PREPPER - Band 2 - Tom Abrahams - E-Book

PREPPER - Band 2 E-Book

Tom Abrahams

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Beschreibung

Kein Strom. Keine Sicherheit. Nur die Vorbereiteten werden überleben. Jack Warrant ist vorbereitet, aber er fürchtet, die Sicherheit seines Zuhauses verlassen zu müssen, um seine Vorräte aufzustocken. Tech-Millionär Noel Slate entführt einen VIP mit politischen Verbindungen. Und ein Team aus Militärveteranen bricht in das Chaos auf, um Slate zu aufzuspüren, bevor dieser seine Rachepläne vollenden kann. Alle drei Wege münden schließlich ineinander, in einem neu entstehenden paramilitärischen Staat, der für die Sicherheit einiger Menschen eine Gefahr darstellen könnte. "Prepper" ist die neueste apokalyptische Abenteuerreihe von Traveler-Autor Tom Abrahams.

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Seitenzahl: 444

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhaltsverzeichnis
PREPPER
Impressum
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Danksagungen
Über den Autor

PREPPER

 

eine post-apokalyptische/dystopische Grid-Dowd-Survival-Reihe

 

Band 2

 

Tom Abrahams

Für Courtney, Sam und Luke

 

Impressum

Deutsche Erstausgabe Originaltitel: PREPPER Copyright Gesamtausgabe © 2025 LUZIFER Verlag Cyprus Ltd. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

 

Cover: Michael Schubert Übersetzung: Madeleine Seither

 

Dieses Buch wurde nach Dudenempfehlung (Stand 2025) lektoriert.

 

ISBN E-Book: 978-3-95835-931-4

 

Kontaktinformation:[email protected]

 

LUZIFER Verlag Cyprus Ltd. House U10, Toscana Hills Poumboulinas Street 8873 Argaka, Polis, Cyprus

 

Der LUZIFER Verlag verzichtet auf hartes DRM. Wir arbeiten mit einer modernen Wasserzeichen-Markierung in unseren digitalen Produkten, welche Ihnen keine technischen Hürden aufbürdet und ein bestmögliches Leseerlebnis erlaubt. Das illegale Kopieren dieses E-Books ist nicht erlaubt. Zuwiderhandlungen werden mithilfe der digitalen Signatur strafrechtlich verfolgt.

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

»Vertraue nur dir selbst, dann kann kein anderer dich verraten.«

—William Penn

 

»Vertrauen vergeht, doch Misstrauen erblüht.«

—Sophokles

 

Kapitel 1

 

IRGENDWO IM ZENTRALEN WEST-TEXAS

1. MÄRZ 2016

ZEHN JAHRE VOR DEM NETZAUSFALL

 

 

Der Rucksack bewegte sich auf G-Mans Rücken, während er sich einen Weg über den Pfad zur Lichtung hinauf bahnte, die ihn, wie er wusste, nach der langen Steigung erwartete. Seine Beine brannten vom Aufstieg. Ein Schweißfilm bedeckte sein Gesicht und seinen Hals. Schweißbäche liefen ihm über den Rücken und die Seiten. Die vorhergesagte Höchsttemperatur lag bei neunundzwanzig Grad, aber trotz des zeitweiligen Schattens, den die Baumkronen spendeten, die sich zum azurblauen texanischen Himmel erstreckten, fühlte es sich heißer an.

»Sind wir bald da?«

G-Mans guter Freund Martin de la Frontera, ein Armeekamerad, der liebevoll Martillo genannt wurde, marschierte neben ihm her. Ein Schweißrand verunstaltete den Saum seines grauen Krempenhutes. Seit sie vor Jahren gemeinsam in Syrien gedient hatten, hatte der Mann zugenommen und Kondition verloren.

»Wir nähern uns«, sagte G-Man.

»Das hast du schon vor dreißig Minuten gesagt.«

»Das war vor fünf Minuten«, sagte G-Man. »Deine neue Uhr muss kaputt sein.«

»Sie funktioniert einwandfrei. Sie verrät mir, dass wir bereits zwei Kilometer gewandert sind und 31,126 Schritte gemacht haben.«

G-Man kontrollierte seine Hüfte, legte die Hand auf das Holster, in dem seine Sig Sauer P320-M17 steckte, und schob dann die Daumen in die Schulterriemen seines Rucksacks. Es kam selten vor, dass G-Man keine Waffe bei sich hatte. Ob es die Sig Sauer, ein EDC-Klappmesser oder beides war, ohne persönliche Schutzausrüstung ging er nirgendwo hin.

»Ach ja?«, fragte er. »Wie viele Kalorien hast du verbrannt?«

Martillo sah wieder auf seine Uhr. »Vierhundertdreizehn. Ich sollte heute alle drei Ziele erreichen. Ich habe einen Streak.«

»Ist das so?«

»Mach mich nicht runter«, sagte Martillo. »Ich versuche, ein bisschen abzunehmen. Frauen stehen auf Männer, die fit und in Form sind.«

G-Man hob entschuldigend die Hand. »Tut mir leid, ich wollte nicht herablassend sein. Ich habe dich nur ein wenig aufgezogen, das ist alles. Ich finde es toll, dass du versuchst, auf deine Gesundheit zu achten.«

»Können wir trotzdem kurz anhalten?«

»Wir sind fast da«, sagte G-Man. »Versprochen.«

Martillo schnaubte. Er griff nach einem Riemen an der Seite seines Rucksacks, löste eine Feldflasche, öffnete den Verschluss mit dem Daumen und nahm einen Schluck Wasser. Er schluckte und wischte sich mit der Rückseite des Arms über den Mund.

»Das Gleiche hast du schon vor dreißig Minuten gesagt.«

G-Man warf Martillo einen prüfenden Blick zu. Er entschied, dass sein Freund scherzte, und lächelte. »Der war gut.«

Sie wanderten noch zehn Minuten weiter. Martillo sah fünfmal auf die Uhr, bevor sie auf einer großen Lichtung anhielten. Der Boden war eine Mischung aus Erde, Unkraut, verirrten Wurzeln, die aus dem Wald gekommen waren, und hartem, ins Erdreich eingebettetem Kalkstein.

»Ich hab schon fünfhundert Kalorien verbrannt«, sagte Martillo.

G-Man hörte nicht mehr zu. Die Gegend verzauberte ihn. Es war seine Gegend. Auf dieser Lichtung, in diesem unberührten Teil von Texas, würde er sein Walhalla errichten, eine Burg, die eines Kriegers würdig war. Er hatte Jahre damit verbracht, nach dem richtigen Ort zu suchen, dem perfekten Ort, an den er sich zurückziehen konnte, seine Festung errichten, aus der Welt verschwinden.

Der Wind fegte G-Man durchs Haar. Die Sonne brannte auf seinem Gesicht und spendete zwischen den Böen Wärme. Er stand auf der Lichtung und stellte sich vor, was dieser Ort, diese Zuflucht, einmal sein würde. Der Rucksack wog schwer auf seinen Schultern.

»Hast du gehört, dass der Typ, der AOL mitbegründet hat, heute gestorben ist?«

G-Man hörte Martillo, verarbeitete die Worte aber nicht, so sehr war er in die Illusion eines Hauses, einer Scheune, einer Werkstatt und tausend anderer Möglichkeiten vertieft.

»Hey«, sagte Martillo. »Hörst du mich, G-Man?«

Blinzelnd kehrte er in die Realität zurück. »Was?«

G-Man zog den Rucksack ab und stellte ihn vor sich auf den trockenen Boden. Er stellte sich eine lange, gewundene Kiesauffahrt vor, die zum Haupthaus führte. Der Punkt, an dem er gerade stand, könnte zum Wendeplatz vor einer überdachten Veranda werden.

»Der Mitbegründer von AOL ist heute gestorben«, wiederholte Martillo. »Ich habe eine Benachrichtigung aufs Handy bekommen. Sie ist auf meiner Uhr aufgetaucht. Cool, nicht?«

»Das ist cool«, sagte G-Man. »Nicht cool, dass er gestorben ist, aber dass deine Uhr mehr als nur ein Kalorienzähler ist. Zeigt sie die Zeit an?«

»Natürlich zeigt sie die Zeit an.«

»Wie ist er gestorben?«

»Melanom«, sagte Martillo. »Hautkrebs. Wusstest du, dass AOL eine Videospielfirma war, bevor es zu einem Internetanbieter wurde?«

Martillo lockerte den Kordelzug seines Krempenhutes und ließ ihn auf seinen Rucksack fallen. Sein durchnässter schwarzer Haarschopf lag platt an seinem Kopf. Aus seiner Tasche zog er sein Handy und fuhr mit dem Daumen über das Display. Das Gerät war ein neues iPhone SE, und wenn sich Martillo nicht gerade über die Länge der Wanderung beschwert hatte, hatte er auf dem Weg zur Lichtung ununterbrochen über dieses Handy gesprochen. Es hatte ihn fünfhundert Dollar ärmer gemacht, die größte Summe, die er je für ein Handy ausgegeben hatte. Sein Desktop-Computer, erklärte er, hatte weniger gekostet als das Telefon, das er in der flachen Hand hielt.

Sein Geplapper war liebenswert, und er war loyal. Ein Teil von G-Man wünschte sich, sie würden mehr Zeit miteinander verbringen. Ein anderer Teil von ihm war dankbar, dass sie es nicht taten. Sosehr er Martillos Gesellschaft auch genoss, der Grund, warum sie nicht mehr Zeit miteinander verbrachten, war, dass sein Freund ihn stets daran erinnerte, was G-Man getan hatte, um ihm das Leben zu retten. G-Man gefiel dieses Erinnertwerden nicht, egal wie dankbar Martillo sein mochte. Das war insofern eine seltsame Sache, dass Martillos Dankbarkeit ein Schuldgefühl in G-Man hervorrief, das er nicht abschütteln konnte. Es war einfacher, zu versuchen, das Ganze zu vergessen. Er hatte seine Pflicht getan, nicht mehr und nicht weniger. Eines Tages, hoffte er, würde Martillo vielleicht ihm einen bedeutenden Gefallen tun, sodass sie quitt wären und die Schuld beglichen war.

G-Man fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. Er musste es schneiden lassen, aber er hatte den Gang zum Friseur aufgeschoben, weil er zu sehr mit der Erschließung des von ihm gekauften Landes beschäftigt gewesen war.

»Das wusste ich nicht«, sagte er. »Melanom, hm? Das ist traurig. Das ist so vermeidbar.«

Plötzlich war er sich der Sonne auf seinem Gesicht bewusst. Hatte er an Sonnencreme gedacht?

»Ja, es ist traurig«, sagte Martillo. »Es ist verrückt, wie sehr sich das Internet verändert hat. Ich meine, jetzt ist alles unmittelbar. Wir müssen nicht mehr darauf warten, dass das Modem kreischt und piept. Es ist alles da. Alle Informationen der Weltgeschichte sind greifbar.«

»Wir verlassen uns zu sehr auf dieses Zeug«, sagte G-Man. »Deshalb habe ich dieses Grundstück gekauft.«

»Wegen des Internets?«

»Weil ich mir Sorgen darüber mache, was passiert, wenn es ausfällt.«

Martillo wischte mit dem Daumen über den Bildschirm und hielt das Handy hoch. »Was denkst du?«

»Über den Internetausfall? Das wird passieren«, sagte G-Man. »Für mich lautet die Frage nicht, ob, sondern wann. Und es wird nicht nur das Internet sein. Weißt du, wie anfällig wir für einen EMP-Angriff sind, der uns in die Steinzeit zurückversetzen könnte?«

Martillo lachte.

»Findest du das lustig?«, fragte G-Man. »Bei der Debatte der Republikaner vor zwei Monaten, im Januar, wurde darüber diskutiert. Ben Carson und Rick Santorum sprachen beide über elektromagnetische Impulswaffen.«

Ein Rotkardinalpärchen flatterte vorbei und fand Halt auf dem niedrigen Ast eines knorrigen Mesquitebaums. Die leuchtend rote Farbe ihrer Federn hob sich vom tristen Braun und dezenten Grün des Wäldchens ab.

»Das finde ich nicht lustig«, erklärte Martillo. »Ich lache, weil ich dich nicht nach EMPs gefragt habe. Ich hab dich nach ihr gefragt. Was meinst du?«

Martillo winkte nachdrücklich mit dem Handy. Auf dem Display war das Vollbild einer attraktiven Frau zu sehen.

G-Man nahm das Telefon und betrachtete das Foto. Er entdeckte etwas sowohl Selbstbewusstes als auch Verschmitztes im Ausdruck der Frau. Diese Art von Selbstsicherheit hatte er bisher nur bei Frauen gesehen, die einen Eid geschworen hatten, ihr Land vor ausländischen und einheimischen Feinden zu schützen, und die demselben wahre Treue und Loyalität erwiesen hatten.

»Ist sie beim Militär?«, fragte er.

Martillo grinste. »Bei den Marines.«

Ein Windstoß fuhr durch die Pekannuss- und Mesquitebäume. Die Blätter der hohen Eichen raschelten. G-Man verdrehte die Augen und gab das Telefon zurück. »Wenigstens ist sie nicht bei der Air Force.«

Martillo lachte. »Genau. Erzähl mir mehr von der Debatte. Ich habe sie nicht gesehen. Politik ist nicht mein Ding, Mann.«

»Santorum sagte, er glaube, der Iran könnte es fertigbringen. Eine EMP-Waffe würde unsere Infrastruktur zerstören. Er wurde ein bisschen anschaulich, sprach von Flugzeugen, die vom Himmel fallen.«

»Klingt lustig.«

G-Man beugte sich vor und holte eine Feldflasche voll Wasser aus seinem Rucksack, öffnete den Verschluss und nahm einen kräftigen Schluck. Das Wasser war noch kalt, und es löschte seinen Durst. Hier im Texas Hill Country war das Klima trockener, und das hielt er gedanklich fest. Er würde sich akklimatisieren müssen, wenn er erst mit dem Bau begann. Er hatte lange in feuchten Klimazonen gelebt, einige davon regelrecht sumpfig, und seit Syrien vor einigen Jahren hatte er keine Zeit mehr in einem trockenen Teil der Welt verbracht.

»Carson war noch düsterer«, fuhr er fort. »Er stellte die Theorie eines simultanen Cyberangriffs und EMPs auf.«

»Was hältst du von Carson? Hat er eine Chance? Hat Ted Cruz eine? Er hat Iowa gewonnen. Vielleicht kann er die Differenz am Super-Dienstag ausgleichen. John Kasich scheint womöglich noch eine Weile dabei zu bleiben.«

»Glaube ich nicht. Trump ist der Spitzenreiter. Es wird definitiv auf ihn und Hillary hinauslaufen.«

»Nicht Bernie?«

G-Man schüttelte den Kopf. »Auf keinen Fall. Er ist nicht wirklich ein Demokrat. Die würden ihn nie gewinnen lassen.«

»Gutes Argument. Wie gesagt, Politik ist nicht mein Ding. Ich bin lieber derjenige, der den Graben aushebt, als derjenige, der die Pläne schmiedet, um ihn zu bezahlen.«

»Apropos Gräben ausheben«, sagte G-Man, »was hältst du von dem Ort? Seit wir angekommen sind, hast du noch nichts dazu gesagt.«

Martillo steckte das Handy in die Tasche und schüttelte seinen Rucksack ab. Er stellte ihn neben G-Mans auf den Boden, stemmte die Hände in die Hüfte und begutachtete zum ersten Mal das Land. Ein weiterer Windstoß fegte durch die Bäume und verwehte Geröll, brachte es dazu, sich zu überschlagen und sich am Fuß der Bäume am Waldrand zu sammeln.

»Du hast hier viel Potenzial«, sagte Martillo. »Viel Potenzial. Du hast Privatsphäre, und du bist auf einer Anhöhe, sodass du eine gute Höhe und Sichtlinie hast. Taktisch gefällt es mir. Wie viel hat es gekostet?«

»Fünfzigtausend.«

»Für all das?«

»Ja, fünfzigtausend für das, was du siehst. Das Haus wird der teure Teil werden. Für Strom und Abwasser muss ich Gräben ziehen. Und die Dinge, die ich tun möchte, um größtenteils autark zu sein, werden mich ein hübsches Sümmchen kosten.«

»Es gefällt mir, G«, sagte Martillo. »Ich kann es sehen. Es wird großartig. Du hast es verdient, Bruder. Nach dem, was wir in Syrien durchgemacht haben, und nach dem, was du für mich getan hast, verdienst du alles Gute auf dieser Welt.«

»Das war keine große Sache. Ich habe meinen Job gemacht. Wir alle haben unseren Job gemacht. Die Armee hat uns gut ausgebildet und mit einer Mission dorthin geschickt. Wir haben die Mission erfüllt und sind in einem Stück nach Hause gekommen. Das Gleiche tun Unzählige unserer Brüder und Schwestern schon seit Generationen. Die Männer in den Anzügen geben die Befehle, und wir befolgen sie.«

»Das stimmt«, sagte Martillo. »Sie verlangen das Unmögliche und werden es immer verlangen, solange Soldaten wie du und ich es ihnen liefern. Aber die Mission ist eine Sache. Was du getan hast, wie du dich in Gefahr gebracht hast …«

»Ich habe getan, was jeder getan hätte«, unterbrach G-Man ihn. »Du hättest dasselbe für mich getan.«

»Vielleicht.«

Sie lachten. Beide Männer tranken Wasser aus ihren Feldflaschen.

G-Man folgte einer kleinen Steigung zur Mitte der Lichtung und breitete die Arme aus. »Hier werde ich das Haus hinbauen. Es wird ein Hauptgeschoss und einen Keller haben.«

»Einen Keller?«

G-Mans Miene hellte sich auf. Ein Funke Adrenalin entfachte seinen Enthusiasmus. Der Keller war sein Lieblingsteil des Projekts. »Wir müssen Kalkstein ausschachten. Ich werde den Stein verkaufen, um damit einen Teil des restlichen Hauses zu finanzieren. Ich habe vor, daraus einen Bunker zu machen.«

»Einen Bunker, ja?«

»Da unten werde ich einen Funkraum einrichten, und dazu allen häuslichen Komfort. Ich denke darüber nach, eine voll ausgestattete Küche und ein Schlafzimmer einzubauen. Das Ganze wird ein offenes Raumkonzept. Ich sehe keine Notwendigkeit darin, extra Geld für das Aufstellen von Wänden auszugeben. Der Keller wird eine zusätzliche Isolierung und eine Brandschutzwand zwischen der Kellerdecke und dem Erdgeschoss haben.«

»Du nimmst diese Prepper-Sache echt ernst, was?«, sagte Martillo. »Das war mir nicht klar.«

Eine Weißwedelhirschkuh kam aus dem Wald, gefolgt von zwei schlaksigen Kälbern. Sie drängten sich an ihre Mutter, versteckten sich hinter ihr, während sie sich vorsichtig einem Gras- oder Unkrautbüschel näherte. Sie musterte die Besucher, ignorierte G-Man und Martillo aber letztendlich, vielleicht, weil sie sie als Bedrohung unterschätzte.

»Ich würde mich nicht als Prepper bezeichnen«, sagte G-Man. »›Survivalist‹ oder ›Aficionado des Vorbereitetseins‹ ist vielleicht besser.«

Martillo grinste. »Aficionado? Bruder, du weißt, dass ich nicht aufs College gegangen bin. Ich hab mein Geld nicht für ein Stück Papier verschwendet, mit dem ich hochtrabende Wörter sagen kann. Du bist ein Prepper.«

»Okay«, räumte G-Man ein, »dann bin ich eben ein Prepper. Aber ich trage diesen abfälligen Titel mit Stolz.«

Martillo schnalzte mit der Zunge nach der Hirschkuh. Sie hob den Kopf und musterte die beiden, bewegte sich aber nicht. Eines der Kälber kam hinter ihr hervor und stellte sich schwankend neben sie.

»Alle sollten vorbereitet sein«, sagte G-Man. »Es ist nichts Falsches daran, auf das Schlimmste vorbereitet zu sein. Carson und Santorum sind nicht die ersten Politiker, die darüber sprechen. Weißt du noch, ich war bei dieser Anhörung damals, 2008. Weißt du noch?«

»Ich erinnere mich. Du hast ständig davon geredet. Es hat dich verrückt gemacht.«

»Das hat es. Damals habe ich wahrscheinlich überreagiert, aber ich war jung und leicht zu beeindrucken.«

Martillo lachte. Das erschreckte das Reh, und das Trio machte kehrt. Die Mutter sprang in den Wald, und ihre Kälber folgten ihr. Sie verschwanden im gefleckten Schatten der Bäume.

»Einer von uns ist das immer noch«, sagte Martillo.

»Wir sind gleich alt«, sagte G-Man. »Ich bin nur reifer.«

Martillo grinste. »Okay, ich beiße an. Du darfst es mir beibringen.«

»Dir beibringen, wie man sich vorbereitet?«

»Klar.«

»Willst du das wirklich lernen? Du nimmst mich doch nicht auf den Arm, oder?«

»Natürlich will ich es lernen, G-Man. Mir gefällt die Idee, vorbereitet zu sein. Die Armee hat mir alles darüber beigebracht. Allerdings vermute ich, dass da mehr ist als das, was wir im Dienst gelernt haben. Ich habe das Schlimmste gesehen, genau wie du. Ich glaube, ich habe nur nie in Betracht gezogen, dass sich so ein kriegszerfressenes Drama wie in der Dritten Welt auch hier abspielen könnte. Aber ich schätze, wenn die Präsidentschaftskandidaten darüber reden, muss etwas dran sein.«

»Abgemacht«, sagte G-Man. »Ich bringe es dir unter einer Bedingung bei.«

Martillo sah auf seine Apple Watch. »Und die wäre?«

»Gib das Wissen weiter. Was immer ich dir über Selbstversorgung beibringe, versprich mir, dass du es an jemand anderen weitergibst.«

Martillo wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Das kann ich machen. Tatsächlich habe ich schon jemanden im Sinn. Sobald du mir alles beigebracht hast, was du weißt, werde ich das Gleiche tun.«

»An wen denkst du?«

»Du weißt doch, dass ich einen neuen Job habe?«

»Auf dem Bau?«

»Ja«, sagte Martillo. »Mein Chef ist Jack Warrant; ihm gehört die Firma. Er ist ein kluger Kerl, unvoreingenommen. Ich wette, er wird sich auf die Idee einlassen, vorbereitet zu sein. Er redet immer davon, dass wir am Abgrund leben, dass die Welt auseinanderbricht und dass wir etwas tun müssen, um unsere Zukunft zu ändern.«

»Klingt mir nach dem richtigen Mann.«

»Finde ich auch«, sagte Martillo. »Jetzt zeig mir, wo du die Scheune bauen willst.«

 

Kapitel 2

 

THE WOODLANDS, TEXAS

ZEHN JAHRE SPÄTER

NETZAUSFALL, TAG FÜNF

 

 

»Das ist reine Zeitverschwendung.«

Jack stand auf der anderen Seite der Kücheninsel, seiner Frau gegenüber. Er wollte ihr Argument nicht hören, so gut begründet es auch war, tat es aber trotzdem. Ein Mann, der etwas taugte, hörte seiner Frau immer zu, bevor er ihren Rat ignorierte.

»Das sehe ich anders«, sagte Jack. »Es heißt jetzt oder nie.«

Betty schüttelte den Kopf. »Wir brauchen nichts aus dem Lagerraum. Hier gibt es genug für uns alle. Letzte Nacht hat es geregnet, was uns zusätzliches Wasser in den Eimern beschert hat, die wir draußen aufgestellt haben. Wir haben reichlich Nudeln und Reis, und das Gas vom Kochfeld läuft noch. Es gibt nichts, wofür wir es riskieren müssen, hier wegzugehen. Da draußen ist es gefährlich. Ganz davon abgesehen: Wie willst du ohne Strom aufs Grundstück kommen? Alles ist elektronisch verriegelt.«

»Es wird nur noch schlimmer werden«, sagte Jack. »Es ist besser, jetzt zu gehen, als noch ein paar Tage oder Wochen zu warten. Was die Schlösser angeht, sollte ich in der Lage sein, das Tor zu umgehen und sie auf manuell umzustellen. Auf der Arbeit habe ich das schon unzählige Male gemacht.«

»Und die Tür zum Gebäude?«, konterte sie.

»Die ist seit zwei Jahren kaputt. Ich habe es sechs oder sieben Mal gemeldet, und sie wurde nie repariert. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie endlich repariert wurde, damit sie verschlossen bleibt, ist äußerst gering.«

»Aber es ist möglich.«

Jack zuckte mit den Schultern. »Alles ist möglich.«

»Zum Beispiel, dass du da draußen in ernste Schwierigkeiten gerätst.«

»Ich werde nicht in Schwierigkeiten geraten. Was ist denn das Schlimmste, was passieren kann? Dass ich dort ankomme und die Tür verschlossen ist? Dann habe ich zwar etwas Benzin verschwendet, was nicht toll ist, aber ich werde einen Überblick über die Zustände da draußen bekommen. Es ist wie eine Aufklärungsmission.«

Bettys Stirnrunzeln vertiefte sich. »Ich liebe dich, aber du bist kein Soldat, Jack. Rede nicht wie einer. Nur weil du mit Martillo rumhängst und er dir seine Kriegsgeschichten anvertraut, macht dich das nicht mehr zu einem abgebrühten Veteranen als …« Sie wedelte mit den Händen, unfähig, einen Vergleich zu finden.

»Nicht mehr zu einem abgebrühten Veteranen als wer?«

Sie zeigte auf sich selbst. »Mich.«

Er lachte. »Fair.«

Sie lachte nicht, sondern zeigte zur Eingangstür, die von der Kücheninsel aus nicht zu sehen war. Ihre Stirn blieb gerunzelt; Schweißperlen sammelten sich in den Falten zwischen Nase und Wangen. Nachdruck schärfte jedes Wort. »Das ist nicht fair. Nichts von all dem ist fair. Wir haben getan, was wir konnten. Wir haben einen Garten angelegt. Ich habe im ganzen Leben noch nichts angebaut, aber wir dachten: ›Hey, wir brauchen nachhaltige Nahrungsquellen.‹ Wir haben es getan.«

»Ich weiß.«

»Und wir haben keine Ahnung, wie viele Dosen mit Bohnen, Büchsenfleisch und eingedickten Früchten gekauft. Ich mag das Zeug nicht und die Kinder auch nicht. Aber wir brauchten einen Notvorrat. Ist das das richtige Wort? Notvorrat?«

»Ist es«, sagte Jack.

»Wie viel haben wir für den Generator für das ganze Haus ausgegeben? Fünfzehntausend Dollar? Und der ist hinüber, wie alles andere auch. Das Einzige, was funktioniert, ist dein alter Truck. Der, von dem ich seit zehn Jahren will, dass du ihn verkaufst. Das war es. Alles andere ist unnütz.«

»Ich verstehe dich ja«, sagte er, »aber findest du wirklich, dass alles unnütz ist?«

Betty dachte über seine Frage nach und klatschte in die Hände. »N schön, nicht alles. Wir haben tausend Kerzen von diesen chemikalienfreien Sets zur Kerzenherstellung, die wir gekauft haben. Die sind nicht unnütz. Nicht, ehe uns die Streichhölzer ausgehen oder die Batterien in diesem Plasmaanzünder leer sind.«

»Ich glaube nicht, dass der Batterien hat.«

Der Nachdruck in ihrer Stimme schmolz zu Verzweiflung. »Du weißt, was ich meine, Jack. Wir haben alles richtig gemacht. Wir haben uns vorbereitet. Und trotzdem …«

Sie schlug die Hände vors Gesicht und seufzte. Betty war den Tränen nahe. Jack überlegte, ob er sie in die Arme nehmen sollte, und er zog in Betracht, ihren Satz zu beenden. Er tat weder das eine noch das andere. Er wartete, bis sie fertig war, und hörte zu.

»Und trotzdem«, sagte sie schließlich, »geht es uns wie allen anderen, die nichts unternommen haben. Wir haben versucht, so zu sein wie die Ameise, die sich durch harte Arbeit auf den Winter vorbereitet, während die Heuschrecke faul herumliegt, diese Vorbereitung verspottet und nichts tut.«

Betty ließ die Hände sinken. Sie sah ihn an; diesmal erwartete sie eine Antwort.

»Ich verstehe dich nicht. Die Ameise überlebt, und die Heuschrecke stirbt«, sagte Jack. »Ich kenne diese Parabel. Wir sind die Ameise. Wir sind vorbereitet.«

»Ja, aber wenn wir die Ameise wären, würdest du nicht davon reden, mitten im Winter in die Wildnis zu gehen, um aufzustocken, was du eingelagert hast.«

»Es ist unser Lagerraum«, sagte Jack und bemühte sich dabei, den Frust aus seinem Tonfall fernzuhalten. »Ich ergänze das, was wir hier haben, mit dem, was wir dort gelagert haben.«

»Du hast die Nachbarn ebenso gut gehört wie ich, Jack. Sie haben es versucht. Vor zwei Tagen sind sie rausgefahren und gestern wieder. Die Menschen haben den Verstand verloren. Blair hat gesagt, dass er bei Home Depot fast erschossen worden wäre, und dass es bei Academy zu einem Aufstand kam. Lebensmittelgeschäfte werden geplündert, und Costco hat bewaffnete Sicherheitskräfte vor den Türen. Da draußen gibt es viele Heuschrecken.«

»Es war Sam’s Club«, korrigierte Jack.

»Was?«

»Sam’s Club hatte die bewaffneten Wachen, nicht Costco. Blair hat erzählt, sie hätten nicht versucht, so weit nach Norden zu gehen. Zu gefährlich.«

Betty winkte ab. »Ist doch egal. Du argumentierst für mich. Ich will nicht, dass du allein da rausgehst. Es ist zu gefährlich. Das hast du gerade selbst gesagt.«

»Was, wenn ich Jasper mitnähme?«

Unglaube glättete ihre Miene, ehe die sich unter aufkeimender Wut verzog. »Du willst mich wohl verarschen«, sagte sie. »Sag mir, dass das ein Scherz ist, Jack Nimoy Warrant.«

Nimoy. Nur Betty und Jacks Mutter benutzten je seinen zweiten Vornamen, und auch nur, wenn sie auf ihn wütend waren. Ein verbaler Vulkanischer Todesgriff setzte ihn in der Regel außer Gefecht. Jacks Vater war ein Trekkie gewesen und hatte alles geliebt, was mit Spock zu tun hatte, dem halb menschlichen, logikorientierten Charakter aus der Science-Fiction-Serie des 20. Jahrhunderts und den darauffolgenden Filmen. Jacks Mutter hatte die Stellung gehalten, dass höchstens sein zweiter Vorname diese Obsession würdigen durfte. Sonst hätte sein Vater ihn womöglich statt Jack Tiberius genannt.

Er zögerte einen dramatischen Moment lang, ergab sich ihrem belehrenden Tonfall, dann schüttelte er den Kopf. Jack sprach leise, beinahe unterwürfig, suchte ihre Erlaubnis ebenso wie ihre Zustimmung.

»Nein«, sagte er. »Ist es nicht. Es geht schneller, wenn jemand mitkommt. Du kannst nicht weg, und einen Nachbarn nehme ich nicht mit.«

»Warum nicht?«

»Sollen die alles sehen, was wir in dem Raum gelagert haben? Schlechte Idee.«

»Nicht schlechter, als mich hierzulassen, während du unseren Sohn auf einen Metzgersgang mitnimmst.«

»Es ist schlechter.«

»Ich will mich nicht weiter im Kreis drehen«, sagte Betty.

Jasper erschien auf dem Treppenabsatz. »Um was im Kreis drehen?«

Beide Erwachsenen fuhren herum und sahen ihren ältesten Sohn an, bevor sie Blicke tauschten.

Als keiner von beiden etwas sagte, stieg Jasper eine Stufe tiefer und legte die Hand aufs Geländer. »Mom?«

»Um nichts«, sagte Betty. »Es wird nicht passieren, also ist es nichts.«

Mit neugieriger Miene klopfte Jasper einen Moment lang mit dem Zeigefinger aufs Geländer, bevor er die Stufen hinunterhüpfte. Er trug ein dünnes, schwarzes T-Shirt und Basketballshorts. Das T-Shirt klebte an seiner Brust, und Schweißperlen prangten auf seiner Stirn. Oben war es locker zehn Grad heißer als im Erdgeschoss.

Jack fiel auf, dass sein Sohn in den Tagen seit dem Stromausfall abgenommen hatte, auch wenn er immer noch kräftig war. Seine Brust war breit für sein Alter, und Bizeps und Trizeps wölbten sich. Der Junge war nicht zum Hochschulsportler geschaffen, aber er war gut im Football und Baseball. Er war schnell und konnte einen Ball gleich welcher Größe oder Form fangen. In diesem Moment fragte sich Jack, ob Jasper jemals wieder Sport treiben würde. Hatten sie das letzte Freitagabendspiel im Flutlicht besucht? Würde er ihn je wieder einem schnellen, flach ins Right Field geschlagenen Ball nachjagen sehen?

»Kommt schon«, sagte Jasper, »was ist los? Wir können euch oben hören. Es kommt mir so vor, als würdet ihr mit etwas hinterm Berg halten. Stimmt was nicht? Ist was Schlimmes passiert? Ich habe gehört, wie du Dad bei seinem zweiten Vornamen genannt hast.«

Jasper erreichte die Küche und stellte sich ans Ende der Kochinsel, zog es vor, keine Seite zu wählen. Er legte die Hände flach auf die Steinplatte und beugte sich vor. Jack und Betty tauschten wieder Blicke.

»Hallo?«, drängte Jasper.

Betty seufzte. »Dein Vater möchte zum Lagerraum fahren und dich mitnehmen.«

Jack unterdrückte ein Schmunzeln. Immer wenn sie sauer auf ihn war und mit den Kindern über ihn sprach, war er euer Vater. Betty verwendete die gleiche Sprache, wenn sie sich über die Kinder aufregte. Sie wurden deine Kinder. Er hatte sie darauf hingewiesen. Sie hatte erwähnt, dass er es genauso machte. Jack hatte nicht widersprechen können, sie jedoch daran erinnert, dass er ihren zweiten Vornamen nie im Groll verwendete. Das war kein Trost gewesen.

Jasper ignorierte den Tonfall seiner Mutter. »Kann ich mitkommen? Ich kann helfen. Es würde schneller gehen.«

Betty machte schmale Augen. »Du hast uns belauscht.«

Jasper zögerte, dann machte er ein Eingeständnis mittels Schulterzucken. »Ja, hab ich. Ich war oben auf dem Treppenabsatz. Aber es ist eine tolle Idee. Dad hat recht, es wird noch schlimmer werden. Heute ist es vielleicht nicht so gut wie gestern, aber besser als morgen.«

»Das klingt wie ein Country-Song«, sagte Jack. »Vielleicht ist es ein Country-Song.«

»Das ist nicht der richtige Zeitpunkt, Jack«, schimpfte Betty. »Das ist eine ernste Sache.«

Jack hob die Hände, kapitulierte entschuldigend. »Tut mir leid. Du hast recht.«

»Du gehst also nicht?«, fragte Betty.

»Nein, ich meinte, du hast recht mit dem Versuch, witzig zu sein, nicht mit dem Ausflug zum Lagerraum. Aber hör mal, wenn du nicht willst, dass ich gehe, dann gehe ich nicht. Es liegt bei dir.«

Jasper ließ enttäuscht die Schultern hängen.

Ihre Einwände überdenkend, ging Betty durch die Küche zur Speisekammer und öffnete die Tür. Sie schwang sie in den Angeln hin und her, während sie in den dunklen Raum starrte.

»Was machst du da?«, fragte Jack.

Sie hielt einen Finger hoch, sah ihn aber nicht an. »Gib mir einen Moment.«

Betty öffnete eine Schublade und holte die einsame Kurbeltaschenlampe in ihrer Küche heraus, die den EMP überstanden hatte. Sie klappte die Kurbel auf und drehte sie, während sie aus der Küche, durch die Waschküche und in die Garage ging.

Jack folgte ihr nicht. Jasper warf seinem Vater einen fragenden Blick zu. Jack zuckte mit den Schultern.

Zwei Minuten später kehrte Betty aus der Garage zurück, holte tief Luft und hielt den Atem an. Nachdem sie ausgeatmet hatte, sagte sie: »Na schön, das geht wider mein besseres Wissen, aber ich sage ja.«

Jaspers Gesicht hellte sich auf und er stieß eine Faust in die Luft. »Ja.«

Jack urteilte, dass der Klügere nachgab, und dämpfte seinen Enthusiasmus. Er ging um die Kücheninsel herum zu seiner Frau und legte ihr die Hände auf die Schultern. »Bist du sicher?«

»Nein.«

»Fordere ich mein Glück heraus, wenn ich frage, warum du deine Meinung geändert hast?«

»Ja.«

»Okay«, sagte er. »Wir kommen sicher zurück. Rein und raus. Wir schnappen uns, was wir können, laden es in den Truck und beeilen uns, heimzukommen.«

»Ich vertraue dir«, sagte Betty. »Aber dem Rest der Welt traue ich nicht.«

»Ich färbe auf dich ab.«

»Vermutlich.« Betty wandte sich an ihren Sohn. »Halt deinen Vater aus Schwierigkeiten raus, okay? Spielt nicht den Helden und macht keine Dummheiten.«

Jasper nickte. »Werd ich nicht. Werden wir nicht. Versprochen.«

Betty umarmte ihn. Jasper erwiderte die Umarmung und sah Jack über ihre Schulter hinweg an. Jack lächelte und nickte.

»Wir werden vorsichtig sein«, sagte Jack. »Kein Risiko. Keine Heldentaten.«

Betty löste sich von Jasper und wandte sich wieder Jack zu. Ihre Miene verfinsterte sich. »Ich meine es ernst. Kein Mist à la barmherziger Samariter bringt einen blutenden Mann mit Schusswunde ins Krankenhaus, okay?«

»Okay.«

Ihre Augen glänzten. »Und auch kein Quatsch wie Aufsammeln und Absetzen von traumatisierten Müttern mit Töchtern und Krebspatienten.«

»Alles klar.«

Jack erinnerte sich an Miles, den Fremden, den er im Verkehrsstau in der Nähe der Innenstadt getroffen hatte, als der Strom ausfiel. Miles war auf dem Weg zu einer Krebsbehandlung im Texas Medical Center gewesen, als sie im Stau steckenblieben. Jack hatte ihm angeboten, ihn nach Norden, zurück nach Hause, mitzunehmen. Er hatte auch eine Mutter und ihre Tochter, Sally und Emily, in die Nähe ihres Zuhauses im Norden gefahren. Was war aus ihnen geworden? Waren sie sicher nach Hause gekommen, nachdem er sie am Straßenrand abgesetzt hatte?

Jack stellte sich vor, wie Mutter und Tochter sich in ihrer Wohnung verbarrikadiert hatten, knapp bei Wasser und Nahrung, verängstigt und im Dunkeln. Er malte sich Miles in seiner Wohnung aus, der die Minuten und Sekunden in seinem Kopf zählte, während er darauf wartete, dass die tödliche Krankheit sein Leid beendete.

In einer Region mit sechs Millionen Einwohnern ging Jack davon aus, dass die meisten die Folgen der beiden elektrischen Angriffe mit wenig Unterstützung und kaum Platz zum Leben durchstanden. Durch seine Tätigkeit als Bauunternehmer wusste Jack, dass sechzig Prozent der Einwohner Houstons in Wohnungen lebten. Es war eine dieser Städte, in der die Mehrheit in den Jahren um die COVID-19-Pandemie herum von Hausbesitzern zu Mietern gewechselt hatte. So hart es auch war, in einem Haus zu wohnen, stellte er sich doch vor, dass es für diejenigen, die auf kleinerem Raum lebten, unermesslich schwer war.

Er schob die Zerstreuung beiseite und führte seinen Sohn in die Garage, zog an der Schnur des automatischen Garagenöffners und rollte das Tor manuell hoch. Tageslicht flutete den Raum. Jack musterte die Häuser auf der anderen Straßenseite, entdeckte aber niemanden draußen.

»Dad?«

Jack fuhr herum und sah Joey im Eingang zum Haus stehen, an den Türpfosten gelehnt. Sorge hatte seine Stirn in Falten gelegt. Sein Haar war zerzaust, und er trug dasselbe Ensemble aus Sponge-Bob-T-Shirt und Shorts, das er seit drei Tagen anhatte. Es war den Streit nicht wert, ihn zum Umziehen zu bewegen.

»Was ist los, Joey?«

»Was machst du? Gehst du weg? Mom hat gesagt, dass du wegfährst. Ich hab gehört, dass Jasper mitkommt. Warum nimmst du ihn mit und mich nicht? Wenn er mitkommt, kann ich dann auch mit? Ich will mit dir mitkommen, wenn du wegfährst.«

Jack ging zwischen dem Truck und dem Minivan auf Joey zu. Er versuchte sich an einem Lächeln und legte seinem Sohn die Hand auf den Kopf. Betty stand mit vor der Brust verschränkten Armen zwei Meter hinter Joey. Tränen schimmerten in ihren Augen.

»Ich gehe zum Lagerraum und Jasper kommt mit. Er wird mir helfen, den Truck zu beladen, damit wir so schnell wie möglich wieder nach Hause kommen können.«

Joey starrte ihn an. Er schürzte die Lippen und verzog sie zur Seite.

»Was waren deine anderen Fragen?«

»Kann ich mitkommen?«

»Nein.«

»Warum nicht? Ich kann auch helfen. Wenn du Jasper und mich dabeihättest, würde es sogar noch schneller gehen. Es würde superschnell gehen. Ich bin stark, weißt du. Ich bin kein kleines Kind mehr.«

Jack warf seiner Frau einen Blick zu und ging in die Hocke, um sich auf Augenhöhe mit Joey zu begeben. Er legte ihm die Hände auf die Schultern. »Ich weiß, dass du stark bist, und ich weiß, dass du kein kleines Kind mehr bist.«

Ein Hoffnungsschimmer erhellte Joeys Miene. »Dann darf ich mitkommen?«

»Nein, mein Junge. Du musst hierbleiben. Wenn du nicht hier bist, wer soll dann Mom und Jenna beschützen und auf sie aufpassen?«

Hinter Joey wischte sich Betty eine Träne von der Wange. In den vergangenen fünf Tagen hatte sie viel geweint. Sie alle hatten viel geweint. Angst, Unsicherheit und Traurigkeit verstanden sich darauf, sich auf unerwartete Weise miteinander zu vermischen.

Joey sah Jack einen Moment lang an, bevor dieser nickte. Der Junge hob das Kinn und reckte es, machte sich unter Jacks Händen ein wenig größer. »Das kann ich machen.«

Jack lächelte wieder, diesmal weniger gezwungen. »Danke. Ich wusste, dass du das kannst.«

»Wie lange wirst du weg sein?«

»So lange wie nötig. Nicht eine Sekunde länger.«

»Das ist keine Antwort.«

Jack schüttelte das Handgelenk und sah auf die Uhr. Er rechnete kurz nach. »Wir können in weniger als neunzig Minuten zurück sein.«

Betty runzelte die Stirn. »So lange?«

»Es könnte auch schneller gehen, aber ich möchte nicht, dass du dir Sorgen machst, wenn, sagen wir, eine Stunde vergeht und wir nicht zurück sind. Wir haben die Garmins dabei, also können wir dich auf dem Laufenden halten.«

Sie blinzelte. Ihre Wimpern flatterten, während sie die Zeit, die sie getrennt sein würden, zu verarbeiten schien. Betty war eine starke Frau, die auf sich selbst aufpassen konnte. Sie hatte noch nie im Leben einen Mann gebraucht, aber sie hatte sich für einen entschieden, weil sie ihn wollte. Jack war sich dessen bewusst und wurde jedes Mal daran erinnert, wenn er sah, wie sie schwierige Dinge selbst in die Hand nahm. Betty war nicht der Typ Frau, der nach einem Manager fragte. Das war nie ihre Herangehensweise. Allerdings scheute sie auch nicht vor Konfrontationen zurück und konnte die Klügsten der Klugen überlisten.

Dennoch gab es eine Seite an ihr, die umsorgt, beschützt und wie eine Porzellanpuppe behandelt werden wollte. Jack verstand diese Zwiespältigkeit und tat sein Bestes, je nach Situation einzugreifen oder zurückzutreten.

»Dir wird nichts passieren«, sagte Jack.

Sie sah zu ihm auf, und ein vertrautes Grinsen zog eine Seite ihres Mundes nach oben. »Ich weiß. Ich mache mir keine Sorgen um mich. Ich mache mir Sorgen um dich, wenn ich an die Gefahr denke, die …«

Jack senkte die Stimme, um seine beste Bryan-Cranston-Imitation darzubieten. »Ich bin die Gefahr. Ich bin derjenige, der anklopft.«

Betty kicherte und verdrehte die Augen. »Also Walter White bist du nicht.«

Sie legte ihm die Hand auf die Brust und tätschelte ihn. Er zog sie an sich und hielt sie fest.

»Neunzig Minuten«, sagte er. »Stell deine Uhr danach.«

Sie sah auf ihr Handgelenk; es war bloß. Ihre Smartwatch war am ersten Tag ausgefallen.

Jack lächelte. »Siehst du, dann kommen wir auf keinen Fall zu spät.«

Er verabschiedete sich von seinen jüngeren Kindern, führte Jasper zum Truck und setzte sich hinters Steuer. Er betätigte den Anlasser, der protestierte und einige Sekunden lang durchdrehte, bevor der Motor ansprang. Brummend kam er in einen gleichmäßigen Leerlauf, und Jack trat auf die Bremse, bevor er den Rückwärtsgang einlegte. Er sah zu Jasper hinüber und bedeutete ihm, den Sicherheitsgurt anzulegen.

»Na schön, mein Sohn, jetzt sind wir beide allein. Halt die Augen offen und sei bereit.«

Jack fuhr den Truck vorsichtig aus der Garage. Als er die Schwelle überquerte, benutzte Betty die Zugschnur, um das Tor manuell herunterzulassen. Die Aufhängung des Trucks hüpfte von der Auffahrt in die Sackgasse, und Jack schaltete auf Fahren.

»Bereit wofür, Dad?«, fragte Jasper.

Jack beschleunigte langsam die Straße entlang und ließ den Blick von links nach rechts schweifen. Er hoffte, keine Nachbarn zu sehen, obwohl einige von ihnen sie sicher von ihren Häusern aus beobachteten. Er bog um die Ecke.

»Dad?«

»Für alles, mein Sohn. Wir müssen auf alles und jeden vorbereitet sein.«

 

Kapitel 3

 

FLAGSTAFF, ARIZONA

NETZAUSFALL, TAG FÜNF

 

 

Die morgendliche Kälte jagte Noel Slate einen Schauer über den Rücken. Er schauderte unwillkürlich, trotz des Dauerschweißes, der seine Achselhöhlen und die Falten an seinem Hals benetzte. In der offenen Tür seines Motelzimmers im ersten Stock stehend, trank Noel einen kräftigen Schluck seines heißen Tees. Der Morgen graute, und trotz der Jahreszeit formte sein Atem sichtbare Dampfwolken. Die frische Luft war ebenso belebend wie auch eine Erinnerung daran, dass er weit von zu Hause weg war.

Er wollte heimgehen. Mehr als alles andere wünschte er sich, in seinem eigenen Bett aufzuwachen, seine schlanke Supermodel-Freundin neben sich, ihr Bein über seins gelegt und ihr Gesicht an seinen Nacken geschmiegt. Heimzugehen war jetzt ein Ding der Unmöglichkeit. Sie wiederzusehen, war unwahrscheinlich. Zumindest in nächster Zeit. Wenn er sie wiedersähe, wann immer das sein mochte, würde sie ihn vermutlich zurückweisen. Er hatte sie in staatlichen Angelegenheiten verstrickt zurückgelassen. Soweit Noel wusste, befand sie sich in Bundeshaft und teilte den Vernehmungsbeamten alles mit, was sie wusste.

Tatsächlich hatte er ihr praktisch nichts über seine Pläne erzählt, Texas aus der Bahn zu werfen. Vielleicht hatte sie gedämpfte Telefonate überhört oder kodierte Nachrichten in verschlüsselten Apps auf seinem Handy gesehen. Trotzdem war er sich sicher, dass sie ihn nicht so verletzen konnte, wie er sie verletzt hatte, indem er die Stadt ohne Vorwarnung verlassen hatte.

Noel drehte sich um und betrachtete das ungemachte Bett in seinem Zimmer. Er hatte nicht geschlafen, nicht mehr, seit er aufgehört hatte, seine Medikamente zu nehmen. Er hatte im Bett gelegen und einseitige Gespräche mit sich selbst und anderen, die er sich im Zimmer vorgestellt hatte, geführt. Erst jetzt, als er die Einsamkeit erkannte, wurde ihm bewusst, dass diese Gespräche Halluzinationen gewesen mussten.

Sein Handy lag mit dem Display nach unten auf einem Kissen. Sollte er seiner Freundin eine Nachricht schicken? Sie anrufen? Er könnte ihr wenigstens sagen, dass es ihm gut ging. Er könnte herausfinden, ob und was sie den Ermittlern über ihn erzählt hatte.

Nein. Das war weder notwendig noch eine gute Idee. Falls sie Ärger hatte, wären ihre Geräte in den Händen der Behörden. Man könnte ihn hierher zurückverfolgen, zu diesem vorübergehenden Rückzugsort in den Bergen. Falls sie keinen Ärger hatte, könnte ein Anruf ein Gespräch mit ihr auslösen, das er nicht führen wollte. Es war besser, ihre Wut auf kleiner Flamme kochen zu lassen.

Noel trat aus der Tür und lehnte sich an das Geländer, das den Außenpool überblickte. Jenseits des Pools sorgten die Autos und Lastwagen entlang der Route 66 für einen ständigen Lärmpegel, der ihn nachts wachhielt.

Von seinem Aussichtspunkt aus konnte er über das niedrige, flache Dach des Motelhauptgebäudes hinweg sehen. Es stand auf der anderen Seite des Pools, und dahinter lag der Highway. Schmale Zirruswolken sahen vor dem weiten Berghimmel Arizonas fast wie Federn aus.

Eine Frau kam aus einem Zimmer irgendwo unter seinem und ging barfuß durchs leuchtend grüne Bermudagras, das den Pool auf der ihm am nächsten liegenden Seite begrenzte und sich zu einer rechteckigen Rasenfläche ausdehnte, die sich über die gesamte Länge des Bereichs zwischen der Rückseite des Motels und dem Hauptgebäude erstreckte. Sie trug ein blaues Männerhemd, das ihr bis auf die spindeldürren Oberschenkel hinunterhing, und tapste über den Rasen zu einem der drei privaten Cottages rechts von ihm. Die Frau hielt eine Schlüsselkarte an die blaugraue Tür. Es klickte. Sie stieß die Tür auf und verschwand im Inneren.

Er hatte die Cottages in Betracht gezogen, als er früher in dieser Woche im Motel eingecheckt hatte. Mit ihrer Zederschindelverkleidung und den schrägen Metalldächern sahen sie einladend aus, aber Noel hatte sie abgelehnt, weil sie mit Queensize-Betten ausgestattet waren. Auf so schmalen Matratzen konnte Noel nicht schlafen. Der Tech-Titan brauchte seinen Freiraum, und in einem herkömmlichen Kingsize-Bett zu schlafen, war Kompromiss genug.

Ein Licht im Inneren des Cottages der Frau ließ das Fenster links neben der Tür leuchten. Aus dem Gedächtnis erkannte Noel die linke Hausseite als diejenige wieder, in der sich das bescheidene Badezimmer befand. Er malte sich aus, dass sie gerade womöglich duschte, vielleicht nach einer ausschweifenden Nacht im Zimmer eines Anderen, den sie in der Bar oder an den Feuerstellen auf der Veranda vor dem Hauptgebäude kennengelernt hatte.

Für das, was er war, war der Ort perfekt. Hier konnte sich Noel verstecken und sich den neugierigen Blicken der FBI-Agenten entziehen, die nach ihm suchten. Das FBI. Diese Läuse, die den Menschen, die wirklich versuchten, die Welt zu verändern, das Blut aussogen. Alles, was außerhalb der Norm lag, stellte Kleingeistern ein Problem dar, und in seinen Augen gehörte das FBI zu den kleinsten Kleingeistern. Seine Welt, in der der Zweck die Mittel heiligt, konnten sie nicht begreifen. Sie waren Regelbefolger. Männer der Tat befolgten selten die Regeln. Die Regeln zu befolgen würde bedeuten, dass er seine Medikamente wie verordnet einnahm. Unter dem Einfluss der stumpfsinnig machenden Medikamente konnte er aber nicht er selbst sein. Sein Verstand war schärfer und seine Ideen waren so viel innovativer, wenn er von den benebelnden Pillen befreit war.

Wie schlimm war es wohl dort draußen? Hatte er die Gesellschaft zerstört und sie in die Steinzeit zurückversetzt? Wohl kaum. Rechtfertigte es eine Razzia in seiner Firmenzentrale in Kalifornien? Nicht nach dem, was er hier in Arizona sehen konnte. Nicht in der High Country Motor Lodge, die an einen Hang entlang der großartigsten Panoramastraße Amerikas geschmiegt war.

Trotz des Stromausfalls, den er in Texas ausgelöst hatte, und dem daraus resultierenden Chaos, funktionierte dieser Teil von Arizona in einem scheinbaren Vakuum. Hier blieb der Strom an, der Gemischtwarenladen verkaufte warmes Essen und die Bar schenkte eiskalte Getränke aus.

Der Mandel-Chia-Pudding war einer seiner morgendlichen Favoriten. Abends ließ ihm die Wüsten-Pinsa das Wasser im Mund zusammenlaufen. Die ungewöhnliche Kombination aus Prosciutto und Balsamico-Essig auf etwas, das im Grunde eine Pizza war, hatte etwas an sich, das ihn an jedem der letzten drei Abende dazu veranlasst hatte, sie zu bestellen. Noel war ein Mann, der selten von etwas oder jemandem abließ, das oder den er mochte.

Er trank seinen Tee aus, musterte den violetten Himmel in gut zweitausend Metern Höhe, füllte seine Lunge mit einem tiefen Zug kalter Luft und betrat sein Zimmer wieder. Aus einer Kassette neben dem niedrigen Doppelbett ertönte leise, von Rauschen geplagte Musik. Noel kannte weder den Sänger noch das Lied, hatte aber Gefallen an der übermäßig eingesetzten Jahrhundertmitte-Ästhetik gefunden, die in der Lodge so auffällig zur Schau gestellt wurde.

Das Motel war ein Rückblick auf die Blütezeit der Route 66 und deren Platz in der Americana, bevor das Highway-System um so viele kleine Städte herumgeführt hatte. Er hatte diesen Ort gewählt, weil die einzigen anderen Optionen ein Motel 6 und ein Howard Johnson gewesen waren. Diese waren nicht gut genug, Kingsize-Betten hin oder her.

Ein Klopfen an der Tür erschreckte ihn, und er hätte sich fast die Zahnbürste in den weichen Gaumen gerammt. Ohne die Zahnpasta auszuspucken, ging er vom bescheidenen Waschtisch zum Fenster und spähte durchs Glas. Sein Besucher entdeckte ihn.

Nachdem er seine Zähne fertig geputzt hatte, öffnete Noel Smooch, rechte Hand und Freund seit dem College, die Tür. Smooch betrat das Zimmer, ohne auf eine Einladung zu warten.

»Wie lange noch?«, fragte er. »Das ist der vierte Tag, Noel. Ich verstehe nicht, was wir hier machen. Es ist, als wären wir in Shangri-La, während die Welt brennt.«

Noel schloss die Tür und sperrte sie ab. »Sei nicht so dramatisch. Die Welt brennt nicht. Sie schwelt nicht einmal.«

Smooch sah auf seine Uhr. »Doch, tut sie. Hast du das Neueste gehört?«

»Das ist eine sehr weit gefasste Frage, Smooch. Das Neueste was?«

Smooch begann, auf und ab zu gehen. »Die Wall Street hat den Handel eingestellt.«

»Das hat sie doch schon am ersten Tag gemacht«, sagt Noel. »Es ist eine Notlösung. Investoren geraten in Panik. Soziale Medien verstärken das Ganze. Der Handel wird weitergehen und …«

»Nein«, sagte Smooch, der immer noch auf und ab ging. Seine Schuhe klapperten über die unechten Holzdielen. »Es ist unbefristet. Zu viel Volatilität. Und dann ist da noch die OPEC.«

Noel setzte sich auf den Stuhl neben der Klimaanlage, die unterhalb des Fensters an der Wand befestigt war. Er schlug die Beine übereinander und legte die Hände auf die abgenutzten Armlehnen. Das war nicht sein Zuhause. Wieder überkam ihn leichte Beklemmung, als er über die befristete Permanenz seines nomadischen Lebensstils nachdachte. Er vermisste sein Zuhause und den ausladenden Blick auf den Pazifischen Ozean. Er vermisste die Haustechnik, seinen Koch und seine Putzfrau. Das Hotel bot keinen Nachtservice an. Das war ein ökologisches Statement. Seine Freundin hätte es geliebt. War sie noch seine Freundin?

Noel warf einen Blick auf den Fünfzig-Zoll-Fernseher, der an der gestrichenen Betonwand hing. Trotz des Versprechens von »Premium-Kabel« und »dem ultimativen Streaming-Erlebnis« seitens des Motels hatte er ihn seit seiner Ankunft nicht eingeschaltet. Er hatte sich bewusst von Kabelfernsehen und Streaming ferngehalten. Noel wollte die Nachrichten nicht sehen. Sie würden ihn entweder erzürnen oder enttäuschen.

Smooch blieb stehen. »Hast du das gehört, Noel?«

»Was denn?«

»OPEC.«

»Was ist mit der?«

»Sie hat die Produktion gesenkt. Sie will die USA auspressen. Die Kraftstoffpreise explodieren. Das ist nicht gut. Nichts davon ist gut. Und wozu das alles?«

»Das haben wir doch schon besprochen, Smooch. Du weißt genau, worum es hier geht. Ich mache das nicht noch einmal. Hast du gefrühstückt?«

»Was? Nein. Was hat das denn jetzt damit zu tun? Du bist …«

Wieder klopfte es an der Tür. Noel seufzte und zeigte auf den Riegel. »Machst du bitte auf?«

Smooch schnaufte. Er ging zur Tür, drehte das Schloss und zog. Er trat zurück, und ein großer, ernster Mann schritt über die Schwelle, ohne Blickkontakt mit Smooch aufzunehmen.

Er legte eine Hand an Smoochs Brust, schob ihn mit den Fingern beiseite und schloss die Tür hinter sich. Smooch fügte sich, ohne das Gleichgewicht zu verlieren, aber die Kraft stieß ihn gegen die Bettkante.

Smooch zeigte auf den Hünen, dann auf Noel. »Mann, war das nötig?«

»Brick«, sagte Noel, »war das nötig?«

Brick ging zum rückwärtigen Teil des Zimmers, stützte sich mit einer seiner großen, fleischigen Hände am Türrahmen ab und beugte sich ins Bad. Er kehrte in die Mitte des Motelzimmers zurück, richtete seine schwarze Seidenkrawatte am Knoten und nickte Noel zu. »Alles klar, Sir.«

Lucas Brick war früher Soldat der Sondereinsatzkräfte gewesen, aber welche genau, wusste Noel nicht. Aber der Mann war loyal, diskret und der beste Leibwächter, den Noel je eingestellt hatte, ungeachtet seiner jüngsten Bemerkung.

»Ich weiß, dass alles klar ist«, sagte Noel. »Ich war die ganze Nacht alleine hier. Smooch ist gerade erst gekommen.«

Brick schüttelte den Kopf. »Nein, Sir. Ich meine nicht Ihr Zimmer. Ich meine die Situation an der Universität. Es ist alles klar. Wir können beginnen.«

Noel stand auf. Ein Adrenalinstoß ging durch seinen Körper, wie ein Schluck eiskalter Yerba-Mate. »Wirklich?«

»Wirklich.«

Noel klatschte in die Hände. »Großartig. Das ist großartig. Endlich können wir erledigen, wozu wir hergekommen sind, und von hier verschwinden.«

»Es warten drei Fahrzeuge auf uns, Sir«, sagte Brick. »Sie stehen auf der anderen Straßenseite und sind bereit.«

»Gut. Dann los. Gute Arbeit, Brick. Sehr gute Arbeit.«

»Es ist ein enges Zeitfenster, Sir. Wir sollten gehen.«

Smooch sah ein drittes Mal auf seine Uhr. Schweißperlen standen auf seinen Schläfen. »Tun wir das wirklich? Ich dachte, du machst Witze, Noel. Ich habe nicht geglaubt, dass es dir ernst ist.«

Er saß auf dem Bett und war nicht bereit, aufzustehen. Noel fasste seine Untätigkeit als stummen Protest auf, wenngleich Smooch mit seiner Abneigung gegen das, was Noel geplant hatte, alles andere als stumm gewesen war.

»Wir haben das doch besprochen«, sagte Noel. »Ich glaube, du solltest etwas essen. Komm, ich hole dir einen Pudding. Vielleicht den Haferbrei? Der wird dir guttun.«

»Ich hab keinen Hunger«, sagte Smooch, »und ich hab kein Interesse daran, Gouverneur Fines Tochter zu entführen. Sie ist unschuldig. Sie hat nichts mit der Sache zu tun. Ich hätte nie gedacht, dass du es ernst meinst.«

Noel stand einen Moment lang schweigend da. Er musterte seinen Freund, dann lächelte er ihn an und streckte ihm die Hand entgegen. »Komm, wir können darüber reden. Setzen wir uns in Bewegung.«

»Wir sollten das besprechen«, sagte Smooch. »Wir sollten uns Zeit lassen und die möglichen Folgen hier abwägen, es durchspielen.«

Smooch sah zu Boden. Sein Knie wippte. Was Noel für Angst vor den Folgen des Anschlags in Texas gehalten hatte, schien jetzt etwas anderes zu sein.

Noel benutzte Smoochs richtigen Namen. »Tyler, verschweigst du mir etwas?«

Eine Schweißperle tropfte von Smoochs Stirn und fiel neben seinen Füßen auf den Boden. Es war noch immer kalt im Zimmer. Noel starrte seinen ältesten Freund an, und sein Magen verkrampfte sich.

»Tyler, hast du …«

Brick legte Noel die Hand auf die Schulter. »Sir, ich bekomme gerade einen Bericht über Aktivitäten am Flughafen.« Der Bodyguard hielt einen Finger ans Ohr gedrückt. Seine Augen bewegten sich, während er einer Übertragung lauschte, die Noel nicht hören konnte.

»Bewegt die Autos«, sagte Brick. »Sofort.«

Brick sah Noel an. Der Wachmann ließ sich nie anmerken, was er dachte. Noel dachte oft, dass die Nerven im Gesicht des Mannes taub sein mussten, aber in diesem Moment blitzte ein Hauch von Sorge in Bricks Augen auf. Es war nur ein Anflug, mehr nicht, aber Noel war sich sicher, dass er sie gesehen hatte.

»Sir, auf dem Flughafen versammeln sich Bundesagenten. Sie kommen von der Außenstelle in Phoenix. Sie sind mit einem Regierungsflugzeug gelandet.«

Noels Herz schlug schneller. Es hämmerte in seiner Brust. »Wie? Wann?«

Brick hielt einen Finger hoch. Er nickte. »Das ist die zweite Welle. Ein weiteres Kontingent kam letzte Nacht an. Sie …«

»Ich war das.«

Noel drehte sich zu Smooch um. Tränen kullerten über die Wangen seines Freundes. Rotz blubberte in seinen Nasenlöchern. Seine Brust hob und senkte sich, als ob er gleich hyperventilieren würde.

Was ging hier vor sich? Noel konnte sich keinen Reim darauf machen.

»Was?«, fragte Noel.

»Ich war es. Ich habe das FBI angerufen und ihm erzählt, was du getan hast.«

»Wann?«

Smooch stand vom Bett auf, flehte mit den Händen. »Als wir noch in Los Angeles waren. Gouverneur Fine hat dich nicht verpfiffen, das war ich. Mein Gewissen konnte es nicht ertragen, Noel.«

Smooch trat näher, aber Noel schob ihn wieder aufs Bett. Wut brodelte in seinem Bauch. Er ballte die Hände zu Fäusten. »Und jetzt? Hast du sie hier auch auf mich gehetzt?«

Smooch schluckte wiederholt.

»Wann? Wann hast du sie angerufen?«

Smooch schlug die Hände vors Gesicht und schluchzte. Er sagte etwas Unverständliches.

Noel ging zum Bett und beugte sich hinunter. Er riss Smooch die Hände vom Gesicht und verpasste ihm eine Ohrfeige, um ihn zur Besinnung zu bringen. »Wann hast du sie angerufen?«

»Gestern Abend«, heulte Smooch. »Ich habe mir einen Tag Zeit gelassen. Ich habe gedacht, dass ich vielleicht darüber hinwegkommen kann. Aber ich kann es nicht, Noel. Ich kann es einfach nicht. Wir haben so viele Menschen verletzt und –«

»Brick«, sagte Noel, »wie viel Zeit bleibt uns noch?«

»Wir müssen los.«

Fluchend drehte sich Noel um, schlug gegen die Betonwand und schrie vor Schmerz auf. Wieder fluchte er, drehte sich zurück und schüttelte seine verletzte rechte Hand. Smooch saß auf der Bettkante. Tränen liefen ihm übers Gesicht. Ein knallroter Handabdruck zierte seine Wange und seine Kieferpartie.

Brick und Noel tauschten einen vielsagenden Blick. Brick nickte. Noel nahm seine Tasche und schloss die Tür auf. Auf der Schwelle zögerte er einen Moment lang und überlegte, ob er sich umdrehen sollte, um das Schlusswort mit dem Mann zu sprechen, der ihn auf eine Weise verraten hatte, die einer Shakespeare-Tragödie würdig war.

»Und du, Smooch?«, flüsterte er leise und trat aus dem Zimmer.

»Noel!«, rief Smooch ihm nach. Es war ein kläglicher, flehender Ruf. Ein mea culpa? Wahrscheinlich nicht. Es lag nur daran, dass Tyler Wallace wusste, was ihn erwartete. Brick war beim Gebrauch seiner Waffe noch nie subtil gewesen. Er wollte, dass die Leute es kommen sahen.

»Bitte … nicht …«

Das waren Smoochs letzte Worte. Zumindest waren es die Letzten, die Noel von ihm hörte. Als er die beiden gedämpften Schüsse hörte, die die frische Morgenluft durchdrangen, erreichte er gerade das Treppenhaus, das zum hinteren Parkplatz führte. Noel schluckte seine Emotionen hinunter, am Kloß in seinem Hals vorbei. Er würde Smooch vermissen, den er wie einen Bruder geliebt und wie seinen Lieblingssohn behandelt hatte. Bilder ihrer gemeinsamen Zeit an der Caltech, ihre Erfolge und Misserfolge, gingen Noel durch den Kopf. Auf dem Weg die Treppe hinunter lastete ein schweres Gefühl auf seiner Brust, und er kämpfte gegen den Drang an, beruhigend nach der trockenen Luft zu schnappen.