DIE FARM - Tom Abrahams - E-Book + Hörbuch

DIE FARM E-Book und Hörbuch

Tom Abrahams

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Beschreibung

"Eines der Bücher, die Sie lesen sollten, wenn Sie The Walking Dead lieben." [Bookbub] "Eine überzeugende neue Stimme, die ganz sicher alle Fans postapokalyptischer Literatur begeistern wird." [Russell Blake] Inhalt: Er dachte, er wäre vorbereitet. Er dachte, seine Familie wäre sicher. Er hatte sich geirrt. Fünf Jahre, nachdem eine Lungenpest zwei Drittel der Weltbevölkerung auslöschte, lebt Armeeveteran Marcus Battle zurückgezogen und isoliert, allein mit seinen Waffen, seinen Essensvorräten und den Gräbern seiner Frau und seines Kindes. Ohne zu ahnen, welches Chaos in der Welt ausserhalb seiner Ranch im Herzen von Texas herrscht, lebt Marcus ein spartanisches Leben. Wer ungefragt sein Land betritt, wird erschossen. Doch dann sucht eine verzweifelte, von marodierenden Horden gejagte Frau bei ihm Zuflucht, und Marcus muss eine Entscheidung fällen: Soll er sie den Mördern überlassen, um sich nicht selbst zu gefährden, oder soll er ihr helfen und dafür sein schützendes Heim verlassen?

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Zeit:8 Std. 10 min

Sprecher:Martin Valdeig

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DIE FARM

Traveler Serie - Band 1

Tom Abrahams

übersetzt von Andreas Schiffmann

Copyright © 2015 by Tom Abrahams

All rights reserved. No part of this book may be used, reproduced or transmitted in any form or by any means, electronic or mechanical, including photocopying, recording, or by any information storage or retrieval system, without the written permission of the publisher, except where permitted by law, or in the case of brief quotations embodied in critical articles and reviews.

Für meine Homies Courtney, Sam und Luke

Die Wahrscheinlichkeit einer nahen Apokalypse lässt sich nicht realistisch einschätzen, ist aber bestimmt zu hoch, um sich als geistig gesunder Mensch geruhsam damit zu beschäftigen.
Noam Chomsky

Impressum

überarbeitete Ausgabe Originaltitel: HOME Copyright Gesamtausgabe © 2024 LUZIFER-Verlag Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Cover: Michael Schubert Übersetzung: Andreas Schiffmann Lektorat: Diana Glöckner

Dieses Buch wurde nach Dudenempfehlung (Stand 2024) lektoriert.

ISBN E-Book: 978-3-95835-211-7

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Inhalt

DIE FARM
Impressum
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Über den Autor

Kapitel 1

12. Oktober 2037, 23:56 Uhr – Jahr 5 nach dem Ausbruch – östlich von Rising Star, Texas

Marcus Battle schaute durchs Visier. Obwohl er in seinem grün-schwarzen Sichtkreis nichts entdeckte, wusste er, dass etwas – oder jemand – dort draußen war. Die Stolperfalle dreihundert Yards vor seiner Fronteinfahrt hatte einen Alarm ausgelöst, also konnte er nicht mehr allein sein.

Er lag in dreizehn Fuß Höhe auf dem Bauch, versteckt im aus Kiefernholz gebauten Baumhaus seines Sohnes, das in einer Eiche hing. Die Mündung des zwanzig Zoll langen Laufs seines Gewehrs hatte er mittig auf die Kante einer breiten Lücke zwischen den Latten in einer Ecke gelegt.

Von dort aus konnte sich Battle einen guten Überblick verschaffen und Eindringlinge problemlos aufhalten, sobald sie zu nahe kamen. Sie kamen immer zu nahe; er hielt sie immer auf.

Battle kramte ein Pfefferminzkaugummi aus seiner Brusttasche und steckte es sich in den Mund. Dann schaute er wieder durchs Visier. Nichts.

Er nahm den Zeigefinger vom Abzug des halbautomatischen Gewehrs, eines DPMS Prairie Panther King's Desert Shadow vom Kaliber .223. Sein Kosename dafür lautete ›Inspector‹, in Anlehnung an Der rosarote Panther. Alle seine Waffen trugen Namen von Filmfiguren.

Als Battle auf die Uhr schaute, war es kurz vor Mitternacht. Bis er den Eindringling – vielleicht waren es auch mehrere – identifiziert hatte, konnte ihm die Zeit lang werden. Nach dem Seuchenausbruch vor fünf Jahren erlebte er Nächte wie diese häufig.

Er schmatzte, der Kaugummi schmeckte gut. Leider war er zu klein, weshalb Battle keine Blase hinbekam. Auf einmal hörte er Schritte.

Genauer gesagt handelte es sich um Geraschel und ein Knistern von Laub, durch das jemand lief … auf seine Einfahrt zu. Battle schaute abermals durchs Visier und ließ den Blick übers Gelände schweifen, auf dem vereinzelt andere Eichen standen, die sein Anwesen vor der Hauptverkehrsstraße verbargen.

Er suchte links und dann rechts. Als er das Gewehr wieder in die Gegenrichtung schwenkte, sah er eine grüne Gestalt, die sich zügig aufs Tor zubewegte. Sie verschwand hinter einer Eiche und schnellte dann zwischen zwei weiteren hindurch. Selbst mit Nachtsichtgerät machte Battle die Dunkelheit zu schaffen. Zu viel Licht, und sie funktionierten nicht; zu wenig, und man konnte sie genauso wenig gebrauchen.

Schließlich atmete er langsam aus und hakte den Finger wieder ein. Dabei stemmte er das Gewehr gegen seine Schulter und behielt den Eindringling im Visier, wobei er seinen Weg vorausberechnete.

»So fern der Osten ist vom Westen«, flüsterte er bei sich, »hat er von uns entfernt unsere Vergehen.«

Battle biss die Zähne zusammen. Gerade als er abdrücken wollte, schrie eine Frau auf.

»Hilfe!«, japste sie atemlos. Ihre Bitte verhallte im wolken- und mondlosen Himmel. »Helfen Sie mir, bitte!« Sie lief nun von der Einfahrt davon, und zwar parallel zu dem Zaun entlang der Vorderseite des Geländes, der die zentralen zwei Morgen Land des Grundstücks umschloss. Sie bewegte sich in Richtung Westen, also genau auf Battle zu.

Er wusste, dass dies eine Falle sein konnte. Möglicherweise fungierte sie als Köder, um ihn von seinem sicheren Ausguck nach unten zu locken. Nicht weit entfernt hinter Eichen konnten Männer auf der Lauer liegen, um ihn zu erschießen. Dennoch ermahnte ihn eine innere Stimme zum Warten, statt gleich zu feuern.

Je weiter sich die Frau dem Baumhaus näherte, desto weniger zweifelte er daran, dass sie sich wirklich fürchtete. Sie stolperte über ihre eigenen Füße und verlor das Gleichgewicht, während sie an der Geländegrenze entlang hastete. Ohne Mondlicht konnte Battle so gut wie gar nichts durchs Visier ausmachen.

Zwischen den Eichen weiter südlich raschelte es ebenfalls. Von dort kamen mindestens zwei Männer gerannt, die hörbar schnauften. Einer war schneller als der andere. Er rief der Frau zu: »Komm zurück!« Er hatte eine tiefe Stimme. »Du gehörst mir!«

Battle rutschte auf dem Bauch herum und schaute wieder nach links, wo ihm ein leuchtend grüner Fleck auffiel. Er sah den schnelleren Mann auf dem Schotterweg vor der Einfahrt. Beidhändig wie ein Infanteriesoldat hielt der Kerl eine Flinte, zudem steckte eine Pistole in einem Holster an seiner rechten Hüfte. Seine Brust bebte, als er am Tor stehen blieb.

»Du kannst nicht fliehen!«, rief er. »Ich krieg dich. Diesmal schneide ich dir …«

Wupp! Wupp!

Eine Zehntelsekunde, nachdem Battle abgedrückt hatte, durchschlugen die 77-Gran-Hohlspitzgeschosse das Brustbein des Mannes. Sie deformierten sich beim Aufprall, um den Schaden noch zu vergrößern, und töteten ihn auf der Stelle, während er sein Gewehr noch festhielt.

Klack! Klack! Klack!

Battle ließ vom Visier ab, damit ihn die Mündungsblitze nicht blendeten, als der andere Kerl das Feuer erwiderte. So musste er sich ohne Lichtverstärker im Dunkeln orientieren.

Klack! Klack! Klack!

Die weißen Flammen zuckten ungefähr fünfundsiebzig Yards weit entfernt auf, genau südlich des Baumhauses. So wie sich die Schüsse anhörten, mussten sie von einer halbautomatischen .45er-Pistole abgegeben werden. Deren Magazin enthielt wohl zehn bis fünfzehn Patronen.

Klack! Klack! Klack! Klack!

Nun hatte der langsamere Mann entweder alle verschossen oder noch fünf weitere. Es spielte keine Rolle. Diese vier Blitze gaben seine Position preis. Weniger als drei Sekunden, und er würde nicht mehr leben.

Battle sah die letzten beiden Schüsse. Als er sich sein Visier wieder vornahm, sah er eine Bewegung neben einer Eiche.

Wupp! Wupp! Wupp!

Klack!

Die Hohlspitzgeschosse schlugen dicht nebeneinander in den Hals des Mannes ein und verfehlten das Schlüsselbein nur knapp. Beim Aufprall zuckte er zusammen, wodurch sich ein Schuss aus seiner Glock löste, als er zusammenbrach. Die Kugel traf den Baum neben ihm.

Als es wieder still war, lauschte Battle: kein Geraschel und kein Wind, nur das leise Wimmern der Frau. Auf seine Ellbogen gestützt robbte er weiter in die Ecke des Baumhauses, um senkrecht hinunterschauen zu können. Dabei zielte er mit Inspector auf sie, während sein Finger hinterm Abzugsbügel ruhte, und betrachtete sie durchs Visier.

Sie drückte sich gebückt gegen den Zaun, wollte sich möglichst klein machen. Die langen Haare hingen ihr ins Gesicht. Battle sah ihren Rücken beim Atmen zitternd auf und nieder gehen. Er holte tief Luft – dabei verschluckte er fast den Kaugummi –, und traf eine Entscheidung.

»Nicht weglaufen!«, rief er nach unten. »Ich komm und helfe dir.«

»Nein!«, erwiderte sie, nachdem sie ungefähr dorthin aufgeschaut hatte, wo sie ihn wähnte. »Nein! Bitte nicht.«

»Ich tu dir nichts«, versprach er, während er seinen Kopf wieder einzog. Sie machte ein weiteres Mal deutlich, dass sie seine Hilfe ablehnte. Gerade eben hatte sie um Hilfe gebeten, jetzt wollte sie sie nicht mehr. Vielleicht handelte es sich tatsächlich um eine Falle, vielleicht fungierte sie doch als Köder. 

Nachdem sich Battle hingekniet hatte, schraubte er das Zweibein von der Unterseite des Gewehrs. Dann stand er auf und hängte es sich an den Rücken. Außerdem griff er zu einer Nachtsichtbrille und steckte sich seine Sig Sauer P226 in den Hosenbund. Die Pistole hieß ›McDunnough‹, wie Nic Cage in Arizona Junior.

Mit den fünfzehn Patronen im Magazin von Inspector und den zehn .357er-Kugeln in McDunnough konnte er sich gegen Bären und alles andere behaupten, was ihm in die Quere kommen konnte.

Battle kletterte durch die Bodenklappe an der Westseite des circa acht Quadratfuß großen Baumhauses hinunter. Dazu hatte er Sprossen aus Kiefer an den Stamm der Eiche genagelt. Ebenso schnell wie leise war er unten und trat auf das alte Laub. Die Frau kauerte nur ein paar Schritte von ihm entfernt, doch der Lattenzaun, der knapp anderthalb Meter hoch war und eine rechteckige Umfriedung für die zwei Morgen Land bildete, trennte sie von Battle. In den Zwischenräumen verstärkte ein dickes Aluminiumgeflecht die Konstruktion, das fester als etwa Hasendraht war.

»Bleib einfach, wo du bist«, sagte Battle so beschwichtigend wie möglich. Dies war das erste Mal seit Jahren, dass er jemand anderen außer sich selbst beruhigen wollte. »Ich komme durchs Tor rüber. Dann hol ich dich mit rein, ja?«

»Nein«, jammerte die Frau. Selbst aus der Nähe erkannte er kaum mehr von ihr als die zerzausten Haare. »Bitte nicht.«

Er klappte das Visier des Nachtsichtgeräts herunter und schaltete es ein. Das Bild war orangefarben. Die Pupillen der Frau – klein wie Stecknadelköpfe – leuchteten wie die eines Rehs im Scheinwerferlicht. Battles Nackenhaare richteten sich auf. Er spürte ihre Furcht.

»Schon gut«, sagte er mit hochgehaltener Hand. »Ich tu dir nichts.«

Auf dem Weg zur Einfahrt raschelten Blätter am Boden, die er zertrat. Während er sich entfernte, sagte die Frau etwas, aber so undeutlich, dass er es nicht verstand. Was ihr die Männer angetan hatten, konnte er sich nur vorstellen.

An der Einfahrt war auf Hüfthöhe ein Kasten angebracht. Diesen öffnete er und tippte einen Code ein. Das gusseiserne Tor glitt geräuschvoll auf einer Schiene zur Seite, während es vom Motor an einer Kette aufgezogen wurde.

Er trat hinaus und kniete neben der Leiche des schnelleren der beiden Männer nieder. Dessen Augen waren geöffnet und starrten ins Leere, während Battle seine Taschen durchsuchte. Viel fand er nicht: Ein Päckchen Camel mit Feuerzeug, einen Flachmann und eine Schachtel Patronen für die Flinte.

Er hob die Waffe auf, eine gasbetriebene Browning Silver Hunter. Dann schüttelte er den Kopf, weil ihm eine solche Waffe in dieser Welt, nachdem die Seuche gewütet hatte, furchtbar unzweckmäßig vorkam. Hübsch war sie wohl – der Schaft aus Nussholz und matt lackiert – aber die törichte Wahl eines, wie Battle glaubte, törichten Mannes.

Er legte die Browning wieder hin, die er mit Bezug auf Dumm und dümmer bereits ›Lloyd‹ getauft hatte, und warf einen Blick auf das Hüftholster. Es war leer.

Keine Pistole?

Battle schloss die Augen und rief sich ins Gedächtnis, wie er vom Baumhaus aus auf die Hüfte des Kerls geschaut hatte. Dort war eine Pistole gewesen, ganz sicher.

Schließlich stand er wieder auf und ging zum Tor zurück. Als er über die Schwelle trat, drehte er sich nach der Schließvorrichtung um. Plötzlich schlug von der Seite etwas Festes, Schweres gegen seinen Kopf, wodurch das Nachtsichtgerät verrutschte. Er taumelte benommen und wurde erneut gleich mehrmals mit großer Wucht getroffen, bevor er, zusätzlich behindert durch Inspectors Gewicht, unbeholfen umkippte.

Dann lag er auf der Seite – die Waffe halb unter ihm –, und jemand, der Stiefel mit Stahlkappen trug, trat ihm gegen die Rippen. Battle schrie und wollte sich entziehen, war aber nicht schnell genug.

»Du hast meinen Bruder erschossen«, brüllte der Angreifer und kniete sich mit vollem Gewicht auf Battles geprellten Brustkorb. »Ich mach dich kalt.« Während er ihn zu Boden drückte, würgte der Fremde ihn mit links und hielt ihm mit rechts eine Pistole an die Wange.

Battles rechter Arm war unter seinem Körper eingeklemmt, der linke jedoch frei. Schnell fasste er sich an den Rücken, um McDunnough zu ziehen.

»Wie ein Käfer auf dem Rücken liegst du da«, höhnte der Angreifer und stieß Battle den Pistolenlauf ins Gesicht. »Ein kleiner Babykäfer. Sag Lebewohl, Babykäfer.«

Die Wut machte den Mann unaufmerksam, sodass Battle die Sig aus seinem Hosenbund ziehen konnte. Ohne in der Bewegung innezuhalten drückte er sie ihm unters Kinn und feuerte. Der Schuss aus unmittelbarer Nähe warf den Kerl aufs Kreuz. Battle wälzte sich zur Seite und wischte Blutspritzer aus seinem Gesicht. Nachdem er die Sig zurückgesteckt hatte, ging er zu dem Toten, dessen Unterkiefer zerfetzt war, und nahm die Pistole aus seiner leblosen Hand. Battle verzog sein Gesicht, weil ihm die Seite wehtat. Um zügig zu der Frau zurückzukehren, schaute er durchs Visier des Gewehrs.

»Wer bist du?«, fragte er streng und zielte mit Inspector auf ihren Kopf. »Was hast du hier zu suchen?«

»Ich … ich …« Sie hielt sich die Hände vors Gesicht.

»Wer bist du?«, wiederholte Battle, während er mit dem Gewehr nach ihr stieß. »Solltest du mich in einen Hinterhalt locken?«

»Hinterhalt? Nein. Nein, bitte.«

»Du wolltest Hilfe, dann aber nicht mehr. Daraufhin wurde ich angegriffen und fast getötet. Was willst du wirklich?«

»Ich wollte Hilfe«, beharrte sie. »Ich wollte Hilfe. Sie jagten mich, ich bin geflohen.« Sie schüttelte den Kopf, ohne die Hände herunterzunehmen, wohl weil sie den Gewehrlauf nicht sehen wollte.

»Wer sind sie?«

»Schlimme Menschen«, antwortete sie. »Schlimme Menschen.«

»Warum hast du meine Hilfe abgelehnt?« Battle schaute verbissen mit seinem linken Auge durchs Visier.

»Weil ich wusste, dass du sie nicht alle erschossen hattest.«

»Woher wusstest du das?«

»Zwei jagten mich, zwei weitere kamen hinterher.«

»Zwei?«

»Ja.«

»Also vier insgesamt?«

»Genau.«

Battle fuhr herum. Sein Puls raste. Er nahm Inspector wieder fest in die Hände und suchte die Baumgrenze ab, schwenkte die Waffe ruckartig von einer Eiche zur nächsten. Nichts, also drehte er sich wieder zu der Frau um.

Sie kauerte noch am Zaun, ihr Gesicht nach wie vor hinter Händen und Haaren verborgen.

»Komm mit mir.« Er beugte sich nach vorn, packte einen ihrer Arme und zog sie hoch. »Wir müssen hier weg.«

Sie zögerte. »Ich glaub, ich hab mir einen Knöchel verstaucht.«

»Darum kümmern wir uns später. Solange musst du's aushalten.«

Battle hatte es auf dem Weg zur Einfahrt so eilig, dass sie wieder ins Stolpern kam. Während er sie durchs Tor drängte, behielt er die Eichen im Auge. Als er das elektronische Schloss mit einem Daumen betätigte, ging das gusseiserne Gatter wieder zu. Beim Einrasten klingelte es einmal laut.

»Schnell unters Dach.« Er zog sie auf dem mit Splitt gestreuten Fahrtweg hinter sich her zur Haustür des Hauptgebäudes. Sie humpelte. Ihre Bitte, langsamer zu laufen, ignorierte er.

An der Ostseite des Hauses zweigte der Weg zu einer freistehenden Garage für drei Autos ab. Battle ging links weiter aufs Gebäude zu. Auch neben der Tür war ein Tastenfeld angebracht, wo er einen Code eingab, bevor er die schwere Tür aus massivem Mahagoni öffnen konnte.

Im Eingang blieb er stehen und schaute sich noch einmal auf dem Gelände um, bevor er die Tür schloss. Er merkte sich, welche Waffen er draußen gelassen hatte: Das Gewehr Lloyd und die 9mm-Pistole, die ihm beinahe zum Verhängnis geworden war. Erst bei Tageslicht würde er sie hereinholen können.

»Ich durchsuche dich jetzt«, kündigte er an. »Keine Angst, ich tu dir nicht weh, muss mich aber vergewissern, dass du unbewaffnet bist.«

Sie antwortete nicht, sondern hielt lediglich die Arme vor ihrer Brust verschränkt. Dabei zitterte sie und bemühte sich, nicht mit ihrem verletzten Fuß aufzutreten.

»Du musst deine Arme schon herunternehmen«, sagte Battle. »Ich taste dich mit meinen Handrücken ab, ja?«

Sie ließ die Arme hängen, zuckte aber zusammen, als er sie berührte. Wie jede potenzielle Bedrohung suchte er sie gründlich ab. Als er sicher war, dass sie keine Waffe mit sich führte, kehrte er ihr den Rücken zu und ging wieder zur Haustür, wo er mehrere Schalter an der Wand bediente. Daraufhin wurde es hell in der Diele, und im sanft gelben Licht tat sich ein langer Flur vor ihr auf. Zuletzt gab er einen weiteren Zahlencode auf einer Tastatur ein.

»Der Alarm ist jetzt eingeschaltet«, bestätigte das Sicherheitssystem mit monotoner Computerstimme.

Battle führte sie zur Küche. Sie trug Jeans und ein weißes T-Shirt, beides schmutzig. Schuhe hatte sie keine an. Gut möglich, dass sie sich eine ganze Zeit lang nicht gewaschen hatte.

Als sie den Raum betraten, drückte er einen Schalter neben der Tür, mit dem sich auch die Lichthelligkeit regeln ließ. Dann zeigte er auf einen einzelnen Barhocker an einer breiten Kücheninsel aus weißem und grauem Granitstein.

Sie setzte sich und drehte sich ihm zu, nachdem er sich an die gegenüberliegende Seite der Arbeitsplatte gestellt hatte. Schließlich strich sie ihre Haare mit beiden Händen hinter die Ohren und schaute zu Battle auf.

Er legte das Gewehr vor sich hin, ließ aber nicht davon ab. Sollte sie etwas Dummes versuchen, stand er mit sicherem Abstand vor ihr.

Sie war seit über eintausendsiebenhundert Tagen der erste andere Mensch im Haus.

Kapitel 2

5. August 2032, 10:35 Uhr – zwei Monate vor dem Ausbruch – östlich von Rising Star, Texas

»Du weißt, dass du sie nicht mehr alle hast.« Sylvia Battle stand unter der höchsten Eiche auf ihrem fünfzig Morgen umfassenden Grundstück. Sie schaute zu ihrem Ehemann und dessen jüngster Schöpfung auf. »Er wird nie von da oben runterkommen.«

Marcus Battle schulterte seine Werkzeugtasche aus Stoff, ließ sich an der Kante der Bodenklappe nieder und die Beine herunterhängen. Gerade hatte er das zweite Scharnier festgeschraubt.

»Er?«, fragte er lachend und begann mit dem Abstieg – nicht ohne die Klappe über sich zuzuziehen – an den frisch zugeschnittenen Kiefersprossen, die als Leiter am Stamm des Baumes dienten. »Ich komme vielleicht nie runter.«

Die letzten Sprossen sparte er sich und sprang auf den Boden, wobei die Werkzeugtasche gegen seine Seite schlug.

»Pass auf«, lachte Sylvia und umarmte ihren Mann. »Da stecken ziemlich gefährliche Geräte drin.«

»Ich werde dir ein gefährliches Gerät zeigen«, entgegnete er verschmitzt und gab ihr einen Kuss auf den Mund.

»Du schmeckst nach Schweiß.«

»Du auch gleich.«

»Es reicht, Marcus.« Sie schlug ihm scherzhaft gegen die Brust. »Du bist dreckig.«

»Du …«

»Schon klar.« Sylvia schubste ihn und wandte sich ab, um zum Haus zurückzulaufen. »Kommst du mit rein?«

»Klar, aber zuerst schau ich nach, ob an der Scheune alles okay ist. Dann geh ich duschen und fahr in die Stadt, um das eine oder andere zum Reparieren zu besorgen.«

»Ich dachte, das hättest du schon getan«, erwiderte sie, blieb stehen und stemmte ihre Hände in die Hüften. »Bis nach Abilene brauchst du 'ne Stunde. Wie lange wird es dauern?«

»Drei Stunden höchstens. Beim Einkaufen brauche ich nicht lange. Ich werde mich an meine Liste halten. Mir geht es darum, meinen Turnus einzuhalten: Altes muss raus und Neues her.«

»Sir, jawohl, Sir.« Sylvia salutierte scherzhaft vor ihm.

»Ich bin kein Sir.« Marcus verdrehte die Augen. »Wenn du mich schon militärisch grüßt, tu's wenigstens richtig.«

»Verzeihung, Major Battle«, kicherte sie. »Ich find's einfach zu lustig – Major Battle. Hättest du es noch ein bisschen länger ausgehalten, wärst du wahrscheinlich Lieutenant Colonel Battle geworden. Viel, viel besser.«

»Du wolltest ja nicht, dass ich in der Armee bleibe«, erinnerte er sie.

»Ach egal.« Sie winkte ab und marschierte aufs Haus zu. »Bis gleich.«

Marcus schaute ihr gern beim Gehen zu. Sie hatte ihre Schultern zurückgeschoben, und ihre Hüften wiegten sich sanft. Als sie durch die Haustür verschwand, machte er sich auf den Weg zur Scheune, einem von drei Gebäuden auf ihrem Land. Das Gelände in der Mitte hatte er eingezäunt und mit einem elektrisch verschließbaren Zaun ausgestattet. Wenn er verreiste, ließ er Frau und Kind ungern allein zurück, doch diese Vorrichtung vermittelte ihm zumindest ein wenig Sicherheit.

Innerhalb der Umfriedung befand sich neben der Scheune und dem Wohngebäude die Garage für drei Autos und ein Garten. Er hatte seinem Sohn das Baumhaus zum Geburtstag gebaut. Wesson wurde neun Jahre alt. Er war der Mittelpunkt im Leben der Battles. Wäre Wes nicht zur Welt gekommen, hätte sich Marcus wohl tatsächlich zum Lieutenant Colonel aufgeschwungen. Bestimmt würde er weiterhin Dienst schieben, vermutlich in Syrien oder dem Iran … oder schon gar nicht mehr leben.

Jetzt zog er das große Scheunentor auf und betrat sein Bollwerk gegen das Ende der Welt. Auf zweitausend Quadratfuß hatte er Bedarfsgüter zusammengetragen, die ihn und seine Familie über Jahre hinweg am Leben halten sollten, falls alles vor die Hunde ging.

Nach sechs Einsätzen in drei Kriegsgebieten wusste er, was die Hölle bedeutete, und glaubte, man könne nie gut genug vorbereitet sein.

Hinten an der achtzig Fuß langen Bretterwand ohne Verkleidung hatte Marcus eine Reihe von jeweils zwölf Fuß hohen Regalen aufgebaut. Es waren sechs an der Zahl im Abstand von je zwei Fuß zueinander auf insgesamt vierzig Fuß. Er hatte sie in vier Sektionen aufgeteilt: Trockenwaren, Konserven, Drogerieartikel und Erste-Hilfe-Bedarf zusammen mit den Haushaltswaren. Dazu zählte sogar ein Vorrat von Antibiotika und Kortikoiden. Ein ehemaliger Sanitäter der Army, der nun als Vertriebsvertreter im Apothekenwesen arbeitete, hatte Marcus bei Kundenbesuchen in Abilene Proben geschenkt. Es waren handelsübliche Breitspektrum-Arzneien, die sich relativ lange lagern ließen, zumal ihm der Mann versichert hatte, man könne sie auch weit über ihr Verfallsdatum hinaus verwenden. Auch wenn sie dann nicht mehr so gut wirken würden, hielt es Marcus für geraten, im Ausnahmezustand etwas zur Hand zu haben.

Das Ende der Welt war definitiv ein Ausnahmezustand. Marcus hatte dem Vertreter im Gegenzug für die Medikamente stets ein Mittagessen ausgegeben.

Fast drei Jahre waren vergangen, bis die Regale komplett gefüllt waren. Bevor etwas schlecht wurde, verbrauchten sie es, und er kaufte Nachschub. Marcus entsann sich, dass Sylvia es zuerst für Zeit- und Geldverschwendung gehalten hatte, aber irgendwann Ruhe gab, als ein unerwarteter Wintersturm Zentraltexas heimgesucht und das Elektrizitätsnetz lahmgelegt hatte. Dabei waren die Zuwege ihres Grundstücks unbefahrbar gewesen.

Ebenjener Sturm hatte seine Frau davon überzeugt, ihm zu erlauben, drei Norcold-Gefrierschränke zu kaufen, die sich mit Solarenergie, Erdgas oder elektrisch betreiben ließen. Sie waren nicht billig gewesen, machten ihre Lebensmittel aber viele Monate länger haltbar. Zwei waren gefüllt mit Hackfleisch und Hähnchenbrust, Schweinelenden und Wildbret von Rehen oder Hirschen, die er selbst erlegt und ausgenommen hatte. Darin lagen sogar ein paar abgepackte Würste aus Wildschweinfleisch.

Der Inhalt des letzten der drei Schränke, die alle nebeneinander an der Westwand der Scheune standen, war ausnahmslos flüssig. In ihm standen gallonenweise Kanister mit gefrorenem Quellwasser. Falls sein Reservoir, aus welchem Grund auch immer, verseucht wurde oder die Leitungen nicht mehr funktionierten, war dieses Eis die einzige Trinkwasserquelle der Familie. Aufgetaut konnte es sie eine bis zwei Wochen durchbringen, besser als nichts. Sie brauchten das Wasser regelmäßig auf, sodass Marcus den Schrank jeden Monat neu befüllen musste.

An der Ostwand lagerten Waffen. In einem Schließschrank mit Schiebetüren, der fast die ganze fünfundzwanzig Fuß lange Seite der Scheune einnahm, waren Gestelle voller Gewehre und Pistolen untergebracht, eine Wiederladepresse für Flintenkugeln, Munitionskisten sowie ein Kompositbogen mit Köcher und einem Dutzend Hochpräzisionspfeilen.

Im Elternschlafzimmer des Hauses stand zudem ein Waffensafe, wo Marcus seine Lieblingspistole und eine Flinte mit abgesägtem Lauf aufbewahrte, die er im Scherz seinen »Kehrbesen« nannte. Dieses Waffenarsenal unterhielt er fürs Ende aller Tage, das er – davon war er überzeugt – noch erleben würde.

Wie immer überprüfte er zunächst das Schloss am Schrank, indem er daran rüttelte, und stellte dann die richtige Zahlenkombination an dem Drehmechanismus ein, der sich an der Unterseite befand. Dann wandte er sich ab und ging an den Lagerregalen entlang nach links, die wie in einem Kaufhaus nebeneinander im hinteren Teil der Scheune standen. Dabei richtete er seinen Blick auf die unteren Böden, wo jene Artikel standen, die am schnellsten verdarben, und nahm sein Handy heraus.

»Merkliste«, sprach er hinein. »Ich brauche Mignon- und Mikro-Batterien, außerdem zwei Schachteln Erkältungsmittel, drei Tuben Heilsalbe und fünf Fläschchen Aspirin.«

Nachdem er die übrigen Regale abgeklappert hatte, wobei er sich der Verfallsdaten auf Reisbeuteln und Dosen mit Bohnen, Suppe sowie Thunfisch vergewissert hatte, beendete er seinen Rundgang an den Gefrierschränken. Seine Liste wurde nicht so lang, wie er es erwartet hatte, und das war gut. So brauchte er sich nicht so lange mit dem Einkaufen aufzuhalten und musste weniger Geld ausgeben.

Marcus schloss das Scheunentor und ging an einem mit Naturgas betriebenen Generator vorbei. Alle drei Gebäude verfügten über eine solche Notstromversorgung, die sich im Bedarfsfall innerhalb von dreißig Sekunden automatisch einschaltete.

Die Generatoren waren mit einer unterirdischen Gasleitung verbunden. Vor einigen Jahren hatte er mit einem Energiespekulanten einen Pachtvertrag für einen Teil des Landes abgeschlossen. Als man auf Gas gestoßen war, hatte der Stromanbieter eine Sammelleitung ausschließlich für Marcus' Gebrauch verlegt.

In Zentraltexas gab es riesige Erdgasbestände, die einen Großteil der achtundfünfzigtausend Meilen langen Pipelines speisten, die durch den Staat verliefen. Im Gegensatz zu vielen Grundbesitzern hatte Marcus sein Mineralgewinnungsrecht beim Kauf des Geländes behalten. Deshalb verdiente er jetzt an allem mit, was man auf seinem Land fand: Öl, Gas oder beides.

Der Spekulant hatte Marcus' beharrlichen Wunsch, die praktisch unerschöpfliche Naturgasquelle kostenlos und uneingeschränkt mitzubenutzen, liebend gern erfüllt, statt dauerhaft Zahlungen für den Fund leisten zu müssen.

Dank dieses Sachleistungsabkommens strömte das Gas ungehindert aus seinen Lagerstätten in eine nahegelegene Aufbereitungsanlage, wo ihm Schwefel, Helium und Wasser entzogen wurden, was es zu Trockengas machte. Die besagte Sammelleitung, die einen wesentlich kleineren Durchmesser hatte, führte den reinen Brennstoff auf kürzestem Weg zurück zum Anwesen der Battles.

Sylvia hatte Marcus gestanden, dass ihr diese Einigung nicht ganz geheuer war. Der Gedanke an Gaseinschlüsse auf ihrem Land und die damit zusammenhängenden Gerätschaften über der Erde bereitete ihr Unbehagen. Dass ihr Ehemann die vierstellige Vergütung ablehnte, die ihnen monatlich zugestanden hätte, fand sie merkwürdig.

Marcus verlangte Weitblick von seiner Frau: Mit dem Erdgas und den Solarzellen auf den Dächern waren sie unabhängig vom Stromnetz. Darum mussten sie keine Nebenkosten zahlen, und sollte es hart auf hart kommen, ging ihr Leben weiter, als sei nichts geschehen. So zumindest legte er es sich zurecht.

Nun betrat Marcus die Vorterrasse und öffnete die Haustür. Wesson kam gelaufen und klammerte sich an sein Bein.

»Ist es fertig?« Er schaute mit weit aufgerissenen Augen zu ihm auf.

»Ja«, antwortete sein Vater. »Bis du aufs College gehst, kannst du in der Festung spielen.«

Mit vielen Dingen, die Marcus sagte, behielt er recht. Doch die Behauptung, sein Sohn werde einmal aufs College gehen, sollte nicht dazugehören.

Kapitel 3

13. Oktober 2037, 2:14 Uhr – Jahr 5 nach dem Ausbruch – östlich von Rising Star, Texas

Battle konnte seine Augen nicht von der Frau abwenden, die sich gerade eine dampfende Schale vors Gesicht hielt und heißen Brei daraus schlürfte. Sie hatte gebadet und trug ein ausgebleichtes T-Shirt mit dem Logo der Christlichen Universität Texas, das ihr zu groß war. Man erkannte die lilafarbene Krötenechse kaum mehr. Die kurze Hose gehörte auch ihm, und sie hatte sie mit der Kordel so fest zugezogen wie möglich. Ein gekonnt gewickelter Elastikverband umschloss nun ihren geröteten, angeschwollenen Knöchel.

Ihre noch nassen Haare waren rotbraun, wie er erst jetzt sah, ohne den ganzen Dreck, der sich auf ihrer Flucht angesammelt hatte. Ihr Gesicht war eingefallen und ihr Blick traurig, doch sie strahlte eine gewisse Schönheit aus. Die Falten auf ihrer Stirn und den Schläfen zeugten von Strapazen, was sie widersinnigerweise zugleich verletzlich und zäh wirken ließ, so wie es Battle zuletzt vor langer Zeit in Aleppo gesehen hatte.

Er verdrängte die Erinnerung an das Schlachtfeld und bot ihr mehr Milch an. Sie nickte, ohne den Brei abzusetzen.

»Iss und trink besser nicht zu hastig«, riet er ihr. »In ein paar Tagen musst du von hier verschwinden, und ich will, dass du dann gesund bist.«

Sie nahm die Schale herunter und trank einen Schluck Milch, bevor sie sich den Mund mit dem Handrücken abwischte. »Woher hast du das alles? Meine letzte Milch habe ich vor dem Ausbruch der Seuche getrunken.«

»Ist nur Milchpulver. Ich bewahre es vakuumverpackt in einem Behälter auf und rühre es mit Wasser an, wenn ich es brauche. Es ist noch genießbar, aber eigentlich hätte ich es schon vor ein paar Jahren wegwerfen sollen.«

Sie stockte mit dem Glas am Mund und stellte es ab. »Vielleicht trinke ich besser nur Wasser.«

Er zuckte mit den Achseln und schaute auf die Milch. »Ich bin nicht krank davon geworden. Hat nur einen seltsamen Nachgeschmack, sonst nichts.«

Da trank sie noch einen Schluck. »Danke.«

»Nichts zu danken, keine große Sache. Wie gesagt, du kannst nicht lange bei mir bleiben.«

»Wenn du meinst.«

Battle ging wieder zum Kühlschrank und nahm eine Flasche Quellwasser heraus. Er schraubte den Deckel ab und trank daraus. »Ich weiß noch nicht, wie du heißt.«

Sie fuhr mit einem Finger durch die Schale und leckte ihn ab. »Lola.«

»Lola, so so. Ich heiße Battle.«

Sie zog ihre Augenbrauen zusammen, wodurch die Falten auf ihrer Stirn noch tiefer wurden. »Battle?«

»Ja. Wer waren diese Männer?«

Sie strich weiter mit einem Finger in der Schale herum und mied seinen Blick. »Mitglieder des Kartells.«

»Welches Kartell?« Battle nahm noch einen Schluck und lehnte sich an die Theke.

Sie war ohnehin recht blass, doch jetzt wich der letzte Rest Farbe aus ihrem Gesicht. Während sie langsam antwortete, wirkte jedes ihrer Worte wohlüberlegt. »Du kennst das Kartell nicht? Du hast wirklich keine Ahnung davon?«

»Nein.«

»Wie kann das sein?«, staunte sie. »Das Kartell kontrolliert alles in der Region.«

»Was meinst du mit alles?«

»Alles eben«, betonte sie und hob den Kopf, um ihm in die Augen zu schauen. »Die Wasser- und Gasversorgung, den wenigen Strom, der uns geblieben ist. Sie bestimmen, wer Nahrung geliefert bekommt und wohin man auf den Straßen fahren darf.«

Battle betrachtete sie genau, erkannte die Besorgnis in ihren Augen und sah, dass ihre Unterlippe kaum merklich zitterte. »Nie davon gehört.«

»Und woher hast du das alles dann?«, fragte sie, indem sie mit den Händen herumzeigte. »Strom, fließendes Wasser, kalte Milch und heiße Suppe?«

Battle durchdachte einige der unendlich vielen möglichen Antworten, bevor er die einfachste wählte: »Ich hab's einfach.«

»Und sie erlauben es dir?«

»Niemand erlaubt mir irgendetwas.«

»Seit das Elend losging, sind fünf Jahre vergangen«, sagte Lola. »Warum haben sie dir nichts von alledem genommen? Wie kannst du sie nicht kennen, und wieso wissen sie nichts von dir? Unmöglich, dass ich der erste Mensch bin, der hierhergekommen ist.«

»Du bist die Einzige, die noch lebt und davon erzählen könnte … außer dem Typen, der heute Nacht entwischte.«

Sie richtete sich im Sitzen auf und zog ihren Oberkörper von der Kücheninsel zurück. »Also tötest du jeden.«

»Richtig.«

»Wa–«

Battle hielt sich einen Zeigefinger an den Mund. Er musste überlegen.

Es handelte sich nicht um irgendwelche dahergelaufenen Plünderer oder Strolche, das musste eine organisierte Bande mit Anführern sein. Dass ihn dieses Kartell bislang nicht entdeckt hatte, grenzte an ein Wunder, doch das war jetzt vorbei. Der Mann, der die Flucht ergriffen hatte, würde mit Verstärkung zurückkehren.

»Wa–«, hob Lola wieder an, doch er unterbrach sie erneut.

Battle blieb nicht viel Zeit. Er musste von Lola so viel wie möglich erfahren: Wer war sie? Wie hatte sie sich mit dem Kartell angelegt und entkommen können? Was wusste sie über die Männer, die er erschossen hatte, und denjenigen, der geflohen war? Ihrer beider Überleben hing von jeder verwertbaren Information ab.

»Sie kommen wieder«, sagte er. »Sie werden uns töten, wenn du mir nicht alles sagst, was du über sie weißt – und ich muss alles über dich wissen, verstanden?«

Lola nickte, während Tränen in ihre Augen traten.

13. Oktober 2037, 7:42 Uhr – Jahr 5 nach dem Ausbruch – östlich von Rising Star, Texas

Sie saßen auf der Terrasse hinter dem Haus, wo die aufgehende Sonne von Osten her erste Schatten warf. Battle schaute nach rechts, wo der Himmel schwach orangefarben zwischen den Eichen und Mesquitebäumen schwelte, die vor dem Zaun wuchsen.

Weder er noch Lola hatten geschlafen, doch sie legte ihm ihren Werdegang in allen Einzelheiten dar. Sie zu verstehen fiel ihm schwer. Bisweilen gestalteten sich ihre Ausführungen zusammenhanglos und bruchstückhaft. Er ahnte, dass sie einiges verschwieg, räumte jedoch ein, dass sie es in ihr Unterbewusstsein verbannt haben könnte. Während er mit den Händen über die rissigen Armlehnen seines Adirondack-Gartensessels fuhr, wippte sie gleichmäßig in ihrem hohen Lehnstuhl vor und zurück, wobei sie die Ferse ihres heilen Fußes zur Hilfe nahm.

Battle wollte, dass sie weitersprach. »Als du Louisiana in Richtung Texas verlassen hast, bist du also in Tyler untergekommen?«

Sie nickte. »Nachdem sie meinen Mann ermordet hatten, konnten wir nicht dortbleiben. Louisiana war für uns sowieso immer nur ein Zwischenstopp gewesen. Ich kannte niemanden im Ort. Die Notlager platzten aus allen Nähten, niemand hielt sich an Gesetze.«

»Was hast du in Tyler gemacht? Du musst mir noch erklären, wie dich das Kartell entführte.«

Da hörte sie mit dem Geschaukel auf. »Mein Sohn Sawyer, er … ich … wir taten, was wir tun mussten.«

»Und das Kartell?«

»Es zog von der Grenze aus weiter nach Norden, glaube ich, und dann von Arizona in Richtung Osten«, gab Lola an. »Ehrlich gesagt weiß ich es nicht so genau. Um das Kartell ranken sich sehr viele Gerüchte, aber ich bin mir nicht sicher, was davon wahr ist. Dass du es überhaupt nicht kennst, ist mir immer noch schleierhaft.«

»Ich habe keinen Fernseher«, entgegnete er, »und höre selten Radio, weder Weltnachrichten noch sonst etwas.«

»Wieso?«

»Weil es da draußen nichts für mich gibt. Meine Welt fängt hier an und hört am Zaun auf. Ich muss mich darauf konzentrieren, das zu beschützen, was mir gehört, statt mich mit Dingen zu befassen, die sich außerhalb abspielen.« Battle setzte sich bequemer hin, bevor er fortfuhr: »Momentan geht es nicht um mich. Ich muss mehr über dich und das Kartell erfahren.«

Lola schaute nach Norden in den Gemüsegarten gleich hinter dem Gebäude und schauderte. »Mein Sohn«, begann sie wieder und musste schlucken, weil ihr alles Weitere schwerfiel. »Er hat vom Kartell gestohlen.«

»Was?«

»Eine Orange.«

Battle schaute sie argwöhnisch an. »Eine Orange?« 

Eine Träne rann von einem ihrer Augenwinkel über die Wange hinab. Dass sie überhaupt noch weinen konnte, wunderte Battle. 

»Nichts weiter?«

»Nein«, bekräftigte sie und zog die Nase hoch. »Er war hungrig. Erst tags darauf hätte man wieder Nahrungsmittel verteilt und …«

»Nahrungsmittel verteilt?«

»Ja. Ich sagte dir doch, sie kontrollieren alles.«

»Wie dem auch sei, er klaute die Orange …«

»Von einem Mann in unserem Appartementhaus«, präzisierte sie. »Der war nicht in seiner Wohnung und hatte nicht abgesperrt. Sawyer sah ihn oft mit Lebensmitteln, also schlich er hinein und nahm eine Orange. Der Kerl erwischte ihn dabei.«

»Und er gehörte dem Kartell an, schätze ich.« Battle fasste sich mit Daumen und Zeigefinger an den Nasenrücken, um sich den Schlaf aus den Augen zu reiben. »Den Mann meine ich … deshalb hatte er immer zu essen, nicht wahr?«

Lola nickte und schlug die Hände vors Gesicht. Battle ließ sie weinen, ohne einzulenken oder sie zu trösten. Mehrmals streckte er sich nach ihr aus, hielt sich dann aber doch zurück. Er wartete, bis sie ihren Gefühlsausbruch überwunden hatte.

»Was hat das Kartell getan?«, fragte er dann.

»Uns versklavt.«

»Das wart ihr doch sowieso schon«, unterstellte er. »Hab ich recht?«

»Eher zur Dienstarbeit verpflichtet«, berichtigte sie. »Dafür wurden wir auch bezahlt. Wir waren in einer Wäscherei angestellt. Der einzige Job, den ich für uns finden konnte. Das Geld reichte zum Überleben, jedenfalls meistens. Als Sawyer festgenommen wurde, weil er die Orange nahm, um nicht wieder hungrig ins Bett zu gehen, entließen sie uns. Wir mussten in eine Wohngemeinschaft umziehen, wo zweiunddreißig Personen in einem Zimmer mit sechzehn Betten hausten.«

»Wie alt ist er?«

»Dreizehn.«

»Wann ist das passiert?«

»Vor sechs Monaten.«

»Wo hält er sich jetzt auf?«

Lolas Züge erschlafften zu völliger Ausdruckslosigkeit, während sie in die Ferne starrte. Sie begann wieder, sich zu wiegen. Schneller als zuvor. Auf und nieder, auf und nieder … Battle dachte, dass sie seine Frage nicht mitbekommen hatte, also wiederholte er sie: »Wo hält er sich jetzt auf?«

Keine Reaktion.

»Lola!«

Ihre Lider flimmerten, sie bewegte sich langsamer. Als sie sich ihm zukehrte, schaute sie ihm so lange in die Augen, bis er seinen Blick abwenden musste.

»Er ist noch bei ihnen«, gab sie an. »Wir waren zu viert, als wir fliehen wollten. Die anderen beiden wurden … Sie schafften es nicht, aus der Wohnung zu entkommen, Sawyer und ich hingegen schon. Wir sind gelaufen. Immer weiter … so schnell …«

»Wie weit seid ihr gekommen?«

»Wir waren schon mehrere Tage auf freiem Fuß, wenn ich mich richtig erinnere«, erwiderte sie. »Dann legten wir uns schlafen, irgendwo hier in der Nähe. Dort fanden sie uns. Vielleicht hatten wir Spuren hinterlassen oder irgendwer hat uns verpfiffen. Ich weiß es nicht, aber sie fanden uns eben. Mich hielten sie zuerst fest.« Ihre Unterlippe bebte erneut. »Als Sawyer einen von ihnen trat, waren sie abgelenkt, sodass ich mich losreißen konnte und …«

»Und was?«

»Er meinte, ich solle weglaufen.« Plötzlich fuhr sie von ihrem Stuhl hoch und wandte sich ab, wobei sie ihr Gleichgewicht mit dem unversehrten Bein hielt. »Sawyer schrie mich an, damit ich losrannte. Das wollte ich aber nicht. Eine Mutter sollte …«

»Du bist aber gerannt.«

Sie hatte ihm zwar den Rücken zugedreht, doch Battle sah ihren Kopf – einen Schattenriss vor der hochsteigenden Sonne – auf und nieder gehen. Ihre Schultern zitterten, sie schluchzte.

Battle erhob sich langsam und trat näher. Ihm war, als ob er nicht Herr seiner eigenen Hände sei, als er sie ausstreckte und an Lolas schlotternde Oberarme legte. Sie zuckte, als er sie anfasste, wandte sich ihm aber zu und schlang ihre Arme um ihn. Er erstarrte kurz, bevor er sie an sich zog und festhielt.

Mit den Fingern an ihrem Rücken konnte er die Rippen zählen. Sie war nur noch Haut und Knochen. Seit dem Ausbruch der Epidemie hatte Lola gelitten. Battle bekam ein schlechtes Gewissen, weil er sich relativ glücklich schätzen durfte.

Sie entzog sich, indem sie gegen seine Arme drückte und zurücktrat. »Ich ging wieder zurück, um ihn mitzunehmen. Sie waren zu fünft, einer von ihnen auf einem Pferd, an dem sie Sawyer festgebunden hatten, die anderen zu Fuß.«

»Er lebt also noch.«

»Ich glaube schon«, antwortete sie. »Ich konnte ihnen nicht lange unbemerkt nachstellen, sondern wurde bald entdeckt. Der Reiter befahl den anderen, mich zu schnappen. Er rief ihnen hinterher, sie dürften nicht ohne mich in die Wohngemeinschaft zurückkehren.«

»Und sie haben dich bis hierher gejagt?«

»Ja, ich hatte etwa fünf Minuten Vorsprung. Gelaufen bin ich vielleicht eine Stunde … im Kreis. Schließlich sah ich deine Schotterstraße und dachte, ich könnte mich hier verstecken.«

Battle grinste schief. »Kannst du wohl.«

»Danke.«

»Nichts zu danken«, gab Battle zurück und schaute in die Sonne, die jetzt über den Eichen am wolkenlosen Himmel stand. Die Luft war frisch und kalt. Er atmete tief ein. »Ich habe dich nur gerettet, weil ich mich verteidigen musste.«

Lola verschränkte ihre Arme wieder vor der Brust. Sie bekam Gänsehaut in der kühlen Morgenluft, und dachte wohl auch an ihre ungewisse Zukunft.

»Was hast du nun vor?«, fragte Battle, obwohl er die Antwort erahnte.

»Meinen Sohn finden«, erwiderte sie. Als sie den Kopf wieder anhob, hatte sie einen flehentlichen Blick aufgesetzt. »Hilfst du mir dabei?«

Er machte einen Schritt zurück und schaute auf die Kalksteinplatten am Boden. Er starrte auf die abgeschabte Spitze seines Stiefels aus braunem Leder. »Tut mir leid, Lola, das kann ich nicht.«

13. Oktober 2037, 8:17 Uhr – Jahr 5 nach dem Ausbruch – Texas Highway 36 zwischen Rising Star und Abilene

Salomon Pico lief nach Nordwesten in Richtung Abilene. Er wurde immer langsamer, war außer Atem. Sein Mund wurde allmählich trocken. Er musste verschnaufen. Nachdem er die letzten Tropfen Wasser aus seiner Feldflasche getrunken hatte, hängte er sie wieder an seinem Gürtel ein.