KREUZZUG 2: KEINE GUTE TAT ... - Tom Abrahams - E-Book

KREUZZUG 2: KEINE GUTE TAT ... E-Book

Tom Abrahams

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Beschreibung

John Beck, der die Apokalypse überlebte, hat die Wölfe besiegt, die die Verletzlichkeit anderer ausnutzten. Aber kann er auf seinem Weg zur Erlösung auch seine inneren Dämonen besiegen? John Beck kennt nur eine Mission: seine Tochter zu finden. Nachdem er herausgefunden hat, dass sie ihm handgeschriebene Briefe als Hinweise hinterlassen hat, bricht er mit seinen neu gewonnenen Freunden auf eine Odyssee auf, die ihn hoffentlich wieder mit seiner Tochter vereint. Doch bevor er sie finden kann, müssen einige Hindernisse überwunden werden, die ihn entweder zu seiner Erlösung führen … oder ihn töten könnten. ★★★★★ »Eine ausgezeichnete Lektüre! … Geradlinig, mit der richtigen Portion Gewalt, und vor allem realistisch! Keine Zombies, Drachen, Feen, Aliens oder dergleichen. Kaufen!.« - Amazon.com ★★★★★ »Voller Überraschungen, die man so nicht kommen sieht. Dieses Buch würde einen fantastischen Film abgeben. … Wirklich, geben Sie diesem Buch eine Chance … Sie werden nicht enttäuscht sein.« - Amazon.com ★★★★★ »Was dann folgt, ist eine epische Geschichte über das Überleben. Ein ausgezeichnetes Buch, habe es sehr genossen!!!« - Amazon.com

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Kreuzzug

Band 2 – Keine gute Tat

Tom Abrahams

Für Courtney, Sam und Luke.
Alles ist gut.

Impressum

Deutsche Erstausgabe Originaltitel: NO GOOD DEED Copyright Gesamtausgabe © 2024 LUZIFER Verlag Cyprus Ltd. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Cover: Michael Schubert Übersetzung: Sylvia Pranga

Dieses Buch wurde nach Dudenempfehlung (Stand 2024) lektoriert.

ISBN E-Book: 978-3-95835-871-3

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

Inhaltsverzeichnis

Kreuzzug
Impressum
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Danksagungen
Über den Autor

Kapitel 1

Tag der Detonation + 4 Jahre, 5 Monate, 10 Tage, östlich von Meridian, Mississippi

John Beck starrte in die Flammen. Orangefarben und rot leckten sie in die Luft über dem Lagerfeuer. Schwaden schwarzen Rauchs stiegen in den Himmel auf. Die Hitze traf in Wellen auf sein Gesicht, die gleichzeitig tröstlich und zu heiß waren.

Es war eine Stunde nach Sonnenuntergang und die Temperatur war schon um mindestens zehn Grad gefallen. Er spürte es in der Schulter und in den Knien. Dieser Winter würde die Schmerzen verschlimmern.

Wie lange würde er noch gegen Windmühlenflügel kämpfen können? Wie viele Tage, Monate oder Jahre konnte er noch dem mythischen Gral nachjagen? Sein Körper würde wohl nicht mehr lange durchhalten. Er seufzte und rieb sich das Kinn. Die Stoppeln fühlten sich unter seinen Fingern und der Haut zwischen Zeigefinger und Daumen kratzig an.

In der Ferne hörte er das tiefe Dröhnen und Tuckern eines mit Kohle betriebenen Zugs. Züge waren das einzige verbliebene Massentransportmittel, das von der organisierten Gesellschaftsform übrig war. Doch sie waren gefährlich. Verbrechen waren in ihnen weitverbreitet, daher waren es die Blasen und das langsame Vorankommen wert, zu gehen, statt mit einem Zug zu fahren. Sie waren außerdem auch unzuverlässig. Es gab keine festen Fahrpläne, und die Preise schwankten. Nur verzweifelte oder faule Menschen nahmen Züge. Zumindest sah Beck es so. Es gab bessere Arten, von A nach B zu kommen, wo immer diese Punkte auch sein mochten.

Seine Tochter war dort draußen. Das fühlte er in seinen arthritischen Knochen. Und wenn er auch kurz davor war, zu erfahren, wo sie war, hatte er das Gefühl, dass dieser Ort ebenso gut auf dem Mond sein könnte.

Beck sah durch den wabernden Rauch zu der fahlen Scheibe am klaren Himmel hoch. Bei allem, was sich seit dem Angriff, der die ehemaligen Vereinigten Staaten ohne Strom zurückgelassen und sie zweihundert Jahre zurückgeworfen hatte, verändert hatte, blieb der Mond immer derselbe. Die Sterne auch. Sie waren Konstanten. Er war in Gedanken versunken, als der junge Mann, der neben ihm saß, ihn aus seiner Geistesabwesenheit riss.

»Wie viele Menschen hast du getötet?«

Beck blinzelte, seine Augen brannten von dem Rauch, und sah Lucas an. Der Junge stocherte mit einem Stock im Feuer. »Warum ist das wichtig?«

Lucas warf den Stock fort. Er zuckte mit den Schultern. »Ich habe es mich nur gefragt.«

Beck schätzte die Körpersprache des Jungen ein. Dann sah er die andere Waise an, die er irgendwie auf seiner Reise östlich nach Alabama geerbt hatte. Rebecca schlief zu einem katzenartigen Ball zusammengerollt unter einer dünnen, zerlumpten Decke. Sie schnarchte.

Sie hatte ihr Camp eine Viertelmeile von der Straße auf einer Lichtung tief zwischen dicht stehenden Bäumen aufgeschlagen. Das Feuer war Luxus. In den meisten Nächten vermieden sie alles, was auf ihr Lager hinweisen und Fremde anziehen könnte. Doch da die Temperatur so fiel und Rebecca sehr überzeugend und hartnäckig gewesen war, hatten sie es sich gegönnt.

»Was hast du auf dem Herzen?«, fragte Beck.

Er machte sich keine Sorgen, dass er Rebecca wecken könnte. Sie konnte alles verschlafen, einschließlich der Schießerei, die sie zwei Tage zuvor überlebt hatten. Man hatte ihnen in der Nähe von Newton, Mississippi, aufgelauert. Beck vermutete, dass dieser Zusammenstoß der Grund für Lucas‘ Frage war.

»Nichts«, sagte Lucas. »Ich meine, ich habe mich nur gefragt, ob es dich bedrückt. All die Toten. Das Blut.«

Beck atmete tief durch. Der Geruch des brennenden Eichenholzes füllte seine Nasenlöcher. »Es bedrückt mich. Wir haben schon mal darüber gesprochen, Junge.«

»Stimmt. Du hast gesagt, dass du deswegen nicht schlafen kannst. Das weiß ich. Ich habe mich nur gefragt, was es ist, das dich wachhält. Welcher Teil davon?«

Es war einfach alles.

Beck war ein Mann mit Dämonen. Er hatte ein hitziges Temperament. Probleme mit der Impulskontrolle. Aber er genoss Gewalt nicht. Er hatte damit zu kämpfen, dass es nötig war, zu verletzen und zu töten, damit er überlebte und seine Suche fortsetzen konnte.

»Ich sehe sie, wenn ich versuche zu schlafen«, sagte er. »Ihre Gesichter. Alle ihre Gesichter. Als würde man durch ein Kartenspiel blättern, so blitzt eins nach dem anderen auf. Einige sind Fremde, andere haben Namen. Aber alle nagen an mir. Sie bringen die Dämonen zum Plappern.«

»Die Dämonen, die dir zuflüstern?«

»Ja. Diese Dämonen.«

»Was sagen sie?«

Beck knirschte mit den Zähnen und versuchte, ruhig zu bleiben. Genau dieses Gespräch hatte er schon dreimal mit Lucas geführt. Oder sogar schon viermal. Oder fünfmal. Er war wie ein Kleinkind, das dieselbe Gute-Nacht-Geschichte jeden Abend hören wollte.

Beim Kämpfen war Lucas ein Mann. Unerschütterlich, genau, unbarmherzig. Seinem Alter voraus. Doch nachdem der letzte Schuss oder das Wimmern eines sterbenden Mannes verklungen war, verwandelte er sich wieder in den typischen Teenager. Unsicher, ohne inneren Halt, mit Angst vor der Zukunft.

Beck ermahnte sich, dass Lucas nur ein Junge war, der sich wahrscheinlich kaum daran erinnerte, wie das Leben vor dem Angriff vor über vier Jahren gewesen war. Er entspannte seinen Kiefer, atmete tief durch und zwang sich zu einem unbehaglichen Lächeln. Beck hatte kein natürliches Lächeln.

»Die Dämonen sagen Dinge, bei denen ich mich selbst infrage stelle. Sie erinnern mich an all die schlechten Dinge, die ich getan, die Fehler, die ich begangen habe, die Menschen, die ich …« Beck brach ab, als er das Knacken eines Zweiges hörte. Er wandte sich dem Geräusch zu. Es war nah. Zu nah.

»Hast du das gehört?«, flüsterte Lucas.

Beck legte einen Finger auf die Lippen und wies auf Rebecca.

Lucas nickte und schob sich dichter an das Mädchen heran. Beide Männer zogen ihre Waffen. Beck trug eine Glock Gen. 4, 9 mm. Lucas zog eine Ruger, die er einem Möchtegern-Räuber in Typer, Texas aus der noch warmen, toten Hand genommen hatte.

Das Feuer knackte, das Holz brach unter der Hitze. Noch ein Geräusch kam aus der Dunkelheit, noch näher. Beck verfluchte sich dafür, dass Feuer angezündet zu haben. Die Dämonen flüsterten. Es war zu spät, um etwas wegen des Feuers zu unternehmen.

Er gab Lucas ein Zeichen und entfernte sich vom Feuer Richtung Lichtungsrand. Sein Finger fand den Abzug und er ließ die Waffe an seiner Seite. Sie hatten so etwas schon mal gemacht.

Becks Herz hämmerte, sein Adrenalinspiegel stieg. Er verschwand im Wald und ließ Lucas und Rebecca im Licht des Feuers allein.

Er drückte sich gegen einen Baum und wartete. Obwohl es immer kälter wurde, waren seine Stirn und sein Nacken feucht vor Schweiß. Er brachte seine Atmung unter Kontrolle. Ein und aus. Ein und aus.

Ein weiteres Geräusch schärfte seine Sinne. Dieses Mal waren es Stimmen. Drei, alles Männer, die nur wenige Meter von ihm entfernt gedämpft miteinander sprachen. Er schlich auf sie zu, ihre schattenhaften Gestalten tauchten zwischen einer Gruppe von Gestrüpp und hohen, schmalen Golfküstenbäume.

Sie waren bewaffnet, hatten Gewehre.

Beck wappnete sich, hob seine Waffe und verfolgte die Männer. Er behielt sie im Blick und vertraute darauf, dass Lucas seinen Job erledigte.

Als die Männer sich aus dem Unterholz auf die Lichtung schoben, war Beck ihnen auf den Fersen. Er hielt einen vernünftigen Abstand und passte seine Schritte ihren an, um seine Annäherung zu verschleiern. Er stand am Rand der Lichtung, verborgen in der Dunkelheit.

Zwei Männer standen Schulter an Schulter, während ein dritter sich an Rebecca heranschob. Sie war allein beim Feuer. Becks Blick schoss von einer Bedrohung zur anderen, dann fand er Lucas ihm gegenüber. Er versteckte sich einen Schritt von der Lichtung entfernt, die Waffe gehoben und bereit.

Die beiden, die nebeneinanderstanden, trennten sich. Einer näherte sich einem der Bündel und ging in die Hocke. Er durchsuchte es, während der Mann, der Rebecca am nächsten war, die Decke zurückzog. Niemand sagte etwas.

Beck und Lucas sahen sich an und, als hätten sie gegenseitig ihre Gedanken gelesen, bewegen sich gleichzeitig.

Bevor sie einen Schuss abfeuerten, jaulte der Mann bei Rebecca wie ein Hund auf und fiel nach hinten ins Feuer, wo er um sich schlug, als er Feuer fing.

Die anderen beiden erstarrten vor Schreck und konnten nicht schnell genug reagieren. Beck und Lucas eröffneten das Feuer. Beide schossen mehrere Kugeln in die Fremden. Es war vorbei, bevor es angefangen hatte.

Der Mann im Feuer wurde still. Er zischte. Der stechende Geruch brennenden Haars mischte sich mit dem Duft nach Eiche.

Rebecca setzte sich unter der Decke auf. Sie rollte sich auf die Knie und stand auf. Das Metall eines Schlagrings glänzte im ersterbenden Licht des Feuers.

Lucas lief zu ihr. »Ist alles in Ordnung?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Mir geht’s gut. Und dir?«

»Mir auch.«

Sein Adrenalinspiegel sank wieder langsam und Beck ging zum Feuer. Er betrachtete die drei Leichen und zuckte bei dem Geruch zusammen.

»Wir haben den Stolperdraht vergessen«, sagte Lucas. »Das ist meine Schuld.«

»Es ist meine Schuld, dass wir das Feuer angezündet haben«, erwiderte Beck. »Ich hätte es besser wissen sollen.«

Rebecca stand auf und zog den Schlagring von den Fingern. »Es ist nicht meine Schuld. Das weiß ich.«

Beck wies auf den Schlagring. »Woher hast du den?«

»Der Hinterhalt«, sagte sie. »Ich habe ihn einem Kerl abgenommen, der versucht hat … lasst uns einfach sagen, dass ich es einem Kerl weggenommen habe, der es nicht mehr braucht.«

Lucas schob seine Waffe in das Holster. »Ich dachte, du würdest schlafen.«

»Ich habe nur so getan.«

»Nur so getan?«

Sie lächelte breit. »Das mache ich gern. Es ist lustig, worüber ihr sprecht, wenn ihr glaubt, dass ich euch nicht hören kann.«

Lucas wurde rot. Er hatte Dinge gesagt, von denen Beck sicher war, dass er nicht wollte, dass sie sie hörte.

»In Ordnung«, sagte Beck. »Lasst uns aufräumen und weiterziehen. Wir können nicht mehr hierbleiben.«

»Wie weit ist es noch bis Tuscaloosa?«

»Neunzig Meilen. Noch ein paar Tage.«

Rebecca rollte ihre Decke zusammen und stopfte sie in ihren Rucksack. »Wir könnten schneller gehen. An einem Tag mehr schaffen.«

Beck ging neben einer der Leichen in die Hocke und durchsuchte ihre Taschen. »Das könnten wir. Aber wir teilen unsere Kräfte besser ein. Zu viel an einem Tag macht uns müde. Dann sind wir nicht mehr so wachsam. Wir haben heute zwanzig Meilen geschafft. Und seht, was in dieser Nacht passiert ist.«

»Weißt du«, sagte Lucas, »wir wissen nicht, ob das da schlechte Menschen waren. Vielleicht wollten sie nur helfen.«

Beck stand auf und stützte die Hände in die Hüften. »Das wollten sie nicht. Menschen, die helfen wollen, machen sich vorher bemerkbar. Sie warnen andere vor, dass sie sich nähern. Diese Höhlenmenschen haben das nicht getan. Sie haben sich angeschlichen. Sie hatten böse Absichten. Sie könnten sogar Kannibalen gewesen sein.«

Rebecca zog die Riemen ihres Rucksacks fest und schnaubte. »Höhlenmenschen? Hast du wieder in Gabes Wörterbuch geblättert?«

»Er hat es mir nicht ohne Grund gegeben. Er hat gesagt, es würde einen besseren Menschen aus mir machen.«

»Es lässt dich verzweifelt klingen.«

Jetzt schnaubte Beck. »Verzweifelt?«

»Verzweifelt nach Aufmerksamkeit suchend.«

»Sagt die spöttische Teenagerin.«

Sie runzelte die Stirn. »Frau.«

»Wie auch immer.«

Lucas wedelte mit den Händen. »Moment mal. Du hast Kannibalen gesagt. Also Leute, die andere Menschen essen?«

»Das ist die Definition von Kannibale.«

»So etwas gibt es nicht«, sagte Rebecca.

»Natürlich gibt es das«, erwiderte Beck. »Es gibt Gerüchte über welche in Tennessee, North Carolina, West Virginia und sogar in Florida. Gabe hat ihnen geglaubt. Ich habe es nie getan. Doch je länger wir hier draußen sind, desto mehr neige ich dazu zu glauben, dass er recht hatte. Gabe hatte nur selten unrecht. Manchmal, aber nicht oft.«

Rebecca schüttelte den Kopf. »Das sind nur Gerüchte.«

»Ich habe ziemlich detaillierte Gerüchte gehört, Rebecca. Es gibt Menschen, die nicht versuchen wollen, nach Sitten und Gebräuchen zu leben. Sie machen ihre eigenen Regeln. Sie folgen Ritualen. Sie …«

»Klingt nach dir«, sagte sie. »Du lebst nach deinen eigenen Regeln. Deine Gewohnheiten …«

»Ich bin kein Kannibale. Und ich glaube diese Geschichten.«

»Ich habe gehört, dass diese Bilderbücher über dich auch ziemlich detailliert sind«, sagte sie. »Sind sie deshalb wahr?«

»Ich habe nie eins gesehen. Also kann ich es nicht sagen.«

Rebecca wackelte mit einem Finger. »Du hast auch nie einen Kannibalen gesehen.«

Lucas schloss seinen Rucksack und versuchte, das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken. »Kannibalen hin oder her, ich will damit nur sagen, dass wir nicht so schnell töten sollten.«

»Und wieder zurück zu mir«, sagte Rebecca und verdrehte die Augen. »Lucas, wie lange willst du dich noch unserer Realität verweigern? Wir überleben entweder oder nicht. Wie Beck gesagt hat, ist es besser, zuerst zu schießen und keine Fragen zu stellen als Fragen zu stellen und nicht zu überleben.«

»Du warst auch ein Freund«, sagte Lucas und bezog sich damit auf seine Erziehung als Quäker. »Gewalt in jeglicher Form ist inakzeptabel. Das Herz aller Menschen ist gut. Weißt du noch?«

»Ich erinnere mich, dass ein Plünderer meine Mutter umgebracht hat. Ich erinnere mich, dass einer von ihnen meinen Vater am Friedhofstor aufgehängt hat. Was hat es uns damals gebracht, nicht gewalttätig zu sein?«

»Also glaubst du an diese Ausrede mit den Kannibalen?«, fragte Lucas.

»Nein«, sagte Rebecca. »Das sage ich nicht. Ich will damit sagen …«

Beck trat zwischen sie. »Das reicht, Kinder. Wir gehen weiter. Rebecca, du hast deine Meinung sagen können. Lucas, du weißt, wie ich darüber denke. In diesem Leben bleibt keine gute Tat ungesühnt. So ist es einfach. Ihr habt das verstanden, als ihr beide mir wie Welpen aus eurem Dorf in New Mexico gefolgt seid, und seitdem hat sich nichts verändert.«

»Alles hat sich verändert«, sagte Lucas. »Wir haben auf unserem Weg nach Osten viele Menschen getötet. Es ist, als wären wir mörderische Wahnsinnige.«

Rebecca beugte sich vor und öffnete den Mund, um etwas zu sagen.

Beck hob die Hand und trat auf Lucas zu. Er legte eine Hand auf seine Schulter. »Ich verstehe dich, Junge. Das, was wir tun, macht dir zu schaffen. Das ist normal. Aber ich glaube fest daran, das Gott versteht, was passiert ist. Er versteht dich. Wir schlagen nicht als Erste zu. Niemals. Wir schützen uns. Wir überleben. Wir können später ausführlicher darüber reden. Aber jetzt lasst uns weiterziehen. Die Schüsse werden weitere Besucher anziehen. Wir sollten nicht hier sein, um sie zu empfangen, wenn sie herkommen. Wenn ihr also heute Nacht nicht noch mehr Blut an euren Händen wollt, packt fertig, damit wir loskönnen.«

Lucas senkte den Kopf und nickte. Zögernd. Niedergeschlagen.

Es war sexistisch, aber Beck dachte manchmal, dass Lucas eher wie ein stereotypisches Mädchen war und Rebecca eher wie ein Junge. Wenn er nicht gerade um sein Leben kämpfte, war Lucas nachdenklich, empathisch und emotional. Rebecca war das genaue Gegenteil. Sie hatte eine harte, undurchdringliche Schale um sich gebildet und verbarg sich hinter Sarkasmus. Der Zwiespalt von Lucas‘ ausgeprägter Persönlichkeit und der diametrische Gegensatz der beiden Kinder machten Beck schwindelig.

Er führte sie ins Unterholz und Richtung Osten auf den Highway zu, wobei er sich fragte, womit er ihre Gesellschaft verdient hatte. Auf eine gute Art. Und das war schon etwas. In dieser Welt, der Welt nach der Detonation, in der die endlose Suche nach seiner Tochter keine Früchte trug, war es ein Segen, irgendetwas Gutes zu haben. Becks Kiefer spannte sich an, als er darüber nachdachte. Seiner Erfahrung nach hielt ein solcher Segen nicht lange an. Zumindest nicht für Männer wie ihn.

Kapitel 2

Tag der Detonation + 4 Jahre, 5 Monate, 15 Tage, Tuscaloosa, Alabama

»Was erwartest du zu finden?«

Es war Lucas‘ dritte Frage innerhalb von einer Minute. Beck ging darauf ein.

»Ich weiß es nicht. Wenn Millie zurückgekommen ist, wie Goose gesagt hat, hoffe ich, dass es dafür Beweise gibt.«

»Woher kanntest du Goose noch mal?«

Sie gingen langsam den University Boulevard südlich des Campus entlang. Sie waren nur noch einige Minuten von dem Haus entfernt, in dem Millie mit ihrer Mutter nach der Scheidung gewohnt hatte.

Die Stadt war buchstäblich verlassen. Die Straßen waren leer. Die Gebäude, die vor langer Zeit aufgegeben worden waren, zerfielen langsam. Es sah aus wie auf den Fotos und alten Filmen, die Beck einmal von Prypjat, einem Dorf in der Nähe von Tschernobyl gesehen hatte, nachdem es nach der Nuklearkatastrophe 1986 aufgegeben worden war.

Zerknülltes Papier schwebte und taumelte über die Allee, während sie nach Osten marschierten. Der Wind kam in Böen, die stahlgrauen Wolken über ihnen drohten mit Regen.

»Goose und ich haben zusammen auf der Bohrinsel gearbeitet. Wir kamen nicht miteinander klar. Überhaupt nicht. Nach der Detonation ist er zu meiner Familie gegangen. Er hat meine Ex-Frau, Millies Mom Debbie, umgebracht. Er nahm Millie mit. Ich hatte keine Ahnung, dass er die Plünderer angeführt hat, die eure Leute angegriffen haben, bis wir ihn gesehen haben.«

»Und bevor du ihn getötet hast, hat er dir erzählt, dass sie hierhergekommen ist, nachdem sie ihm entkommen war?«, fragte Lucas.

»Ich habe ihn nicht getötet«, sagte Beck. »Nicht wirklich. Aber, ja, er sagte, dass sie hierhergekommen ist, nachdem sie ihm entkommen war.«

Rebecca, die mehr als eine halbe Stunde geschwiegen hatte, lief Beck voraus, drehte sich um und ging rückwärts. Sie zuckte mit den Schultern und hob eine Braue. »Und du hast bis jetzt nie daran gedacht, hierher zurückzukommen?«, fragte sie.

»Nein. Ist mir nicht in den Sinn gekommen. Ich war mir ganz sicher, dass sie bei Goose ist. Ich ging davon aus, dass er nicht hierher zurückkommen würde, also warum sollte ich es tun? Und ich habe nie irgendwelche Hinweise erhalten, die mich hergeführt hätten.«

»Aber wenn du hier gewartet hättest, statt dich auf die Suche nach ihr zu machen, wäre sie zu dir gekommen. Dann wärst du jetzt vielleicht mit ihr zusammen.«

Beck widerstand dem Drang, ihn zu schlagen. Stattdessen lächelte und presste zwischen zusammengepressten Zähnen hervor: »Du hast recht. Das sind viele wenns. Aber, ja, wenn ich hier in Tuscaloosa geblieben wäre, wäre ich jetzt mit ihr zusammen.«

Rebecca drehte sich auf dem Absatz um und drehte Beck den Rücken zu. Sie ging im selben Tempo weiter. »Ich bin jedenfalls froh, dass du es nicht getan hast. Ich meine, hier zu bleiben. Sonst wären wir immer noch im Dorf. Oder wir wären Sklaven der Plünderer und deines Freunds Goose.«

Da sie ihm den Rücken zuwandte, konnte Beck nicht einschätzen, ob sie sarkastisch war. Er nahm es an, war sich aber nicht sicher. Dann wurde sie langsamer und ging neben ihm her, Schulter an Schulter.

»Ich meine es so, Beck. Ich weiß, dass ich ein harter Hund bin und es vielen schwerfällt, mich zu mögen. Aber ich schätze dich. Und so hart wie das hier ist, ich bin froh, dass du es tust.«

In seiner Kehle bildete sich ein dicker Kloß. Er wollte ihr danken, fürchtete aber, dass dann die Dämme brechen würden. Also verzog er die Lippen zu einem unbehaglichen Lächeln und nickte.

Lucas sah Beck an und lachte. »Woher kam das denn? Sonst bin ich doch der Rührselige.«

Sie lachten alle. Eine Unterbrechung der Anspannung, die mit jedem Schritt, dem sie sich dem Haus näherten, zuzunehmen schien.

Beck erinnerte sich an das letzte Mal, als er es gesehen hatte. Dicker, gelber Dunst hatte in der Luft gehangen. Menschenmengen drängten sich auf den Straßen, wie bei einer Meisterschaftsfeier, nur ohne die Trunkenheit und ungezügelte Freude. Plünderer trugen Essen und Wasser. Ein berühmtes Lokal namens Gallettes brannte, und der beißende Gestank hing in der Luft.

Sie waren nur noch zwei Blocks von dem Haus entfernt und Becks Erinnerungen drohten, ihn zu überwältigen. Sie bogen in die Seventh Street ein und wurden langsamer, als sie sich dem Bungalow aus den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts näherten, in dem Debbie und Millie gewohnt hatten, nachdem sie ihn in Mobile zurückgelassen hatten.

Vor der Detonation hatten in dem Viertel größtenteils Studenten gewohnt. Doch es war auch in der Nähe der Anwaltskanzlei, wo Debbie arbeitete. Es war erschwinglich, besonders weil Beck die Hälfte der Miete zahlte.

Ein Nissan Rogue stand in der Zufahrt, genau wie vor vier Jahren. Nach dem elektromagnetischen Impuls taugte er nur noch als Briefbeschwerer. Jetzt hatte er keine Fenster und Reifen mehr und die Innenausstattung war in Fetzen gerissen worden. Beck suchte die Nachbarschaft ab. Jedes gestrandete Fahrzeug war in einem ähnlichen Zustand. Bei einigen Häusern waren die Fenster mit Sperrholz vernagelt. Bei anderen hatte sich niemand um die zerbrochenen Fenster gekümmert.

Beck stieg auf die Veranda, Lucas und Rebecca folgten ihm. Alle blieben vor der Haustür stehen. Er hatte nie einen Schlüssel für das Haus gehabt. Das war jetzt nicht mehr von Bedeutung. Die Tür stand offen.

Er drückte sie weit genug auf, um hindurchzugehen, trat über die Schwelle und erwartete halb, dass Debbie aus der Küche kommen würde, in den Händen ein Geschirrtuch und ihn dafür tadelte, dass er nicht geklopft hatte. Der Kloß in seiner Kehle war wieder da.

Ein muffiger Geruch hing in der Luft. Eine saure Mischung aus Staub und Schimmel. Seine Nebenhöhlen verstopften fast sofort, als er tief durch die Nase durchatmete.

»Hier haben sie gewohnt?«, fragte Lucas.

Beck wartete darauf, dass die Kinder eintraten, und schloss dann die Tür hinter ihnen. Er verschloss sie. Man konnte nie wissen, wer sie vielleicht beobachtet hatte. Er seufzte.

»Und hier ist Debbie auch gestorben. Ein Freund von mir, der Radio hieß, auch.«

Rebecca hob eine Braue. »Radio?«

»Er war gut mit Funkgeräten und Radios.«

»Kreativ.« Sie rümpfte die Nase. »Hier stinkt es.«

Beck sagte ausdruckslos: »Deine Einstellung auch.«

Ohne auf eine Antwort zu warten, wandte er sich ab und ging weiter ins Wohnzimmer hinein. Die spärlichen Möbel, die sich früher darin befunden hatten, waren verschwunden. Er wischte sich mit dem Handrücken die Nase ab und ging zur Hinterseite des Hauses. Küche, Esszimmer, die beiden Schlafzimmer und das einzige Bad befanden sich im hinteren Teil des Hauses.

In der Küche fehlten alle Geräte, die Kücheninsel und der Esstisch. Das spiegelte wider, was er in jedem unbewohnten Haus gesehen hatte, das er seit der Detonation betreten hatte. Innerhalb weniger Tage nach dem Angriff, der das Land ohne Strom zurückgelassen hatte, hatten Plünderer alles gestohlen, was sie nur tragen konnten. Nach wenigen Wochen nahmen sie Dinge mit, die sie abbrechen konnten. Nach wenigen Monaten stahlen sie alles, was irgendeinen Wert haben konnte. Selbst Elektrogeräte, was für Beck keinen Sinn ergab, verschwanden.

Er richtete seine Aufmerksamkeit auf die Hintertür. Sie hing in den Angeln, war eingetreten worden, so wie es auch schon einige Stunden, bevor er vor vier Jahren hier ankam, gewesen war. Er war nur ein paar Minuten zu spät gekommen, um die Entführung seiner Tochter und den Tod seiner Es-Frau zu verhindern.

Auf dem Boden markierte ein dunkelbrauner Fleck die Stelle, wo er einen der Angreifer gefunden hatte. Die Leiche war verschwunden. Vor vier Jahren hatte der Mann mit dem Gesicht nach unten und einem Messer im Rücken hier gelegen. Zumindest hatte Debbie sich gewehrt. Seine Augen wurden feucht und Beck blinzelte Tränen fort.

Die Dämonen flüsterten in seinen Ohren. Sie erinnerten ihn an seine Verfehlungen. Er biss auf die Innenseite seiner Lippe und ließ die Kinder in der Küche stehen, während er durch den Flur zum Bad und den Schlafzimmern ging.

Er betrat Millies Zimmer, und der starke Geruch nach Ammoniak stach in seinen Nasenlöchern. Er schniefte und zog sein Shirt über Nase und Mund.

Das Zimmer war abgesehen von einem zersplitterten Holzstück, von dem Beck annahm, dass es von ihrem Boxspringbett stammte, und einem Stoffbären in der Ecke leer. Füllung quoll aus seinem aufgerissenen Bein. In den Harmonikatüren des Schrankes fehlten Latten und sie hingen in einem merkwürdigen Winkel im Rahmen. Ein einzelner pinkfarbener Kleiderbügel hing von der zersplitterten Holzkleiderstange. Urin und versteinerte Fäkalien verunreinigten den Schrankboden. Beck drückte das Shirt fester auf seine Nase. Eine kühle Brise strich durch die zerbrochenen Fenster und vertrieben den Gestank für einen kurzen Moment.

Er sah sich nach irgendeinem Zeichen um, dass sie zurückgekommen war, nachdem ihr Entführer sie verschleppt hatte. Nichts. Kein Hinweis.

Im Bad war es dasselbe. Die Toilette war verschwunden, die Wanne ein widerliches Durcheinander ohne Armaturen und Duschkopf. Das Waschbecken lag auf dem Boden, zerbrochen in Dutzende Stücke zersplitterten Porzellans.

Ebenfalls keine Hinweise.

Das letzte Zimmer war Debbies. Er zögerte, bevor er über die Schwelle zwischen dem Flur und ihrem Zimmer trat. Bilder blitzten auf, legten sich über den leeren Raum vor ihm.

Sie hatte damals auf dem Boden unter dem Bett gelegen, das mittig an der gegenüberliegenden Wand stand. Die Bettdecke und die dünne Wolldecke lagen übereinandergestapelt am Fußende.

In seinen Gedanken ließ er sich auf die Knie sinken, legte sich zitternd auf den Bauch und zog sie unter dem Bettrahmen hervor. In seinem Schoß liegend, stöhnte sie und atmete schwach und abgehackt. Sie trug ein blaues Baumwollnachthemd, das er ihr zum Valentinstag bei einem teuren Online-Geschäft gekauft hatte, weil es kühlenden Stoff versprach. Es war durch dunkle Flecken überall auf ihrem Körper ruiniert.

Debbies Haut war grau, Tränen flossen aus ihren Augenwinkeln. Sie blinzelte, konnte ihren Blick aber nicht fokussieren. Er hielt sie von dem Versuch ab, zu sprechen und unterdrückte den Drang, zu heulen. Doch sie flüsterte.

»Johnny, du lebst. Sie haben gesagt, du wärst tot.«

Beck schniefte. »Wer? Wer hat gesagt, dass ich tot bin?«

»Der Mann«, sagte sie. »Der Mann, der hergekommen ist …«

Beck wischte mit seinem Ärmel sanft ihre Wangen ab. Sie schloss die Augen und öffnete sie wieder. Ihr Blick zuckte hin und her, bis er sich auf ihn richtete.

»Sie haben sie mitgenommen, Johnny.« Ihr Griff um seine Hand wurde schwächer. Sie fühlte sich kalt an. »Johnny, es tut mir so leid. Es …«

»Pst. Nicht reden. Es ist okay.«

»Versprich mir … versprich mir …«

»Alles, Deb. Alles.«

Ihr Atem wurde schwer. Sie versuchte, sich zu räuspern. Die Worte waren dick wie Sirup. »Versprich mir, dass du unser Mädchen finden wirst. Kümmere dich um sie. Bitte.«

Er drückte ihre Hand, strich mit dem Daumen über ihre Wange. »Ich verspreche es. Und wenn es das Letzte ist, was ich tue. Ich bringe sie zu dir zurück und … Deb? … Debbie … Sieh mich an.«

Ihre Lider flatterten, ihre Augen rollten zurück. Sie verkrampfte sich und erbebte. Ein letzter, zitternder Atemzug, dann wurde sie schlaff. Ihr Kopf sank zurück.

Beck war so in seine Erinnerung vertieft, dass er nicht hörte, dass Lucas hinter ihn trat. Als der Junge eine Hand auf seine Schulter legte, erschrak er. Er wirbelte herum, packte Lucas‘ Handgelenk und verdrehte es, bis Lucas aufschrie.

»Himmel, Beck. Ich bin’s!«

Beck ließ Lucas‘ Handgelenk los. »Tut mir leid. Ich hatte dich nicht gehört. Schleich dich nicht so an mich an.«

Lucas rieb sich das Handgelenk und verzog das Gesicht. »Habe ich doch gar nicht. Ich habe dich vier oder fünf Mal gerufen. Du hast nicht geantwortet, darum bin ich hergekommen.«

»Was willst du?«

»Wir haben etwas gefunden. Du solltest es sehen.«

»Was?«

»Ein Brief.«

»Wer hat ihn geschrieben?«

Lucas drehte sein Handgelenk und prüfte, ob es verletzt war. Er bewegte es kreisförmig. »Tatsächlich sind es drei Briefe.«

»Von wem?«

»Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie von deiner Tochter sind.«

Kapitel 3

Tag der Detonation + 4 Jahre, 5 Monate, 15 Tage, Tuscaloosa, Alabama

Becks Hände zitterten, als er die Briefe zum dritten Mal las. Er wollte nicht, dass ihm etwas entging. Er wollte sicher sein, dass er alles verstand.

Es waren drei Briefe. Der erste war auf zwei Monate nach dem Tag der Detonation datiert. Er war vier Jahre und drei Monate alt. Der zweite war zwei Wochen später geschrieben worden. Der dritte ein Jahr danach.

Beck sah von dem Geschriebenen auf. »Und das war’s? Das waren die einzigen?«

Rebecca nickte. »Sie waren hinter den Schrank geschoben worden, wie ich schon sagte. Alle zusammen. Ich habe sie nur gesehen, weil ich mich gebückt habe, um meinen Stiefel zuzubinden. Und nach dem zu urteilen, was sie geschrieben hat, bezweifle ich, dass sie noch mehr Briefe hinterlassen hat.«

Becks Kiefer spannte sich an. Eine Mischung aus Aufregung und Angst breitete sich in seinem Magen aus. Er ignorierte die Dämonen, die drohten, seine Konzentration zu stören, als er die Briefe ein weiteres Mal las. Einen nach dem anderen. Eine Zeile, ein Wort nach dem anderen.

Dad,

ich kam in der Hoffnung hierher zurück, dich zu finden. Ich weiß nicht, ob du noch lebst oder nicht. Goose hat gesagt, dass du tot bist. Ich glaube ihm nicht. Er ist ein Lügner.

Falls du dich das fragst, er hat mir nicht wehgetan. Nicht wirklich. Ich habe ihm allerdings wehgetan. Erinnerst du dich an das Messer, das du mir gekauft hast? Ich habe es benutzt, um ihm ein Ohr abzuschneiden. Es war widerlich. Wirklich widerlich. Aber ich musste es tun, um ihm zu entkommen.

Ich habe ein paar Markierungen beim Magnolienbaum draußen im Garten gesehen. Es sah aus, als könnten dort Leichen begraben sein. Zwei? Ich weiß es nicht. Es war schwierig zu sagen.

Aber Moms Schuh lag in der Nähe des Baums. Daran war Blut. Ich glaube, dass sie gestorben ist. Ich denke, dass Gooses Männer es getan haben. Ich meine, ich bin mir ziemlich sicher, dass es so war. Ich glaube, Mom hat auch einen von ihnen erwischt. Das könnte die andere Leiche sein. Ich weiß es nicht. Im Haus gibt es sehr viel Blut. Ich weiß nicht, was passiert ist, nachdem sie mich entführt haben, aber ich hoffe, dass du etwas damit zu tun hattest.

Ich habe eine Weile draußen beim Baum gesessen. Ich weiß, du hast gesagt, dass es okay ist, zu weinen, wenn man traurig ist, dass man nicht schwach ist, wenn man weint, aber ich konnte es nicht. Ich habe es versucht. Ich wollte weinen. Aber die Tränen wollten nicht kommen. Was bedeutet das?

Du weißt, dass ich Mom geliebt habe. Bis zum Mond und zurück, nicht wahr? Warum kann ich dann nicht weinen? Ich bin traurig. Mein Bauch tut weh. Aber ich kann nicht weinen. Selbst wenn ich an dich denke und daran, dass du auch tot sein könntest, auch wenn ich das nicht glaube, kommen keine Tränen. Mein Hals wird trocken. Das ist alles.

Du hast mich dazu erzogen, hart und unabhängig zu sein. Ich versuche, genau das zu tun. Ich versuche es immer weiter.

Ich schweife ab. Tut mir leid. Ich bin nicht sicher, was ich dir schreiben soll. Ich weiß nicht einmal, ob du das hier jemals sehen wirst. Aber wenn es so sein sollte, will ich, dass du weißt, dass ich dich liebe. Mir geht es gut. Und ich gehe nach Mobile zu deinem Haus. Vielleicht bist du dort.

Ich liebe dich, Dad.

Millie

Beck sah durch die offene Hintertür zum Magnolienbaum hinüber. Er hatte weder Debbie noch Radio begraben. Er hatte es eilig gehabt, Millie zu finden. Er und Gabe hatten die Leichen in Bettlaken gewickelt und sie in den Schatten unter dem Baum gelegt. Sie hatten große Steine genommen, sie als Markierung bei ihren Köpfen niedergelegt und gebetet. Was war mit den Leichen geschehen? Menschen waren in jeglicher Hinsicht wie Geier. Er fragte sich auch, was mit den Überresten der Männer passiert war, die er getötet oder sterbend im Haus zurückgelassen hatte. Sie mussten auch verschwunden sein. Trotz seines Ekels war er froh, dass Millie nicht nach Hause gekommen war und sie gefunden hatte. Es hätte seine schwierige Ankunft noch schlimmer gemacht.

Er verschob die Blätter, steckte die ersten nach hinten und las den zweiten Brief.

Dad,

ich bin sicher, dass du am Leben bist!

Das ist die gute Nachricht. Die schlechte Nachricht ist, dass ich dich immer noch nicht gefunden habe. Natürlich weißt du das. Es ist dumm, es zu schreiben.

Ich bin zu deinem Haus gegangen. Es hat sehr lange gedauert. Aber ich habe auf dem Weg ein paar Freunde gefunden. Ein paar ältere Mädchen und einen Kerl, die in dieselbe Richtung unterwegs waren. Sie sind unglaublich nett und wir schlossen einen Pakt, einander zu helfen. Sie sind College-Studenten an der UA. Zumindest waren sie das. Sie alle kommen aus Mobile. Als wir uns auf der Autobahn trafen, machte es also Sinn, dass wir zusammenblieben.

Wir gingen zu deinem Haus und ich sah, dass deine Waffen verschwunden waren. Sie waren, glaube ich, in Safes, oder? Und nur du hast die Zahlenkombinationen gekannt. Also musst du am Leben sein. Goose war ein Lügner. Und jetzt ist er ein einohriger Lügner!

Wir nahmen einige Lebensmittel, die du zurückgelassen hast, und fanden in den Häusern der anderen noch mehr Sachen. Jetzt sind wir wieder zurück und haben vor, nach Norden zu gehen. Wir würden ja hierbleiben, aber es ist so widerlich. Viele der College-Studenten sind gegangen, um zu versuchen, ihre Eltern zu finden. So bleiben nur die Einheimischen. Ich meine, das ist nicht besonders nett. Die Leute hier waren immer supernett. Was ich damit meine, ist, dass es alles alte Menschen sind, die nicht wegkönnen, und wir wollen hier nicht feststecken. Nicht jetzt. Also gehen wir nach Norden. Vielleicht in die Berge. Ich werde in einem Jahr zurückkommen. Wenn du das liest, triff mich hier. Genau heute in einem Jahr. Ich verspreche, dass ich zurückkomme.

Du würdest stolz auf mich sein. Ich habe Schwein gegessen. Wildschwein. Kleine Wildferkel. Die Art, mit der wir fertigwerden konnten. Wie immer man die auch nennt. Es waren zwei von ihnen zusammen, die wütend auf uns wurden. Sie versuchten, uns anzugreifen, aber wir haben beide mit Messern getötet. Ich werde mit meinem Messer immer besser. Wirklich geschickt.

Jedenfalls haben wir sie getötet und aufgeschnitten. Ich glaube nicht, dass wir sie richtig zubereitet haben. Aber sie waren so fett, dass wir viel Fleisch hatten. Wir kochten es über einem Lagerfeuer an einem Spieß. Es war sehr reichhaltig und schmeckt nussig. Nicht so wie anderes Fleisch. Nicht schlecht, nur anders. Wir hatten so viel, dass wir drei Tage davon gegessen haben. Ich bin ehrlich. Ich habe es jetzt satt. Aber Essen ist Essen.

Denk daran, Dad, ich komme in einem Jahr zurück. Bitte sei hier. Ich liebe und vermisse dich.

Millie

Beck lachte leise bei der Vorstellung, dass sie ein Schwein getötet, es aufgeschnitten und gegessen hatte. Ihr Gesichtsausdruck, als sie den ersten Bissen genommen hatte, musste einmalig gewesen sein. Der Gedanke daran machte ihn traurig. Er vermisste sie so sehr. Millie war allein in einer Apokalypse und er war nicht da, um ihr zu helfen.

Klar, es schien ihr gut zu gehen. Sie hatte Freunde. Sie beschützten einander. Aber es war nicht dasselbe. Die Dämonen plapperten, als er sich dem letzten der drei Briefe zuwandte, dessen Ton sich merklich von dem jugendlichen relativen Optimismus der ersten beiden unterschied.

Dad,

ich dachte wirklich, dass du hier sein könntest. Ich will nicht lügen, ich bin enttäuscht, dass ich dich nicht sehe. Vielleicht bedeutet das, dass du nicht mehr am Leben bist. Oder du hast nie daran gedacht, zurückzukommen. Das ist okay. Mir geht es gut. Das letzte Jahr hat mich viel über das Überleben gelehrt. Es hat mich auch viel über Menschen gelehrt. Du hast mich immer ermahnt, auf mich aufzupassen und Menschen erst zu vertrauen, wenn ich sie wirklich kennengelernt habe. Das war ein sehr guter Rat.

Versteh mich nicht falsch, ich bin in Gesellschaft guter Menschen. Wir passen aufeinander auf. Und ich glaube, dass die meisten Menschen gut sind. Aber weißt du noch, wie du mit mir über Politik diskutiert hast? Du hast mir gesagt, dass die meisten Menschen den goldenen Mittelweg bevorzugen. Ihre Überzeugungen sind gemäßigt. War das das Wort?

Jedenfalls hast du gesagt, was dich an der Politik immer gestört hat, ist, dass die Menschen der Mitte nie laut genug gewesen sind. Selbst wenn sie die Mehrheit waren, waren sie zu ruhig. Es waren die Spinner an den Rändern, die die ganze Aufmerksamkeit bekamen und alle glauben ließen, dass alles das eine oder andere Extrem sein müsste. Sie waren die Lauten. Ein Rädchen, das nicht quietscht, wird auch nicht geschmiert, nicht wahr?

Ich glaube, dass die Welt jetzt so ist. Die meisten Menschen sind gut, aber sie bleiben unter sich, oder versuchen es zumindest, während die Extremen den ganzen Lärm machen. Die schlechten Menschen sind die Lauten, will ich damit sagen. Sie vermitteln den Eindruck, dass die Welt ein gefährlicher Ort ist, was auch stimmt. Aber sie machen sie viel schlimmer, als sie sein müsste.

Ich dachte, dass jetzt, ein Jahr, nachdem sich alles verändert hat, die Welt anfangen würde, wieder normal zu werden. Aber sie ist nur noch schlimmer geworden. Tatsächlich war die Reise hierher nicht besonders gut. Wir hatten einige Begegnungen. Mir geht es gut, aber ich kann diese Reise nicht noch einmal machen. Es ist nicht sicher.

Ich hoffe also, dass du das hier findest. Das wünsche ich mir wirklich. Denn dies ist der letzte Brief, den ich hinterlasse. Ich weiß, dass du die anderen beiden nicht gelesen hast. Sie sind immer noch so gefaltet, wie ich sie hinterlassen habe. Ich lege diesen Brief zu ihnen, damit du eine Vorstellung bekommst, wie es mir ergangen ist.

Ohne zu sehr ins Detail zu gehen, denn ich will nicht, dass jemand anders die Briefe findet und mich suchen kommt, ich bin an einem wirklich guten Ort im Norden. Wir haben dort eine kleine Gemeinschaft. Wir sind großenteils sicher, vor allem weil niemand von uns weiß. Und ich kann nicht riskieren, unseren Aufenthaltsort zu verraten. Ich weiß, dass das wie ein Spiel klingt. Aber, Dad, das ist es nicht. Ich meine es ernst.

Wenn du das hier liest, möchte ich, dass du mich suchen kommst. Du musst an einigen schwierigen Stellen vorbei, um zu mir zu kommen. An jedem dieser Orte werde ich einen Brief für dich hinterlassen, mit einem Hinweis, wie du mich finden kannst. Wenn ich von der Annahme ausgehe, dass ich es zurückschaffe. Wie ich schon sagte, die Reise hierher war hart.

Erster Halt in Memphis. Geh zur Pyramide. Frag im Fundbüro nach dem Sheriff. Man wird dich Dinge über mich fragen, die nur du wissen kannst. Wenn du es gefunden hast, mach dich bereit, einige Fragen zu beantworten. Sie werden dir sagen, wohin du als Nächstes gehen musst. Dort hinterlasse ich einen weiteren Hinweis. Du wirst es zu mir schaffen. Ich warte auf dich. Immer.

Ich liebe dich, Dad. Es geht mir gut. Ich bin sehr erwachsen geworden. Mehr, als ich sagen kann.

Ich glaube an dich.

Millie.

Rebecca seufzte. »Bist du endlich fertig? Du hast sie jetzt fünfmal gelesen. Die Worte verändern sich nicht.«

Beck nickte. »Ich bin fertig.«

Er faltete die Briefe so vorsichtig zusammen, als wäre sie ein antikes Artefakt und steckte sie in eine Seitentasche seines Rucksacks. Er zog langsam den Reißverschluss zu.

»Machen wir das?«, fragte Rebecca.

Beck blickte von seinem Rucksack auf. »Machen wir was?«

»Ob wir auf diese Schnitzeljagd gehen. Von hier nach Memphis oder wohin auch immer.«

»Ich bin dabei, wenn du es machst«, sagte Lucas. »Der einzige Sinn dieser Reise ist, Millie zu finden. Jetzt hat sie uns erzählt, wo sie ist. Auf irgendeine Art.«

»Das könnte eine Falle oder so etwas sein«, sagte Rebecca. »Wissen wir überhaupt, dass die Briefe von deiner Tochter sind?«

»Sie sind von ihr«, sagte Beck. »Ich erkenne ihre Handschrift. Außerdem, woher sollte jemand ihren Namen kennen und von dem Magnolienbaum wissen und über Dinge, die ich ihr beigebracht habe?«

»Es ist seltsam, das ist alles«, sagte Rebecca.

Beck lachte leise. »Und ich dachte, dass ich Vertrauensprobleme hätte.«

Rebecca verdrehte die Augen. »Ich bin dabei. Wie Lucas schon gesagt hat, ist der einzige Sinn der Reise, sie zu finden. Ohne Zweifel. Ich wollte es nur mal angemerkt haben. Ich dachte mir, dass es besser ist, die Fragen jetzt zu stellen, als wenn wir auf dem gelben Ziegelsteinweg sind und die Affen uns angreifen.«

Lucas warf ihr einen verwirrten Blick zu. »Affen?«

Sie hob ungläubig die Brauen. »Der Zauberer von Oz. Dorothy. Toto.«

Leerer Blick. Er verstand es nicht.

»O mein Gott«, sagte Rebecca. »Du hast nie Der Zauberer von Oz gelesen oder gesehen? Wo bist du gewesen, Lucas? Das ist ein Klassiker. So vielschichtig.«

»Okay, wir können später über Oz reden. Lasst uns zuerst herausfinden, wie wir das angehen wollen.«

Beck zog ein gefaltetes Stück Papier aus seiner inneren Westentasche und ging in die Hocke. Er breitete das Papier auf dem Boden aus und strich mit den Fingern über abgenutzten Falten, wobei er darauf achtete, den braunen Fleck auf dem Linoleum zu vermeiden. Er verließ sich seit über vier Jahren auf diese Karte. Jedes Mal, wenn er sie benutzte, drohte sie zu Staub zu zerfallen, aber er schaffte es, sie zusammenzuhalten. Lucas hockte sich neben ihn, während Rebecca sich im Schneidersitz auf den Boden setzte.

Die Karte zeigte die Vereinigten Staaten oder das, was einmal die Vereinigten Staaten gewesen waren. Kugelschreiber- und Bleistiftmarkierungen waren über die Karte verteilt und zeigten die Orte an, an denen Beck auf seiner Suche nach Millie gewesen war.

Die Markierungen waren auf großen Städten, Kleinstädten und Orten, die kaum eine Erwähnung auf einer Karte jeglicher Größe verdienten. Von Orlando bis Amarillo, von Bluefield zu Fort Worth, von Kansas City zu Shreveport, von Little Rock zu St. Lous, von Torreon zu Tuscaloosa. Beck hatte einen Großteil des Landes östlich der Rockies durchwandert. Er hatte gehört, dass sie weiter entfernten westlichen Staaten oder das, was von ihnen übrig war, noch schlimmer waren als die Orte, an denen er gewesen war. Beck konnte das kaum glauben, aber genug Leute hatten ihm Geschichten von den Vorgängen in Los Angeles, San Francisco, Portland und Seattle erzählt, dass er kein Verlangen hatte, dorthin zu gehen. Während sein Blick über die Karte wanderte und er mit den Fingern vorsichtig das Papier auf dem Boden glättete, betete er, dass seine Tochter ihn nicht so weit nach Westen schicken würde.

Er legte einen Finger auf Tuscaloosa. »Wir sind hier, und wir müssen dorthin.« Er zog eine Linie von Alabama nach Tennessee. »Wir könnten diesen Weg nehmen. Nach Norden auf der 43 und dann nach Westen auf die 22 abbiegen. Von der Interstate aus haben wir einige Möglichkeiten, wenn wir in die Nähe von Memphis kommen. Die 78 direkt in die Stadt oder wir nehmen die 269 und gehen dann nördlich auf der 55.«

Rebecca berührte die Karte. »Oder dieser Weg. Wir nehmen die 82 ziemlich genau nach Westen und gehen dann den Rest des Weges nördlich auf der 55.«

Beck nickte. »Keine schlechte Idee. Den Weg bin ich schon mal gegangen. Ich bin allerdings nicht sicher, ob diese Brücke westlich von Columbus noch in Ordnung ist. Ich habe gehört, dass sie vor ein paar Jahren nur noch auf einem Träger stand. Natürlich habe ich sie nicht selbst gesehen.«

»Der Weg dorthin ist länger«, sagte Lucas. »Genau nach Westen zu gehen statt nordwestlich auf der 43 würde uns viel Zeit kosten, oder?«

Beck bewegte seinen Finger zu einem dunkelgrünen Fleck südwestlich von Memphis und tippte darauf. »Ja, aber wir würden den Holly Springs National Forest umgehen. Ich habe gehört, dass dieser Ort die Hölle sein soll. Da gibt es viele Stellen für einen Hinterhalt. Kein guter Ort. Je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr Sinn ergibt Rebeccas Plan.«

Lucas berührte die Karte. »Wie wäre es, wenn wir uns in der Mitte treffen und mit der 82 anfangen und dann diese Landstraßen nehmen? Die sind weniger belebt. Und so gehen wir wenigstens nach Norden.«

»Das wäre ein kleiner Umweg«, sagte Beck.

Rebecca lächelte spöttisch. »Das Wort des Tages?«

Beck erwiderte ihr Lächeln. »Vielleicht. Wir können es versuchen. Es gibt da genug Straßen, dass wir, wenn wir irgendwo nicht weiterkommen, genug andere Möglichkeiten haben. Der ganze Weg ist wahrscheinlich zweihundertfünfzig Meilen lang. Wir könnten in drei Wochen da sein.«

Rebecca streckte die Beine und stand auf. »Wir könnten schneller da sein. Ich könnte fünfzehn Meilen am Tag schaffen, das wäre kein Problem, Beck. Dann wären wir in …«

»Weniger als siebzehn Tagen da«, sagte Lucas. »Genauer gesagt sechzehn und zwei Drittel Tage.«

Beck beäugte Rebecca, dann sahen beide Lucas an.

Er zuckte mit den Schultern. »Was?«

»Ich hatte keine Ahnung, dass du gut in Mathe bist«, sagte Rebecca. »Wie konntest du das so schnell rechnen?«

»Ich weiß nicht. Ich habe es einfach getan.«

»Was ist fünfhundert geteilt durch sechs?«

Ohne zu zögern, antwortete Lucas: »Dreiundachtzig und ein Drittel.«

»Eintausendzweihundertneunzig mal einundsiebzig.«

Lucas kniff die Augen zu. »Neunzigtausendfünfhundertneunzig.«

Rebecca kicherte. »Ich habe keine Ahnung, ob das richtig ist, aber das ist erstaunlich.«

Lucas wurde rot. Er streckte die Hand aus, und sie half ihm hoch. Sie zog so kräftig, dass er vorwärts stolperte und gegen sie stieß und die Hände auf ihren Schultern abstützen musste, um nicht zu stürzen. Die beiden standen Brust an Brust dicht beieinander, bevor sie die Blicke voneinander abwandten und zurücktraten.

Beck unterdrückte ein Lächeln. Teenager.

»In Ordnung, Einsteins, lasst uns losgehen«, sagte er. »Die Smaragdstadt wartet auf uns.«

Sie schulterten ihre Rucksäcke und verließen das Haus durch die Hintertür. Als sie um das Haus herum zur Straße gingen, verweilte Becks Blick auf dem Magnolienbaum. Zwei halb versunkene Steine lagen nebeneinander am dicken Stamm des Baums. Er verabschiedete sich schweigend von Debbie und Radio und entschuldigte sich bei ihnen erneut dafür, dass er sie nicht anständig beerdigt hatte.

Kapitel 4

Tag der Detonation + 4 Jahre, 5 Monate, 19 Tage, Columbus, Mississippi

Beck stand am Flussufer. Er fuhr mit den Daumen über die Riemen seines Rucksacks und spannte den Kiefer an. »Ihr verarscht mich doch.«

Vor ihnen war die Straße zu Ende. Es war keine Sackgasse, aber irgendwann in den letzten vier Jahren seit dem Tag der Detonation war die Brücke, die über den Tombigbee Waterway auf dem Highway 45 führte, verschwunden.

»Das ändert nichts«, sagte Rebecca.

»Was ändert nichts?«, fragte Beck.

»Dass du hier stehst und starrst.«