Seine Wärme, sein Körper, sein Atem. Er ergriff ihre Hüfte, glitt mit einer Hand an ihren Unterbauch und zog sie an sich.
„Moin, Babe ... Na, bist du mir mal wieder aus dem Bett entwischt?“ Er löste sich von ihr und schenkte sich einen Kaffee ein. Als er sie losließ, fühlte es sich so komisch an, diese Situation war heiß, zu heiß. Flocke hatte einige Momente Probleme, sich zusammenzureißen, wieder aus der Erregung zu erwachen. Als sie sich zu ihm umdrehte und sein schelmisches Grinsen sah, wusste sie, dass das seine Absicht gewesen war, wie sonst auch. Er liebte es, sie zu reizen und dann ihren Gesichtsausdruck zu genießen.
„Musst du denn schon los?“ Sein Blick drückte Bedauern aus, begleitet von seinem frechen Lachen. Flocke funkelte ihn vielsagend an und biss sich auf die Lippe. Inzwischen war sie eine Meisterin darin, ihm die Stirn zu bieten, ihn ebenso mit ihrer Mimik herauszufordern.
„Ja ... Coop, das muss ich. In einer halben Stunde ...“ Cooper richtete sich auf, streckte seine Hand nach ihr aus, doch Flocke war schneller. Laut lachend entwischte sie ihm und floh die Treppe hinauf. Weit kam sie nicht.
Als Flocke aus dem Bus stieg, lächelte sie selig vor sich hin. Wie er das nur immer wieder schaffte, sie völlig zu überraschen, jedes Mal mit ihm schien anders. Verträumt schüttelte sie den Kopf, als müsste sie diese Gedanken und Gefühle schnell loswerden. Nun war Konzentration dran! Sie hatte einen Termin im Schulzentrum, um ihren Abschluss nachzuholen. Das Thema drückte sie schon ein wenig. Es wurde höchste Zeit, an die Zukunft zu denken. Das war ein seltsames Gefühl. Bisher wurde ihr der Weg immer diktiert, nun musste sie selber entscheiden. Was machte ihr Spaß, würde sie sich zutrauen? Vielleicht doch Abitur oder eine Ausbildung? Was wäre auf der Insel möglich? Sich diese Fragen zu stellen und Verantwortung für ihr eigenes Leben zu übernehmen, fühlte sich gut an. Kein Weg war versperrt, Begrenzungen existierten nur in ihrem Kopf.
„Und Sie leben in einer Pflegefamilie, hier in Westerland?“ Der Schulleiter musterte sie skeptisch, vermutlich stieß ihm ihre Aufmachung auf. Am Telefon war er noch sehr freundlich gewesen, dies wich nun den üblichen Vorurteilen gegen Punks. Flocke lächelte in sich hinein. Immerhin wurde sie inzwischen eindeutig als Punk identifiziert und hatte auch keine Lust, sich aufgrund von Erwartungen zu verkleiden oder anders zu verhalten. Auf seine Frage hin nickte sie und sah ihn erwartungsvoll an.
„Und Sie werden Ende dieses Jahres achtzehn? Hätten Sie da den Abschluss nicht schon längst machen müssen?“
Flocke nickte wieder, schwieg aber. Sich zu rechtfertigen oder diesem fremden Mann mehr über sich zu erzählen als nötig, sah sie gar nicht ein. Durch seine Reaktion auf ihr Erscheinungsbild war er ihr jetzt schon unsympathisch. Er wirkte missmutig, unentschlossen und kratzte sich immer wieder die schuppige Halbglatze. Mit einem abschätzigen Gesichtsausdruck lehnte er sich in seinem knarrenden Holzstuhl zurück und strich sich nachdenklich über den dicken Bauch.
„Ich will hier keinen Ärger haben, junge Frau ...“ Mit diesen Worten blickte er sie prüfend und durchdringend an. Flocke verstand nicht so recht, was er von ihr erwartete. Ärger ging meist von anderen Personen aus und niemals könnte sie versprechen, sich nicht zu wehren oder mit ihrer Meinung hinter dem Berg zu halten.
„Ich auch nicht. Ich bin hier um meinen Abschluss zu machen ...“
Ihre Klarheit und Selbstbewusstsein schienen ihm zu imponieren und etwas zu überraschen.
Er seufzte. „Wir befinden uns ja nun kurz vor dem Halbjahr. Anfang Februar ist es möglich, in die laufende Klasse einzusteigen. Bis dahin müssen Sie aber noch einiges nachholen, damit sie den Anschluss finden.“ Mit hochgezogenen Augenbrauen sah er sie an, als würde er Gegenwehr erwarten.
Flocke nickte zustimmend, nahm einige Unterlagen entgegen und war froh, dass sich der Mann doch noch besonnen hatte. Wie sehr sie das hasste, dass Menschen wie sie zunächst erst einmal vorverurteilt wurden. Das war ja genau das, was sie alle miteinander anprangerten, diese spießige und engstirnige Gesellschaft.
Es gab bei ihrer Anmeldung nur ein großes Problem. Ihre Zeugnisse! Die waren natürlich bei ihren Eltern unter Verschluss.
Leichtsinnig
„Bruder ... ich brauch dich! Kannst du vorbeikommen?“ Cooper blickte Flocke erstaunt an und wies mit aufgerissenen Augen auf den Telefonhörer in seiner Hand. Das waren ja völlig neue Töne von seinem Freund. Sorgenvoll verzog sich sein Gesicht.
„Na klar! Keine Frage! Männergespräch oder mit Flocke?“ Am anderen Ende wurde es kurz still, er schien zu überlegen.
„Kein Thema, bring Flocke mit. Ich hab vor ihr keine Geheimnisse.“ Cooper legte mit zusammengezogenen Augenbrauen den Hörer auf und sah die inzwischen ebenso verdutzte Flocke an. Das hörte sich gar nicht gut an. Eigentlich waren sie mit seinen Eltern zum Essen verabredet, doch das musste jetzt warten. Thorre ging vor.
Als sie bei ihm eintrafen, fanden sie ihn auf seinem Sofa, den Kopf in die Hände aufgestützt, den Iro nicht wie sonst sorgfältig hochgestellt. Ein seltsames Bild gab das ab. Flocke und Cooper setzten sich auf sein Bett und sahen ihn ratlos an. Cooper räusperte sich auffällig, grinste den nun aufsehenden Thorre an, der nicht einmal gemerkt hatte, dass die beiden reingekommen waren.
„Oh ... da seid ihr ja!“ Er holte tief Luft. „Leute ... ich glaub ich hab richtig Mist gebaut.“ Er schüttelte verzweifelt den Kopf. „Ich hab falsch gefickt ...“
Cooper lachte laut auf. „Du hast was ...?“ Im selben Moment erstarrte sein Blick. „Oh Fuck ...“
Thorre sah ihn gequält an und nickte.
Flocke verstand wie immer kein Wort, wenn die beiden ihr Geheimsprache-Ritual vollführten, sagte aber lieber nichts.
„Wer?“ Cooper rückte auf die Bettkante und legte Thorre seine Hand auf den Oberschenkel. Er brauchte jetzt dringend Trost und Hilfe.
Thorre sah ihn leidend an und fixierte bedeutsam seinen Blick.
„Nein!“ Cooper schüttelte hektisch mit dem Kopf. „Das ist nicht dein Ernst!“
Thorre nickte, wollte gar nicht mehr aufhören damit.
„Also jetzt wird mir das echt zu bunt! Ihr zwei! Ist ja schön, wenn das zwischen euch ohne Worte geht, aber ich bin hier draußen! Hallo?“, brach es aus Flocke heraus. Das war unerträglich. Auch sie wollte für ihren Freund da sein, aber so – mit diesen schwebenden Hieroglyphen im Raum war ihr das nicht möglich.
Cooper sah Flocke lachend an. Wie schön, dass sie sich lautstark einmischte und ihre Meinung sagte, das gefiel ihm. Früher hätte sie sich das nicht getraut, wäre kleinlaut sitzen geblieben.
„Okay ... also noch mal mit mehr Buchstaben für unsere Flocke ...“ Thorre grinste amüsiert. „Ich habe falsch gefickt. Auf gut Deutsch: Ich habe jemanden geschwängert ...“
Flocke riss die Augen auf. Damit hatte sie nicht gerechnet. Thorre? Der hatte doch nur selten mal ein Mädel bei sich. Immer wieder traf er sich mit einer, mit der sich aber nichts weiterentwickelte, weil er nicht der Einzige war. Flocke versuchte, sich an den Namen zu erinnern. Ja genau! Raphaela, die Gepiercte. Sie hatte so viele Piercings im Gesicht, dass Cooper sie scherzhaft den Werkzeugkasten nannte. Er konnte sie nicht leiden. Sie war oft biestig zu Thorre und meldete sich nur, wenn sie vögeln wollte. Und die hatte er jetzt geschwängert?
„Thorre, sei mir bitte nicht böse ... aber bist du dir wirklich sicher, dass du der Vater bist?“ Flocke sah ihn vorsichtig an, wollte sein Leid nicht verschlimmern oder in eins der vielen Fettnäpfchen treten, die sie meistens zielsicher erwischte.
Cooper sah Flocke an, dann wieder Thorre und erneut Flocke. Ein Lachen huschte über sein Gesicht. Daran hatte er noch gar nicht gedacht! Das war ja nicht so abwegig!
Thorre sah Flocke entgeistert an. Wieso war ihm das nicht eingefallen? Er wusste doch, dass Raphaela massenhaft andere Kerle hatte. Warum sollte gerade er der Vater sein? Er stieß sich mit der Hand vor die Stirn, ließ sich ins Sofa fallen und fing an, herzlich zu lachen. Da musste erst die kleine Flocke kommen, um ihn wieder in die Realität zu katapultieren!
„Das schreit nach Bier!“ Cooper lief zur Küchenzeile und öffnete die Flaschen, drei weitere brachte er mit und stellte sie gleich bereit auf den Tisch. Thorre sah ihn dankbar an.
„Immer eins nach dem anderen, Bruder! Lass dir nichts anhängen“, beruhigte Cooper ihn nachdrücklich. Thorre nickte und kippte das Bier herunter.
Flocke schluckte. Erst jetzt wurde ihr siedend heiß klar, dass bei dem vielen Sex, den sie mit Cooper hatte, eine Schwangerschaft schon etliche Male möglich gewesen wäre. An Verhütung oder Kondome hatten sie nie gedacht. Sie beschloss, umgehend einen Termin bei einem Frauenarzt zu machen. Das würde ihnen gerade noch fehlen. Ein Kind? Um Himmels willen! Das wünschte sie in diesem Alter niemandem! Das wäre ein gefundenes Fressen für ihre Eltern, sie sofort einweisen zu lassen oder nach Hause zu holen. Cooper lehnte sich auf dem Bett zurück, legte sich neben die sitzende Flocke und sah sie besorgt an.
„Flocke ...?“
„Ja, gleich am Montag!“, bestätigte sie. Er nickte ihr zu. Auch ihm war gerade bewusst geworden, wie leichtsinnig sie sich bisher verhalten hatten. Flocke lachte. Fing bei ihnen jetzt ebenso das Geheimsprache-Ritual an?
Gisela! Plötzlich fiel Flocke ein, dass sie ja mit Gisela noch etwas Wichtiges besprechen wollte! Und das am besten, bevor sie das dritte Bier anbrechen würden! Sie sprang auf, ließ die verwunderten Jungs zurück und suchte Gisela im oberen Stockwerk.
„Ja Flocke! Du bist hier?“ Torres Mutter sah sie überrascht an, während sie sich von der Anrichte ihr zudrehte.
„Ja, wir sind bei Thorre. Ich muss dringend etwas mit dir besprechen!“ Gisela erkannte, dass es wohl wichtig sein musste, legte das Messer weg, wusch sich die Hände, trocknete sie an einem Küchentuch ab und ging mit ihr ins Wohnzimmer. Flocke berichtete von dem Gespräch mit dem Schulleiter und dass sie nun vor dem Problem stand, keine Zeugnisse zu haben, weil die ja bei ihren Eltern waren, ebenso wie Geburtsurkunde und Ausweise.
„Da hast du recht, Kind! Das könnte ein Thema werden. Ich kann nur mit Peter reden. Sowas müssen wir glaube ich, über den offiziellen Weg beantragen. Ich hoffe sehr, dass die Zeit reicht. Ansonsten rede ich gerne mit dem Schulleiter!“ Flocke nickte eifrig, das hörte sich nach einem guten Plan an. Sie waren sich einig, dass ein Schulplatz nicht nur für ihre Zukunft gut wäre, sondern auch für die Gerichtsverhandlung. Immerhin musste sie beweisen, dass sie auf Sylt integriert war und verantwortlich für sich selber sorgen konnte.
„Und nun Kind, geh wieder zu den Jungs! Sie vermissen dich sicher und so ganz nüchtern bist du gerade auch nicht mehr oder?“ Gisela grinste sie amüsiert an. Sie freute sich für die drei. „Schlaft ihr heute hier?“ Flocke nickte.
Als sie die Treppe wieder hinunterstieg, zog sich ihr Herz zusammen. Wie düstere Schatten der Vergangenheit, griffen Emotionen nach ihr. Emotionen, von denen sie glaubte, sie hinter sich gelassen zu haben. Vorsichtig schritt sie die Stufen weiter. Sie stand im Vorraum vor der Küchenzeile und sah sich selbst, wie sie damals die Treppe runter stolperte, verweint, nach Luft schnappend. Wie sie halb blind vor Tränen ihre Klamotten in die Tasche stopfte. Sah, wie sie in ihrer Aufregung innehielt, ihren Schlüssel auf Thorres Tisch legte und plötzlich auf die Knie sackte und bitterlich weinte. Diese Verzweiflung! Dieser Schmerz! Das war der Tag, an dem Kati ihr klarmachen wollte, dass Cooper sie betrogen hatte. Sie war wie von Sinnen gewesen. Seit er sie in Lindau gefunden hatte und sie geflohen waren, kamen Stück für Stück schmerzhafte Ereignisse zurück. Nicht alle. Manche schubweise wie diese hier, Erinnerungen die sie komplett verdrängt hatte. Ihr Bauch krampfte sich zusammen. Niemals in ihrem Leben hatte sie so einen Schmerz verspürt. Den Schmerz des Verrats, den sie von Cooper angenommen hatte. Plötzlich wurde ihr klar, dass niemand auf der ganzen Welt sie so verletzen könnte, wie er. Trotz all der Innigkeit und der Liebe zwischen ihnen jagte ihr dieser Gedanke höllische Angst ein.
Als die Jungs inzwischen schon bei ihrem fünften Bier angekommen waren, gesellte sich Flocke wieder dazu. Sie erzählten sich Geschichten vom letzten Konzert, was Steve alles für Blödsinn angestellt hatte. Sie mussten so lachen, dass sie sich die Bäuche hielten. Liebevoll sah Flocke ihre Jungs an. Wie kam sie nur auf den blöden Gedanken, dass Cooper ihr jemals wehtun würde? Er strahlte sie an, lag lachend auf dem Bett und streckte die Arme nach ihr aus. Sie schmiss sich hinein und schmiegte sich an seine Brust.
Er sah sie nachdenklich an. Irgendetwas stimmte mit ihr nicht, etwas war gerade passiert. „Alles okay?“, fragte er besorgt. Flocke nickte in seinem Arm. Wie sollte sie ihm das erklären? Sie verstand ja selber nicht so recht, was da draußen in ihr vorgegangen war. Wäre es ratsam, auch bei ihm den Schmerz noch mal aufzureißen? War das nicht längst Vergangenheit und musste sie mit diesen seltsamen Attacken klarkommen?
Cooper betrachtete sie weiterhin prüfend. Er spürte, dass da etwas war, über das sie nicht reden wollte.
„Weißt du was, wir schicken Thorre jetzt ins Bett ...“ Er grinste seinen Freund an, der eifrig nickte, ihm zuzwinkerte und sich kaputtlachte.
„Ja, ja klar ... Thorre muss ins Bett ... geht nur Kinners. Geht nur, mir geht’s gut!“ Cooper richtete sich auf, zog Flocke hoch, nahm sie an der Hand und ging mit ihr in das Gästezimmer. Sie zogen sich aus und kuschelten sich unter die Decke. Cooper drehte sich ihr zu und blickte sie ernst an.
„Ist schon eine harte Sache, falls Thorre wirklich der Vater ist, oder?“ Flocke nickte und verzog betroffen den Mund. Das würde auf jeden Fall sein ganzes Leben grundlegend verändern. Sie hoffte sehr, dass sich das auflösen würde. Doch was war jetzt mit ihr und Cooper?
„Und wir? Das war ja schon ganz schön leichtsinnig bisher ... Kondome?“ Dieser Gedanke gefiel Flocke nicht wirklich, sie wollte es aber ansprechen. Zu genau wusste sie, was normalerweise geschah, wenn sie zusammen im Bett lagen, egal in welchem.
„Kondome?“ Cooper verzog entsetzt den Mund. „Boah, Babe! Dann spür ich dich ja gar nicht und dieses Gefummel vorher, da vergeht einem doch die ganze Lust, da ist nichts mehr mit spontan. Aber vielmehr genieße ich es, dich pur zu spüren, jede Faser, wenn ich langsam in dich eindringe, immer tiefer und wenn ich an den Stellen bleibe, die dir besonders viel Lust bereiten ...“, hauchte er, inzwischen erregt.
„Coop ... willst du mich gerade heiß machen? Das hat aber wenig mit Verhütung zu tun.“ Ihr wurde schwindlig bei seinen Worten, ihr Herz klopfte wie wild. Nichts wollte sie jetzt mehr, als genau das spüren, was er ausgesprochen hatte. Cooper ließ einen verzweifelten Schrei in das Kissen los, blickte sie von der Seite an, schüttelte den Kopf und biss sich auf die Lippe. Er atmete schwer, rang mit sich.
„Okay ... ich bin brav“, murmelte er in das Kissen, versuchte mehr sich selbst zu beruhigen. Flocke lachte laut los.
„Hör auf, mich auszulachen! Du weißt doch genau, dass ich dir nicht widerstehen kann ...!“ Kopfschüttelnd verdrehte er die Augen und kniete sich über sie. Energisch zog er sie im Bett zu sich und sie küssten sich leidenschaftlich. Er wollte sie, jetzt. Es war überhaupt nicht hilfreich, wie erregt sie war.
„Ich pass auf Babe, ich verspreche es dir ...“ Atemlos konnte er es nur noch hauchen, glaubte es selbst nicht. Die Gedanken rasten in seinem Kopf. Hatten die Verzweiflung seines Freundes in Erinnerung. Doch etwas übernahm seinen Körper, gegen das er sich nicht wehren konnte.
Ungeschrieben
Als Flocke die Arztpraxis verließ, war sie höchst verwirrt und fühlte sich plötzlich in all dem träumen um ihren Sex mit Cooper nicht mehr so leicht und frei. War das wirklich eine gute Idee gewesen, sich so dermaßen von der Lust mitreißen zu lassen? Welche Folgen das haben könnte!
Der Arzt hatte ihr einen Vortrag gehalten. Sich über das leichtsinnige Verhalten der jungen Leute aufgeregt, wie er es nannte. Zum ersten Mal hatte sie eine Untersuchung auf diesem grausigen Stuhl erlebt. Verletzlich lag sie, halb nackt, mit geöffneten Beinen auf dem Polster. Ein fremder Mann, auch wenn er Arzt war, hatte sie dort unten berührt, ihr etwas Kaltes und Monströses eingeführt. Drang in ihren intimsten Bereich ein. Das tat weh, sie hatte sich verkrampft. Er nahm ihr Blut ab, erzählte von einer neuen Krankheit namens Aids, die seit einigen Jahren bekannt war, an der die Betroffenen qualvoll starben. Zeigte ihr Bilder von abgemagerten, mit Flecken übersäten jungen Menschen. Die würde überwiegend Homosexuelle betreffen, hatte er betont. Aber es gäbe auch schon Patienten, bei denen häufige Partnerwechsel eine Rolle spielen würden. Das wäre bei ihr und Cooper nicht der Fall, versuchte sie ihm klar zu machen, doch er hatte nicht zugehört.
Plötzlich fiel ihr Thorre ein, oder eher Raphaela. Sie machte ja keinen Hehl daraus, dass sie viele Kerle vögelte. Was, wenn sie bereits krank war und Thorre angesteckt hatte? Der Arzt nannte noch etliche andere Krankheiten, die übertragen werden konnten. Das alles konnte und wollte Flocke sich nicht merken.
„Sie sind doch verantwortlich für ihre Zukunft!“ Hatte er sie ermahnt. Ja, das stimmte. Noch war diese ungeschrieben. Ihre Handlungen und Entscheidungen wären maßgeblich.
Sie erinnerte sich, dass Margarethe ihr einst erzählt hatte, dass im Krankenhaus, als Flocke geboren wurde, neben ihr eine Vierzehnjährige lag, die gerade ihr Kind bekommen hatte. Margarethe, damals auch erst zwanzig, schrie wohl bei der Geburt so, dass ihr der Arzt eine Ohrfeige gab und sie mit Lachgas betäubt hatte. Vermutlich wollte sie ihr damit Angst machen. Flocke war das Ergebnis eines One-Night-Stands auf einer Party. Dafür schämte sich Margarethe sehr, konnte die Details kaum aussprechen. Das war auch das einzige Gespräch über Sex, das sie jemals geführt hatten.
„Sex ist vom Teufel, Sina! Darüber reden wir nicht, das ist erst in der Ehe und nur zum Kinderkriegen eine Option für dich. Viel musst du darüber nicht wissen.“ Aufklärung erfolgte eher durch Freundinnen oder die Bravo. Doktor Sommer wurde von ihnen staunend und aufmerksam, wenn auch heimlich gelesen.
Plötzlich erstarrte Flocke, sie erschrak zutiefst. Was war denn mit dem Unaussprechlichen, mit der Vergewaltigung? Dieser Mann kam ihr nicht gerade gesund vor, was aber auch an seinem Alter gelegen haben könnte. Was war, wenn ...? Das würde der Bluttest zeigen. Sie zitterte, fühlte Panik in sich aufsteigen. Hätte er sie mit irgendetwas angesteckt, müsste sie Cooper die Wahrheit sagen. Denn wäre dann er nicht ebenso betroffen? Mit ihrem und vor allem seinem Leben spielen, das wollte sie auf keinen Fall! Doch auch eine Schwangerschaft jagte ihr eine Heidenangst ein. Sie erinnerte sich an eine Klassenkameradin, als sie in Lindau nach ihrer Rückkehr in das Elternhaus wieder in der Schule war. Ihren dicken Bauch hatte sie traurig vor sich hergetragen. Flocke tat das immer sehr leid, wie die anderen lästerten und sie mieden. Sie wäre doch eine Schlampe, wurde getuschelt. Als ob die Lästerer nicht auch Sex gehabt hätten! Vor allem die Jungs brüskierten sich darüber. War es nicht viel mehr beachtenswert, dass sie sich der Situation stellte und das Kind bekam? Ja, sie hatte schon gehört, dass man eine Schwangerschaft abbrechen konnte, eine Abtreibung durchführen lassen. Was auch immer das bedeuten sollte.
Sex war so überwältigend und rollte über einen hinweg wie eine gewaltige Woge, gegen die man sich kaum wehren konnte. Wie der Verstand dabei aussetzte! Aber war es nicht das, was es so berauschend machte? Sich fallen zu lassen, hinzugeben? Auf keinen Fall wollte sie das anders haben, wollte ihn spüren wie bisher, wann und wo auch immer. Das war ein maßgeblicher Teil ihrer Beziehung. Dadurch drückte sich ihre Liebe aus. Diese Freiheit war sie nicht bereit, aufzugeben.
Krampfhaft hielt sie die Packung der Pille in ihrer Hand fest, die ihr der Arzt mitgegeben hatte. Die Vernunft, die damit zusammenhing, fühlte sich richtig an.
Sie begab sich auf den Weg zu Robbies Haus. Die Jungs probten dort im Keller. Diese Ablenkung brauchte sie jetzt. In ihren Gehirnwindungen tummelten sich zu viele düstere und angstvolle Gedanken, zu viel Zeit um sie zuzulassen. Was Grübeln verursachen konnte, hatte sie in der Vergangenheit ja schon öfter erlebt.
Als sie sich dem Haus näherte, hörte sie den vertrauten Krach. Flocke lächelte. Gleich würde sie ihn wiedersehen. Das war doch verrückt! Nur einige Stunden waren sie getrennt gewesen und schon vermisste sie ihn?
Im Haus gegenüber am Fenster lehnte eine Frau mit Lockenwicklern, die sich ein Kissen unter die Arme gelegt hatte. Die kannte sie schon. Mit Vorliebe überwachte sie dort stundenlang die Umgebung und zeterte über den Krach im Wohnblock gegenüber. Kritisch musterte sie Flocke, die grinsend auf das Haus zuging. Irgendwas mit Krawall und Polizei schrie sie ihr hinterher. Flocke wollte aber nicht weiter darauf achten. War diese Frau nicht auch einmal jung gewesen? Warum keifte sie so frustriert und biestig? Niemals wollte Flocke so werden.
Bisher hatte sie noch niemand entdeckt. Die Jungs waren in die Musik vertieft. Probierten einige neue Griffe auf der E-Gitarre aus, stimmten den Bass ab, tobten sich am Schlagzeug aus, grölten und lachten. Cooper schnappte sich das Mikrofon. Das klang gut. Seine Stimme verursachte ein elektrisierendes Prickeln auf ihrer Haut. Und wie er sich dabei bewegte! Richtig kraftvoll und heiß.
Sie lehnte im Türrahmen und beobachtete das alles eine ganze Weile, als sie von jemandem angerempelt wurde. Raphaela! Wie immer ging sie vor wie ein Bulldozer, machte sich keinen Kopf, ob sie Flocke durch ihren Stoß verletzt hatte, grüßte nicht einmal.
Cooper sah auf, entdeckte Raphaela und dann erst Flocke, die im Halbdunkel stand. Er unterbrach sein Gebrüll und sah sie strahlend an.
„Ah! Flocke! Jetzt kann sich Coop gleich nicht mehr konzentrieren ...“, rief Robbie lachend. Die anderen setzten mit ein, gaben anzügliche Laute von sich. Cooper schüttelte grinsend mit dem Kopf und wandte sich wieder dem Mikrofon zu.
Steve sah sich eine ganze Weile an, wie Cooper einfach nicht mehr reinkam. Offensichtlich irritierte Flocke ihn. Er konnte sich nicht so gehen lassen wie zuvor, die doch recht aggressiven und teils sexuellen Texte in das Mikrofon zu brüllen. Steve stellte die E-Gitarre in den Ständer, nahm Flocke an der Hand und führte sie neben das Schlagzeug. Er ergriff den Bass und legte ihr den Gurt der um. Flocke sah ihn erstaunt an.
„Einfach drauf los, Flocke! Probier dich aus. Falsch gibt es nicht ... Wir lernen ja alle noch!“ Lachend und sie mit heftigem Nicken ermunternd, schnappte er sich seine Gitarre. Jetzt würde es wieder laufen, wenn Cooper sie nicht im Fokus hatte. Flocke ließ sich von der Musik erfassen. Probierte vorsichtig, die Saiten des durchdringenden Basses anzuschlagen. Innerlich jauchzte sie. Das fühlte sich großartig an. Sie war Teil einer Punkband!
Raphaela saß auf der Holzbank und betrachtete die Gruppe genau. Flocke nahm wahr, wie sie begeistert Cooper beobachtete, jeder seiner Bewegungen mit den Augen folgte. Oh nein, nicht nocheine! Flocke dachte daran, wie er stets abfällig von ihr sprach, sich regelrecht schüttelte. An ihr wäre nichts Sympathisches, sie würde ja nicht einmal lachen.
Raphaela drehte an ihren Piercings im Gesicht und leerte ihr Bier. Sie rauchte eine nach der anderen. Flocke wunderte sich. Was wollte sie denn hier? Mit Thorre schnacken? Offensichtlich nicht. Er war heute mit Gisela unterwegs. Weder fragte sie nach ihm, noch schien sie ihn zu suchen. Oder war sie wieder auf Opfer-Jagd, wählte sich ihren nächsten Liebhaber aus? Zuzutrauen war es ihr. Anscheinend tangierte sie die Schwangerschaft nicht.
Ein lautes Pochen an der Kellertür ließ sie aufhorchen. Als Robbie nachsah, hörte Flocke ihn Diskussion mit Nachbarn führen. Versöhnlich lenkte er ein und stimmte dem Ende der Probe zu. Es war schon spät. Sie verpackten die Musikinstrumente und begaben sich alle nach draußen. Cooper zog Flocke dicht an sich heran. Zu viele Stunden hatte er sie nicht mehr geküsst, wollte sie jetzt genießen.
„Was machst du noch?“, fragte Raphaela, die neben ihnen aufgetaucht war. Sie fixierte Cooper unternehmungslustig. Einige Momente blickte er sie schweigend an. Er wusste nicht so recht, was er sagen sollte. Sah sie denn nicht, dass er jetzt gerade mit seiner Flocke beschäftigt war und nicht vorgehabt hatte, das zu unterbrechen?
„Vögeln ...“ Er grinste Raphaela frech an, legte Flocke den Arm um die Schultern und verabschiedete sich von den anderen. Cooper lachte laut in die Nacht, als sie die Straße entlangliefen und drückte Flocke fester. Was für eine geile Probe! Wie stolz er auf sie war. Das hatte Spaß gemacht, auch sie gab richtig Gas. Was Raphaela dort wollte, verstand er nicht. Sie war wirklich eine unangenehme Person. Er hoffte so sehr, dass sich das Thema mit der Schwangerschaft auflösen würde. Er kannte seinen Freund. Auf jeden Fall würde er Verantwortung übernehmen. Doch wie konnte er sich sicher sein, dass er der Vater war? Bei Torres großem Herzen beschlich ihn die Sorge, dass er sich verarschen lassen würde. Raphaela hatte keinen weiteren Kontakt mit Thorre gesucht, ging nicht in die Gespräche, die er forderte. Das war Cooper alles viel zu verrückt. Ja, er machte sich schon Gedanken. Was, wenn Flocke schwanger werden würde? Ein absolutes Unding! Das würde ihm gerade noch fehlen in der jetzigen Situation. Sie waren ja so jung. An Kinder wollte er auf keinen Fall denken. Das war viel, viel später dran – vielleicht. Er musste lächeln. Ein schöner Gedanke, irgendwann mit ihr die Zukunft zu planen. Doch ein Schritt nach dem anderen. Wie wäre es wohl, mit ihr eines Tages zusammenzuleben, nicht im Haus der Eltern, sondern in einer ganz eigenen Bude? Irgendwann, aber nicht jetzt.
Tag der Abrechnung
Cooper schien ihr an diesem Morgen so nervös, wie sie ihn bisher kaum erlebt hatte. Flocke hatte sich für diesen Termin etwas Harmloses angezogen, denn sie wollte einen positiven Eindruck hinterlassen. Es wäre nicht ratsam, dort in Punkerkluft aufzutauchen. Der erste Gerichtstermin würde nun in Flensburg stattfinden. Die Erinnerungen an diese Stadt bescherten ihr einen frostigen Schauer. Niemals würde sie die Gefängniszelle vergessen und ihre erste Begegnung mit Margarethe nach all den Monaten. Peter Janson versicherte ihr hoch und heilig, dass ihre Mutter nicht zu diesem Termin erscheinen würde. Der Richter beabsichtigte mit ihr alleine zu reden, samt ihm und dem Anwalt. Er wollte Flocke gerne zunächst persönlich kennenlernen. Das klang nicht schlecht. Gisela hatte angeboten mitzufahren, ihr die Hand zu halten, nicht von ihrer Seite zu weichen. Jetzt wurde es ernst. Es ging los.
Beruhigend und liebevoll sah sie Cooper an, wie er in seinem Zimmer hin und her tigerte, nicht wusste, wie er sich verhalten sollte. Würden sie ihm Flocke jetzt wegnehmen? Sein Blick war leidend, fast meinte sie, Tränen in seinen Augen zu sehen. Sie glänzten verdächtig. Wie er es hasste, sie nicht begleiten zu können. Noch immer hatten sie keine Ahnung, ob Margarethe die Anzeige gegen ihn wegen Verführung Minderjähriger und Entführung aufrechterhalten würde. Aus diesem Grund achteten sie penibel darauf, dass außer Peter Janson niemand Coopers Identität kannte.
Flocke ging wortlos auf ihn zu und schloss ihn sanft in die Arme. Zitterte er? Er küsste sie, innig und bittend, als wollte er ihr damit das Versprechen der Rückkehr abringen. Die Türglocke zerriss die Stille. Gisela war da. Als er am Fenster sah, dass das Auto losfuhr, griff er sich verzweifelt in die Haare. Er musste dringend eine Möglichkeit finden sich zu beruhigen, er würde die nächsten Stunden sonst komplett durchdrehen. Wieder mal eine Situation, die er nicht unter Kontrolle hatte.
Grübelnd wandte er sich um, suchte im Regal den Rest Gras und drehte sich einen Joint. Damit begab er sich auf die Terrasse, lief hinunter zum Wasser und setzte sich in den Sand. Der Blick in die Ferne trug seine Gedanken fort. Das Rauschen der Wellen beruhigte ihn. Er erinnerte sich, wie Flocke einst hier gesessen war, mit sich ringend und der Entscheidung, wieder zu ihren Eltern zurückzugehen, um ihn zu schützen. Das war damals ein grauenvoller Moment gewesen. Wie sehr schämte er sich immer noch, dass er ihr gegenüber so ausgerastet war. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Wie stürmisch und sehnsüchtig sie sich nach dem Streit geliebt hatten. Würde er sie jemals wieder berühren? Ihre Nähe spüren? Oder sie erneut eine Entscheidung treffen, um ihn zu schützen? Die Angst schüttelte ihn.
Das Gebäude des Flensburger Gerichts wirkte auf Flocke wie ein bedrohliches Tor in eine ungewisse Welt. Würde es sie verschlingen? Es war alt und ragte monströs in die Höhe. In der Mitte befand sich eine Art Turm, umgeben von weiterem braunem Gemäuer, mit etlichen weißen Flügelfenstern. Dabei schien es wie eine Burgmauer. Dahinter befand sich sicherlich ein Graben mit Krokodilen. Die Uhr im oberen Teil des Turms mahnte zur Eile, es war nicht klug, zu spät zu kommen. Die Gänge wirkten grau und steril, alles war auf Hochglanz poliert, man wagte kaum zu atmen. In den endlos erscheinenden Fluren fanden sie etliche Türen, suchten den Saal, der ihnen genannt wurde. Neben einer Tür hing ein Schild. Ihr Name war dort aufgeführt. Mertens gegen Mertens,Familiengericht. Flocke sah sich ängstlich um, erwartete jederzeit Margarethe. Zu genau kannte sie ihre Spontanität, auch wenn sie zu diesem Termin nicht geladen war.
Eine Frau mittleren Alters, mit hoch geschlossener blauer Bluse und grauer Bundfaltenhose trat aus dem Raum und nickte ihnen ernst zu, forderte sie auf, ihr zu folgen. Flocke betrat den großen Saal mit einem erhöhten Podest, an dem der Richter saß, wie ein König, der sein Urteil sprechen sollte. Auf beiden Seiten waren Tische. Peter Janson und der Anwalt waren bereits da und sahen Flocke und Gisela entgegen. Die Dame wies ihnen die noch freien Plätze an dem rechten Tisch zu. Mit klopfendem Herzen und angehaltenem Atem blickte sie erwartungsvoll den Richter an. Er war in die Unterlagen vertieft, die vor ihm lagen, blätterte die Seiten kopfschüttelnd um. Sein Gesichtsausdruck verhieß nichts Gutes.
„Sie sind ... Sina Mertens?“ Er blickte über seine Brille hinweg, die ihm auf der Nasenspitze saß und starrte Flocke an.
Sie nickte.
„Bitte sprechen Sie laut und deutlich, junge Frau! Ich brauche eine klare Aussage von Ihnen!“, betonte er streng. Flocke zuckte zusammen, bestätigte ihren Namen, ihren ihr fremden Namen, ihren alten Namen. Der Richter wandte sich Peter Janson und dem Anwalt zu, stellte einige juristische Fragen und ließ sich über den Sachverhalt aufklären. Sein Blick blieb eisern und ernst. Gisela hielt unter dem Tisch Flockes Hand und drückte sie fest.
Der Richter verzog den Mund, drehte sich wieder Flocke zu und nahm seine Brille ab.