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Düsternis durchbrochen von Himmelsnebel, weist den Weg für den letzten Gang. Sei achtsam, blicke hinter den Schein, bevor sie dich verschlingen und du ihn erfüllst, den Pakt. Ein Pakt, abgerungen durch List. Finn erwacht in absoluter Dunkelheit, ohne Erinnerung und voller Zweifel an seinem Verstand. Die fremdartige Welt um ihn herum fühlt sich unwirklich an, bis er auf Peter trifft, der ihm die erschütternde Wahrheit eröffnet: Finn ist gestorben. Doch das Mysterium, das diese Welt regiert, ist mehr als nur eine finstere Erscheinung. Es verbirgt eine uralte Macht, die sich still erhebt. Während die Grenzen zwischen Leben und Tod verschwimmen, offenbart sich eine Verschwörung, deren Fäden bis in die Welt der Lebenden reichen. Wird Finn die Wahrheit enthüllen, bevor es zu spät ist? Der Wettlauf gegen die Zeit beginnt, um das Rätsel der Schatten zu lösen und eine uralte Bedrohung aufzuhalten. Ein fesselndes Abenteuer über Liebe, Verlust und die geheimnisvolle Macht zwischen den Welten.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Echo
aus der
Schattenwelt
Der uralte Pakt
Tanja Neutakt
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar. Erstausgabe © 2025 Tanja Neutakt c/o IP Management #38147, Ludwig-Erhard-Str. 18, 20459 Hamburgwww.tanjaneutakt.de/[email protected] Coverdesign: Dream Design- Cover and Art Lektorat: Saskia Lutzenberger Veröffentlicht über tolino Media
ISBN: 978 3759 261519
Echo
aus der
Schattenwelt
Der uralte Pakt
Tanja Neutakt
All jenen,
die vorausgegangen sind.
Inhaltsverzeichnis
Prolog6
Blind7
Kein Bier19
Das Verlies30
Magier41
Erkenntnisse53
Revolution61
Trostpflaster71
Labyrinth80
Genießen89
Gefühlt97
Hoffnung107
Vertrau dir!116
Vergessen125
Verarscht134
Dimensionszeug142
Flucht150
Vergeben163
Der Schleier173
Heroin184
Ausweg193
Der Gewaltakt201
Es hat begonnen209
Die Säuberung219
Besonders231
Sehnsucht239
Geisterhand248
Völlig umsonst255
Bro-Geheimnisse265
Der uralte Pakt275
Eine neue Ära282
Epilog293
Prolog
Düsternis
durchbrochen von Himmelsnebel,
weist den Weg für den letzten Gang.
Sei achtsam,
blicke hinter den Schein,
bevor sie dich verschlingen
und du ihn erfüllst, den Pakt.
Ein Pakt,
abgerungen durch List.
Blind
Tiefe Düsternis umgab ihn. Er tastete panisch nach seinen Augen. War er blind? Aber er erkannte doch die Schwärze ohne jegliches Licht. Es war eisig, die Kälte kroch über seine Haut und ließ ihn frösteln. Ein dumpfer Schmerz pochte in seinem Nacken. Sein rechtes Bein brannte wie Feuer. Zitternd zog er es an sich, glitt mit seinen Fingern darüber, stellte jedoch keine Verletzung fest. Langsam richtete er sich zum Sitzen auf und rieb erneut die Augen. Noch immer war alles in Dunkelheit gehüllt. Kein Laut, kein Licht, nur diese erdrückende Finsternis. Was war geschehen? Verzweifelt suchte er in seinen Erinnerungen, doch fand nur endloses Nichts. Eine gähnende Leere, die ihm das Herz zusammenschnürte.
Zaghaft fuhr er mit den Fingerspitzen über den Boden. Er war rau und uneben, wie zerklüftetes Gestein. War das Asphalt? Er tastete weiter. Kühle Feuchtigkeit setzte sich in seinen Handflächen fest. Sein Herz raste, und der Gedanke, in dieser ewigen Dunkelheit zu verharren, raubte ihm den Atem. Er musste herausfinden, wo er sich befand. Mit zitternden Armen stemmte er sich mühsam in die Höhe. Vorsichtig ließ er sein Gewicht auf das brennende Bein sinken. Es gehorchte ihm. Dankbar entließ er die angehaltene Luft. Mit jedem Schritt wurde der Schmerz dumpfer, rückte in den Hintergrund. Er richtete seinen Blick geradeaus und meinte, fern am Horizont ein Flimmern wahrzunehmen. Endlich etwas, das seine Augen erfassen konnten. Eine Welle aus Erleichterung und Neugierde durchströmte ihn. Aufgeregt versuchte er, mehr zu erkennen. Er stutzte. Das Licht flackerte auf, wurde heller und verschwand erneut. Abermals umgriff ihn Düsternis. Er presste eine Hand an seine wild hämmernde Brust. Wo war das Licht hin?
Ein Gefühl von Hilflosigkeit umklammerte ihn. Seine Gedanken rasten. Sie suchten verzweifelt nach irgendeinem Anhaltspunkt. Er kam ihm vor, als wäre ihm alles, was er jemals gewusst hatte, brutal entrissen worden. Warum nur erinnerte er sich nicht? Und wo verdammt war er hier? Wieso schien kein Licht, nicht mal den Mond konnte er erkennen, keine Sterne, nichts. Der Himmel war ganz sicher bewölkt, tiefschwarz bewölkt. Wenn das unter ihm Asphalt war, müsste er dann nicht in der Stille der Nacht die Schritte seiner Stiefel hören, die sich fest um seine Füße schmiegten? Doch da war nichts, kein Widerhall in seinen Ohren, außer dem pulsierenden Rauschen des Blutes, angetrieben von seinem aufgeregten Herzen. Ein unheimliches Gefühl beschlich ihn. Träumte er? War das einer dieser realen Geschichten, die einem den Schlaf raubten?
Plötzlich stieß sein Stiefel gegen etwas. Ein dumpfes Poltern durchbrach die erdrückende Stille. Er lauschte. Das klang wie ein Stein. Endlich Geräusche! Sein nächster Schritt verlor die Haftung, ein leises Keuchen entwich seinen Lippen, als er stolperte. Verbissen konzentrierte er sich auf jede Bewegung, hielt den Blick gesenkt und versuchte die Umrisse seiner Stiefel zu erahnen. Das war doch irre! Genervt rieb er sich über das Gesicht. Er tastete seinen Oberkörper ab und durchsuchte die Taschen der Lederjacke. Kein Inhalt. Wie lange lief er schon diesen seltsamen Weg entlang? Kam er den Lichtern denn immer noch nicht näher? Oder waren sie endgültig erloschen? Diese Straße führte sicher irgendwo hin, vielleicht in eine Stadt. Er hoffte darauf, dort Hilfe zu erhalten, sich aus diesem Albtraum befreien zu können. Inzwischen spürte er unter seinen Sohlen keine Steine mehr und beschleunigte seinen Schritt.
Weiße Nebelschwaden schoben sich ihm entgegen. Er stutzte und stoppte seinen Lauf. Geisterhaft tanzende Silhouetten, die sich lautlos auf ihn zubewegten. Schwebende Gestalten, die nur knapp den Boden berührten. Gespenstisch, dachte er sich. Er streckte die Hand aus, versuchte das helle Gebilde zu berühren und traute seinen Augen nicht. Erst durch den Nebel sah er seine eigenen Finger. Leuchtete etwa dieser Dunst selbst? Er schüttelte den Kopf und machte sich einen Spaß daraus, gegen die Erscheinung zu pusten. Es verhielt sich wie Rauch, oder wie Nebelschwaden. Aber solche hatte er noch nie gesehen.
Überrascht nahm er in der Ferne etwas wahr. Lief dort hinten, umringt von dem lichten Nebel nicht jemand? Eine Person kam ihm entgegen, spazierte am gegenüberliegenden Rand des Weges, den er nun schemenhaft erkennen konnte. Wie paralysiert betrachtete er sie. Eine große, schlanke Erscheinung, eine Frau mit langen, blonden Locken. Sie hatte den Blick gesenkt, wirkte traurig. Sein Herz klopfte wild. Doch plötzlich löste sich der Nebel um sie herum auf. Die Dunkelheit ergriff erneut seine Wahrnehmung.
»Hallo?«, rief er in die Stille. Waren die schwebenden Lichter verschwunden und er entdeckte die Frau deshalb nicht mehr? Lief sie nun unbemerkt an ihm vorbei und würde ihn auch nicht sehen? Er lauschte wieder, hörte jedoch nichts, keinen Ton. Das war verrückt. Er müsste doch ihre Schritte wahrnehmen, so wie vorhin den Stein, der weg gekullert war. Er stapfte mit seinen Stiefeln auf und es erklang das erwartete Geräusch. Na, immerhin das. Warum hatte sein Herz so gerast, als er sie sah? Wieso spürte er diese Freude, vermischt mit dem Schmerz des Verlustes? Tiefe Trauer erfasste ihn und trieb ihm Tränen in die Augen. Verwirrt schüttelte er mit dem Kopf. Was waren das denn für Empfindungen? Sein Bauch krampfte sich zusammen. So langsam wurde er ärgerlich. Er spürte, brennende Ungeduld in ihm aufstieg, dieser Situation zu entkommen, und lief schnellen Schrittes weiter.
»Verdammt, ich will jetzt endlich da vorne ankommen«, murmelte er verbissen und starrte in die Richtung, in der er die Lichter vermutete. Er stutzte. Wirkte der Horizont nicht mehr ganz so schwarz? War er dem ersehnten Ort bereits viel näher, als er erwartet hatte? Voller Hoffnung eilte er weiter.
Vor ihm entfaltete sich der Anblick eines kleinen Ortes, der sich in einem Tal zu seinen Füßen offenbarte. Er stoppte abrupt. Erst jetzt wurde ihm klar, dass er auf einer Anhöhe stand. Ganz langsam gewöhnten sich seine Augen an die Helligkeit, während er den Hang hinab lief.
Verwundert betrachtete er die Umgebung. Nichts hier kam ihm bekannt vor. Der Schotterweg, auf dem er dem Ortskern entgegenlief, führte ihn in enge, verwinkelte Gassen, vorbei an Gebäuden, die ihre besten Tage lange hinter sich hatten. Wie aus vergangenen Zeiten entsprungen wirkten sie. Alt und farblos, zerbrochenes Gemäuer, dreckig und schäbig. Ein struppiger Hund raste mit lautem Gebell aus einer Gasse. Er zuckte zusammen und blieb wie angewurzelt stehen. Für einen Moment wusste er nicht, ob der Köter auf ihn losgehen würde, doch das Tier rannte weiter und verschwand genauso schnell, wie es aufgetaucht war.
Er stieß die angehaltene Luft wieder aus und entdeckte auf einer Holzbank einen alten Mann in einem langen grau-braunen Umhang, den er fest um sich gewickelt hielt. Ein flaues Gefühl breitete sich in seinem Magen aus, ein unangenehmes Ziehen, das ihn innehalten ließ. Der Greis beobachtete ihn und schmunzelte. Seine ledrige Haut legte sich dabei in tiefe Furchen. Er zog die Brauen in die Höhe, sodass sich seine Stirnfalten bis in die Halbglatze fortsetzten, die nur noch von einem leichten weißen Kranz umgeben war, der ihm lang bis über die Ohren hing.
»Hey Väterchen, sag mal, wo bin ich hier gelandet?«, sprach er ihn freundlich an.
»Wie ist dein Name?«, fragte der Greis mit kratziger Stimme. So sehr er auch in sich suchte, sein Name fiel ihm nicht ein. Er lachte laut auf und wunderte sich über den Nachhall, der erklang.
»Ich glaub, ich hatte da hinten auf der Straße einen Unfall und hab mir den Kopf gestoßen. Ich erinnere mich nicht. Nicht wo ich hin wollte, nicht was passiert ist, und nun auch nicht wie ich heiße?« Verwirrt griff er sich an die Stirn. »Und was verflucht war das für eine Dunkelheit? Was für ein beschissenes Wetter, bei dem man nicht mal den Mond und die Sterne sieht. Ich kann froh sein, dass ich diesen Ort überhaupt gefunden habe.«
»Kennst du mich?«, fragte der Alte.
»Wie sollte ich? Du kommst mir überhaupt nicht bekannt vor. Aber wie ich bereits sagte, hab ich vermutlich eine Gehirnerschütterung. Ich muss dringend telefonieren und herausfinden, wo ich bin.«
»So, so. Telefonieren. Weißt du denn, wen du anrufen möchtest?« Das Lächeln des Mannes war zu breit, die Art, wie seine Augen ihn unverwandt musterten, zu intensiv. »Aber immer eins nach dem anderen«, fuhr er fort, während er den Stoff des Umhangs glatt strich. »Nun verrate ich dir erst mal meinen Namen. Ich bin Aphram.« Der Alte richtete sich auf.
Erschrocken wich er vor ihm zurück. Er hatte nicht damit gerechnet, dass er so groß wäre. Eingesunken und klein wirkte er auf dieser Holzbank, wie ein altes Väterchen. Doch nun überragte er ihn um gut zwei Köpfe, wickelte den Umhang fester um seinen dürren Körper und lockte ihn mit seinem Blick, ihm zu folgen.
Der Wind wehte leise durch die engen Gassen, doch die Atmosphäre blieb seltsam bedrückend, wie die stumme Frage einer Entscheidung. Instinktiv hielt er Abstand, die Augen weiterhin auf den Alten gerichtet, der ihn erwartungsvoll anstarrte. Aphram drehte sich um, lief voraus und führte ihn durch etliche verwinkelte Gassen, vorbei an Kneipen aus denen aggressives Gegröle klang und hohen Gebäuden aus altem Gemäuer, die nach oben hin kein Ende zu nehmen schienen. Die Verwirrung in ihm nahm zu. Das hier war ganz sicher ein Traum. Ein Albtraum, aus dem er sich nicht befreien konnte. Doch irgendwann müsste er ja aufwachen.
Vor den geöffneten Pforten einer großen Scheune stoppte Aphram. Ein weites, niedriges Gebäude, ausgestattet mit Feldbetten und bevölkert mit zahllosen Menschen. Skeptisch zog er die Augenbrauen zusammen.
»Woher kommen diese Menschenmassen? Ist etwas geschehen? Eine Naturkatastrophe? Ist deswegen der Himmel so schwarz, ohne die üblichen Lichter der Nacht? Doch was verdunkelt ihn so dermaßen, dass der Mond und die Sterne verschwunden sind?«
»Du denkst zu viel«, raunte Aphram ihm zu. »Erklärungen wirst du nicht finden, du musst dich an deinen Namen erinnern, sonst kommst du nicht weiter.« Offensichtlich sah er ihm an, dass er sich auf all das keinen Reim machen konnte. Aphram wandte sich ab und verschwand schneller, als er es ihm zugetraut hätte. Erschrocken sah er ihm nach. Warum ließ er ihn allein? Wollte er ihm nicht ein Telefon zeigen? Doch hatte er nicht recht? Wen könnte er denn damit anrufen, wenn er sich nicht erinnerte?
Er schlenderte durch die Halle und betrachtete die Menschen. Manche wirkten verwirrt wie er und starrten vor sich hin. Jeder schien mit sich selbst beschäftigt zu sein, niemand unterhielt sich. Eine Frau saß auf einer der Liegen, verbarg ihr Gesicht mit den Händen, die Schultern bebten.
Sein Name. Er suchte in seinem Kopf, doch es herrschte weiterhin Leere. Erschöpft legte er sich auf die Pritsche ab und versuchte, sich zu entspannen. Vielleicht würde das helfen. Warum sollte sein Name so wichtig sein? Würde ihm dann einfallen, wen er anrufen könnte? Ja, das schien ihm logisch, genau das hatte Aphram sicher gemeint. Er schloss die Lider und ließ die letzten Stunden Revue passieren. Was war das für ein leuchtender Nebel gewesen? Und diese Frau ... Er lächelte. Ein warmes Gefühl durchfloss seinen Körper. Doch lief sie nicht genau in die Dunkelheit, von diesem Ort weg? War sie umgekehrt und er würde sie hier finden? Ihre Erscheinung, wie sie sich bewegte und diese wilde Mähne ... An irgendetwas erinnerte ihn das. Blonde, lockige Haare auf einem Kissen. Dieses Bild blitzte in ihm auf, er stutzte und ermahnte sich zur Konzentration. An sie zu denken, würde ihm nicht weiterhelfen.
»Na Alter, bist du am Grübeln, versuchst du dich zu erinnern?« Ein junger Mann kam auf ihn zu und setzte sich auf die Liege ihm gegenüber. Er richtete sich auf. Der fremde Kerl sah lustig aus, hatte blaue Haare, trug schwarze Klamotten und schwere Stiefel, wie er. »So wie alle hier«, fuhr er fort.
»Was meinst du?« Verwundert sah er ihn an. »Denkst du ernsthaft, dass sämtliche Leute hier nicht mehr wissen, wie sie heißen?«
»Ich schon! Bin einen Schritt weiter, mein Name ist Peter«, verkündete er freudig, als hätte diese Erinnerung ihm eine große Last von den Schultern genommen. »Und du? Denk nicht so viel. Horch in dich rein, da ist er!«
»Ich erinnere mich an einen Klang, an einen Spitznamen ... er liegt mir auf der Zunge.«
»Kein Spitzname. Deinen wahren Namen, dann kommen auch die Erinnerungen. Fühl ihn!«, riet Peter.
Fühlen? Was war das denn für ein Bullshit? Doch inzwischen war er für jede Idee dankbar. Er setzte sich im Schneidersitz auf die Liege und schloss die Augen. Angestrengt durchforstete er seinen Kopf. Das war falsch, ganz klar. In seinen Gehirnwindungen steckten doch keine Empfindungen! Er dachte an das seltsame Gefühl, an diese Wärme, die er vorhin empfunden hatte, als er sich an sie erinnerte. Das spürte er im Herzen, nicht in seinem Kopf. Vermutlich war das der Ort, an dem er suchen musste.
Überrascht riss er die Augen auf und starrte Peter an.
»Da war was! Aber das fühlte sich beschissen an. Ich glaube, da war ein Mann, der mich gerufen hat. Ich hab ihn angebrüllt, dass er mich so nicht nennen soll.«
»Ha ha! Ja klar. Auch Streit und Ärger sind Gefühle. Wie lautet der Name?«, ermunterte ihn Peter mit strahlenden Augen.
»Ich bin mir nicht sicher, er war kurz.«
»Das hört sich für mich so an, als hättest du schon sehr früh in der Kindheit einen Spitznamen angenommen und versucht, deinen wahren Namen zu verdrängen.«
»Warte mal ... Tim? Nein, das war es nicht, aber auf jeden Fall irgendwas mit i ... und n oder m. Dieser Klang! Er sprach ihn so verächtlich aus, mit einem Pfeifen am Anfang.« Genervt fuhr er sich durch die Haare. Das war doch zum aus der Haut fahren. »F... Finn?«, flüsterte er. »Finn?«, sagte er lauter, mehr zu sich selbst, um den Klang zu erforschen. »Finn! Kann das sein?« Plötzlich blitzten Stimmen in ihm auf, er vernahm, wie dieser Name ständig ermahnend benutzt wurde. »Ich erinnere mich an Fetzen. Nichts Gutes, aber das sind definitiv Erinnerungen.«
»Na, Bravo! Willkommen im Reich der Wissenden.«
»Und nun«, rief Finn atemlos. »Nun müsste mir doch einfallen, wen ich anrufen kann, damit ich nach Hause komme!«
»Oh Alter.« Peter sah ihn betroffen an. »Du hast es noch nicht gerafft, oder? Du bist gestorben, Mann!«
Er hörte seine Worte und starrte ihn ungläubig an. »Ach komm. Verarsch mich nicht, nur weil ich mich nicht mehr erinnere. Das ist nicht lustig!«
Doch Peter schüttelte nur traurig den Kopf. Sein Blick wirkte klar und offen, keine Lüge konnte er darin entdecken. Nicht ein schelmisches Aufflackern. Er wurde nicht verarscht.
Kein Bier
Ein Schauer durchfuhr ihn, bevor er richtig wach war. Mit vernebeltem Blick tastete er nach seiner Lederjacke, die er sich über die Beine geworfen hatte. Die Stiefel trug er immer noch. Doch der Schlaf war nur eine kurze, trügerische Flucht gewesen. Die grausame Wahrheit, die Peter ihm eröffnet hatte, kehrte mit voller Wucht zurück. Er konnte nicht tot sein. Niemals! Er spürte doch seinen Körper. Er atmete, hörte seine Stimme. Tod war nur tot, da gab es nichts mehr, das Leben endete. Man wurde im Boden verscharrt und das war es dann. Er starrte an die Decke dieser seltsamen Scheune und hoffte für einen flüchtigen Moment, dass es nur ein böser Traum gewesen war. Aber nein. Kein Albtraum, aus dem er einfach erwachen könnte. Du bist tot. Die Worte brannten in seinem Kopf, bohrten sich wie eine Klinge tief in seine Seele. Ein bitteres Lachen stieg in seiner Kehle auf.
Er sah sich um. Gedämpftes Licht fiel in die Scheune. Einen mit dichten Wolken verhangenen Himmel erkannte er durch verdreckte Scheiben. Um ihn herum bewegten sich große Gestalten, ebenso in lange Umhänge gekleidet, wie Aphram. Sie schritten durch den Raum und forderten diejenigen, die sich an ihren Namen erinnerten auf, ihnen zu folgen. Ihre Stimmen erschallten wie ein unheilvolles Echo durch das karge Gebäude.
An diesem Ort schien der wahre Name, den einem die Eltern gaben, eine Macht zu haben, die er nicht verstand. Er setzte sich auf, schnappte seine Jacke und begab sich zu dem Menschenstrom, der dem Aufruf folgte. Weiter vorne entdeckte er Peter und bahnte sich seinen Weg durch die langsam voranschreitenden Menschen. Eine bleierne Schwere lag in diesem Raum. Hatten auch sie gerade erst erfahren, was geschehen war?
»Hey! Wenn ich schon tot bin, will ich jetzt aber gut frühstücken.« Finn grinste gequält.
»Frühstück?« Peter verfiel in lautes Lachen. »Frühstück ist nicht mehr. Du musst nicht essen und nicht trinken. Blöderweise schmeckst du auch nichts, oder eben anders.«
»Was? Das ist jetzt aber nicht dein Ernst!« Prüfend betrachtete er ihn, rechnete schon wieder damit, dass er ihn veräppelte. Doch Peter schüttelte genervt den Kopf.
»Und was ist mit Bier?«
»Kein Bier! Ich hab es ausprobiert. In den komischen Kneipen hier gibt es Alkohol, aber der schmeckt wie Pisse und es dröhnt auch nicht.« Mit einem Seitenblick auf Finn prustete er los, als er dessen geschockten Gesichtsausdruck bemerkte.
Finn blähte gestresst die Lippen auf und sah sich noch einmal in dem weiten Raum um. Wo war die Frau? Während sie sich auf das Ende der Scheune zubewegten, wurden sie in einen Tunnel weitergeleitet, der Finn zuvor nicht aufgefallen war. Dieser stand in seltsamem Kontrast zu dem einfachen Gebäude. Das Licht aus der Scheune hinter ihnen spiegelte sich auf seiner Oberfläche, die wie schwarzer, polierter Marmor wirkte. Finn starrte überrascht auf die Wände, die so glatt waren, dass die Reflexion der Lichtstrahlen wie Wasser aussah, das sich in endlosen Wellen darüber ergoss. Der lange Gang war kühl und still und das leise Echo verstärkte die unwirkliche Atmosphäre.
Die großen Typen in ihren Kapuzenumhängen, die auf Finn wie riesige Mönche wirkten, schienen ihm wie Wegweiser. Jeder seiner Schritte, jede kleine Bewegung wurde von ihren starren Blicken verfolgt, als ob sie seine Gedanken erforschen wollten. Ihre Gesichter blieben dabei ausdruckslos, nichts davon schien eine Bedeutung für sie zu haben. In den Händen hielten sie Geräte, die an Detektoren erinnerten, mit denen sie systematisch jeden Einzelnen abscannten, der das Ende des Tunnels erreichte.
Finn trat vor und spürte, wie ein kalter Schauer über seinen Rücken lief. Der große Kerl stutzte und betrachtete verwundert den Bildschirm auf dem Gehäuse. Er scannte ihn nochmals. Finn grinste hämisch. Vermutlich war er gar nicht tot, sondern lag nur im Koma und würde gleich wieder zurückgeschickt werden. Doch der Riese fragte nur monoton nach seinem Namen, den Finn zögernd nannte. Ein grünes Licht erleuchtete den kleinen Bildschirm auf dem Scanner.
Er durfte passieren und gelangte an eine Art milchig-weiße Wand, die den Blick auf das, was dahinter lag, verbarg. Es war, als würde die Welt auf der anderen Seite in einem geheimnisvollen Schleier verschwinden. Finn streckte seine Hände aus und strich vorsichtig über die Oberfläche, die sich kalt, wie eine gelartige Masse anfühlte. Er suchte nach einem Durchgang oder einer Öffnung, doch da war nichts. Plötzlich spürte er eine Hand an seinem Arm. Er zuckte zusammen. Eine ältere Frau zog ihn mit einem kräftigen Ruck zu sich.
»Einfach durchgehen, mein Junge. Ich kenne mich hier aus.« Finn blickte sie verblüfft an. Ihr Griff war erstaunlich fest, und ehe er etwas erwidern konnte, zog sie ihn mit sich. Finn rang nach Luft. Ein kühler Widerstand umhüllte ihn, der ihn sanft umschloss und wieder frei gab. Wie tausend feine Nadelstiche prickelte es an seinem ganzen Körper. Auf der anderen Seite drehte er sich abrupt um. Was war das denn? Es wirkte wie eine dehnbare, elastische Membran. Niemals hätte er sich vorstellen können, dass es durchlässig war.
Er hielt die alte Frau fest. »Was soll das bedeuten, du warst schonmal hier?«
»Mein Junge, ich war tot und wurde reanimiert. Ich befand mich in dem Moment genau im Portal. Doch nun freue ich mich auf mein wahres Leben. Ich bin so dankbar, dass ich mein Dasein in der Schattenwelt hinter mir lassen konnte. Das war kein Vergnügen als Sehende.« Sie löste sich von Finn und tänzelte freudig fort. Warum wunderte er sich eigentlich noch? Er war tot, es gab für ihn kein Bier mehr und er ging durch Wabbel-Wände. Das hier war völlig neu. Aber warum Schattenwelt? Wovon redete sie? Lebte sie nicht auf der Erde?
Als er sich dem Portal, wie es die Frau bezeichnet hatte, erneut zuwandte, sah er sie. Ihre verschwommene, schlanke Gestalt, die ihn durch die Membran von der anderen Seite aus anblickte. Er erkannte nur ihre Umrisse, das Portal ließ keinen klaren Blick zu. Schnell versuchte er, sich wieder in den Tunnel durchzudrücken. Abrupt sprangen ihm zwei der großen Kerle entgegen, um ihn energisch zurückzudrängen. Ihre Gesichter verzerrten sich in diesem Moment und schienen erschreckend finster. Er wich einen Schritt zurück und versuchte es erneut. Zu viert umringten sie ihn, hielten ihn fest und schlugen hart zu. Er riss die Arme hoch, um seinen Kopf zu schützen. Die Kerle waren stärker, als er angenommen hatte. Gegenwehr war nutzlos. Mit einem Seitenblick in Richtung des Tunnels erkannte er, wie die Frau sich umdrehte, fortlief und aus seinem Blickfeld verschwand. Also war sie in der Scheune gewesen! Erinnerte sie sich vielleicht noch nicht an ihren Namen? Sollte er hier auf sie warten? Die Hünen drängten ihn weiter. Das war alles höchst irritierend. Und wenn das hier so was wie der Himmel war, wo steckten dann die liebevollen Engel, das Gericht Gottes und die verstorbenen Verwandten und Freunde, die einen herzlich empfingen?
Peter hatte das Theater beobachtet, stürzte auf ihn zu und zog ihn mit sich. »Hey, Finn, lass das. Mit denen willst du dich nicht anlegen, glaub mir.« Er schüttelte nachdrücklich den Kopf. Finn fuhr herum, als er ein Räuspern vernahm. Hinter ihnen war Aphram aufgetaucht und blickte ernst auf ihn herunter.
»Aphram, da bist du ja wieder! Sag mal, deine Kumpels haben ja wohl den Arsch offen, ich wollte doch nur ...«
»Du kannst da nicht mehr durch, Finn«, fiel er ihm ins Wort. »Merk dir das, egal was du auf der anderen Seite siehst.«
»Aber sie ist noch dort«, verteidigte er sich. »Ich warte hier, bis sie rauskommt.«
»Wer sie?«, wunderte sich Aphram, zog die Augen zusammen und legte den Kopf auf die Seite. »Da ist niemand mehr.«
»Doch, doch! Ich hab sie genau gesehen, sie ist noch dort drin!«
»Moment.« Aphram zog die beiden zu einem Felsen und setzte sich mit ihnen hin. Sofort versank er wieder in sich selbst, wirkte erneut wie ein kleiner, alter Greis. Finn schüttelte ungläubig den Kopf. Ob er sich jemals an all dies gewöhnen würde?
Aphram starrte nachdenklich vor sich hin. »Finn ... was genau hast du auf der Straße gesehen, bevor du in den Ort kamst?«
»Nichts. Dunkelheit, noch mehr Dunkelheit und irgendwann war da dieser komische leuchtende Nebel, in dem sie mir entgegenkam. Dann löste er sich auf und ich konnte sie nicht mehr sehen.«
Aphram blickte ihn erstaunt an. Ein Schatten huschte über sein faltiges Gesicht. »Das ist nicht möglich. Sie kann keine Verstorbene sein. Das ist ein Echo. Ein Echo aus der Schattenwelt«, murmelte er abwesend.
»Welche Schattenwelt? Was meinst du damit?«, erwiderte Finn skeptisch.
»Du willst wohl immer alles sofort wissen, oder?« Kopfschüttelnd betrachtete der Greis ihn.
Er würde jetzt keine Antwort bekommen, das war Finn klar. Aphram richtete sich wieder zu voller Größe auf, sah ihn besorgt an und entfernte sich zügig.
»Wer ist sie denn?«, fragte Peter.
»Keinen blassen Schimmer, aber irgendwoher kenne ich sie«, antwortete Finn gedankenverloren, mehr zu sich selbst.
Als die beiden sich die Umgebung endlich genauer betrachteten, staunten sie nicht schlecht. Die Landschaft, die sich vor ihnen entfaltete, wirkte wie ein Traum, der zu lebendig war, um real zu sein. Die Sonne strahlte hell am Himmel und tauchte alles in ein warmes, goldenes Licht. Ein sanfter Wind streichelte ihre Gesichter und die Kälte, die Finn die letzten Stunden im Griff gehabt hatte, wich langsam. Vor ihnen breitete sich eine endlose Wiese aus, das Gras leuchtete in sattem Grün. Überall blühten Blumen in leuchtenden Farben. Schmetterlinge mit durchsichtigen, schillernden Flügeln flatterten schwerelos durch die Luft, tauchten von Blüten zu einem im leichten Wind schwingenden Grashalm und schienen in ihrem Tanz die Zeit zu verlangsamen. Am Rand der Wiese erhob sich majestätisch ein gewaltiger Berg, dessen schroffe, graue Felsen in die Wolken ragten. Von seinem Gipfel stürzte ein mächtiger Wasserfall herab. Das klare Nass funkelte in der Sonne wie tausend kleine Kristalle. Die Menschen, die zuvor in der Scheune waren, stapften erstaunt umher, konnten kaum glauben, was sich ihnen präsentierte.
»Wow ... ist das kitschig«, kommentierte Finn. Jetzt fehlten nur noch die herumfliegenden Engelchen und Posaunen, die irgendwo ertönten. »Schön, aber nicht wirklich mein Ding. Hohe Wellen, stürmischer Wind und Weite, damit könnte ich jetzt besser umgehen.«
»Lass mich raten. Du hast an der Küste gelebt?«, erkundigte sich Peter.
»Meinst du?« Finn dachte angestrengt nach, doch keine weiteren Erinnerungen wollten sich in seinen Geist schieben. »Was soll eigentlich dieses beschissene Vergessen?«, fragte er Peter genervt.
»Also mir hat jemand erklärt, dass wir ja auch nichts mehr wissen, wenn wir geboren werden, damit wir ganz neue Erfahrungen machen. Und genau so wäre das jetzt eben auch. Ein paar Fetzen bleiben hängen. Allerdings ist wohl alles, was mit intensiven Gefühlen zusammenhängt, nicht so einfach zu löschen.« Peter zuckte ratlos mit den Schultern. »Ich würde gerne die Gegend erkunden. Kommst du mit?« Finn nickte.
»Weißt du ...«, begann Peter, als sie den Schotterweg entlangliefen. »Einiges habe ich in der Scheune gelernt. Ich weiß aber nicht, was mit intensiven Gefühlen gemeint ist.«
Finn sah ihn interessiert an. »Erinnerst du dich denn an Gefühle, an Dinge, die nicht gelöscht werden konnten?«
Peter schüttelte den Kopf. »Nein, nichts«, erwiderte er und schwieg. Der Schotter knirschte unter ihren Stiefeln. »Nur an Streit, Zorn und Gewalt«, fuhr er fort. »An eine Großstadt, in der es hart zuging. Zu hart. Aber sonst an nichts. Familie, Freunde, gar nichts. Das fühlt sich beschissen an.« Ärgerlich kickte er ein paar Steine weg.
Finn wurde nachdenklich. Auch ihn trieben so viele Fragen um. Was war die erwähnte Schattenwelt? Was meinte die Frau damit, dass es dort als Sehende schwierig war? Und wieso wurde das Gedächtnis gelöscht? Warum diese Leere im Hirn? Sollte es nicht wichtig sein, von seinen Erfahrungen zu lernen, die Menschen im Herzen zu behalten, die man dort bewahrte? Wie könnte man sie dann willkommen heißen, wenn sie starben? Oder war auch das ein Ammenmärchen um die Angst vor dem Tod zu mindern? Und vor allem ... und das machte ihn skeptisch - wer bestimmte das? Hatte er kein Mitspracherecht, war er ein Sklave in einem System, das niemand verstand? Wer zog hier die Strippen? Er konnte es gar nicht leiden, wenn er nicht alles selber in der Hand hatte, seine Freiheit beschnitten wurde. War da nicht was mit dem freien Willen? Frei erschien ihm hier gar nichts. Und was war mit der blonden Frau? Wieder sprang dieses Gefühl in seinem Herzen an. Verdammt, er musste sich ganz dringend erinnern. Doch wie sagte Peter? Emotionen wären nicht so einfach zu löschen. Und warum schien Aphram so besorgt? Das ist nicht möglich, hatte er gesagt. Was denn genau? Dass Finn sie sah? Zweimal? Dass er unbedingt auf sie warten wollte, sie in Sicherheit wissen? Irgendwas stimmte hier ganz und gar nicht. Er betrachtete sich die Umgebung, dieses Bild, wie aus einem Kinderbuch mal genauer. Kitschig. Ja, so wirkte es. Wie eine Traumwelt, wie ein Abklatsch von dem, was sich viele Menschen unter dem Paradies vorstellten. Doch war dies wirklich paradiesisch? Ein unangenehmes, rebellisches Bedürfnis stieg in ihm hoch, das alles zu ergründen.
Das Verlies
Finn betrat die Hütte und schob leise die schwere Holzpforte zu. Peter schlief noch und er wollte ihn nicht wecken. Er nutzte die frühen Morgenstunden, um alleine zu sein, seinem Bewegungsdrang nach stundenlanger Schlaflosigkeit nachzugehen.
Gedankenversunken blieb sein Blick an der massiven Klinke des Eingangs hängen. Inzwischen war er mehr als argwöhnisch, was diesen Ort betraf. Nachdem sie das Portal durchschritten hatten und ihnen dieses paradiesische Naturschauspiel präsentiert worden war, schliefen sie in Zelten. Am Abend darauf wurden sie von den Kapuzenriesen in runde Gebäude geführt, deren Dächer über den grasbewachsenen Boden hinausragten, die Wohnräume jedoch unter der Erde lagen. Sie waren angenehm eingerichtet, einfach und altbacken, aber doch gemütlich.
Sie hatten gerade ihre Behausung erkundet, als Peter und er zusammenzuckten – die Tür war mit lautem Krachen verriegelt worden. Augenblicklich waren sie zum Eingang gerannt und hatten an dem Holzgebilde gezerrt. Keinen Millimeter ließ es sich bewegen. Warum wurden sie eingesperrt? War dies ein nett dekoriertes Verlies? Seine Skepsis wuchs immer mehr an. Die Tür wurde am folgenden Morgen wieder entriegelt, am Abend folgte jedoch dasselbe Spiel.
Er wurde inzwischen sehr vorsichtig, wem er welche Gedanken mitteilte. Zum Glück wohnte er mit Peter zusammen. Und doch schien es ihm, als ob sie auf irgendetwas warten sollten. Es fühlte sich an, wie eine Zwischenstation, ohne Erfüllung, ohne Aufgabe oder Ziel, Ablenkung oder Spaß. Was Peter und er unter Spaß verstanden, wurde klar, als Finn gedankenverloren auf dem Tisch herumtrommelte und es sich zu einem Rhythmus steigerte. Musik. An manchen Abenden suchten sie sich Töpfe und Eimer, die sie als Schlagzeug benutzten, die Gitarren wurden imitiert. Wenigstens einige Stunden schenkte ihnen das Freude.
Ihm erzählte Finn seine Gedanken über die Frau, teilte ihm seine Träume mit, verbunden mit dem Versprechen, niemandem etwas zu verraten. Zu merkwürdig erschien ihm Aphrams Reaktion. Er beichtete Peter, dass er ein seltsames Gefühl bei ihm hatte.
Finn ahnte, dass auch er nicht so recht wusste, was er von diesem Ort halten sollte. War das die Erfüllung nach einem Leben voller Kampf auf der Erde? Weiterhin erinnerten sie sich an nichts, was ihnen seltsam vorkam. Er beschloss, dass sie dringend mehr herausfinden mussten. So durfte es nicht weitergehen.
»Guten Morgen, warst du wieder unterwegs?« Peter gähnte und richtete sich im Bett auf. »Hast du denn überhaupt gepennt?«
»Ja, ein wenig. Das ist wie Urlaub von dem Scheiß hier. Die Träume werden immer heftiger. Manchmal höre ich Wortfetzen oder sehe Bilder, die ich nicht verstehe. Doch ab und zu wird es auch richtig heiß ...«, gestand er ihm mit rotem Kopf.
»Und es geht immer um sie?«
»Immer«, bestätigte Finn.
»Und wie heißt sie?«, erkundigte Peter sich neugierig.
Finn zuckte mit den Schultern, das hatte er sich auch schon gefragt. Er suchte tief in seinem Herzen, aber er fand wieder nur Leere. Also beinhalteten Gefühle doch nicht alle Antworten.
»Das ist blöd.« Peter sah ihn bedauernd an und schwang seine Beine aus dem Bett. »Ich hab gehört, wenn man den Namen eines lebenden Menschen kennt, kann man ihn erreichen. Ob das stimmt, weiß ich allerdings nicht.«
»Wer hat dir das gesagt?« Finn starrte ihn mit aufgerissenen Augen an. Mit dieser Person musste er unbedingt reden. Lebende erreichen? Gab es Hoffnung, mehr herauszufinden?
»Na ja, ich habe nicht mit ihr selbst gesprochen«, gestand Peter. »Sie wird unter vorgehaltener Hand erwähnt und nur, wenn die Wächter weit weg sind. Sie scheint eine alte Weise zu sein, oder eine Verrückte, das müssten wir rausfinden.«
»Wächter?«
»Ja. Ich nenne sie so. Oder denkst du, nach deinem Zusammenstoß am Portal, sie wären etwas anderes?«, erwiderte Peter energisch. »Lass uns lieber die Alte aufsuchen, den Tag nutzen, bevor wir wieder eingeschlossen werden.«
»Du hast recht. Vielleicht bringen wir so etwas Licht in den Wirrwarr dieses Ortes.«
Peter und Finn verdrückten sich eilig über die weiten Plätze der Blumenkinderinsel, wie sie es nannten. Man sah es ihnen sicherlich an der Nasenspitze an, dass sie etwas planten, und einem Wächter wollten sie auf keinen Fall in die Arme laufen. Immerhin durften sie sich über Tag frei bewegen. Fast. Es gab Bereiche, die ihnen strengstens untersagt wurden und genau die waren ihr Ziel.
Die üppige Vegetation veränderte sich mit jedem Meter, den sie den Weg entlangliefen, der Peter genannt worden war. Verwundert betrachteten sie, wie sich das satte Grün der Bäume und Wiesen in abgestorbenes Geäst und lebloses Gestrüpp wandelte. Die Erde, die immer schwärzer wurde, schien ihnen wie verbrannt. Diese Gegend hatten sie noch nie betreten, waren zu sehr damit beschäftigt gewesen, ihre neue Existenz und die vielen Auflagen zu begreifen, sich mit all den Gegebenheiten abzufinden. Die knochigen Bäume, die den Weg säumten, bildeten einen immer dichteren Wald. Es knarrte und knatschte im Geäst. Griffen die Gehölze nach ihnen?
»Wenn jetzt ein Lebkuchenhaus auftaucht, müssen wir uns nur einigen, wer Gretel und wer Hänsel ist«, scherzte Peter.
Trotz des Spaßes, den sie sich machten, beschleunigten sie ihre Schritte. Düsterer Moornebel stieg aus platzenden Luftblasen aus dem Boden auf, sah fast aus wie grüne Schlammgeister, die sie am Weitergehen hindern wollten. Finn zog die Schultern hoch und ermahnte sich, nicht durchzudrehen. So etwas gab es doch nicht. Aber hatten sie nicht schon genug Unerklärliches erlebt, das ihnen unmöglich erschien? Gab es Geister im Himmel, die einem Angst einjagten? Alleine diese tote Erde machte ihn stutzig. War es ratsam, sich in solche Gefilde zu begeben? Warum verschanzte sich die Frau hier? Was ihn jedoch viel mehr ängstigte, war die Möglichkeit, aufgehalten zu werden und keine Antworten zu bekommen.
Nach einem schier endlosen Marsch mit achtsamen Blicken, die die Umgebung überwachten, gelangten sie an ein Haus, das ihrem ähnlich schien.