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Das Jahr 2035 ist der offizielle Beginn des Dürrezeitalters. Die Wasserknappheit führt zu weitreichenden Veränderungen auf der ganzen Welt. So auch für Severin, der bei einer Wanderung unfreiwillig im Freien übernachten muss. Als er aufwacht, befindet er sich in einem unbekannten Land in der Vergangenheit. Noch am selben Tag reist Severin zurück und glaubt, alles nur geträumt zu haben. Zu Hause stellt sich jedoch heraus, dass die Reise keineswegs ein Traum war. Also reist er erneut in die Vergangenheit und landet wieder auf dem paradiesischen Flecken Erde, den Severin Temira nennt. Dort unternimmt er eine lebensgefährliche Klettertour, um herauszufinden, was sich hinter dem Gebirge befindet. Im Hinterland wird er Zeuge von abscheulichen Verbrechen und findet ein Mädchen, das mehr tot als lebendig ist. Um sie zu retten, unternimmt er eine waghalsige Flucht über das Gebirge und bringt sie mit letzter Kraft in seine Heimat. Kurz darauf fällt Severin in ein Koma. Im Krankenhaus wacht er wieder auf und lernt dort Christine kennen. Sie ist die Einzige, die Severin in sein Geheimnis von der Zeitreise einweiht. Gemeinsam schmieden sie Pläne für eine weitere Reise nach Temira und ziehen dabei die Möglichkeit in Betracht, dass sie in der Vergangenheit festhängen und nie wieder nach Hause zurückkehren könnten.
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Seitenzahl: 661
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Ronald Nitz
Erzählung
Present in the Past
Ronald Nitz
Copyright: © 2021 Ronald Nitz
Bild im Innenteil: Rinaldo Loacker
Umschlaggestaltung: Erik Kinting / buchlektorat.net
Published by epubli
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Allmählich brach Chaos aus in Österreich. Einst eines der wasserreichsten Staaten der ganzen Welt, und wo die Menschen zu jeder Tages- und Nachtzeit bestes, unbehandeltes Trinkwasser aus dem Wasserhahn genießen konnten. In den allen Gemeinden Vorarlbergs, dem westlichsten Bundesland Österreichs, in Europa und nahezu auf der ganzen Welt neigten sich die Trinkwasserreservoirs langsam aber sicher dem Ende zu. In Vorarlberg gab es mancherorts zwar noch Trinkwasser, doch wurde dessen Gebrauch streng reglementiert. Wer beim Autowaschen, beim Gießen des Rasens und Gartens, oder gar beim Befüllen eines Swimmingpools erwischt wurde, musste mit drakonischen Strafen rechnen. Diese Strafen waren in Vorarlberg Gemeindesache, und je nach Gutdünken der Gemeindeväter reichten die Strafen von finanziellen Bußen bis zu Freiheitsentzug. Jeder Haushalt wurde kontrolliert ob die Toilettenanlage deinstalliert und auf eine Trockentoilette umgestellt wurde. Diese Toiletten funktionierten ohne Wasserspülung, bei der die Fäkalien direkt in einen mit Sägemehl, Stroh oder mit ähnlichen Materialien gefüllten Behälter geleitet und dort kompostiert wurden. Die Ausscheidungen wurden biologisch nutzbringend als Kompost dünger oder zur Herstellung von Biogas verwendet. Die Baufirmen hatten Hochkonjunktur in dieser Zeit. Jeder Haus- oder Wohnungseigentümer war verpflichtet diese Umbauten der Toilettenanlagen durchzuführen. Auf dem Land waren diese Umbaumaßnahmen relativ einfach und mit geringem Kostenaufwand durchführbar, doch in den Städten und in Gemeinden mit größeren Wohnanlagen waren diese Umbauten sehr kostenintensiv. Vor allem an heißen Tagen war der Gestank in diesen Ballungszentren kaum auszuhalten, was dazu führte, dass viele Menschen die sich einen Umzug leisten konnten, aufs Land zogen. Die Landbevölkerung wehrte sich vehement gegen diesen unkontrollierten Zuzug von Menschen, da es nicht lange dauerte, bis immer öfter auch über dem Land der allgegenwärtige Geruch von Fäkalien lag. Das Geld nahmen sie aber alle gerne, da die Mieten, auch und vor allem in den abgelegensten Winkeln, wo früher niemand freiwillig hingezogen wäre, unverschämt hoch waren. Jeder Haushalt in Vorarlberg hatte eine eigene Wasseruhr, die exakt den Verbrauch von Trinkwasser anzeigte. Da es vorerst noch Wasser gab, wurden die Abgabemengen an Trinkwasser pro Haushalt und Kopf genau vorgeschrieben. Die damit zusammenhängenden Kontrollaufgaben wurden von Arbeitslosen verrichtet, von denen es mehr als genug gab zu dieser Zeit. In den Jahren vor 2045 kam es noch gelegentlich vor, dass manche Haushalte die zugestandenen Wassermengen deutlich überschritten, was zur Folge hatte, dass ihnen das Wasser abgedreht wurde. Wem dieses Missgeschick, aus welchen Gründen auch immer, einmal passierte, machte diesen Fehler kein zweites Mal, da die Leute sehr schnell begriffen was es bedeutet kein fließendes Wasser im Haus oder in der Wohnung zu haben. Später wurden Überbezüge von Wasser unter Strafe gestellt. Nach all den Kinderkrankheiten, die natürliche Folgen der vielfältigen und tiefgreifenden Umstellungen waren, wurden die neuen Regeln und Normen von der Bevölkerung erstaunlich schnell akzeptiert und umgesetzt.
Severin Freud, ein 50 Jahre alter Österreicher aus dem Rheintal in Vorarlberg, hatte schon vor 2045 mehrmals erlebt wie das Wasser in manchen Jahren im Sommer knapp wurde. In diesen niederschlagsarmen Sommer kam es nicht selten vor, dass die Vorgärten und Rasenflächen der Häuser verdorrten. Selbst auf vielen der höher gelegenen Almen versiegten in diesen heißen Sommer die Wasserquellen, sodass das Wasser für das Vieh angeliefert werden musste. Wenn das nicht möglich war, musste das Vieh ins Tal gebracht werden, was nicht weiter tragisch war, da es im Tal immer genügend Wasser und Futter gab. Vor dem Beginn der Dürrezeit konnte man sich aber immer darauf verlassen, dass nach einem niederschlagsarmen Sommer ausgiebig Regen fiel, der die Wasserreservoirs wieder auffüllte.
Für manche Länder des europäischen Kontinents wie Österreich, Schweiz, Deutschland, Norditalien, Teile von Frankreich und andere Länder, war dies eine noch nie da gewesene Herausforderung, weil sie immer ausreichend Wasser zur Verfügung hatten. Die Alpen, einer der ältesten Gebirgszüge der Welt, sind ein gigantischer Regenspeicher, der das lebensnotwendige Wasser über Jahre hinaus speichern kann. Der Regen versickert in den Sedimentschichten, und es dauert mitunter bis zu einem Jahr bis dieses Wasser an die Quelle gelangt, die Menschen seit jeher eingefasst haben um ihre Trinkwasserversorgung abzudecken. Diese Quellen waren nun versiegt, und die meisten Trinkwasserbehälter waren leer, was die Existenz von mehreren Millionen Menschen bedrohte. Es gab zwar zwischendurch immer wieder Regen, doch viel zu wenig und viel zu selten. Die schneereichen Winter blieben völlig aus. Das bisschen Schnee das auf Vorarlbergs Bergen ab 1500 Meter liegen blieb, schmolz spätestens zu Frühlingsbeginn. In diesen paar Tagen der Schneeschmelze führten höher gelegene Bäche und Flüsse Wasser, doch dieses Wasser versickerte in den ausgetrockneten Bach- und Flussbetten und erreichte nur sehr selten den Rhein. Selbst dieses hohe Aufkommen von Wasser während der Schneeschmelze reichte nicht aus um die Wasserbehälter zu füllen.
Das Jahr 2045 war der offizielle Beginn der Dürrezeit, nicht nur auf dem europäischen Kontinent, sondern auf der ganzen Welt. in diesem Jahr mussten die Bauern im Vorarlberger Rheintal zum ersten Mal Wasser zukaufen. Kleinmengen an Trinkwasser zu kaufen war für Menschen in vielen Ländern der Welt erschwinglich und alltäglich, doch Trinkwasser für Vieh zu kaufen war eine ganz andere Sache. Aus den Bächen konnten die Bauern kein Wasser mehr holen, weil sie ausgetrocknet waren. Selbst der Rhein, einer der größten Flüsse Europas war ausgetrocknet. Aus den Seen, die in Vorarlberg alle Trinkwasserqualität hatten, durften nur noch die Feuerwehr, manche Firmen und Bauern Wasser abpumpen. Firmen aus der Lebensmittelbranche und manche Bauern, die für die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmittel beauftragt wurden, und das waren nur die Wenigsten, durften streng reglementierte und kontrollierte Mengen Wasser abpumpen. Leute die ohne Bewilligung bei Nacht und Nebel versuchten aus den Seen Wasser abzupumpen, wurden sofort verhaftet oder von aufgebrachten, selbsternannten Hütern des Wassers zusammengeschlagen. Die Wasserhüter gingen sogar soweit, dass sie Wasserdiebe umbrachten. Es gab massenhaft Arbeitslose, weil viele Firmen die keine überlebenswichtigen Waren produzierten und Firmen die Wasser zur Herstellung ihrer Waren brauchten, ihre Angestellten entlassen und den Betrieb einstellen mussten. Firmen die Brunnenbohrungen anboten, schossen wie Pilze aus dem Boden. Für sie herrschten wahrlich goldene Zeiten, denn sie schlossen sich zusammen und einigten sich auf horrende Preise für eine Brunnenbohrung, die zumindest am Anfang der Dürrezeit vielen Menschen Zugang zu Trinkwasser ermöglichte. Wenn die Legislative versuchte den Wucherpreisen per Gesetz Einhalt zu gebieten, stellten die Bohrfirmen ihre Tätigkeit ein, was den Gesetzgeber dazu zwang seine Beschlüsse wieder aufzuheben, sodass die Bohrfirmen weiterhin sukzessive die Preise in die Höhe treiben konnten. Ihre Unverfrorenheit und ihre maßlose Gier büßte so mancher Arbeiter und Chef einer Bohrfirma mit dem Leben. Menschen die sich keine Bohrung leisten konnten, blitzten mit dem Ansuchen um eine Bohrung auf Ratenzahlung bei den Bossen ab, und rächten sich in manchen Fällen höchst unangemessen, indem sie den Arbeitern oder den Chefs auflauerten und sie kurzerhand umbrachten. Viele Menschen verloren ihre Hemmungen und wurden zu reißenden Bestien, die nur noch darauf aus waren zu überleben. Wobei die Brunnen zu Beginn des Dürrezeitalters gar nicht überlebenswichtig waren, denn in jedem Lebensmittelladen konnte man Wasser zu erschwinglichen Preisen kaufen. Es war zwar mittlerweile kein Quellwasser mehr, sondern entsalztes Meerwasser, aber immerhin konnte man mit diesem Wasser überleben. Quellwasser konnte auch nicht importiert werden, weil die Länder ihr Wasser für sich behielten. Selbst im Himalayagebiet behielt das jeweilige Land das Wasser für ihre eigene Bevölkerung zurück, und stellte den Export des Wassers ein, obwohl sie damit ein Vermögen hätten verdienen können. Doch in Asien und auch auf anderen Kontinenten wo es gebietsweise noch genug Wasser gab, kam der Export von Wasser deshalb zum Erliegen, weil allerorts die Angst grassierte, dass die eigene Bevölkerung irgendwann kein Wasser mehr haben würde. Dieses Szenario war durchaus nicht abwegig, sondern vielmehr grausame Realität, was auch durchaus sein Gutes mit sich brachte. Die Industrienationen der Welt warfen vor der Dürrezeit ein Drittel der Lebensmittel in den Müll, was mittlerweile, zumindest den Medien zufolge, nicht mehr vorkam. Viele Menschen armer Länder starben zwar nach wie vor an Hunger, doch konnten sich die Menschen der reichen Industrienationen nun von ihren Schuldgefühlen befreien, die sie jahrzehntelang unterdrückt hatten, weil sie so viel Lebensmittel zur Verfügung hatten, dass sie den Überschuss auf den Müll werfen mussten. Mittlerweile hatte sich die Lage drastisch geändert, denn aufgrund des massiven Rückgangs der Nutzviehhaltung und der Landwirtschaft, war es vorbei mit der Verschwendung von Lebensmitteln. Diejenigen die am Meer wohnten waren zu Beginn der Dürrezeit die großen Verlierer, weil durch das Abschmelzen der Gletscher der Meeresspiegel anstieg und Millionen von Menschen ihr Zuhause verlassen mussten. Doch allzu weit entfernten sich die Menschen nicht vom Meer, weil in der Mitte der Dreißigerjahre des 21. Jahrhunderts beinahe alles Überlebenswichtige aus dem Meer kam. Fische, Algen als Futter für die Nutztiere, Strom aus den Tidenhubwerken, und das Allerwichtigste, entsalztes Wasser zur Trinkwasserversorgung. Es ging eigentlich ziemlich schnell, dass aus den Verlierern Gewinner wurden. Die Machtverhältnisse auf der Erde wendeten sich für viele Länder zum Besseren und für andere zum bedeutend Schlechteren, wie für viele mitteleuropäischen Länder. Für Binnenstaatbewohner brachen bittere Zeiten heran. Die Bauern mussten ihren Tieren statt Heu und Grassilage nun getrocknete Algen verfüttern, und nicht wenige Bauern mussten sogar entsalztes Meerwasser zukaufen, weil die Menge an Wasser die sie den Seen entnehmen durften immer weniger wurde. Der Import von entsalztem Meerwasser wurde zwar staatlich subventioniert, doch Fleisch von Tieren die dieses Wasser tranken und getrocknete Algen fraßen, schmeckte nicht mehr wie Rind-, Schweine-, oder Hühnerfleisch wie es bis anhin geschmeckt hatte. Das Fleisch schmeckte irgendwie nach Hühner-, Schwein- und Rindfisch. Aber viele Menschen wollten nicht auf Fleisch verzichten, auch wenn das Fleisch alles andere als gut war, und nach Fisch schmeckrte. Sie konnten auch nicht darauf verzichten, denn sie mussten nehmen was da war. Alles wurde zunehmend überlebenswichtig, nicht nur Wasser und Nahrungsmittel, alles. Abgesehen vom Beginn des Industriezeitalters am Ende des 18. Jahrhunderts, gab es wahrscheinlich in keiner Zeitepoche so viele Veränderungen wie zu Beginn des Dürrezeitalters im Jahre 2045. Der Verbrennungsmotor hatte ausgedient, erstaunlich viele alternative Energiequellen wurden entdeckt, die Menschen schütteten gewaltige Inseln auf dem Meer auf um sie zu bewohnen und sie unternahmen unzählige Flüge ins All um neue Lebensräume zu entdecken. Die Menschheit, mit zu vielen Ausnahmen, wurde auf dramatische Art und Weise in vielerlei Hinsicht sehr viel bewusster. Ressourcen wurden umweltschonend abgebaut, der Verbrauch von Wasser und Lebensmittel wurde auf ein Minimum reduziert, riesige Hallen wurden gebaut in denen Algen, Weizen, Mais und dergleichen mehr angebaut wurden, allerdings nicht immer mit Erfolg. Nach wie vor mussten Unmengen an Getreide und Futter für die Nutztiere, hauptsächlich Algen, importiert werden. Heizanlagen wurden größtenteils mit alternativen Energien betrieben oder aufgrund der Schließung vieler Betriebe einfach abgeschaltet. Das Internet, Handys, alle Arten von Computer und Server mit ihren riesigen Kühlanlagen, Klimaanlagen und alle erdenklichen elektrischen und elektronischen Geräte wurden optimiert. Diese Geräte konnten aber nicht flächendeckend auf alternative Energien umgestellt werden, da ihr Stromverbrauch enorm war, obwohl vielerorts Stromverbraucher jeglicher Art einfach wegrationalisiert wurden. Der Mensch musste sich damit auseinandersetzen, dass das Computerzeitalter unaufhaltsam zu Ende ging, was vor allem den jungen Leuten schwerer fiel als den alten Leuten, die weniger oft von der Computertechnik gebraucht machten. Die Luftverschmutzung wurde nach der Abschaffung des Verbrennungsmotors deutlich weniger, und wurde immer weiter reduziert, um dem den tobbringenden Klimawandel aufzuhalten. Die Menschen wurden dankbar für das was sie hatten, sie waren sich zwar immer noch selbst die nächsten, doch unter den vorherrschenden Umständen war dies eine durchaus verständliche Verhaltensweise.
Sowie sich im 3. Jahrhundert durch die Einführung des Christentums der Polytheismus allmählich in einen Glauben an einen einzigen Gott gewandelt hatte, so kehrte sich nun das Ganze wieder um. Die Menschen gingen dazu über von ihrem Monotheismus abzulassen, und begannen vermehrt verschiedene Gottheiten anzubeten. Die Menschen hatten Angst, es kam wie schon seit der Frühzeit der Menschheit zu einer Verehrung der Erde, des Wassers, der Luft, in seltenen Fällen sogar des Feuers, als eigene Gottheiten. Die Erde wurde mittlerweile von den meisten Menschen als das gesehen und geschätzt was sie war und ist, nämlich die Spenderin allen Lebens.
Der ungezügelte Diebstahl von Eis auf den Polkappen der Erde und in Gletscherregionen führte zu länderübergreifenden Auseinandersetzungen und Krieg. Die sogenannten Supermächte und jede Nation die es sich leisten konnte und über den nötigen militärischen Rückhalt verfügte, sprengten große Eismassen ab und schleppten sie mit ihren Schiffen in ihre Heimat. Diese Schiffe wurden von Kriegsschiffen und Abfangjäger begleitet und beschützt. Die Folge dieses Raubbaus an Gletschereis war verheerend, und leitete unaufhaltsam das neue Dürrezeitalter auf der ganzen Welt ein. Einzig die Urwald- und Gletscherregionen, die flächenmäßig stetig und unaufhaltsam weniger wurden und Länder mit Hochgebirge, wie die Länder am Himalaya, in den Rocky Mountains, den Anden und diverse andere Länder mit ausgedehnten Gebirgsregionen, wo es noch regelmäßige Niederschläge gab, blieben vorerst von der Dürre verschont.
Die Trockenheit vielerorts beherrschte schon seit mehreren Jahren die Medien auf der ganzen Welt. Das Thema war allgegenwärtig, deshalb schenkten die Menschen den Nachrichten allmählich keine Aufmerksamkeit mehr, zumal ihre Trinkwasserversorgung vorerst gesichert war, und stetig konsumierte Negativschlagzeilen und Weltuntergangsmeldungen den Menschen empfindlich aufs Gemüt schlugen. Dabei war das Thema hochbrisant, und der Untergang der Menschheit ein durchaus realistisches Szenario. Selbstverständlich machten sich viele schlaue und besorgte Menschen Gedanken zu dieser bevorstehenden Realität und versuchten diesem Alptraum entgegenzuwirken.
Am 12. August 2038 wurde das letzte auf der Welt betriebene Kohlekraftwerk in China abgeschaltet, und dies auch nur auf Druck der Russen und Amerikaner. Zum ersten Mal verfolgten die Supermächte ein gemeinsames Ziel, die Abschaffung der Emissionen auf der Erde. Autos mit Verbrennungsmotoren gab es schon vor 2040 so gut wie keine mehr. Außer den Militärs der Supermächte, wurde der Zivilverkehr erstaunlich schnell auf Solarenergie, Wasserstoff oder sonstige Energiequellen, die weniger Emissionen produzieren, umgestellt. Bei der Entsorgung von kaputten Akkus der Elektroautos, ging man mit größter Achtsamkeit vor. Der Flugbetrieb wurde deutlich reduziert, da Reisen nur noch für wenige Menschen leistbar war. Selbst Flugzeuge und Schiffe mussten auf Alternativenergien umstellen, doch das endete in vielen Fällen mit Katastrophen, weil die Technik für Flugzeug-, Bahn- und Schiffsantriebe nicht so reibungslos funktionierte wie bei den Autos. Nur mit Solarenergie war es unmöglich diese Verkehrsmittel anzutreiben, und meist gab es kombinierte Wasserstoff-Solarantriebe die oft in einer gewaltigen Explosion endeten. Dennoch waren die Ingenieure und Techniker höchst effektiv in ihrem Schaffen. In allen Küstenstaaten der Welt entstanden neue Tidenhubwerke, in vielen Länder der Welt entstanden Solar- und Windparks zur Herstellung von Strom. Selbst in den Alpenländern wurden Windräder und Solaranlagen gebaut, was in den Hochzeiten des Schitourismus undenkbar gewesen wäre. Immer wieder hörte man, dass Wissenschaftler neue, saubere Energiequellen entdeckt hatten, aber auch bisher ungenannte und übersehene Treibhausgasemittenten wurden entlarvt, nämlich die Atmer. Tiere und Menschen die atmen, stoßen enorme Mengen an CO2 aus, doch laut Aussagen der Wissenschaftler hatten sie auch für dieses Problem in naher Zukunft eine Lösung parat. Wie diese jedoch aussehen sollte, wurde den Menschen noch vorenthalten. Die Menschen brauchten vorerst noch keine Angst davor zu haben, dass sie wegrationalisiert werden, da die Pflanzen eine gewisse Menge an CO2 für die Photosynthese und der damit verbundenen Produktion von Sauerstoff und zum Aufbau der Biomasse benötigen.
Einem anderen tragisch unterschätzten Verursacher von schädlichen Emissionen, sollte es laut Medien bald an den Kragen, oder vielmehr ans Hinterteil gehen. Wissenschaftler hatten darauf hingewiesen, dass das Nutzvieh kein unerheblicher Verursacher der Luftverschmutzung war, und stellten einen Katalysator vor, der diesem Übel entgegenwirken sollte. Die Anwendung dieser Katalysatoren steckte allerdings noch in den Kinderschuhen. Dennoch blieb das Thema in den Medien präsent, obwohl die Nutzviehhaltung, zumindest in Österreich, auf ein Minimum reduziert wurde.
Severin begrüßte diese Entwicklung, obgleich er ein bekennender Fleischesser war. Auch er machte es sich zur Pflicht seinen Lebensmittelkonsum auf das Notwendigste zu beschränken. Diese Maxime hatten sich viele Menschen auferlegt, was deutlich zur Reduktion der Emissionen beitrug, und vor allem der Verschwendung von Lebensmitteln Einhalt gebot. In Vorarlberg wurden Restaurants, Hotels, Imbissbuden, Kantinen und Großküchen regelmäßig kontrolliert ob in irgendeiner Weise Lebensmittel verschwendet wurden. Der Begriff Lebensmittel umfasst als Oberbegriff sowohl das Trinkwasser als auch die Nahrungsmittel. Das war natürlich schwer zu kontrollieren, doch musste sich jeder der genannten Betriebe jederzeit auf eine unangemeldete Kontrolle gefasst machen. Diejenigen Betriebe denen das Vergehen der Lebensmittelverschwendung nachgewiesen werden konnte, mussten, ohne eine zweite Chance zu erhalten, ihren Betrieb von einem auf den anderen Tag zusperren. Die Behörden kamen den Betrieben insoweit entgegen, dass sie unsinnige EU-Richtlinien kurzerhand aufhoben. Manche Erneuerungen wurden einfach von irgendwelchen Amtsträgern beschlossen, ohne dass es dafür eine rechtliche Grundlage gab. Im umgekehrten Fall wurden erlassene Gesetze, wie zum Beispiel das Verbot, dass Betriebsküchen ihre Lebensmittelabfälle nicht an Bauern abgeben durften, kurzerhand aufgehoben. Es gab viele Beispiele für solche unsinnigen Gesetzeserlässe aus Vorzeiten, die von vielen Betriebsleitern anarchistisch ignoriert, und nur in seltenen Fällen von der Exekutive geahndet wurden. Selbstverständlich gab es genug Menschenschafe die sich gesetzeskonform verhielten, und es nicht wagten von diesen Richtlinien abzuweichen. Und lustiger Weise traf es bei diesen Kontrollen genau diese Schafe am härtesten, da man ihnen in vielen Fällen Lebensmittelverschwendung nachweisen konnte. Sie glaubten sich rechtfertigen zu können, da sie sich ja an das Gesetz gehalten hatten, doch wurden sie auf unsanfte Art auf die vorgenommenen Erneuerungen und Gesetzesnovellierungen hingewiesen, indem ihre Betriebe dicht gemacht wurden.
Dieses „Schafsverhalten“ oder „behaviour of the sheeps“ wirkte sich bei den Gegnern der Raucher genau gegenteilig aus. Hatten sie in Österreich, das eine der letzten Bastionen in Europa war in der man bis zum Sommer des Jahres 2019 noch in Restaurants rauchen durfte, schwer zu kämpfen für ihre angenommenen Ansichten, so waren sie plötzlich eine nicht zu unterschätzende Übermacht. Den wenigen Raucher die es noch gab und sich beim Rauchen erwischen ließen, drohten vielfältige Strafen, von Geldstrafen über körperliche Züchtigung, ja sogar Tote hatten die Schafe nun auf dem Gewissen, nach dem Motto, Lieber ein toter Raucher als eine Rauchwolke die die Luft verschmutzt. Diese Raucher waren selbst schuld und starben aus Dummheit, weil sie sich zu spät auf die Veränderungen eingestellt hatten.
Früher war eine Herde Schafe einfach nur eine dumme Herde Schafe die blökend einem einzigen Schaf nachrannte. Im Dürrezeitalter wurden diese Schafe zu Wölfen. Sie waren wie eine Seuche. Einst waren sie unbedeutende, kleinkarierte Menschen, die sich plötzlich für bedeutungsvoll hielten, und aufgrund ihrer Brutalität von den Menschen gefürchtet wurden. In Severins Augen waren sie jedoch Abschaum, und er hasste sie für ihre Engstirnigkeit und ihre Brutalität.
Er hatte erlebt wie im Jahre 2020 seine Eltern das Restaurant, das seit 3 Generationen in Familienbesitz war, zusperren musste. In seiner Heimatgemeinde mit ca. 3500 Einwohnern gab es zu viele Raucher, die sich nach dem erlassenen Rauchverbot nicht mehr im Restaurant blicken ließen. Eine Kompensation durch Nichtraucher trat auch nicht ein, und so wurde Severins Familie aufgrund eines diskriminierenden Erlasses die Lebensgrundlage entzogen. Severin kannte Rauchergegner, die nur in der Masse ihr Blökkonzert anstimmten, und verabscheute sie alle mehr denn je. Er hatte kein Problem damit, dass Rauchen mittlerweile verpönt war, vielmehr litt er unter den Schafen. Es war für ihn schlichtweg unverständlich wieso es den Wirtshausbetreibern nicht freigestellt wurde, sich als ein Raucher- oder Nichtraucherlokal zu deklarieren. Seine Devise war, wer in kein Raucherlokal gehen möchte, soll in ein Nichtraucherlokal gehen. Eine Bedienung die nicht in einem Raucherlokal arbeiten möchte, sollte sich ihren Lebensunterhalt in einem Nichtraucherlokal verdienen. Die Mächtigen wollten den Menschen immer schon vorschreiben was sie tun und lassen sollen. Aber dass im 21. Jahrhundert nach der Aufklärungs- und Selbstverwirklichungsepoche, und Nazideutschland das Schafsverhalten derartige Ausmaße annehmen konnte, war für Severin unerklärlich.
Er war ein einfach gestrickter Handwerker der als gelernter Tischler in vielen Bereichen im Bau- und Baunebengewerbe arbeitete. Severin war Vater von vier Kindern, ledig, solo, Wohnungseigentümer, schuldenfrei, mit einer optimistischen Lebenseinstellung gesegnet, und er hatte einen unstillbaren Drang nach neuen Erfahrungen und Erkenntnissen. Für ihn war das Jahr 2045 der Beginn von etwas ganz Neuem. Wie alle anderen auch hatte er Angst vor all diesen vielen, einschneidenden Veränderungen. Es war nicht einmal so sehr die Angst vor der Lebensmittelknappheit, den vielen Gesetzesänderungen oder gar die Angst um seine Kinder. Es bereitete ihm Angst, dass bei ihm persönlich eine drastische Veränderung passierte, und dies gleich in mehrerlei Hinsicht.
Nach der Trennung von seiner damaligen Lebensgefährtin im Jahre 2035 und die damit einhergehende Trennung von den Kindern, lebte er ein relativ bescheidenes, unaufgeregtes Leben. Er war kein klassischer Einzelgänger, hatte aber eindeutig die Tendenzen einer zu werden, weil er das Alleinsein zunehmend liebte. Als Jugendlicher und junger Mann war er gesellig, umgänglich und herdenkonform, doch schon als 30-Jähriger wurden ihm Feste jeglicher Art zunehmend lästig. Er entwickelte Charakterzüge und Eigenschaften die man gemeinhin als seltsam erachtet, wie etwa das Bedürfnis nach dem herrlich harmonischen allein sein wollen, was für viele Menschen eine schreckliche Vorstellung ist, weil sie nicht allein sein können. Er hatte zunehmend das Bedürfnis nach Rückzug, Abschottung, ein Leben in einer stressfreien Umgebung, das Bedürfnis nach Harmonie im Berufs- und im Privatleben. Hin und wieder machte er eine Weiterbildung, einen Kurs, ging auf einen Vortrag oder besuchte ein Konzert. Geburtstags-, Nikolaus-, Weihnachts-, Hauseinweihungs- oder sonstige Feiern versuchte er standhaft zu meiden. Im Jahr 2030 war Severins letzter Freund gestorben, und die einzigen engen Beziehungen die er noch hatte, waren die zu seinen zwei ältesten Töchtern, zu seiner Mutter und seinen Geschwistern. Die dritte Tochter und sein Sohn wollten nichts mehr mit ihm zu tun haben, und so stellte Severin irgendwann seine Versuche zur Kontaktaufnahme mit ihnen ein.
Eine Freundin oder Lebensgefährtin hatte er schon seit einigen Jahren nicht mehr. Der Wunsch nach einer Beziehung mit einer Frau war zwar da, nur ergab es sich eben nie, dass er eine neue Partnerschaft einging.
Severin war in vielerlei Hinsicht ein zwiespältiges Wesen der seine eigenen Widersprüche manchmal nur schwer aushalten konnte. Severin war konfliktscheu, ging aber keinem Kampf aus dem Weg, er war harmoniebedürftig, brauchte aber von Zeit zu Zeit das Chaos um sich lebendig zu fühlen. Er liebte alles Schöne und sehnte sich nach Veränderung. Severin spürte es tief in sich, dass die Zeit für umfassende Erneuerungen gekommen war. Er spürte den Wind der Veränderung.
An einem warmen Sommertag wanderte Severin durch sein Dorf Richtung Wald, weil ihn seine Gedanken aus allen Richtungen bedrängte. Im Wald würde er Ruhe finden, um sich seinen stürmischen Gedanken einem nach dem anderen anzunehmen. Was ihn jedoch mehr als alles andere in den Wald trieb, war diese unerklärliche Angst. Er konnte sie zwar soweit begreifen, dass etwas Neues auf ihn zukam das ihm Angst machte, aber was? Veränderungen gab es zuhauf in den späten Dreißigerjahren des 21. Jahrhunderts, und er wünschte sich ja auch Veränderung. Zwar nicht das Ausbleiben des Regens und der damit einhergehenden Dürre und all der Folgeerscheinungen, aber eine Veränderung die ihn bereicherte und Abwechslung in seinen Alltag brachte, wollte er unbedingt. Abgesehen von einer Lebensgefährtin, wünschte er sich eine neue Aufgabe, vielleicht auch einen Ortswechsel, ein finanzieller Segen, oder war es nur die Angst davor, dass sich vielleicht gar nichts in seinem Leben ändern würde. Die Gedanken und die Angst quälten ihn.
Es war Zeit sich an Gott zu wenden, und während er sich in Gedanken versunken immer tiefer in den Wald treiben ließ, kam er an ein Flussbett. Severin wusste wo er war, er kannte sich aus in dieser Gegend, doch wie er hier her kam war neu für ihn. Er hatte einen neuen Weg durch den Wald gefunden, und stand nun in einem ausgetrockneten Bachbett in einem Talkessel, der von den Einheimischen in früheren Jahren vor allem in sehr heißen Sommertagen aufgesucht wurde. An der Stelle wo er sich befand, konnte er etwa 150 Meter in Richtung Osten, und nicht ganz so weit in die entgegengesetzte Richtung blicken. Das Bachbett war relativ eben an der Stelle wo er stand, und weckte viele schöne Erinnerungen. Früher, als es noch genügend Wasser gab, war er an heißen Sommertagen oft mit seiner Familie hier. An vielen Stellen entlang des Flusses konnte man baden und sich in der wunderschönen Natur vom stressigen Berufsalltag erholen. Der Fluss war früher mit wenigen Ausnahmen in beide Richtungen begehbar. Eine Flusswanderung in der Saiblach war ein Abenteuer, ein Hochgenuss für alle Sinne, einfach wunderschön. Und nun war hier nur noch eine trockene Steinwüste. Vor 3 Jahren, im Jahre 2042 führte die Saiblach zum letzten Mal oberirdisch Wasser. Als die Wasserspeicher der am Fluss liegenden Gemeinden allmählich zur Neige gingen, kamen viele Menschen mit Pickel und Schaufel, mit kleinen Handpumpen und Fässern auf dem Rücken ins Saiblachtal. Sie gruben überall entlang dem Flussbett Löcher und entnahmen dem Fluss das letzte noch verbleibende Wasser. Die Menschen nahmen gewaltige Strapazen auf sich und schleppten ihre Werkzeuge und Wasserkanister immer weiter den Talkessel hinein bis wenige Kilometer vor den Ursprung des Flusses. Als die Leute bemerkten, dass sie durch Trinken und Schwitzen mehr Wasser verbrauchten als sie dem Fluss entnehmen konnten, stellten sie das Graben ein. Viele Menschen kamen auch nachts an den Fluss um das Wild zu schießen, das im ausgetrockneten Flussbett vergeblich nach Wasser suchte. Eigentlich war es Wilddieberei, worauf in Vorarlberg hohe Geldstrafen standen. Die Jagdpächter und ihre angestellten Jäger wurden jedoch der vielen Wilddiebe nicht Herr, und in ihrem eigenen Interesse verzichteten die Jäger darauf die Wilddiebe mit Waffengewalt zu vertreiben. Zudem war es äußerst schwierig die Wilddiebe zu stellen, weil sie von den unmöglichsten Stellen in den Talkessel eindrangen und sich in der Nähe vom Flussbett gut versteckten. Die Jäger wussten, dass verzweifelte Menschen unberechenbar sind. Die Wilddiebe wollten ihre Familien ernähren, und da sie alle bewaffnet waren, ließen sich die Jäger immer weniger blicken, zumal die Wilddiebe auf ihresgleichen losgingen und sich gegenseitig die Beute abnahmen, was nicht selten in einer tödlichen Schießerei endete.
Auch Severin hatte in der Nähe das ein oder andere Wild erlegt, und obwohl er die Gegend besser kannte wie die meisten anderen, wurde ihm die Jagd am Fluss zu gefährlich. Manche Wilddiebe waren mit Nachtsichtgeräten ausgerüstet, und dagegen war man machtlos, es sei denn man legte sich selbst ein Nachtsichtgerät zu, was bedeutete, dass man sich auf einen Krieg einließ der in diesem Talkessel einige Tote forderte. Als dann das Wild nicht mehr kam, war es schnell vorbei mit diesem hinterhältigen Guerillakrieg, und es kehrte wieder Ruhe ein im Talkessel.
Während er im trockenen Flussbett dahinwanderte, gingen Severin unzählige Gedanken und Erinnerungen durch den Kopf. Erinnerungen an das ausgelassene Planschen seiner Kinder im Wasser, der Geruch von Lagerfeuer, das Anpirschen auf das Wild, die vielen Schüsse der Wilderer die ihm Talkessel hallten, bis schließlich die Dürre nur noch ein ausgetrocknetes Flussbett hinterließ.
Wie sollte es im Beruf weitergehen? Viel zu lange schon machte er seinen Job als Tischler. Wie oft nahm er sich vor eine andere Ausbildung zu machen. Doch anfangs war es die Familie die er verhalten musste und die Schulden auf sein Haus die er abbezahlen musste, und ihn von einer beruflichen Veränderung abhielten. Nach der Trennung von seiner Frau waren es die monatlichen Alimente die er für seine Kinder zahlen musste, die es ihm unmöglich machten Geld anzusparen um eine andere Ausbildung zu machen, aber welche? Danach war es das Alter, und die damit einhergehende Bequemlichkeit die ihn seine Veränderungsabsichten unterdrücken ließen. Seit Jahren schon lebte er in derselben 3-Zimmer Wohnung im selben Ort wo er immer schon lebte. Gewiss, vielen Leuten war ein schlechteres Los beschieden als ihm, ein viel schlechteres. Aber viele Leute führten auch ein abwechslungsreicheres, interessanteres und liebevolleres Leben als er. Warum bedauerte er sich plötzlich nur so sehr? Warum wollten seine Kinder keinen Kontakt mehr mit ihm? Er liebte sie doch, oder liebte er sie zu wenig? Severin drehte sich um, um nachzusehen ob niemand in der Nähe war, denn die ersten Tränen rannen ihm über die Wangen, und er konnte nichts dagegen tun.
Was war nur los mit ihm, er hatte doch sein Leben im Griff, er fühlte sich stark, gereift, liebevoll. Den Trennungsschmerz hatte er doch schon längst überwunden, er hatte gelernt sich selbst zu lieben und für seine Lebensumstände dankbar zu sein. Sein Leben hatte er auf einem stabilen Fundament Stück für Stück errichtet, und nun fühlte es sich für ihn an als würde dieses Leben wie ein Kartenhaus in sich zusammenstürzen. Immer tiefer versank er in Selbstmitleid, Selbstzweifel, Scham, Angst und Trauer. Nichts fühlte sich mehr gut an, die Tränen flossen wie Bäche aus seinen Augen über die Wangen, und trübten seine Sicht. Severin wurde durchgeschüttelt von Weinkrämpfen wie er sie noch nie zuvor hatte. Immer wieder, wie Wellen brachen die Tränen aus seinem Inneren hervor. Unkontrollierbare Trauer und Verzweiflung erschütterten sein Selbstbild. Er weinte laut, erbärmlich und herzzerreißend, und er konnte nichts dagegen tun. Völlig entkräftet sackte er in sich zusammen, und lag wie ein Häufchen Elend auf den harten Steinen im Flussbett. Severin gab seine Selbstkontrolle auf, er ließ es zu, dass sich der Herzschmerz in jede Zelle seines Körpers ausbreitete und vollständig die Kontrolle übernahm, bis er glaubte, dass nichts mehr von ihm übrig war. Wie lange er so auf dem Flussbett lag, wusste er im Nachhinein nicht mehr. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit in der er dem Nichts immer näher kam.
Wie ein Phönix verbrannte er vor Schmerz und Trauer, bis er spürte wie allmählich, wie ein unscheinbares Licht in der Ferne, die Kraft wieder in seinen Körper zurückkehrte, und er sich aus der unbequemen Lage erheben konnte. An einer uneinsichtigen Stelle am Abhang setzte er sich auf einen Stein, blickte erneut in alle Richtungen ob irgendjemand in der Nähe war und seinen Schwächeanfall mitbekommen hatte. Aber es war niemand zu sehen, und so ließ er die letzten Wellen der Tränen über sich ergehen, die sich nun nicht mehr wie Schmerzen anfühlten. Vielmehr fühlte er sich gereinigt. Die Gedanken die ihn so sehr bedrängt hatten, waren weg, und er fühlte sich leichter, viel leichter, und zufrieden. Nun grämte er sich nicht mehr wegen seinen Kindern die ihn ignorierten, und schickte ihnen liebevolle Gedanken. Severin fühlte sich zunehmend stärker, liebevoller, mit sich und der Welt im Reinen. Er verspürte wieder Lust sich zu bewegen, und so ging er leicht und beschwingt weiter dem Flussbett entlang, ohne darauf zu achten, dass die Zeit unaufhaltsam voranschritt. Er schwelgte in seinem Hochgefühl und wollte es in dieser wunderschönen Umgebung bis zur Neige auskosten. Nur zögernd drang die Tatsache in sein Bewusstsein durch, dass es allmählich dunkel wurde.
Severin erholte sich zunehmend von seinem Gefühlsrausch, und realisierte seine prekäre Lage. Es war zu gefährlich den Heimweg durch das Flussbett anzutreten, weil es bald dunkel werden würde, und er keine Taschenlampe bei sich hatte. Überhaupt war er nicht ausgerüstet um im Freien zu übernachten. Er hatte kein Feuerzeug, keinen Schlafsack, nichts zu essen und zu trinken dabei, und doch war es ihm egal. Er würde die Nacht im Freien überstehen, dessen war er sich sicher, und so überwand er sehr schnell den Schock der ihn kurzzeitig überkam. Da er keine Angst vor unerwartet auftretenden Wassermassen haben musste, machte er sich entspannt auf die Suche nach einem geeigneten Schlafplatz. Während er so dahin ging, nahm er wahr wie sich das Flussbett veränderte. Jedes Mal wenn er hier entlang ging, sah die Umgebung ein bisschen anders aus, mal mehr mal weniger, je nachdem wie viele Erdrutsche sich von den Hängen lösten und wie groß sie waren.
Vor einigen Jahren löste sich weiter taleinwärts eine riesige Mure die den ganzen Fluss wie ein Staudamm aufstaute. Als die ersten am Fluss ansässigen Betriebe kein Wasser mehr zur Produktion ihrer Ware und zur Kühlung der Maschinen hatten, machten sich 3 Männer auf den Weg entlang des Flusses, um nachzusehen was geschehen war. Alle 3 Männer kamen während ihrer lebensgefährlichen Erkundungstour ums Leben. Während sie immer weiter hochgingen in Richtung Quelle, barst der Erdwall der das Wasser staute, und durch den gewaltigen Druck des aufgestauten Wassers, brauste das Wasser mit enormer Geschwindigkeit Richtung Tal. Die Dorfbewohner erzählten sich immer noch wie schrecklich es damals geklungen hatte, als die Wassermassen ins Tal stürzten. Wie ein minutenlanges, ohrenbetäubendes Donnergrollen habe es geklungen, und von den drei Männer wurde nur noch einer mehrere Kilometer weiter unten gefunden. Zumindest ging man damals davon aus, dass die entstellte Leiche einer der drei Männer war.
Dieses Schicksal würde Severin mit Sicherheit nicht ereilen, ganz einfach deshalb, weil der Fluss schon einige Jahre kein Wasser mehr führte. Doch allmählich drängte die Zeit, und es wurde immer dunkler. Nach einer weiteren Flussbiegung sah Severin zu seiner Rechten einen abgegangenen Erdrutsch, der eine Höhle im Felsen freilegte. Während all der Jahre die er in diesem Flussbett unterwegs war, hatte er noch nie eine Höhle im Felsen entdeckt. Von Neugier getrieben kletterte an der Geröllhalde hinauf, und spähte in das Innere der Höhle, in der aufgrund der Dunkelheit nichts Besonderes zu erkennen war. Severin befand den Platz oben auf der Geröllhalde für perfekt um darauf zu übernachten. Er entfernte die größeren Steine und ebnete sich mit dem feineren Geröll einen Platz auf dem er, so bequem wie es den Umständen entsprechend möglich war, schlafen konnte. Hier war er auch sicher vor Steinschlägen und Erdrutschen. Severin legte sich hin, und fühlte sich sicher und wohl in seiner Haut. Den tragischen Unfall der drei Männer blendete er aus, und übergab sich wieder dem Hochgefühl seiner kürzlich erfahrenen Läuterung, Reinigung und der erhebenden Einsichten. Es war nicht nur die Einsicht, dass seine Kinder Engel waren die ihn ein Stück auf seinem Lebensweg begleiteten und ihm etwas beibrachten, es war auch die Einsicht, dass sein Leben einen Sinn hatte, dass alles was geschah richtig war, und dass er nichts zu bereuen hatte. Er selbst war völlig in Ordnung, alles fühlte sich richtig an, und er war genauso wie Gott ihn haben wollte. Erhabene Gedanken, die wunderbare Gefühle in ihm auslösten.
Mit unter dem Kopf verschränkten Armen stellte sich Severin vor, wie er auf einer grünen mit Blumen bewachsenen Wiese liegt. Hinter ihm hörte er das Rauschen der Bäume die sich träge im sanften Wind bewegen, und vor ihm dehnte sich das Meer unendlich weit aus. In seinem Wachtraum hörte er die regelmäßig anbrandenden Wellen und das leise Flüstern des Windes der durch die Gräser streicht. In diesem Hochgefühl und den wunderschönen Bildern im Kopf fiel Severin in einen tiefen und festen Schlaf.
Als Severin aufwachte fühlte er sich wie neu geboren, voller Energie und Tatendrang. Dass man so überschwänglich einen neuen Tag begrüßt, kannte er eigentlich nur als eine schwer umsetzbare Empfehlung aus den Selbsthilfebücher, die er regelmäßig las um seine Gedanken positiv auszurichten. Jetzt musste er sich nicht überwinden um den neuen Tag zu begrüßen, das funktionierte in dieser traumhaft schönen Umgebung wie von selbst. Plötzlich konnte er sich wieder erinnern, dass er mit diesen Bildern im Kopf und im Herzen einschlief. Also schloss er die Augen, da er glaubte, dass er sich immer noch in einem Traum befand. Nach einer Weile war sich Severin ganz sicher, dass er nicht mehr schlief, und öffnete erneut die Augen. Er war sich sicher, dass er nicht mehr träumte, und doch bot sich ihm derselbe Anblick wie zuvor. Er fühlte das Gras auf dem er lag, er nahm das Gras in die Hand und zog daran, bis einige Halme abrissen und sich manche Halme mitsamt der Wurzel aus dem Erdreich lösten. Gras, wie lange hatte er schon kein grünes Gras mehr gesehen geschweige denn angefasst. Aber wie war das möglich, wieso lag er in einer Blumenwiese, welche Umstände führten ihn an diesen traumhaften Ort mit einem türkisblauen Meer, einem weißen Sandstrand, grüne Bäume, Wolken am Himmel. Was in Gottes Namen war mit ihm geschehen? Die Wahrnehmung seiner neuen Situation bewirkte bei Severin einen Realitätsschock, der alle seine Körperfunktionen verlangsamte, ihn abrupt schwächte und ihn zwang mit Ruhe und Bedacht seine Lage zu analysieren und vorsichtig die neue Umgebung zu erkunden. Er erhob sich unter Aufbringung all seiner Kraft und machte langsame, kleine Schritte auf der Wiese. Das platt gedrückte Gras auf dem er gelegen hatte war keine Illusion. Keine Frage, das alles war echt. Das Gras fühlte sich wie Gras an, die Luft roch salzig und frisch. Der tieferliegende Strand und das Meer sahen genauso aus wie er es ein paar Stunden zuvor in seinem Wachtraum gesehen hatte. Dann drehte er sich um und blickte auf einen gesunden Wald hinter dem sich ein durchgehender Gebirgszug erhob. Obwohl der Strand und das Meer ihn lockten, wollte er zuerst zu den Bäumen landeinwärts gehen, er wollte sie berühren, daran rütteln um sicher zu gehen, dass, was eigentlich? Das alles war mit Sicherheit echt, aber sein Verstand weigerte sich vorerst anzuerkennen, was nun mal eindeutig klar war. Er war verreist!
Hatte er eine Zeitreise gemacht, war er in einem Paralleluniversum, oder war er vielleicht tot und befand sich nun im Paradies? Vielleicht hatte sich in der Höhle doch ein Stein oder ein Felsen gelöst und ihn während des Schlafs erschlagen. Die Idee dass er im Paradies war gefiel ihm. Der Schock löste sich allmählich auf und er spürte wie Kraft, Freude und Begeisterung sich in ihm ausbreiteten. Er war bereit für neue Taten, für Erkundungen, Expeditionen in die unbekannte Umgebung.
Gott existiert, er hat meine Wünsche, die ich gar nie richtig formuliert habe, von der Seele abgelesen und ihn ins Paradies geführt. Gottes Wege sind wirklich unergründlich, dachte er bei sich, und strahlte förmlich vor Freude und Glückseligkeit. Es war Severin egal, dass er als Mensch gestorben und sich nun als Geistwesen im Himmel befand, so was von vollkommen scheißegal. Das hier war einfach nur, WOW!!!, großartig, vollkommen, genau sein Ding, seine neue Heimat, seine Spielwiese, sein eigenes Paradies. Severin war in seinen Ferien schon in ähnlichen Gegenden gewesen, mit einem Meer wo das Wasser sauber war und man bis auf den Grund sehen konnte, und mit Klippen zum runterspringen. Neben dem Sandstrand sah er von seinem Standpunkt aus eine weitere kleine Bucht mit einem Kiesstrand, der durch einen ins Meer ragenden Felsen vom Sandstrand abgeschnitten wurde. Zwei derartig unterschiedliche Strände in unmittelbarer Nähe zueinander hatte er noch nie irgendwo gesehen. Die Kiesel erzeugten einen ganz eigenen Klang wenn das Meer in stetig gleich bleibendem Rhythmus ein- und ausatmete, und die Wellen kraftvoll über die Kiesel rauschten. Die grasbewachsene, fast ebene Anhöhe auf der er stand, war etwa 5 Meter oberhalb des Meeresspiegels und breitete sich nach links, rechts und nach hinten Richtung Wald etwa 300 Meter, circa 3 Fußballfelder weit aus. Nach vorne hin Richtung Meer fiel der Abhang in flachem Winkel ab. Mancherorts sah er einen Felsen aus dem Abhang ragen, doch größtenteils war die ganze Fläche des Abhangs ein leicht abschüssiger Sandstrand. Eine so kitschig schöne, idyllische Landschaft hatte Severin noch nie gesehen, weder in einem Prospekt noch im Fernsehen. Dies musste definitiv das Paradies sein. Er hatte ungehinderten Zugang zum Strand, nirgendwo gab es einen Zaun und weit und breit war keine Menschenseele zu sehen. Die Ausdehnung der vor ihm liegenden Meeresbucht die durch die Gebirgsausläufer eingegrenzt war, war schwer abzuschätzen. Severin schätzte, dass sie sich von links nach rechts circa einen halben bis einen Kilometer ausdehnte. Links und rechts ragten die nur spärlich mit Gras bewachsenen Felsen bogenförmig in das Meer hinein, wobei die linke Felsflanke weiter ins Meer hinausragte, sodass keine Öffnung aufs Meer hinaus erkennbar war. Aber es musste wohl eine Öffnung geben, da es sonst keinen Wellengang gegeben hätte. Schiffe könnten hier wohl keine in die Bucht einfahren, dachte sich Severin. Wenn überhaupt, könnte nur ein kleines Ruder- oder Motorboot um die vielen in der Meeresbucht aufragenden kleineren und größeren Felsen herum manövrieren, falls es überhaupt möglich war mit einem kleinen Boot in die Meeresbucht zu gelangen. Um dies herauszufinden hatte Severin noch genug Zeit, eine Sehenswürdigkeit nach der anderen würde er genauestens erkunden. Es gab sogar Vögel, und das Kreischen der Möwen passte perfekt zu dieser Idylle, die ihn immer mehr faszinierte. Die Ausdehnung der Meeresbucht vom Strand bis hin zur Öffnung bei den Felsen schätzte Severin auf höchstens 100 Meter. Die Felsen welche die Meeresbucht begrenzten sahen aus wie zwei Hände die nach vorne gerichtet sind und sich bogenförmig ineinander verschränken, ohne dass sie sich gegenseitig berühren. Alles fühlte sich echt an, selbst die Uhr an seinem Handgelenk, die stehen geblieben war. Die Batterie hatte er erst vor einem Monat wechseln lassen. Severin konnte es nicht leiden wenn seine Uhr nicht funktionierte. Er hätte gerne gewusst wie spät es ist. Die Sonne stand hoch am Himmel, was bedeutete, dass vor ihm Süden und ungefähr Mittagszeit war, was er sofort mit Mittagessen assoziierte. Aber im vermeintlichen Paradies spielt die Zeit wohl keine Rolle, und Engel, oder was auch immer er jetzt war, brauchten seines Wissens nichts zu essen. Doch Severin spürte den Hunger und Durst sehr deutlich. Seit er von zuhause aufbrach und durch den Wald und das ausgetrocknete Flussbecken zu der Geröllhalde wanderte, auf der er eingeschlafen war, hatte er nichts mehr gegessen und getrunken. Um 15 Uhr marschierte er von zuhause los, und jetzt war es ungefähr 12 Uhr Mittag. Also hatte er mehr als 20 Stunden nichts mehr zu sich genommen, was eine gute Erklärung für seinen Mordshunger und seinen großen Durst war. Folglich war er doch nicht im Paradies, und offensichtlich auch nicht gestorben. Eine Einsicht die Severin glücklich stimmte, weil der Gedanke auf diesem Stückchen Erde lebendig zu sein, überaus reizvoll für ihn war. Doch darüber würde er sich später den Kopf zerbrechen, jetzt galt es vorrangig Trinkwasser zu suchen, wofür die Aussichten im Wald hinter ihm wahrscheinlich besser standen als unten am Meer. Andererseits würde er wahrscheinlich eher unten bei den Felsen etwas zum Essen finden als im Wald. Kleine am Felsen festsitzende Muscheln oder Muscheln vom Strand könnte er bestimmt roh essen, zumal es nicht so aussah als ob hier Abwasser ins Meer geleitet wurde. Das Meerwasser schien auf den ersten Blick klar und sauber zu sein, was für die Zukunft eine verlockende Perspektive war um im Meer zu fischen.
Wasser war wichtiger, und da seine Kräfte bald schwinden würden, trottete er gemächlich Richtung Wald, den Blick immer am Boden umherschweifend falls er auf ein Vogelnest mit Eiern darin stoßen sollte. Wie ein halbrunder Zaun wurde diese fast gänzlich ebene Wiese von einem sanft ansteigenden waldbewachsenen Hügelring eingefasst. Wobei es von hier nicht möglich war einzuschätzen ob dies wirklich ein Hügel war, denn hinter den Bäumen ragte ein Gebirge auf, das ebenso gut in seiner Heimat in Vorarlberg hätte sein können. Ein Gebirge, das war schon mal gut, denn wo ein Gebirge ist, gibt es meistens auch einen Fluss. Er würde Wasser finden, dessen war er sich fast sicher. Jedoch musste er darauf achten mit seinen Kräften hauszuhalten.
Bei seinen Wanderungen in seiner Heimat hatte er sich oft genug verlaufen. Bei diesen Irrwegen folgte er meistens begehbaren Wildwechseln die in einer Sackgasse endeten, oder er folgte Pfaden die in einem Tobel endeten. Um aus diesen Tobeln rauszukommen musste er oft gefährliche Abhänge hinaufklettern, was dumm und fahrlässig war. Nicht selten hängte er in einer Wand und hatte Angst davor weiter hinauf und noch mehr Angst davor wieder hinunter zu klettern. Es kam nicht oft vor, dass er sich in so gefährliche Situationen brachte, aber Severin wusste um die Unberechenbarkeit der Natur und um seine vergangenen Fehleinschätzungen die er mit Glück korrigieren konnte. Ein guter Kletterer war er bestimmt nicht, und mit seinen 50 Jahren musste er auch nicht mehr jeden unbekannten Winkel erforschen. Dennoch würde es immer eine seiner großen Leidenschaften bleiben Naturlandschaften die ihm gefallen zu erkunden, in neue ihm unbekannte Gegenden vorstoßen um Neues zu entdecken. Da diese Leidenschaft nun schon viele Jahre in ihm brachlag, weil es in seinem Umfeld nichts Neus zu entdecken gab, war das vermutlich auf der Grund dafür wieso er sich beruflich und privat eine Veränderung herbeisehnte, und nun war sie da!
Rund um ihn herum breitete sich diese Veränderung aus, und zwar in einem Ausmaß das er gar nicht richtig einordnen konnte, und ihm Angst machte. Es war weniger die Angst vor Durst oder Hunger zu sterben, vielmehr war es die Angst vor der Ungewissheit und die Angst vor seinem Kontrollverlust. Plötzlich vermisste er auch Menschen die ihm nahestanden, oder überhaupt jemand mit dem er sich austauschen, jemand mit dem er sein neues Schicksal gemeinsam tragen konnte. Während er auf der Wiese ging und seinen Gedanken nachhing, die offensichtlich an keinem Ort auf Gottes großer Welt zur Ruhe kommen, erreichte er die ersten Bäume. Es war ein Mischwald, er sah Buchen, Eichen, Eschen, Föhren, Weißtannen, Birken und vor allem Fichten. Severin liebte Fichtenwälder, weil er oft und gerne Pfifferlinge und Steinpilze suchte die mehrheitlich dort zu finden sind wo Nadelgehölze wachsen. Wenn an heißen Tagen die Sonne auf lichte Fichtenwälder scheint, breitet sich ein betörender Duft aus, der mit nichts vergleichbar ist.
Vielleicht war er Nachtgewandelt, erhob sich aus seinem Schlaflager und wanderte im Wald umher. Doch bei ihm zuhause in Vorarlberg gibt es kein Meer, im Paradies war er auch nicht, also musste er wohl noch auf der guten alten Mutter Erde wandeln, aber wo? Er würde die Antwort noch finden, dessen war er sich sicher. Jetzt galt es Wasser zu finden, und wo Gras und Bäume wachsen gibt es auch Wasser. Als er auf dem Waldboden entlang ging, knackten brechende Zweige unter seinen Füßen. Am Anfang des Waldes war der Waldboden mit Moos bewachsen und mit Tannennadeln übersät, und gab unter seinem Gewicht nach. Je tiefer Severin in den Wald hinein kam, umso mehr Hindernisse musste er umgehen. Der Wald wurde eindeutig nicht bewirtschaftet. Überall lagen Äste, umgestürzte Bäume und Felsbrocken in unterschiedlicher Größe. Im Boden taten sich Löcher auf und von manchen Bäumen hingen geisterhaft meterlange Flechten und Moose. Manche dieser Löcher waren so groß, dass man darin ein Auto hätte versenken können. Trotz der geisterhaft wilden Atmosphäre fühlte sich Severin auf Anhieb wohl und sicher im Wald. Er musste daran denken wie er zuhause unzählige Male im Wald ein Feuer machte, und eine Wurst auf einem Holzspieß zum Grillen ins Feuer hielt. Solche Gedanken musste Severin aber schnell unterdrücken, weil sich dadurch sein Hunger schmerzhaft meldete. Mehr noch als der Hunger quälte ihn allmählich der Durst, doch daran durfte er einfach nicht mehr denken. Wer weiß wie lange er noch unterwegs sein würde, um seinen Hunger und seinen Durst zu stillen.
Ein freches Eichhörnchen huschte 10 Meter vor ihm vorbei und kletterte einen Baum hoch. In der Mitte des Baumes hielt es noch einmal inne um neugierig den Eindringling in seinem Revier zu erkunden, bis es schließlich weiter kletterte und Severins Blick entschwand. Es gab auch Vögel im Wald. Der Eichelhäher hatte schon nach den ersten Schritten die Severin im Wald gemacht hatte mit seinem ratschenden Alarmruf die Waldbewohner über einen Neuankömmling informiert und gewarnt. Der Häher war nicht gleich zu sehen, erst als er durch die dicht stehenden Bäume flog, und angeberisch mit seinen Flugkünsten durch das dichte Astwerk manövrierte, waren seine unverkennbaren blau schimmernden Federchen zu sehen, die charakteristisch für den Eichelhäher sind. Bestimmt gab es auch Meisen, Eulen, Rehe, Spechte, Fuchs und Hase. Was für eine unverhoffte und höchst willkommene Überraschung! Gibt es hier vielleicht auch Wölfe oder gar Bären? Der plötzliche Gedanke an diese Wildtiere behagte Severin nicht besonders, und so achtete er auch aufmerksam auf Spuren am Boden. Einem Angriff von Wölfen oder von einem Bären könnte für ihn höchst ungünstige, wenn nicht sogar tödliche Folgen haben. Offensichtlich war der Tod auch hier allgegenwärtig, doch da er bis vor kurzem davon ausgegangen war, dass er tot war, gelang es ihm die Gedanken an die Fleischfresser, ans Verhungern und Verdursten und allgemein an den Tod zu verdrängen. Wieso sollte ihn, welche Macht auch immer, hier her führen nur um dann irgendeines Todes zu sterben. Nein, der Tod konnte ihn mal kreuzweise, oder besser, vielleicht vorübergehend verschonen. Schließlich wollte er sich nicht unbedingt mit dem Tod anlegen.
Severin schritt wohlgemut voran, bis ein riesiger Felsblock ihn am Weitergehen hinderte. Er musste links an ihm vorbei gehen, wobei er sich vorstellte wie dieser gewaltige Felsen irgendwo im Gebirge abgebrochen und mit donnerndem Lärm und erderschütternd bis hier her gerollt war. Welch ein gewaltiges, grandioses Spektakel musste dieser Felsen veranstaltet haben. Eigentlich war der Waldstreifen gar kein Hügel, wie er zuerst annahm. Es war ein relativ ebener Wald der sich zwischen zwei Wiesen erstreckte. Nachdem er den großen Felsen passierte, konnte er durch die Lücken der Bäume das Gebirge sehen, das nicht mehr allzu weit weg war. Den Wald hatte er in knapp einer Stunde durchquert, was bedeutete, dass der Wald an der Stelle wo er ihn durchquert hatte, ungefähr 2 bis 3 Kilometer breit war. Der Marsch zehrte immer mehr an seinen Kräften und bisher hatte er weder etwas Essbares noch Wasser gefunden. Als er aus dem Wald trat, erstreckte sich vor ihm eine ausgedehnte, unebene Grasfläche auf der kleine Büsche wuchsen, und auf der überall unterschiedlich große Steine und Felsbrocken lagen. Wie eine Weide auf einer Gebirgsalm mutete das Gelände an, und erneut drängte sich Severin der Vergleich mit Gegenden in seiner Heimat auf. Sogar die Berge waren grasbewachsen, zum Teil bis hinauf zu den Gipfeln. Das unebene Gelände erstreckte sich über einige hundert Meter bis zum Fuße der Berge, die unterschiedlich hoch aber an keiner Stelle, soweit er es von seinem Standpunkt aus beurteilen konnte, einfach zu überqueren waren. Severin ließ sich treiben und wanderte möglichst kräftesparend nach rechts. Um den Steinen, Gräben und Büschen auszuweichen, ging er am Waldrand entlang, der relativ gut begehbar war. Er konnte nirgends eine besondere Veränderung der Vegetation oder des Geländes entdecken, die auf ein Wasservorkommen, einen Bach, einen See, ein Tümpel oder dergleichen hingewiesen hätte. Auch akustisch gab es keinerlei Hinweise auf Wasser. Umso erstaunter war Severin als sich plötzlich vor ihm unzählige Wasserrinnen befanden.
Die Wasserläufe waren alle unterschiedlich breit, die einen waren nur wenige Zentimeter breit und andere bis zu einem Meter. Beim erst besten breiteren Wasserlauf tauchte Severin seinen Kopf in das unbeschreiblich herrlich kühle Nass. Solch ein Einblick bot sich ihm schon viele Jahre nicht mehr. Frei zugängliches und verfügbares Gebirgsquellwasser, das unvergleichlich schmeckte und ihn zutiefst demütig machte. Wieso war ausgerechnet ihm das Glück beschieden solch eine Wonne erleben zu dürfen? Das Wasser schmeckte ausgezeichnet, es breitete seine wohltuende Wirkung in kürzester Zeit in seinem ganzen Körper aus. Er spürte ein unbeschreibliches Prickeln, als würden all seine Zellen mit neuer Energie aufgeladen und all seine Lebensgeister zu neuem Leben erwachen. Wegen seiner anerzogenen Schamhaftigkeit blickte Severin in alle Richtungen und versicherte sich, dass ihm niemand zusah, dann zog er sich nackt aus und legte sich der Länge nach in einen breiten Wasserlauf. Die Kälte des Wassers machte ihm nichts aus, er wälzte und räkelte sich darin wie ein unbefangenes Kind, das viel zu lange auf das lebendig machende Wasser verzichten musste. Als er seinen Durst gelöscht und sich gewaschen hatte, stieg er aus dem Wasser, und erstarrte vor Dankbarkeit, Demut, Liebe und Ehrfurcht vor dem Leben. Er wünschte sich, dass all die verzweifelten Menschen in seiner Heimat auch hier sein könnten, um sich an dem Wasser des Lebens zu laben. Nicht aus Einsamkeit, sondern zum Wohle seiner Mitmenschen hegte er den Wunsch, und dass sie gemeinsam mit ihm hier im Paradies sein könnten. Natürlich war dies nicht möglich. Zum einen wäre dieses Idyll viel zu klein für all die Menschen, und zum anderen wusste er nicht wie sie überhaupt hier herkommen sollten. Er wusste ja nicht einmal wie er selbst hergekommen war. Doch dem auf den Grund zu gehen war nicht vordringlich.
Nachdem er sich in aller Demut bei Gott für all das Schöne und Erhabene um ihn herum bedankt hatte, wusch er seine Wäsche und hängte sie auf die Zweige der umstehenden Fichten. Einen Wasservorrat brauchte er sich nicht zulegen, vorerst noch nicht, da die Wasserstellen leicht und schnell erreichbar waren, egal an welchem Ort auf dieser Landfläche er sich gerade befand. Severin schätzte, dass der weitest entfernte Punkt nicht weiter als 3 Kilometer weit weg war, egal ob er sich am Meer oder an der entferntesten Gegend des Waldes oder der Wiese befand. Seltsam war es schon, dass die vielen kleinen und größeren Wasserläufe nicht in einen Bach mündeten. Der Waldgürtel war wie ein natürlicher Staudamm und er konnte nirgends entdecken, dass ein Bach in den Wald mündete. Wie es schien, versickerte das Wasser in dieser weit ausgedehnten alpähnlichen Landschaft. Aber was würde passieren wenn es regnet oder sich das Schmelzwasser hier ansammelt, würde dann die ganze Gegend überschwemmt, und das ganze Gebiet ein einziger Sumpf sein? Wie auch immer, Severin wollte es nicht zulassen, dass sich solche Gedanken in seinem Bewusstsein festsetzten. Er wollte sein Dasein genießen, sich um nichts und niemanden Sorgen machen, einfach sich am Leben erfreuen und das beste erwarten, und so wie es aussah, hatte er auch allen Grund dazu. Die Temperatur war angenehm, nicht zu heiß und nicht zu kalt. Vielleicht war hier Sommer und vielleicht wuchsen hier auch Beeren. Bisher hatte er zwar keine gefunden, nicht einmal eine leere Heidelbeerstaude, doch möglich wäre es allemal, dass hier Beeren wuchsen, und so zog er weiter in die Richtung in die er vorher gegangen war. Irgendwann würde er an die Küste gelangen. Sollte er bis dahin nichts zu essen gefunden haben, konnte er sich immer noch an den Muscheln laben. Der Gedanke daran war zwar nicht sehr erbaulich für ihn, doch um zu überleben würde er selbstverständlich auch Muscheln essen, sofern er sie bei sich behalten konnte. Es machte ihm Spaß über die vielen kleinen und großen Wasserrinnen zu gehen und zu springen. Die Grasflächen hielten seinen 90 Kilo stand, er sank nirgends ein. Das Gelände war kein Sumpf, vielmehr eine gut durchwässerte Wildwiese auf der Blumen, Stauden und Büsche wuchsen. Severin war kein Bauer, doch seiner Einschätzung nach wäre es hier ideal um Viehzucht und Ackerbau zu betreiben, nur mit was? Und plötzlich sah er sie, es waren eindeutig Heidelbeerstauden, an denen zwar noch viele grüne aber auch schon einige reife Früchte hingen. Vor ihm im Wald breiteten sich unzählige Heidelbeersträucher aus, soweit das Auge reichte. Dies war einst ein gewohntes Bild in Vorarlbergs Wäldern. Er fand es nur ungewöhnlich, dass er auf dem Herweg keinen einzigen Heidelbeerstrauch und keine Pilze gesehen hatte, und hier war alles voll mit Beeren, und vereinzelt sah er auch ihm bekannte Pilze, die er vorerst unberührt ließ. Wie ein Verhungernder, im wahrsten Sinne des Wortes, machte er sich über die Heidelbeeren her. Sein Mund und seine Hände nahmen in kürzester Zeit eine blauviolette Farbe an. Mehr als genug Beeren waren reif und einfach herrlich, wunderbar, saftig, süß und köstlich. Nachdem sich Severin ungezügelt den Magen vollgestopft hatte, setzte er sich auf den Waldboden und machte eine Pause. Die Muscheln konnten also noch warten. Da Heidelbeeren nicht sonderlich kalorienhaltig sind und kein Fett haben, würde er bald wieder hungrig sein. Also zog er seine Socken aus, stülpte das Innere nach Außen und füllte die Socken randvoll mit Heidelbeeren. Während des Pflückens fand er an lichten Stellen auch ein paar Walderdbeeren, die noch süßer und um eine Haube besser waren als die Heidelbeeren. Severin wollte nicht wählerisch sein, doch die Walderdbeere war und würde immer seine Lieblingsbeere sein. Noch einmal ging er zurück zu den Wasserläufen und wusch sich den Beerensaft so gut es ging von den Händen und vom Gesicht. Er nahm noch einige Schlucke Wasser und ergötzte sich an dem kühlen, erfrischenden Nass, indem er sich mit sauberem Wasser bespritzte. Dann nahm er seine Kleider auf und ging zurück zum Wald. Um nicht auf den Heidelbeersträuchern herum zu trampeln, ging er wieder ein Stück zurück in die Richtung aus der er gekommen war. Da er nun nicht mehr darauf fixiert war Wasser und Essbares zu finden, war er offen für andere Sinneseindrücke.
Er hörte das unverkennbare Kreischen von Raben, er entdeckte Pilze, Beeren die er nicht kannte, Buchecker die ihm später eine willkommene Mahlzeit sein würden, Amseln, der wehmütige Ruf von Raubvögeln die hoch über ihm mühelos durch die Luft schwebten. Er entdeckte Löcher im Boden die wahrscheinlich Fuchs- oder Dachsbaue waren. Große, weitläufige Farnbeete, einen mächtigen Ahornbaum, zierliche weiße Birken, herumliegende kleine Bäume und Äste in allen Größen mit denen er später einen Unterstand bauen würde. Dabei wurde ihm schmerzhaft bewusst, dass er weder ein Feuerzeug noch ein Messer bei sich hatte. Seine spärliche Bekleidung genügte ihm völlig bei Tag, doch was würde sein wenn die Nacht hereinbricht. Würde er dann frieren, und wie sollte er sich gegen die Kälte schützen? Er liebte es im Freien zu übernachten, aber immer mit einer Isomatte und einem Schlafsack. Beim geringsten Anzeichen von Frieren packte er sein Zeug zusammen, machte sich auf den Heimweg und schlief in seinem Bett. Immer wenn er für längere Zeit in der freien Natur war, hatte er auch dementsprechend Proviant dabei, und musste sich nie darüber Gedanken machen wie er überleben konnte. Jagen und Fischen ohne richtige Ausrüstung war hier keine brauchbare Option, und vom Fallenstellen hatte er keine Ahnung.
Soweit er sich bis jetzt ein Bild von seiner Situation machen konnte, hatte er nicht nur keinerlei Ausrüstung, geschweige denn Werkzeug bei sich, es sah definitiv so aus, als lebte in dieser Gegend keine Menschenseele, von der er sich irgendetwas hätte ausleihen können. Hier ist das Paradies, und niemand bewohnt diesen außergewöhnlichen, wunderschönen Flecken Erde, wunderte er sich. Das konnte doch nicht möglich sein! Vielleicht war es auch nur das Ferienidyll eines reichen Menschen, oder gar ein Naturschutzreservat indem er sich nun illegal aufhielt. Und wenn schon, falls er hier entdeckt und des unbefugten Betretens eines Naturschutzgebietes beschuldigt würde, so hätte er zumindest menschliche Interaktion, und einsperren würden sie ihn wohl kaum wegen eines derartig harmlosen Vergehens. Wer weiß, vielleicht war dieser Flecken Erde eine Insel auf der er strandete.
Er kam der Küste immer näher, und seiner Einschätzung nach, war er nicht mehr weit entfernt von dem Platz auf der Wiese wo er aufgewacht war. Wieder blickte er auf die Uhr, nur um erneut festzustellen, dass sie stehen geblieben war. Severin hatte ständig das Bedürfnis zu wissen wie spät es war. Er wollte wissen wie lange er brauchte um von A nach B zu kommen, und um welche Zeit die Sonne auf und unter geht. Seine trivialen Gewohnheiten meldeten sich und wollten befriedigt werden. Ihm war durchaus bewusst, dass er seine Gewohnheiten in seiner Situation nicht befriedigen konnte. Dennoch hatte er das Bedürfnis nach Orientierung und Struktur. Er wollte wissen wie lange etwas dauert oder wann Essenszeit ist. Nur widerstrebend befasste er sich mit dem Gedanken, dass er sich anderweitig orientieren musste. Er würde lernen müssen mit den Entbehrungen umzugehen, und auf seine Instinkte zu vertrauen, sofern es diese Instinkte überhaupt gab. Wie kann ein Instinkt, eine Ahnung, ein Bauchgefühl vertrauenswürdig sein, wenn man es nie oder nur selten braucht, fragte er sich während er auf der Wiese dahin marschierte. Als er den Platz mit dem niedergedrückten Gras erreichte an dem er aufgewacht war, blieb er stehen und blickte mit einer Mischung aus angstvoller Unsicherheit und fassungslosem Staunen auf das unendlich weite silbern glitzernde Meer. Die stundenlange Wanderung, das viele Grübeln und die Wechselbäder seiner Gefühle hatten ihn müde gemacht. Da er immer noch nackt war, zog er seine noch feuchten Kleider und seine Schuhe an, und legte sich auf das von der Sonne aufgewärmte Gras. Er verschränkte die Hände hinter seinem Kopf und ließ sich von der stetigen, lauwarmen Meeresbrise die Gedanken aus seinem Kopf wehen. Über ihm zogen vereinzelte Wolken über den klaren, blauen Himmel. In diesem Moment fühlte sich Severin frei, glücklich, zufrieden, völlig im Reinen mit sich und der Welt, genauso wie gestern, als er in der Höhle einschlief. Die rauschende Meeresbrandung mit ihrem regelmäßigen, trägen Rhythmus wiegten Severin in einen tiefen und festen Schlaf.