Prinz Kuckuck - Otto Julius Bierbaum - E-Book

Prinz Kuckuck E-Book

Otto Julius Bierbaum

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Beschreibung

Leben, Taten, Meinungen und Höllenfahrt eines Wollüstlings. In 3 Bänden führt Bierbaum seine Hauptfigur Henry Felix Hauert durch die Ära Wilhelms II. Immer gehetzt und auf der Suche nach seinem Lebenszweck sucht er sein Glück und landet immer wieder auf dem Boden der Tatsachen.

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Prinz Kuckuck

Leben, Taten, Meinungen und Höllenfahrt eines Wollüstlings

Otto Julius Bierbaum

Inhalt:

Otto Julius Bierbaum – Biografie und Bibliografie

Prinz Kuckuck

Prinz Kuckucks Vorgeschichte

Von der Mutter

Von den Vätern

In fremden Nestern

Der verwunschene Prinz

Der junge Lord

Der gefrorene Christ

Der goldene Widder

Hohe Schulen

Pomerania

Misthaufen und Morgenstern

Der Hofmeister

Zu Pferde und zu Hause

Der geborene Reiter

Im Sattel

Am häuslichen Herde

Nachbericht

Der Büßer

Gottes Wollust

Zum Ziele

Prinz Kuckuck, O. J. Bierbaum

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

Loschberg 9

86450 Altenmünster

ISBN: 9783849627201

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

Otto Julius Bierbaum – Biografie und Bibliografie

Schriftsteller, geb. 28. Juni 1865 zu Grünberg in Schlesien, verstorben am 1. Februar 1910 in Dresden. Studierte in Zürich, Leipzig, München und Berlin, widmete sich jedoch bald der literarischen Tätigkeit. Der modernen Kunsttheorie huldigend, übernahm er 1892 in Berlin die Redaktion der »Freien Bühne«, der er den Namen »Neue deutsche Rundschau« gab, gründete hierauf mit Julius Meier-Graefe die Kunstzeitschrift »Pan«, die er bis 1895 leitete, und lebt jetzt als Mitherausgeber der »Insel« in Berlin. Vorübergehend gehörte er der Überbrettlbewegung an. Außer den Monographien »Detlev von Liliencron« (Leipz. 1892), »Fritz von Uhde« (Münch. 1893), »F. Stuck« (das. 1893, Text zu Reproduktionen Stuckscher Werke) und dem Band »Stuck« in Knackfuß' Künstler-Monographien (Bielef. 1899) u. a. veröffentlichte er »Erlebte Gedichte« (Berl. 1892) und einen zweiten Band Lyrik: »Nemt, Frouwe, disen Kranz« (1894); ferner die Novellen: »Studentenbeichten« (1893, 4. Aufl. 1899; 2. Reihe 1897), »Die Schlangendame« (2. Aufl. 1897), »Kaktus und andre Künstlergeschichten« (3. Aufl. 1898); die Romane: »Die Freiersfahrten und Freiersmeinungen des weiberfeindlichen Herrn Pankrazius Graunzer« (1896 u. ö.), »Stilpe« (2. Aufl. 1897), »Das schöne Mädchen von Pao« (1899); gesammelte Essays, Gedichte, Sprüche, u. d. T.: »Der bunte Vogel von 1897, ein Kalenderbuch« (1896) und »von 1899« (1898); Dramatisches: »Lobetanz, ein Singspiel« (1895), »Gugeline, ein Bühnenspiel« (1899), »Pan im Busch«, Tanzspiel (mit Musik von F. Mottl, 1900), sämtlich in Berlin erschienen, und »Irrgarten der Liebe«, Lieder, Gedichte und Sprüche aus den Jahren 1885–1900 (Leipz. 1901). Auch gab B. den »Modernen Musenalmanach« (Münch. 1891, 1893, 1894) und »Deutsche Chansons (Brettl-Lieder)« (Berl. 1901) heraus.

Prinz Kuckuck

Prinz Kuckucks Vorgeschichte

Von der Mutter

Die spanische Sara

Es war um die Zeit der unumschränkten Herrschaft der Kaiserin Eugenie über die Modemagazine der alten und der neuen Welt, als Madame Sara Asher, die junge Witwe des alten Mister Leon Asher (Felle und Pelzwarenkonfektion, New York) zum ersten Male seit ihrer Kindheit ihre kleinen Füße wieder auf europäischen Boden setzte.

Europa war damals kleine auf hohen Stöckeln balancierende Füße gewöhnt, und auch die hohen bis zur Mitte der Waden reichenden Juchtenstiefelchen mit goldenen Schnürenquasten, die Madame Sara trug und geschickt in ihrer ganzen Pracht zu zeigen keineswegs ermangelte, waren keine Sensation für den alten Erdteil, der damals auf üppige Eleganz gestimmt war und noch nicht den kategorischen Imperativ der bismarckschen Kürassierstiefel erfahren hatte. Selbst Madame Ashers lilafarbenes Krinolinkleid, diese prachtvolle Glocke mit dem prachtvolleren Schwengelpaar der beiden in weißseidenen Strümpfen steckenden Beine war nicht imstande, besonderen Eindruck auf einen Kontinent zu machen, der mit jedem neuerscheinenden Pariser Modejournal neue Glockenwunder erlebte und neben einer Kaiserin der Mode ein paar hundert Modeköniginnen besaß, deren jede den raffinierten Sinn dieser Verheimlichung der weiblichen Beine wohl begriffen hatte. Trotzdem drehte sich schon auf dem Jungfernstieg zu Hamburg mancher elegante Kommerz interessiert nach der schönen Jüdin um, und wer sich des damals noch seltenen Vorzugs rühmen durfte, mit einem Monokel begabt zu sein (dessen rand- und bandlose Vollkommenheit freilich noch nicht erreicht war), ließ hinter dessen Fensterglase Blicke blitzen, die rückhaltlose Anerkennung sowohl, wie den Wunsch verrieten, dieser nach jeder Richtung hin wohlgebauten Dame einmal an einem Orte zu begegnen, wo sich Beziehungen leicht und mühelos anknüpfen lassen.

Noch größer aber war ihr Erfolg in Leipzig, wohin sie sich auf mehrere Wochen begeben mußte, weil mit der Verwandtschaft des seligen Leon noch einige Erbschaftsangelegenheiten zu ordnen waren. Der Brühl, wo diese Verwandtschaft in einer zwar nicht wohlriechenden, dafür aber um so lukrativeren Sphäre von »Rauchwaren« hauste, geriet in beträchtliche Aufregung, und es gab wahrhaftig mehr als einen unbeweibten Rauchwarenhändler, der stürmisch bereit war, der schönen und reichen Sara nicht bloß seine kostbarsten Eisbärenfelle, sondern auch sein liebefühlendes Herz nebst allen Geschäftsbüchern zu Füßen zu legen.

Indessen, Madame Sara hatte offenbar wenig Sinn für die hingebungsvollen Gefühle verwandter und befreundeter Firmen. Sie war keineswegs in der Absicht nach Leipzig gereist, weiterhin auf ehelicher Grundlage in Pelz und Pelzkonfektion zu machen. Sie hatte an ihrem einen Rauch- und Pelzwarenhändler schon völlig genug gehabt und war im Grunde froh, daß ihre Ehefirma durch den Tod gelöscht worden war. Denn der alte dürre Leon, diese zweibeinige Rechenmaschine, der man sie in sehr jungen Jahren beigegeben hatte, war ganz und gar nicht ihr Geschmack gewesen. Für seine löblichen Qualitäten als Kaufmann und Familienvater hatte sie kein Organ besessen, aber ein um so schärferes Auge für das, was ihm als Menschen im allgemeinen und als Mann im besonderen an den Eigenschaften fehlte, für die es ihr an Organ keineswegs gebrach.

Mochte er ein Charakter gewesen sein: sie war vor allen ein Temperament. Er war einer der aus dem Osten Europas gekommenen Juden gewesen, von denen sie zu sagen pflegte, selbst ihr Schatten färbte noch ab und der Geist des Ghettos stöhnte in ihren schönsten Reden (und das und nichts anderes sei das Mauscheln), während sie die Tochter eines sehr westlichen, nämlich spanischen Juden war, eines jüdischen Granden, wie sie sagte, und einer Kreolin. Freilich war auch der Vater dieser Kreolin bestimmt ein Jude gewesen, und das indianische Blut in ihrer Herkunft mütterlicherseits begegnete in der Verwandtschaft auf dem Brühl unverhohlenem Zweifel, aber es lag ihr auch ganz fern, ihre Zugehörigkeit zum jüdischen Stamme zu leugnen. Sie war vielmehr stolz darauf und sprach es bei jeder Gelegenheit recht hochmütig aus, daß sie sich als Aristokratin fühle, eben weil sie Jüdin sei, und noch dazu spanische Jüdin. Es war das, wie ihre Schönheit, ihr Geist und ihr Temperament, ein Erbteil ihres Vaters, der zwei Haupteigenschaften besessen hatte: Stolz und Phantasie. Aus einem reichen Hause stammend, hatte er sich, von der Lust nach Unabhängigkeit und Abenteuern getrieben, von seiner orthodoxen und streng in sich abgeschlossenen Familie gelöst und war in die Welt hinausgezogen. Lange hatte er in Italien gelebt, mit der inbrünstigen Andacht eines Psalmoden die früheste, halb byzantinische Kunst verehrend und immer den stolzen Plan hegend, der Verkündiger dieser Kunst zu sein. Dann hatte ihn die deutsche Kunstgelehrsamkeit, wenn nicht abgekühlt, so ernüchtert, und er war in das Getriebe der revolutionären Bewegung, gleichzeitig aber in den Aufruhr der Liebe zu seiner »Kreolin« geraten, die er als Tänzerin in Dresden kennen gelernt hatte. So kam es, daß die »spanische Sara« (wie man sie nicht ohne Respekt auf dem Brühl nannte) zu ihrem Leidwesen in Deutschland geboren worden war. Indessen konnte sie keine Erinnerung daran haben, da ihr Vater schon vor dem tollen Jahre Deutschland verlassen und mit Frankreich vertauscht hatte. Aber auch dieses Land genügte seinem revolutionären Sinne nicht, er wanderte mit Weib und Kind nach Amerika aus, wo es ihm indessen erst recht nicht gelang, zur Harmonie zu kommen. Immer die größten Pläne, bald wissenschaftlicher, bald poetischer, bald politischer Natur wälzend und sich aus einem Lager der Meinungen immer wieder in ein anderes begebend, immer wieder abgestoßen durch das, was er Philistertum nannte, und überall abstoßend durch seinen Stolz und sein Weiterhinausbegehren, endete er als vollkommener Einsiedler der Gedanken, als geborener Précurseur, wie er sich selbst nannte. Seine Frau war ihm weggestorben, als Sara noch nicht zehn Jahre alt war. Diese war nun sein einziger Umgang, und in ihrer Erziehung ging er völlig auf. Er brachte ihr, einem höchst aufgeweckten Kinde, früher, als ihr gut sein konnte, nicht nur seine reichen Kenntnisse in Sprachen, Kunst und Literaturgeschichte, sondern auch seine ganze Weltauffassung bei, die schließlich immer mehr Nihilismus geworden war. Eine rasche Krankheit raffte ihn weg, kurz bevor sie das fünfzehnte Jahr erreicht hatte. Da er ihr fast nichts hinterließ, mußte sie es als ein großes Glück betrachten, daß der alte reiche Leon Asher sich ihrer annahm. Das Wohlleben in seinem Hause gefiel ihr, und so sagte sie nicht nein, als der Fünfzigjährige die Sechzehnjährige zur Frau begehrte. Sie gebar ihm in drei Ehejahren zwei Söhne. Als er starb, hatte sie das Gefühl: jetzt beginne ich zu leben. Kaum, daß das Trauerjahr vorüber war, übergab sie ihre zwei Kinder, zu denen sie auch nicht die geringste mütterliche Zuneigung empfand, einer Schwester des Verstorbenen und unternahm die Reise nach Europa, zwar unter dem Vorwande, nur Erbschaftsangelegenheiten betreiben zu wollen, aber mit der bestimmten Absicht, in Europa zu bleiben und dort ihr Leben in aller Freiheit einer reichen jungen Witwe zu genießen. Die aufs Geistige gewandten revolutionären Lehren ihres Vaters hatten bei ihr eine sehr deutliche Wendung aufs Sinnliche genommen, doch besaß sie einen gewissen sehr günstigen Dämpfer in ihrer wohlfundierten ästhetischen Bildung.

Aber der Brühl zu Leipzig konnte freilich keine Landschaft nach ihrem Sinne sein. Sie nahm nur schnell ein kleines Verhältnis mit einem hübschen, aber allzuwenig interessanten Korpsstudenten mit; dann reiste sie nach Dresden. Der Galerie wegen, meinte sie, doch dachte sie wohl auch an anderes.

Ihr Vater, kein Freund des deutschen Wesens, hatte ihr von Dresden berichtet als der einzigen deutschen Stadt mit galanter Kultur. Er hatte dies freilich nicht ganz in dem Sinne gemeint, in dem es sich bei ihr festgesetzt hatte. Aber es war in diesem Falle gewesen, wie auch sonst: sie hatte, indem sie eine allgemein gefaßte Meinung ihres Vaters in ihre Auffassungssphäre übernahm, sie zwar allzuwörtlich aus dem Allgemeinen einer männlichen Erfahrung in das Besondere ihrer weiblichen Gefühls- und Anschauungswelt übersetzt, aber im Wesentlichen deckten sich Original und Übersetzung doch.

Der Vater Saras hatte Dresden mit den Augen des Kunstgelehrten und Kunsthistorikers angesehen. Er war italienischen und französischen Einflüssen in der Kunst und Kultur der sächsischen Residenzstadt nachgegangen und dabei auch italienischem und französischem Blute begegnet. Dies mußte ihn, den unter Romanen geborenen, wie etwas Heimatliches berühren. Und seine Phantasie half nach. In jedem schwarzen oder braunen Auge einer Dresdnerin erblickte er ein lebendiges Denkmal längst verwehter Schäferstunden französischer Soldaten und italienischer Künstler, wenn es auch vielleicht in Wahrheit slawisches Braun und Schwarz war. Und dann kam hinzu, daß er seine eigene Liebe in dieser Stadt erlebt hatte. Hier hatte das Wochenbett seiner Frau, hier die Wiege Saras gestanden; und beide Betten, das große und das kleine, hatte er mit alten Meißner Figürchen umgeben, kleinen Kunstwerken, auf die das Wort einer galanten Kultur wirklich zutraf. Alles dies lebte in Sara nach, unbewußt, halb bewußt, ganz bewußt.

Als sie der hübsche, aber leider von Korpsinteressen völlig absorbierte Kurt von Kantern, die stahlblaue Lausitzer-Mütze tief, wie es damals Mode war, in die Stirn gezogen, einmal gefragt hatte: »Aber warum denn gerade nach Dresden, Madame? Auf Ehre, – Dresden ist ein langstieliges Kaffeedorf!« hatte sie geantwortet: »Für Korpsstudenten, – mag sein. Korpsstudenten interessieren sich nicht für Meißner Porzellan. Korpsstudenten sind tapfere Ritter, aber keine Kavaliere im Sinne der galanten Zeit. Sie müssen zu viel Bier trinken und zu oft pauken. Das ist gewiß reizend, – für Korpsstudenten. Ich aber habe schon genug von steilen Terzen und Hakenquarten. Ich möchte nicht gerne Anlaß zur Eifersucht haben, und am wenigsten Anlaß zur Eifersucht auf die Kneipe. Ich möchte mich in Jünglinge verlieben, die auf der ganzen Welt nichts kennen und wollen, als mich, oder in Männer, die sich in meiner Gesellschaft von großen Dingen ausruhen.«

Davon begriff der hübsche Lausitzer-Senior nicht gar viel; die schöne Sara aber hatte damit immerhin etwas von der Oberfläche ihrer Instinkte verraten.

Die dunkle Schwester

In Dresden logierte sie sich nahe dem Zwinger in einem höchst soliden und von der besten Gesellschaft frequentierten Hotel ein, wo sie schon bei der Ankunft nicht geringen Eindruck machte: einmal durch die große Anzahl der von ihr mitgeführten sehr umfangreichen und schweren Lederkoffer und dann durch ihre Jungfer, eine äußerst häßliche und, wie es schien, taube Negerin, die von ihr Lala genannt wurde und ihrer Herrin sklavisch anhänglich war.

Dieses Verhältnis führte sich in erster Linie darauf zurück, daß Lala mit ihrer Herrin zusammen aufgewachsen war, am Äußern der Erziehung mit Anteil nehmend, so daß sie gleich dieser Deutsch, Englisch, Französisch und Italienisch verstand, aber vom Vater Saras doch immer auf dem Stand einer durchaus willenlosen und sklavisch abhängigen Dienerin niedergehalten. Sie hatte nie einen Pfennig Lohn erhalten und nie daran gedacht, dergleichen als etwas ihr Zukommendes zu betrachten. »Du bist Saras dunkle Schwester«, hatte ihr der Alte gesagt, »und gehörst zu ihr, wie ihr Schatten. Und wie ihr Schatten sollst du sein: stumm, taub, – für die andern. Aber Sara wird keine Geheimnisse vor ihrer dunklen Schwester haben, und Saras Schatten wird Saras Schicksal teilen. Sara wird für ihn denken und Sara wird für ihn sorgen. So ist es die Bestimmung und so das Glück der dunklen Schwester«. Der Alte hatte wohl gewußt, warum er in Bildern zu der kleinen, verprügelt und halb verhungert in sein Haus gekommenen Negerin gesprochen hatte. Ihre wie aus einer Schicht braunen Öles stumpf leuchtenden schwarzen Augen hatten ihm die unklar träumende Seele dieses Wesens offenbart, das treu wie ein Hund und zu allem Guten und Bösen abzurichten war. Der Alte sorgte dafür, daß nichts in ihr helle wurde, als das Gefühl für die Erhabenheit Saras über ihr. Und dieses Gefühl wurde immer mehr zu einer demütigen Anbetung, je reifer die Schönheit Saras wurde. Wie Sara selbst, ohne Religion aufgewachsen, hatte sie, aus einem mystischen Bedürfnisse ihres dunklen Wesens heraus, Sara zu einem Idol nach der Art derer gemacht, die ihre schwarzen Vorfahren angebetet haben mochten. Das war keine gute Göttin, kein lieber Gott, das war nur eben das höhere Wesen, die Macht, die Lenkung. Und es war die Schönheit, die Helle.

Lala wurde zur Dichterin, wenn sie ihre Gefühle für Sara aussprach.

Wie Sara zum Führen eines Tagebuches angehalten worden war, so auch sie, aber sie schrieb nur Dinge hinein, die Sara betrafen, und jede Seite begann mit der Überschrift: »Heute sprach die helle Schwester dies.« Dann folgte etwa: »Hole das grüne Kleid, Lala. Tat es die dunkle Schwester. Sprach später die helle Schwester: Ich liebe noch immer den jungen Mann. Bring ihm den Brief. Tat es die dunkle Schwester. Und der junge Mann lächelte, denn die helle Schwester liebt ihn. Und kam zur Nacht nicht heim. Sanft sei ihr Glück, wie der Mond, und heiß, wie die Sonne. Die dunkle Schwester kennt die Liebe nicht, aber sie hat alles mit von der hellen Schwester. Und es ist gut für sie. Alles ist gut so, dunkel und gut.«

In diesem seltsamen Tagebuche bediente sich Lala derselben Geheimschrift, die sie mit Sara von Saras Vater erlernt hatte. Doch hatte sie sich noch eigene Sigel dazu erfunden. So für die Worte: »Heute sprach die helle Schwester« einen Kreis, durch den ein Pfeil wagrecht ging und für die Worte: »Tat es die dunkle Schwester« einen Halbmond, durch den ein Pfeil senkrecht ging.

Ihre Taubheit war Verstellung zu dem Zwecke, die Äußerungen fremder Leute über ihre Herrin vernehmen zu können, ohne daß diese sich dessen versahen. So hatte sie schon während der Ehe Saras der hellen Schwester wertvolle Spionendienste unter der Verwandtschaft des ahnungslosen Mister Leon Asher geleistet. Sara selbst pflegte ihre Dienerin auch ihren nächsten Bekannten und Vertrauten gegenüber als harmlose Idiotin hinzustellen, was um so weniger auf Mißtrauen stieß, als die primitiven Umgangsformen zwischen Herrin und Dienerin, wie das gegenseitig angewandte Du, ohnehin den Eindruck machten, als seien sie auf kindische Zurückgebliebenheit des Verstandes der seltsamen braunen »Jungfer« zurückzuführen.

Von den Vätern

Der Tatar

Nachdem Madame Sara in den besten Geschäften der Pragerstraße nach den besten Pariser Modellen ihre zwar ohnehin reiche, aber doch noch nicht ganz auf der Höhe des europäischen Geschmackes befindliche Garderobe ergänzt hatte und es nun an türkischen Schals, spanischen Mantillen, kleinen koketten Federhütchen, knisternden Reifröcken und durchbrochenen Halbhandschuhen mit den elegantesten Dresdner Madams mehr als aufnehmen konnte, fand sie es für angezeigt, ihre Antrittsvisitte bei der berühmtesten, ob auch ganz altmodisch gekleideten Dresdnerin zu machen, deren erlauchte italienische Herkunft zweifellos ist: bei der Sixtinischen Madonna.

Gleich den meisten anderen Fremden durchschritt auch sie (doch war es mehr ein Durchwogen) alle übrigen Säle der Galerie, ohne den an ihren Wänden prangenden Kostbarkeiten mehr als einen vorüberstreifenden Blick zu gönnen, mit dem Ausdruck der von Sehnsucht beflügelten Wisserin der höchsten Gnade, bis sie zu dem gebenedeiten Raume gelangte, wo die himmlischen Augen der Mutter und des Kindes leuchten, vor denen Papst und Heilige knien.

Die schöne Jüdin, froh, dort niemand zu treffen, ließ sich mit einem knisternden Aufbauschen ihres dunkelgrün seidenen Reifrockes in einem Fauteuil dem Bilde gegenüber nieder, erhob ihren schönen, mit vollgerundeten, schwermütig schwankenden Schmachtlocken frisierten Kopf zu dem Gemälde und führte das goldene Lorgnon an die dunklen und durch unterlegtes Beinschwarz noch mehr gehobenen Augen.

Ein wunderlicher Gegensatz, wie von Gavarni mit verruchter Raffiniertheit erfunden, diese beiden Frauenbilder einander vis-à-vis: Das lebendige, als ob es ein zwar amüsantes, aber freches Gespenst des Lebens wäre, und das aus der Kunst geborene, das fast als mehr wie Leben strahlte: als Lebensleuchten selber aus tiefster innigster Einfalt.

Madame Sara empfand selbst so etwas und zog ein Spiegelchen aus ihrem perlengestickten Ridikül, sich darin zu betrachten.

Warum schminken wir uns eigentlich so absurd, dachte sie für sich. Warum diese Masse Rot auf so viel Creme-Weiß? Nun ja, wir sind keine Göttinnen... Und doch... es wird einem wunderlich zumute.

Und sie sah wieder die Madonna an.

Und dachte weiter: – Wer hat mehr Ursache, stolz zu sein, als wir Jüdinnen? – Die schönste Römerin war dem größten Künstler Italiens gerade gut genug, eine Jüdin darzustellen... Tat er das wirklich aus – Religion?

Sie lächelte.

Wer hier die Liebe nicht sieht, hat keine Augen. – Freilich: der Papst, die Heiligen, die Engel... Enfin! Künstler können sich was herausnehmen... Künstler! Ah!... Zweierlei gibts: Künstler und Helden – oder, ohne Romantik gesprochen, Soldaten, – d. h. Offiziere.

In diesem Augenblicke wurden ihre Gedanken durch das bestimmte Gefühl unterbrochen, daß hinter ihr ein Mann stehen müsse. Eine kleine Wendung ihres Kopfes, ein Blick nach hinten, colla coda dell' occhio, genügte, ihr zu zeigen, daß ihr Gefühl sich nicht getäuscht hatte.

Eine Weile später würde sie ihn auch mit der Nase haben wahrnehmen können, denn der Herr, der jetzt schräg hinter Madame stand und keinen Blick von ihr wandte, wie wenn er nicht der Sixtinerin wegen gekommen wäre, sondern wegen der Amerikanerin, dieser Herr, ein straff aufrechter Vierziger mit blonden Koteletten in der Mode der Zeit, einem rosigen Teint, sehr hellbraunen Augen und einem Anzuge, dessen sich der Empereur in Paris nicht hätte zu schämen brauchen, liebte offenbar die starken Gerüche. Damals war unter den vornehmen Mitgliedern der Herrenwelt ein Parfüm bevorzugt, das heute zu den Lehrlingen im Kellnergewerbe herabgesunken ist: Jockei-Klub. Doch war dieses Odeur damals noch nicht so degeneriert wie heute, wo es aus den zusammengegossenen Reigen anderer Extrakte hergestellt zu werden scheint. Es war vielmehr in der Blüte seiner Kraft und duftete restlos die große Seele dessen aus, der seine Erfindung inspiriert hatte: des Prinzen von Wales, dem bei seiner Inspiration nichts Geringeres vorgeschwebt hatte, als eine Erhebung des Stallgeruchs zum Odeur, – Rennpferd-Stallgeruchs, versteht sich. Frisches Heu und Juchtenleder als Dominante. Ein wirkliches Odeur de chevalier, vielsagend und vielversprechend für geistreiche Nasen von Damen mit Temperamentsphantasie.

Der schönen Sara, die allzulange Ledergerüche hatte erdulden müssen, die nicht raffiniert und nicht nobilisiert waren, fehlte es an dieser Phantasie keineswegs, und so kam es, daß ihre Geruchsnerven in der bestimmten Ahnung vibrierten, der Herr hinter ihr könne eine Bedeutung für sie haben. Und so ließ sie mit scheinbarer Nachlässigkeit ihr winziges Spitzentaschentuch fallen, dessen Parfüm etwa als Komplementär-Geruch zu jenem Odeur de chevalier hätte bezeichnet werden dürfen. Sofort machte der Herr mit den Koteletten ein paar schnelle federnde Schritte nach vorn, bückte sich zu dem winzigen weißen Häufchen aus Seide, Spitzen und Duft nieder, ergriff das zarte Gewebe und überreichte es Madame mit einer Verbeugung, die, zugleich ritterlich und galant, die beste Welt verriet.

Ah, machte Sara mit vollendet gespielter Überraschung, das heißt mit einem Tone der Überraschung, dem man es anhören konnte, daß die Überraschung gespielt war. Der Herr mit den hellbraunen Augen verstand sich auf Tonnuancen aus Frauenmunde und wußte auch die richtigen Folgerungen daraus zu ziehen und sich den Folgerungen entsprechend mit Delikatesse zu benehmen. Aber hier hätte es der Erfahrung und Sicherheit eines Meisters in der Kunst der Anknüpfung mit Damen nicht einmal bedurft, denn angesichts ganz großer Gegenstände der Kunst oder Natur ist es selbst für Anfänger leicht, den Faden zu einem Gespräch anzuspinnen und fest zu drehen. Was so hoch über der gemeinen Konvenienz steht, wie die Sixtinische Madonna, verleiht mit der Macht von Souveränen auch das Recht, sich in seiner Gegenwart zeitweilig über konventionelle Schranken wegzusetzen.

So waren Weltdame und Weltmann bald in einem angenehm bewegten Gespräch, das bei Raffael begonnen hatte, über die Kunst im allgemeinen anmutig weggeschaukelt war und sich schließlich behaglich über Fragen des gesellschaftlichen Lebens in Dresden ausbreitete.

Der Umstand, daß auch der Herr als Fremder in Dresden weilte, ergab eine willkommene Erleichterung der gegenseitigen Aussprache. Eine Reisebekanntschaft, sogleich als Reisebekanntschaft determiniert, wird von Leuten von Welt, die sonst zumeist gezwungen sind, sich in festen Zirkeln zu bewegen, immer als eine angenehme Bescherung des Zufalls gerne begrüßt. Man lernt sich schnell kennen, kommt einander, wenn Sympathie im Spiele ist, sehr schnell nahe, bleibt aber doch immer Passagier, und es genügt, eines Tages zu sagen: Morgen mit dem Frühzuge reise ich weg. Nicht einmal das Stammbuchblatt früherer Zeiten ist auszufüllen:

Fällt dein Blick auf diese Seite, Wenn du jene umgewandt, Denk an mich mit Gunst und sage: Diesen hab ich auch gekannt.

Fürst Wladimir Golkow, russischer Kavallerie-General außer Dienst, Kommandör des Sankt-Georgsordens für besondere Bravour im Krimkriege, besaß viel Neigung zu derlei Bekanntschaften, zumal wenn es sich um schöne Partnerinnen handelte, und er lebte recht eigentlich solcher Reisebekanntschaften wegen immer auf Reisen. Doch war Dresden, das zu jener Zeit von Russen überhaupt bevorzugt wurde, der Ort, zu dem er von Zeit zu Zeit immer wieder zurückkehrte. Daher er hier eine feste Wohnung unterhielt, eine kleine Villa in einem großen Garten der Neustadt.

Heute knattert auch durch dieses damals noch ganz ländlich stille Viertel der elektrische Trambahnwagen; die großen Gärten sind parzelliert, und in jedem der neuen kleinen Gärtchen steht, die dumm-moderne Front zur Straße gewendet, ein kleiner Steinkäfig mit Stuckornamenten, in dem ein Dresdner Partikulier wohnt, dem es gerade recht ist, daß er seinem Nachbar in die Fenster gucken und riechen kann, was der Herr Kalkulator nebenan heute zu Mittag hat. Damals aber war das eine vornehme Gegend. Wenige, aber große, mit alten Bäumen bestandene Gärten, und tief im Grün des Gartens, von der Straße kaum sichtbar, ein altes Herrenhaus mit französischem Doppeldach, ohne viel Schmuck, und ganz gewiß ohne angeklebten Schmuck, aber von guten architektonischen Verhältnissen, behaglich geschmackvoll.

Ein solches Haus in solchem Garten hatte sich »der Russe«, wie er in der Gegend kurz genannt wurde, erworben und ganz nach seinem Sinne mit Möbeln aus der Zeit des ersten Kaiserreichs ausgestattet, die damals bloß als altmodisch, aber noch nicht für »antik« galten. Sie sagten ihm in ihrer strengen und etwas steifen Pracht viel mehr zu, als die mit Rokoko-Verzierungen recht oberflächlich spielenden Möbel des zweiten Kaiserreichs, die ihm den Eindruck von Unsolidität und Weichlichkeit machten. Er aber liebte die grade Linie, sparsamen, zurückhaltenden Schmuck aus echtem Material und eine gewisse Massigkeit. Das grazilere »Damen-Empire«, die feinbeinigen Tischchen und wie aus Gitterwerk zierlich konstruierten Sofachen fand man bei ihm nicht, wohl aber gewaltige, wenn auch durch die Kunst der Verhältnisse nicht plump erscheinende Tische und wahrhaft überlebensgroße Prachtkanapees. Die östliche Herkunft und den früheren Beruf des Besitzers verrieten kostbare persische Teppiche, turkestanische Vorhangstoffe und wertvolle Waffen der verschiedensten Art: Säbel, Degen, Pistolen, Gewehre, die, weit zahlreicher als Bilder, an den Wänden hingen. Doch fehlte es auch an Bildern nicht völlig, und diese ließen gleichfalls gewisse Schlüsse auf die Neigungen ihres Besitzers zu. Da waren bunte, edelsteinbeladene russische Heiligenbilder, byzantinische Madonnen neben tibetanischen Malereien auf Seide, die schauderhafte Götzen, überladen mit Attributen der Grausamkeit und Wollust, darstellten, aber es gebrach auch nicht an allerhand nackten Damen antikmythologischer und ganz und gar moderner Herkunft. Diese letzteren aber waren nicht so sehr durch klassische Schönheit wie durch Fülle ausgezeichnet. Auch plastische Kunstwerke waren vorhanden, doch gewahrte man weniger echte Bronzen, als Erzeugnisse des berühmten russischen Phosphor-Eisenwerkes bei Jekaterinburg, die nichts so gerne darstellen wie reitende Kosaken.

Auch von diesen Dingen war bereits in Gegenwart der Sixtinischen Madonna die Rede, und es war nicht bloß höfliche Vorheuchelung, wenn Madame Sara erklärte, daß alles Russische sie besonders interessiere.

– »Rußland, verzeihen Sie, Fürst, hat für uns Amerikaner den Reiz kostbarer Barbarei. Gilt uns Europa als die alte, schon etwas lahmgewordene Kultur, so Rußland als der große Rachen, der diese Kultur einmal verschlingen und, wenn er imstande ist, sie zu verdauen, aus ihr ein neues Gebilde von halb asiatischem Charakter erstehen lassen wird.«

– »Ich verstehe, Madame. Wir Russen sind für Sie die Europäer à la tartare. Ein bißchen Politur über dicker Roheit. Nun ja, gottlob, es ist etwas Wahres daran. Unsere Kraft liegt in Asien, im Urgebiet des Menschen, das schon mehr Kulturen sterben sah, als je in Europa entstanden sind. Dort ist viel verfault und daher, dank der Düngung durch Jahrtausende, der beste Humus für eine neue, für unsere Kultur. – Was Sie in Amerika verflucht schnell und, entschuldigen Sie, etwas oberflächlich gemacht haben, machen wir verflucht langsam, daher aber um so gründlicher. Sie haben auf ein neues Land den äußerst schnell alt gewordenen europäischen Liberalismus gepfropft, aber dieses Wunderkind wird wie alle Wunderkinder früher sterben, als es Nachkommen hervorbringen konnte. Wir aber gehen auf das echte Urwesen des Menschen zurück, das sich, wenn Sie wollen, barbarisch geworden, im Osten erhalten hat und zu alt ist, als daß es die Kinderei des Liberalismus hätte mitmachen können. Panslawismus heißt Asiatismus, heißt Mystizismus. Revanche für Marathon und Salamis ist das letzte Ziel der russischen Politik.«

– »Oh! Oh! Sie springen weit und überspringen viel, Fürst!«

– »Das kommt, weil wir Russen an große Ausdehnungen gewöhnt sind.«

– »Wie wir Amerikaner.«

– »Aber Sie springen an der Longe Europas in der Manege des Liberalismus. Zirkuskünste! Bei uns aber ist Freiheit und Größe! Nur bei uns!«

– »Freiheit? Existiert das Wort im Russischen?«

– »Nicht im Sinne der kümmerlichen Liberté, aus der die ruchlos idiotische Égalité hervorgegangen ist, aber im großen Ursinne der Brüderlichkeit eines ganzen Volkes, das sich als Familie fühlt und mit tiefem Instinkte den fürchterlichen Unsinn des Individualismus erkannt hat, den wir den griechischen Windbeuteln und den einzigen entarteten Orientalen verdanken: den Juden.«

Bei diesem Worte fühlte die kluge Sara, der dieses Gespräch ein seltsam aus Ärger und Respekt gemischtes Vergnügen bereitet hatte, daß jetzt der Moment gekommen war, wo es sich entscheiden mußte, ob sich mehr und Besseres aus ihm entwickeln sollte, als Gespräche.

Und sie sagte mit einem Lächeln, das schlechterdings bezaubernd war in seiner Mischung aus ein bißchen Demut mit viel Stolz: »Sehen Sie mir es nicht an, daß ich Jüdin bin, Fürst?«

Auch der Kommandör des Sankt-Georgsordens empfand blitzschnell die Bedeutung dieses Momentes. Er, der in der Tat längst und keineswegs mit Mißfallen die jüdische Herkunft seiner schönen Partnerin bemerkt hatte, ergriff ihre linke Hand und zog sie an die Lippen, indem er sprach: »Ich verstehe mich auf Frauenschönheit, Madame, und ich müßte nicht tatarisches Blut in mir haben, wenn ich sie nicht zu schätzen und – abzuschätzen wüßte. Meine Liebe für den Orient ist nicht bloß platonisch-politischer Natur. Mag ich auch die Juden für entartete Orientalen mit dem denkbar schlechtesten Einfluß auf die menschliche Kultur halten – die Jüdinnen sind mir immer besonders verehrungswürdig erschienen, und ich möchte mich ihrem Einflusse keineswegs entziehen – zumal, wenn er über ein Lächeln verfügt, wie Sie.«

Madame Sara hörte den Unterton von paschahafter Überlegenheit aus diesen Worten wohl heraus, aber er mißfiel ihr durchaus nicht. Im Gegenteil: Sie ahnte aus ihm etwas, das sie innerlich höchst angenehm aufschauern ließ.

Und sie wiederholte ihr Lächeln, indem sie die Demut darin zur Balance mit dem Stolze steigerte. Und sagte: »Auch die Ironie in Ihren Worten entzückt mich, Fürst, – nicht bloß die Schmeichelei. Sie haben eine mir sehr zusagende Manier der galanten Huldigung, und ich würde es vielleicht auf einen Versuch ankommen lassen wollen, zu erfahren, ob Sie jetzt bloß – höflich gewesen sind.«

Der Versuch wurde gemacht, wurde wiederholt, und es war bald kein Zweifel mehr daran erlaubt, daß Fürst Golkow eine mehr als platonische Neigung für schöne Jüdinnen hatte.

Schon nach wenigen Wochen war Madame Sara im buen retiro des Fürsten wie zu Hause, und sie lernte den Zusammenhang begreifen, der zwischen den byzantinischen Madonnen, den tibetanischen Verzückungsgreueln und den Kosaken aus russischem Weicheisen bestand. – –

Wie ihr das neu war nach ihren Erfahrungen mit dem seligen Asher und dem Intermezzo mit dem hübschen Leipziger Korpsburschen!

Sie lernte mit großem Interesse das erotische Gruseln kennen und entbrannte in heftigster Leidenschaft zu ihrem Tataren, wie sie nun den Fürsten gerne nannte. Indessen: Den Kopf verlor sie dabei doch nicht. Wie gerne sie auch ihrem erotischen Mystagogen auf den dämmerigen Wegen in das mystische Paradies folgte, und wie gelehrig sie sich auch aus angebornem Talente benahm, – sie verfiel ihm nicht so ganz, wie es den Anschein hatte, und wie er es nach dem Anschein gerne glaubte. Sie exaltierte sich nicht aus Berechnung; das hatte ihr Temperament nicht nötig. Sie spielte auch nicht aus Berechnung die Liebessklavin; diese Rolle war ihr im gegebenen Moment Natur. Aber beides, die Exaltation und die demütige Unterwerfung unter den Herrn der Liebe, nahm sie nicht dauernd ein; – sie blieb über der Sache, die für sie nicht Liebe, sondern Sensation war, aber sie wußte sich klüglich den Anschein zu geben, als sei sie nicht bloß in seinen Armen sein.

Auch beim Fürsten war es nicht Liebe im wahren mystischen Sinne des Wortes, nicht die ganze innere Verknüpfung seines Wesens mit dem ihren. Er entzückte sich an ihr zu Schwelgereien seiner wunderlich verstiegenen und Abgründe aufsuchenden Erotik. Er genoß in ihr – Asien und meinte in ihr – das Judentum zu unterwerfen. Aber es ging ihm wie manchen großen Herrn, die, gerade wenn sie am unumschränktesten zu herrschen glauben, um ihr eigentliches Herrschertum betrogen werden. Die schöne Jüdin wurde ihm zum Bedürfnis, und sie zwang ihm leise eine Monogamie auf, die ganz und gar nicht in seinem Wesen lag.

Ein solcher Zustand aus wirklicher Liebe ist Glück. Beim Fürsten war er eine Folge von Rauschzuständen, denen es am Intermezzo des Katzenjammers nicht fehlte. Trotzdem dachten beide nicht daran, die so intim gewordene Reisebekanntschaft durch eine Abreise zu lösen.

Madame Sara fühlte sich in Dresden durchaus und in jeder Richtung wohl. Sie war durch den Fürsten, soweit er selbst gesellschaftliche Beziehungen pflegte, in die Gesellschaft gekommen, – nicht so sehr in die der ansässigen Kreise, als in die der Fremden von Distinktion. Und, wo sie erschien, machte sie Aufsehen, gefiel sie. Das tat ihr wohl und machte ihr Vergnügen, zumal, da sie an Schönheit, Geist und Eleganz keine Rivalin fand.

Es dauerte nicht lange, und sie war umworben. Ein Attaché der französischen Gesandtschaft gefiel ihr, aber seine Gespräche waren zu pariserisch glatt. Sie war tiefere Paradoxe gewöhnt, als die, die Monsieur le Comte de Brottignolles aus dem Figaro schöpfte, den sie selber las. Auch ein junger sehr reicher Engländer, der immer vorgab, sich zum Studium der deutschen Sprache in Dresden aufzuhalten, aber nie ein deutsches Wort über seine wunderbar rasierten britischen Lippen brachte, machte in seiner blonden Gesundheit einen gewissen Eindruck auf sie. Er war nicht parfümiert und roch doch gut. Alles war gut ausgearbeitet und doch strotzend an ihm. Kurz: Ein Triumph der Hygiene. Aber er war gar zu englisch, zu insular, und man konnte mit ihm schlechterdings nur über Dinge reden, die augenscheinlich vernünftig waren. Und, um Leitartikel miteinander auszutauschen, dazu, meinte Madame Sara, unterhält sich eine junge Frau nicht mit einem jungen Manne. Überdies hatte sie die Empfindung, daß er grausam tugendhaft sei und sich darauf noch etwas einbilde.

Der Fürst, dem es nicht entgehen konnte, daß seine Sulamitin auch anderen gefiel, beobachtete mit großem Vergnügen das Vergebliche aller Versuche der anderen, ihr nahe zu kommen, und legte das wohlgefällig als Beweis seiner festen Alleinherrschaft aus. Irgendwie erstaunlich fand er es nicht, denn es gehörte zu seiner Überzeugung von den Vorzügen der östlichen Menschen, daß dort die Männer zwar polygam, die Weiber aber monogam veranlagt seien. »Sogar die Jüdinnen,« hatte er einmal zu Sara gesagt, »die überhaupt noch echte Orientalinnen sind, weshalb sie sich in ihren schönen Exemplaren auch überall gleichen, während der amerikanische Jude ganz wie ein Amerikaner aussieht, der französische Jude ganz wie ein Franzose.« Auch gegenüber solchen Reden hatte Sara das unterwürfige Lächeln der Favoritin, aber in ihrem Innern sah es dabei gar nicht unterwürfig aus, und im Tagebuche Lalas gab es eine Stelle, die lautete so: »Sprach die helle Schwester: je gescheiter ein Mann ist, um so leichter kann ihn eine Frau betrügen.«

Sturmius

Eines Morgens wurde Madame Sara, die erst sehr spät von einem Besuche bei ihrem Tataren nach Hause gekommen war und unerquicklich geträumt hatte, durch rasendes Klavierspielen und eine fürchterliche Art von Gesang geweckt. Beides wurde offenbar direkt über ihr verübt. Sie schellte Lala herbei und rief ihr entgegen: »Was ist denn das? Wer wohnt denn über uns?«

»Oh!« antwortete Lala mit großem Ernste, »du wirst ihn lieben. Er ist so häßlich, wie ich, aber du wirst ihn lieben. Er ist anders. Er ist gut und verrückt. Er hat zu mir gesagt: Ei du Scheusälchen!«

Madame Sara, eben noch recht ärgerlich, mußte lachen, und sie sagte: »Mir scheint, Lala: du liebst ihn. Dann muß ich zurücktreten.«

Aber Lala verstand solche Scherze nicht. Sie sagte: »Oh, es ist wahr. Er ist ganz für dich. Er ist ganz anders und ganz für dich, und er wird dich lieben.«

– »Dann soll er vor allem mit diesem schrecklichen Klavierpauken aufhören und mit dem noch schrecklicheren Gesingse!«

– »Lala geht zu ihm.«

Und Lala ging hinauf, und augenblicklich wurde es ruhig.

Nach einer Weile kam die dunkle Schwester mit einem Billett zurück, auf dem folgende Worte standen:

»Wenn Orpheus sang, schwieg selbst das Federvieh, Doch Orpheus selber, lehrt Mythologie, Orpheus schwieg nie.

Aber Orpheus hat auch nicht das Glück gehabt, Madame Sara Asher aus Newyork (siehe Fremdenbuch) zu sehen, wie der ganz ergebenst endesunterfertigte Musikante und Poet, der zwar nicht leben kann, wenn er nicht den Flügel bearbeitet und seine unsterblichen Melodien den Morgenwinden mitteilen darf, aber lieber aufs Leben zu verzichten gewillt ist, als daß er der schönsten aller Damen ärgerlich sein möchte. – Es liegt also bei Madame, zu entscheiden, ob ich leben oder sterben soll. – Ich werde mir erlauben, selbst um die Entscheidung anzufragen, wenn Madame die Gnade haben will, mir dafür eine Stunde zu bestimmen.

Der ich bin der schönsten Dame alleruntertänigster Diener und Knecht Sturmius de Musis.«

»Du scheinst recht zu haben, Lala, er ist entschieden verrückt,« sagte Sara, wie sie unter Lächeln das Billett gelesen hatte. »Aber er ist ein amüsanter Narr. Du kannst ihm also sagen, daß ich um ein Uhr für ihn zu sprechen bin.«

Punkt ein Uhr überbrachte Lala ihrer Herrin eine Visitenkarte, die den wirklichen Namen des Maestro Sturmius de Musis aufwies, einen alten deutschen Adelsnamen, der eben an allen Plakattafeln der Stadt über einer Konzertanzeige zu lesen war. »Ich lasse bitten!« sagte sehr freundlich Madame Sara, musterte schnell noch einmal ihre raffiniert halb auf Empfang, halb auf Negligé gestimmte Toilette und ließ sich, gelb auf rosa, in einen üppig gepolsterten Armstuhl sinken.

Kaum, daß sie noch einen Wurf alter Brabanter Spitzen über türkischen Pantöffelchen zur Geltung hatte kommen lassen können, stand der Flügelgewaltige auch schon in der Türe.

Er sah, oberflächlich angesehen, recht unscheinbar aus. Klein und mager, wie er war, verschwand er fast in dem überlangen, schwarzen, noch etwas biedermeierisch geschnittenen Bratenrocke, den er zu breitkarierten hellen Nankinghosen trug. Ein nicht recht eleganter Umlegkragen gestattete einem hellroten seidenen Schlips, weiter hervorzuzipfeln, als es die Mode erlaubte, und ließ einen keineswegs schönen, allzu langen und sehr sehnigen Hals frei, der zu allem Überfluß noch von einem überlebensgroßen Adamsapfel belebt wurde. Dieser fleißig auf- und niedersteigende Knollen hätte bei jedem anderen die Aufmerksamkeit des Betrachters konkurrenzlos in Anspruch genommen. Bei Madame Saras Besucher vergaß man ihn bald, wenn man einmal den Kopf angesehen hatte. Vor allem: Er war zu groß. Er paßte nicht zum Körper. Er wirkte als Kopf an sich. Und dann: er war grausam häßlich, weil er auch in sich keine anständigen Verhältnisse hatte. Ein Hohn auf das Gesetz vom goldenen Schnitt. Die Stirn, über zwei dicken blonden Raupen, den Augenbrauen, ansetzend, hörte scheinbar überhaupt nicht auf. Dafür war die Nase viel zu kurz geraten, und sie erschien außerdem noch kürzer, als sie schon war, weil sie sich in optischer Verkürzung präsentierte, nämlich mehr nach aufwärts als nach abwärts tendierend. Dafür war wieder der Raum zwischen Nase und Mund viel zu ausgedehnt. Zwar war er mit einem hellblonden, in Spitzen gedrehten starken Schnurrbart bestanden, aber es wäre für zwei solcher Schnurrbärte Platz gewesen. Der Mund, obwohl zu breit und zu schmallippig, war geistreich. Nur entblößte er leider wahre Nagetierzähne, breite gelbliche Schaber. Und dann war kein Kinn da, sondern nur ein Zwickelbart, ein gesteifter pharaonischer Zwickelbart, der im Verein mit dem breiten Mund und der gewaltigen Malmfläche sofort die Idee wachrief: Nußknacker. Die stark hervortretenden oberen Backenknochen unterstützten die Idee wirksam, während die ungeheuren Ohren die Gedanken mehr ins Gebiet der Zoologie riefen. Zornig trompetende Elefanten, wenn sie die Ohren abstehen lassen, erfreuen sich ähnlicher Seitenornamente. Sein Haupthaar litt unter dem Größenwahn seiner Stirn. Man konnte eigentlich nur von Hinterhaupthaar reden. Doch ersetzte es an Länge, was ihm an Terrain versagt war. Es fiel beträchtlich über den Rand des Rockkragens herab, war aber säuberlich gerade geschnitten.

Ein solcher Kopf hätte wohl Entsetzen erregen müssen, wenn in ihm nicht zwei Augen gewesen wären, so voll Geist, Güte, Glut und Leben, daß man in ihrem Anblicke alles übrige vergaß und sofort die Empfindung gewann: Dieser Mann hat es nicht nötig, äußerlich schön zu sein; er hat alle Schönheit innerlich, das heißt: er ist ein wunderbar guter und wunderbar geistvoller Mensch, ein geniales Herz und ein genialer Kopf. Seine Häßlichkeit, statt zu verstimmen oder gar Mitleid hervorzurufen, machte heiter, steckte mit Heiterkeit an, von den Augen her, um die herum ein lebhaftes und doch nicht zuckendes Muskelspiel fröhlicher Laune war, witzig und dionysisch zugleich, kindlich und faunisch, gemütlich und enthusiastisch.

Wenn er aber gar den Mund auftat und in seiner, Konsonanten und Vokale wunderlich zusammenquetschenden Sprache zu reden begann, war es, als ob alle guten Geister des Lebens mobil gemacht worden wären gegen Langeweile, Dumpfheit und Verdrossenheit. Er brauchte gar nichts Besonderes zu sagen: alles klang originell, denn ein jeder fühlte unbedingt: Dieser Mensch spricht sich unverstellt aus, jedes Wort ist getragen von einem Impuls, keines schielt nach verborgenen Absichten, und wäre es auch nur die Absicht, originell zu wirken. Andererseits mochte manches anfangs närrisch klingen, aber bald merkte man, daß es nur närrisch geklungen hatte, weil es gar tief natürlich gewesen war, kindliche Weisheit, die sich nicht gut in konventionellen Schablonen ausdrücken kann, und die sich ganz naiv-primitiver Mittel bedient. Dabei war Meister Sturmius alles andere eher, als ein rohes Naturprodukt. Er war nicht nur sehr gebildet, äußerst belesen, ja im Umkreise seiner künstlerischen Interessen beinahe gelehrt; er hatte auch als Erbgabe seines alten Geschlechtes einen sehr sicheren Fond überkommener Kultur. Wenn er sich zuweilen recht ungeniert betrug, die Mode nach seinem Geschmacke modelte, die Konvention nach seinem Sinne bog, so war es kein wüstes Durchbrechen von Schranken, sondern immer ein elegantes Drüberwegsetzen mit dem leisesten Takte für das Wo, Wie, Wann und Wieweit. Nur in seiner Kunst war er ein rücksichtsloser Draufgänger, und er pflegte das so zu entschuldigen: Alles, was in meiner Familie früher Ritterliches, Räuberisches, Mörderisches passiert ist mit Schild und Schwert und Spieß, üb ich aufs neue aus im Kampfe für die Kunst gegen die Philister. Alle meine raubritterlichen Vorfahren haben nicht soviel Eisen zerhauen, wie ich Flügel, und ich will doch sehen, ob ich nicht mehr Kunstphilister zur Strecke bringe, als sie Krämer. Sturmius, mein erlauchter Ahne, hat seinen Bruder Arbogast mit einem alten Streitkolben erschlagen, weil er nicht Martin Luthern anhangen wollte; so würde auch ich meinen Bruder umbringen, wenn er nicht an Richard Wagner und die Musik der Zukunft glaubte. Es ist ein großes Glück für meinen Bruder, daß ich keinen habe.

Madame Sara, die keinen schlechten Blick für Menschen hatte, erkannte schon an der Art des Eintretens, daß ihr Gast trotz seines allzu subjektiven Bratenrockes ein Mann von Welt war, denn er kam ohne jede Spur von Befangenheit auf sie zu und küßte ihr die Hand wie einer, der gewöhnt ist, mit Schönheiten des Salons umzugehen. Dabei überstrahlte sie sein Blick ebenso verehrungsvoll wie munter, und sie fand, daß dieser Musikus, ästhetisch genommen, zwar ein Scheusal sei, aber ein höchst interessantes, ja – reizendes Scheusal. Naiv treulos, wie sie war, dachte sie sofort vergleichend an ihren Tataren, und diesmal schien es ihr, als sei der »Andere«, das heißt der neuauftauchende, vielleicht... nun: weiter dachte sie nicht. Und sie sprach: »Sie haben wirklich meine Entscheidung über Leben und Tod, Herr von...«

Aber Meister Sturmius fiel ihr ins Wort, ehe sie seinen Namen hatte aussprechen können: »Haben Sie die Gnade, mich nicht bei meinem in die Register des Staates eingetragenen Namen zu nennen, Madame! Auf die Gefahr hin, daß Sie mich sogleich ersuchen werden, Ihr Zimmer zu verlassen, bitte ich Sie, mich mit dem Vornamen anzureden, den in den Zeiten, da meine Familie noch katholisch war, die Erstgeborenen unseres Hauses trugen, und den ich mir selbst für den Verkehr mit Göttinnen beigelegt habe: Sturmius!«

Madame Sara lachte belustigt auf: »Sturmius? Steht der Name wirklich im Kalender? Ist er nicht von Ernst Theodor Amadeus Hoffmann erfunden worden?«

– »Es hat so viele Sturmiusse meines Namens gegeben, daß wir sie numeriert haben, Madame. Der letzte war der vierzehnte und trug den Namen Judenschreck, nicht, weil er das Volk Gottes haßte, sondern weil er sehr kreditbedürftig war.«

– »Das Volk Gottes? Wie meinen Sie das?«

– »Wie es in der Bibel steht. Denn die Juden sind wirklich die Auserwählten ihres Gottes, den sie bei uns importiert haben. Es war ihr erster großer Import-Artikel und ist ihr bestes Geschäft geblieben bis auf den heutigen Tag. Wir haben ihn teuer bezahlt.«

– »Sie sprechen nicht sehr respektvoll vom lieben Gott.«

– »Der Gott der Juden heißt Jehova.«

Madame Sara war ärgerlich. Was sollte das alles? Wußte er nicht, daß ihr Name jüdisch war? Sah er nicht, daß er eine Jüdin vor sich hatte?

Sie sprach: »Es ist nicht gescheit, daß Sie Ihre Richterin über Tod und Leben beleidigen, Herr von...«

– »Bitte: Sturmius!«

– »Wenn ich nun eine fromme Jüdin wäre...?«

– »Sie sind überhaupt keine Jüdin.«

– »Doch, und ich bin stolz darauf.«

– »Sie sind ebenso wenig eine Jüdin, wie Christus ein Jude war.«

– »Was war Christus denn?«

– »Christus.«

– »Das verstehe ich nicht.«

– »Christus war die Liebe, war nichts als Liebe, war ganz und gar Liebe. Daher war er weder Jude, noch sonst etwas, und darum gehört er allen, nicht bloß uns Christen, sondern auch den Juden und Heiden. Und so ist es mit jedem Menschen, der etwas Seltenes ganz ist. So ist mein Freund Richard Wagner ganz Genie, und darum ist er kein Deutscher, sondern Richard Wagner, darum gehört er nicht bloß uns, die wir seine Jünger sind, sondern auch den Juden und Heiden der Musik.«

– »Und ich?«

– »Madame! Dinge, die ich nur auf fünfzeiligem Papier oder auf dem Flügel ausdrücken kann, erdreiste ich mich nicht, in Worte zu fassen. – Haben Sie die Gnade und erlauben Sie mir, weiter zu leben, weiter zu musizieren, und ich will Ihnen Gelegenheit geben, zu hören, was Sie sind.«

– »Sie sind ein wunderlicher Heiliger.«

– »Weder heilig noch wunderlich. Nur Musikant und ein Stück Poet. Doch bin ich leider nicht groß genug, um nicht nebenbei ein deutscher Querkopf und als solcher zum Beispiel ein hitziger Judenfresser zu sein.«

– »Das ist amüsant.«

– »Für mich sehr.«

– »Also ist es Ihnen nicht ernst damit?«

– »Ich brauche meinen Ernst für meine Kunst. Juden fresse ich zur Erholung.«

– »Haben Sie Mendelssohn schon gefressen?«

– »Der ist mir zu musikalisch.«

– »Und Meyerbeer?«

– »Den habe ich gefressen.«

Und Meister Sturmius lachte über den Doppelsinn seiner Antwort selber so herzlich auf, daß sein Gelächter ansteckend wirkte und auch Madame Sara schallend lachen mußte.

»Aber Sie stehen ja noch immer, Sturmius,« nahm, durch das gemeinsame Gelächter in eine übermütige Laune geraten, Madame Sara das Wort, »setzen Sie sich, Meister!«

»Nicht ›Meister‹,« erwiderte der, indem er sich setzte. »Es gibt nur einen Meister, und der sitzt jetzt in der Schweiz über Partituren zu Werken, die die Pforten der Ewigkeit aufreißen werden. Ich bin nur Sturmius der Jünger: Ihr Sturmius, Madame, wie seiner, denn die Schönheit ist der Nachfolge so würdig, wie das Genie. – Gestatten Sie mir, daß ich Ihnen die Schleppe trage als Ihr musikalischer Page.«

»Das würde wohl unschicklich sein bei der Krinolinenmode,« meinte Madame Sara, und Sturmius schüttelte sich aufs neue vor Lachen. Und wiederum mußte Madame Sara einfallen und es dauerte eine ganze Weile, bis sie sich beruhigt hatte, um sagen zu können: »Mein Gott, was für Kinder wir sind! Wir schreien miteinander vor Lachen, als kennten wir uns von Jugend auf. Das ganze Hotel werden wir skandalisieren.«

»Wenn es auf mich ankäme,« antwortete Sturmius, »ich hätte nichts dagegen, wenn es die ganze Stadt wäre.«

Da dachte Madame Sara zum zweitenmal an ihren Tataren und sagte: »Das wollen wir bleiben lassen, Sturmius. Ich bin mehr für Ausschluß der Öffentlichkeit bei Privatvergnügen.«

Und sie lachte wieder, – aber schon etwas leiser.

Dreieck

Der von Sara beliebte Modus wurde beibehalten. Selbst im Hotel wurde, dank des virtuosen Aufpassens von Lala, die entente intime zwischen erstem und zweiten Stock nicht bemerkt, die sich aus der entente cordiale sehr bald entwickelte und den asiatischen Beziehungen Madame Saras an Intensität nichts nachgab.

Die schöne Jüdin war sehr glücklich mit ihren beiden verliebten Antisemiten, deren Rassenhaß sie auf so angenehme Weise ad absurdum führte, und die ihr dafür so viel Glut und Verehrung entgegenbrachten, daß in der Tat für die ganze übrige Judenheit nur recht wenig Liebe mehr übrigbleiben konnte. Der kleine Gott hatte wirklich gut für ihr großes Herz gesorgt. Es waren nicht bloß zwei Männer, die sie umfingen, – es waren zwei Rassen, zwei Weltanschauungen, die ihr huldigten. Und das ergab auch in puncto puncti zwei angenehm verschiedene Gebarungen. Alles Mystische, Auto- und Theokratische lag dem Jünger der Zukunftsmusik aus altem germanischen Adelsstamme gänzlich fern. Er zündete keine Lampen in Rubingläsern an vor byzantinischen Madonnen, um Dämmerstimmungen auf dem Grenzgebiete zwischen Religion und Erotik zu Explosionen heftigster Liebesherrschsucht und wollüstigster Liebesuntertänigkeit zu steigern. Der Tribut, den er der schönen Frau mit allen Sinnen leidenschaftlich darbrachte, war völlig frei von asiatischen Ingredienzien. Seine Leidenschaft war klarer, frischer, heiterer. Er liebte nicht zum ersten Male, aber er liebte wie beim ersten Male: jungenhaft mit der bald drolligen, bald rührenden Überschwenglichkeit eines jungen Studenten, – nur kam, wenn es ans Sprechen ging, ein reicher, erfahrener Geist hinzu und, wenn er seine Entzückung musikalisch äußerte, eine meisterhafte Kunst.

Für eine Virtuosin der Liebe, als welche sich Madame Sara bald fühlen durfte, war diese Nuance ein wunderbarer Genuß, der durch die äußere Häßlichkeit nur noch erhöht wurde.

»Welches Glück,« sagte sie einmal zu ihm, als er in seinem gelbseidenen, blau und grün geblümten Schlafrock vor ihr herumsprang und aus allen Winkeln der Welt- und Naturgeschichte Epitheta zum Preise ihrer Schönheit zusammensuchte – »welches Glück, mein Sturmius, daß du kein schöner Tenor bist, sondern ein häßlicher, der häßlichste aller Musikanten. Wie schrecklich, wenn du eine Adlernase hättest.«

»Schweig! Es ist nicht zum Ausdenken!« rief Sturmius und schüttelte die Fäuste.

– »Stell dir das groteske Elend vor, wenn du Locken hättest, Sturmius!«

– »Absurditäten stelle ich mir nicht vor, Madonna! Es wäre aber mehr als absurd, es wäre in der Tat verhängnisvoll. Denn, hätte ich Locken und eine Adlernase, was wäre die Folge? Ich würde Lala lieben und nicht dich, denn Künstler lieben immer den Gegensatz. Was deine Schönheit liebt, o Perle von Juda, ist meine Scheusäligkeit. – Ich bin ein verhuzelter, verkrumpelter Germane, ein stark Shakespearescher Witz des einäugigen Wotan, der übrigens auch kein Apollo ist. Darum lieb ich dich, die strahlende, gliederherrliche Jüdin, Jehovas seliges Meisterstück.«

»Denke dir: Wenn ich ein Kind von dir bekäme,« sagte nach einer nachdenklichen Pause Madame Sara.

»Dann lern ich«, antwortete Sturmius, »auf meine alten Tage beten, daß es ein Sohn sei und keine Tochter. Denn er wird trotz deiner Schönheit ein häßliches Kind sein.«

Madame Sara dachte wieder eine Weile nach, dann sprach sie: »Auch ich will, daß es ein Sohn sei. Es ist nicht gut, wenn zwei so verliebte Gegensätze ein Mädchen in die Welt setzen.«

– »Du redest so mütterlich, meine Halskette; – hast du einen Grund, so mütterlich zu reden?«

– »Ich fürchte: ja.«

– Du – fürchtest?«

– »Ja; ich fürchte. Ich will kein Kind. Schon der Gedanke irritiert mich. Ich käme mir degradiert vor. Eine Liebe, die – ›Folgen hat‹... das ist doch – gemein.«

– »Ja, gnädige Frau, es ist gemein.«

– »Laß mich mit Schillerschen Doppelsinnigkeiten zufrieden, Sturmius. Du weißt, für Schiller habe ich kein Organ.«

– »Ich weiß. Er ist für dich der Dichter der deutschen Turnvereine und Liedertafeln, und meine braune Venus von Jerusalem ahnt mit gutem Instinkte, daß vor dem Erze seiner Jamben einmal das Reich der Krinoline in den Staub sinken wird.«

– »Wenn du von Bismarck reden willst, Sturmius, geh ich.«

– »So will ich von Bismarck spielen.«

Und Sturmius setzte sich an den Flügel und phantasierte über Beethovens Eroica.

Die Gleichgültigkeit, mit der Sturmius die Andeutung Saras aufgenommen hatte, beleidigte diese gar nicht. Sie fühlte dabei nur, daß der Maestro sie ebensowenig »liebte« wie sie ihn, das heißt, daß ihr Verhältnis beiderseitig frei von aller Sentimentalität war – dies Wort ohne jede Abschätzigkeit gebraucht. Und das war ihr im höchsten Grade sympathisch.

Sie empfand es ganz deutlich: Der häßliche Musiker huldigte ihrer Schönheit mit höchster Leidenschaft, ohne auch nur im geringsten im Gemüte beteiligt zu sein. Und nicht anders stand es um ihre Neigung zu ihm, nur daß sie seiner genialen Männlichkeit huldigte. Sein künstlerisches Temperament und sein scharfer Geist flößten ihr tiefsten Respekt ein, und sie empfand es als wollüstige Auszeichnung, daß er sie einer in glühende Erotik verdichteten Verehrung für würdig erachtete. Daß dieser Zustand nicht andauern würde, wußte sie wohl, und auch das war ihr recht. Sie hatte durch den gleichzeitigen Umgang mit den beiden Männern die feste Überzeugung gewonnen, daß sie sich nur in der Abwechslung ganz wohl fühlen konnte.

Wie sehr sie sich dadurch von der ungeheuren Mehrzahl der Frauen unterschied, war ihr keineswegs unklar, und sie hatte auch Verstand genug, einzusehen, wie weit sie damit von der herrschenden Moral abrückte. Mit Sturmius konnte sie darüber von der Leber weg reden, und das erschien ihr als großer Vorzug des deutschen Künstlers vor dem russischen General, dessen Qualitäten auf einem ganz entgegengesetzten Gebiete lagen. Sie waren ihr nicht weniger gemäß, ja sie lagen ihrem eigentlichen Wesen als Frau näher. Aber sie war doch nicht so ganz Orientalin, wie der Verehrer Asiens glaubte, sie war viel differenzierter, westlicher, als er ahnte, dem gegenüber sie sich von vornherein viel weniger enthüllt hatte, als dem Deutschen. Er kannte in ihr nur die Sulamitin, wie er sie sich ins alte Testament hinein konstruiert hatte, aber sie war, ihm unbewußt, gleichzeitig gar sehr modern, im Sinne der Emanzipation des Fleisches durch das Gehirn, wie sie Heinrich Heine gepredigt hatte, den Fürst Golkow nicht anders zu nennen pflegte, als das »Genie der jüdischen Entartung«.

– »Dieser Auswurf des Orients, dieser Teufel in Judengestalt, ist von der Vorsehung dazu bestimmt gewesen, das ganze Talent seiner Rasse zu keinem anderen Zwecke zu verkörpern, als zu dem: Die Deutschen zu demoralisieren und dadurch reif zum Untergange durch das Slawentum zu machen. Goethe, auch ein gefallener Engel, ist ihm darin vorangegangen, aber längst nicht mit so diabolischem Erfolg, denn Goethe war ein ästhetischer Hellene. Heine indessen war Juden-Grieche. Goethe konnte, bei allem Hellenentum, noch ein Gretchen fabulieren. Heine hat dieses Gretchen vergiftet, indem er es emanzipierte. – Und dieses Volk, diese Deutschen, erst durch Rom verdorben, dann durch Luther um jedes Gefühl der Religion gebracht, dann durch Kant bis zur Gasflüssigkeit in reine Vernunft aufgelöst, dann durch Goethe in griechische Formen vereist, durch Schiller aber wieder durch heiße Phrasen aufgetaut, daß sie wie Brei auseinanderflossen, und schließlich von Heine mit allen Gärungsstoffen aus dem Sumpfe jüdischer Entartung durchsetzt: – dieses Volk von lauter »Individuen« will – einig, will ein Ganzes werden! Es hat niemals ein lächerlicheres politisches Phänomen gegeben, und auch Herr von Bismarck wird beim besten Willen nicht imstande sein, aus dieser Fata Morgana ein Gebilde von Realität zu machen.«

Auf solchen Umwegen pflegte der Verehrer Asiens auf die heilige Allianz zu kommen, die für ihn der letzte Gipfel europäischer, – nämlich asiatischer Politik war.

Zuweilen machte sich Madame Sara das Vergnügen, diese Gedankengänge, die sie nur mäßig interessierten, vor Sturmius auszubreiten, der sich darüber schieflachen wollte.

»O du güldne Posaune von Jericho,« rief er dann wohl aus »o du lustig schmetternde! Nie bist du reizender, als wenn dein schöner Mund so greulichen Unsinn tönt!«

Dagegen nahm er ihre eigenen Ergüsse über ihre Ansichten von Liebe ohne Sentimentalität ernst.

»– Solche Ansichten stehen Dir zu Gesicht, und bei schönen Frauen kommt alles darauf an, wie es ihnen steht. Es wäre schlimm, wenn unsere deutschen Hausmütter so dächten; es wäre entsetzlich. Aber diese Gefahr ist nicht vorhanden. Fest steht und treu die Wacht am Ehebett! Du aber darfst und sollst verruchte Maximen haben. Eine Schönheit wie die deine würde gegen den Stil sündigen, wollte sie moralisch sein. Auch die große Dame von Babylon hat ihre Existenzberechtigung, und wir Künstler verdanken ihr unsere besten Informationen. Ach, es sind in eurem herrlichen alten Buche wundervolle Stellen darüber. Heute darf man so etwas nur in Musik sagen, – und das wird jetzt in Triebschen von dem größten aller Propheten besorgt.«

*

Und nun sollte Madame Sara wirklich ein Kind bekommen, von dem sie nicht wußte: Ist es von dem, dessen Seele in Asien wohnt, oder von dem, der das Heil der Zukunft von Bismarck und Richard Wagner erwartet.

Im Brennpunkte der Leidenschaft zweier Gegenpole stehend und sich jedem, dem einen wie dem andern, mit gleicher Leidenschaft zuwendend, hatte sie zuweilen das Gefühl eines Verhängnisses über sich, das ihr manchmal grell, manchmal düster, kaum je einmal in einem ruhigen Lichte erschien.

Doch kam das nicht häufig über sie.

Klar war ihr das eine: Das Kind durfte ihr nicht unbequem werden, und von ihrer Mutterschaft durfte niemand erfahren, schon wegen der Gesetze ihres Staates nicht, das für eine Witwe, die außerehelich gebiert, sehr fatale vermögensrechtliche Folgen festsetzte.

In Lalas Tagebuch stand, als der Dresdner Aufenthalt zu sieben Monaten gediehen war, dieses: »Sprach die helle Schwester: Laß uns das Kind in einen Binsenkorb tuen, wie Mose, und den Wellen eines Flusses übergeben. Und Geld dazu und von den Vätern Geschenke. Hat es Glück, so wird die Tochter Pharaos es finden und zu Ehren aufziehen. Wir aber wollen es nur von weitem verfolgen und ihm beistehen, wenn es nottut.«

So alttestamentarisch ging es indessen nicht zu.

Als die Zeit herangekommen war, daß es für Sara nötig schien, sich zurückzuziehen, nahm sie freundlich und gelassen von ihren beiden Dresdner Freunden Abschied.

Rührendes ereignete sich dabei nicht.

»Da du nicht wünschst, daß ich für unser Kind sorge, so darf ich dich nur bitten, ihm ein kleines Andenken zu stiften,« sagte Fürst Golkow, – »diese Bronze eines mit vorgelegter Lanze dahinstürmenden Kosaken. Es möge ein Symbol für sein Leben sein – zumal wenn es ein Junge ist.«

Maestro Sturmius aber bat sie, dem Kinde zum Andenken an seinen »ausgezeichneten aber leider mehr musikalischen, als moralischen Papa« seinen schönsten seidenen Schlafrock mit auf den Lebensweg zu geben. »Denn«, so fügte er hinzu, »es gibt in jedem Menschenleben Augenblicke, wo ein seidener Schlafrock einem härenen Gewande vorzuziehen ist.

Denn Seide kühlt und Seide wärmt, Und, hat sich jemand abgehärmt, Dieweil das Leben Härten hat: Das seidne Lotterkleid ist glatt.«

Wertvoller aber, als diese Verse und ihr Gegenstand, war für Madame Sara in diesem Augenblicke die Adresse eines Wirtsehepaares in einer kleinen Ortschaft Oberbayerns, das, dem Musikus von früher her bekannt und verbunden, sich bereit erklärt hatte, gegen eine gewisse Summe sich das zu erwartende Kind unterschieben zu lassen.

In fremden Nestern

Der verwunschene Prinz

Das Prinzchen

Am Starnberger See, dort, wo auch heute noch das Dampfschiff nicht anlegt und »Stadtfräck« nur wenige hinkommen, liegt ein kleines dürftiges Dorf, dem man es nicht ansieht, daß es die Gebeine eines Heiligen beherbergt, der, ehe er Heiliger wurde, ein großer Kriegsmann und Graf gewesen war, sich schließlich aber auf sich und Gott besonnen hatte, und zwar so heftig und tief, daß er Rüstung und Herrenkleid von sich legte, die Kutte des Einsiedlers antat und den Rest seiner Tage in einer Klause eben hier verbrachte, wo damals nichts als wilder Wald war. Nun liegt er, heilig gesprochen, unter einer schön gemeißelten Steinplatte in einem kleinen Kirchlein, das, wie der Ort selbst, seinen Namen trägt, und verhilft denen, die als andächtige Pilger an seinem Grabe beten zu allerhand Gnadengütern.

Damals, als die schöne Sara ihr Devotionale in seiner Nähe niederlegte, das er als Heiliger nur schief ansehen konnte, während er als Graf vielleicht nicht ganz so streng darüber gedacht hätte, erfreute er sich, die paar Bauersleute der Umgebung abgerechnet, nur ab und an des Besuches von einigen Münchner Malern, die freilich weniger seiner Heiligkeit wegen hierherkamen, als wegen der schönen Sonnenuntergänge, die man hier in angenehmer Ungestörtheit bei höchst billiger Verpflegung malen konnte. Denn die Sonne geht an wenig Orten so prachtvoll zugleich und so stimmungsvoll unter, wie hier, wo man außerdem kein Modellgeld für Staffage auszugeben brauchte, weil ja die Fischer nicht wegen der Herren Maler, sondern die Herren Maler wegen der Fischer da waren.

Der Ort besaß aber für junge Maler noch etwas Anziehendes: Die blonde Marie mit dem Hakennäschen, das »Wirtstöchterlein«, wie sie es romantisch-volksliedhaft nannten. Und mit Recht, denn sie war nicht bloß wirklich eine Tochter des Wirtsehepaares Schirmer, sondern auch rechtschaffen verliebt, ganz wie das holde Kind im Volksliede. Im Winter hielt sie es mit den Bauernburschen, im Frühling, Sommer und Herbst aber gab sie den jungen Malern den Vorzug. Das ging nun eine gute Weile ganz munter hin, bis ein Kind kam, für das sich weder ein Maler noch ein Bauernbursch als Vater melden wollte. Und, als das Kind ein Jahr alt war, hielten es die alten Schirmers für geraten, das Dirndl nach München zu schicken, »zum Kochenlerna«, wie sie sagten. Die Bauernburschen aber meinten, »daß 's no mehra Auswahl hat«.

Auf dieses verliebte Dirndl nun, das auch Meister Sturmius von einer heftig produktiven Sommerfrische her in gutem Andenken hatte, gründete sich sein Plan, für »seinen Sohn Felix« eine Mutter und einen Namen zu finden.