Probier es aus, Baby - Elfriede Hammerl - E-Book

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Elfriede Hammerl

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Beschreibung

In den Geschichten ihrer «Stern»-Kolumne «Einsichten» geht Elfriede Hammerl geistreich den unterschwelligen Vorurteilen und stillschweigenden Übereinkünften ihrer Zeit nach. Sie besitzt das absolute Gehör für das Gedröhn der Schon-wieder-Machos, für den (selbst)destruktiven Charme der neuen Party-Bourgeoisie und die sanften verbalen Foltermethoden, die moderne Paare praktizieren. Was Elfriede Hammerl – oft in Form der satirischen Anekdote und mit der Virtuosität einer Stimmenimitatorin – an Einsichten in den scheinprogressiven Alltag mitteilt, braucht den Vergleich mit soziologischen Essays nicht zu scheuen.

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Seitenzahl: 293

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Elfriede Hammerl

Probier es aus, Baby

STERN-Einsichten

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Über Elfriede Hammerl

Elfriede Hammerl, 1945 geboren, in Wien aufgewachsen, hat Germanistik und Theaterwissenschaft studiert. Schon mit neunzehn Jahren begann sie als Journalistin zu arbeiten; von 1970 bis 1977 erschienen ihre meist witzig-kritischen Beiträge in der großen Tageszeitung «Kurier» – die erste feministische Kolumne Österreichs. Daneben schrieb Elfriede Hammerl Erzählungen, Theaterstücke und Drehbücher für Fernsehfilme. 1980 erschien ihr erstes Buch «Vater-, Mutter- und Geburtstag».

Inhaltsübersicht

Die Texte dieses ...Aufgeklärte VorurteileKeine Chance dem TüchtigenMänner müssen wieder das Sagen habenFalsche FrauSelber schuldLektionen in FrustWerner hat keine AhnungKein Grund zum KlagenBoris Becker contra Thomas MannCharlys zweite FrauNoch nie war die Mode so weiblichHohe Stöckel, gestreifter Schlips – alles klar!Die wahre LiebePaarbetriebDie echte Liebe gehört nur SilviaEinzelgänger von Natur ausWas will sie denn nun schon wieder?Mit weiblicher KlugheitUnerträglichBlutsaugerinEin FeministCellulitisDer zeitgemäße StammtischWozu müssen Frauen eigentlich Geld verdienen?… weil die Weiber provozieren!Muß denn heutzutage jeder studieren?Laßt die Küchenschaben krabbeln!Arme PrinzessinLeider ist Omi uneinsichtig und sturKonsumentenschutzMein Kammerdiener und ichStaatstragende LogikKeine Extras für FrauenTypen, männlichBloß nicht schon wieder Weiberkram!Das wahre Opfer ist FranzKeine Gefahr!Wir tun, was wir können, gnädige FrauGebären ist PflichtDie Herrenrasse blickt durchDer Mann, der die Frau mit Kind beglücktDer ewig JungeDer kleine UnterschiedMan muß hinter die Fassade schauenSprühender TypEngagiertWem gehört Ingrids Bauch?Vernarrte VäterZurück zum wahren NaturellEiner von unsProgressive SittenWir wollen gute Freunde bleibenBezugspersonenDas Biest von einst muß Buße tunGnadenlos diskretNur nichts anmerken lassenAbsolute OffenheitSeine KinderTeenage LoveEifersuchtIntermezzoRat & HilfeErwartungenTypen, weiblichProbier es aus, BabyAnsprücheAlleingangMuttis sind idiotische TrampelSei doch froh, daß wir dich so sehr brauchen!Rundum erfolgreichWeibchenmonologMutteregoismusAlles im GriffLiebe gnädige Mama!Ein NachrufEin Kind der Ersten WeltEin Kind der Ersten WeltFrustFür dich, KindFür dein Kind tust du’s gern!Statt eines NachwortsLeserbriefBegegnungen

Die Texte dieses Buches erschienen zunächst in den Zeitschriften stern und profil

Aufgeklärte Vorurteile

Keine Chance dem Tüchtigen

Wir kannten den berühmten Mann schon, als er noch ein Niemand war. Der berühmte Mann ist nämlich ein Aufsteiger, er kommt aus ganz kleinen Verhältnissen. Das vergessen wir ihm nie, mit akribischer Mißbilligung beobachten wir, inwiefern er es andere vergessen lassen könnte.

Ein Aufsteiger hat sich gefälligst unentwegt zu seiner Herkunft zu bekennen, sonst ist er ein verachtenswerter Snob, Parvenü und Verräter.

Wenn ein Bürgerkind sich lossagt von seiner bürgerlichen Sippe, dann gilt das als heroischer Akt kritischer Distanzierung. Der Aufsteiger hingegen, der mit seinem proletarischen Onkel nichts anzufangen weiß, entlarvt sich als Charakterschwein, das seinen Stall verleugnet.

Vom einfachen Menschen verlangen wir einen einfachen Familiensinn. Uns darf unsere Mutter auf die überfeinerten Nerven fallen, wenn sie mit geisttötender Monotonie Belanglosigkeiten besingt, dazu sind wir spätestens seit der Erfindung der Psychoanalyse (die nicht zufällig den höheren Ständen vorbehalten blieb) legitimiert.

Der Aufsteiger jedoch hat kein Recht, seinen Vater abzulehnen, bloß weil dieser schlichte Mann ein ebenso schlichtes Politikverständnis an den Tag legt. Lehnt der Aufsteiger die politischen Thesen seines Vaters kopfschüttelnd ab, lasten wir ihm einmal mehr unzulässigen Hochmut an, wie immer, wenn er sich nicht extra demütig verhält.

Der Aufsteiger strotzt vor Unzulässigkeiten.

Vielsagend zwinkern wir einander zu, sobald wir ihn im Philharmonie-Konzert treffen: Der hat’s nötig! Seine Cousins fahren auf Peter Alexander ab, und er macht in Beethoven.

Was für uns gewohnter und daher selbstverständlicher Standard ist, heißt beim Aufsteiger «Anhäufung von Statussymbolen».

Muß das Kerlchen auf Antilopenleder lungern, noch dazu auf einer Couch im exklusiven Styling des avantgardistischen Einrichtungsstudios, das wir frequentieren, um uns – aus Generationsgründen, nicht zur Errichtung von Klassenschranken – gegen die Recamièren unserer Elternhäuser abzugrenzen? Wenn der sich gegen die Klappbetten seiner Altvordern abgrenzen möchte, genügt skandinavische Kiefer.

Was will der Knabe mit Biedermeierkommoden, was fängt er nur mit Art-deco-Vasen an? Ist aufgewachsen zwischen Preßglas und Eichenfurnier und mimt jetzt den Kultivierten.

 

Ein wandelndes Onkel-Tom-Syndrom, der Mann, assimilierungswütig bis zur totalen Verkrampfung. Designer-Klamotten, handgearbeitete Schweizer Armbanduhr, achtzylindriger Schlitten, einmal wöchentlich Massage.

Wenn unsereins Sekt nicht schlucken kann, ist das was anderes, wir sind ursprungsbedingt auf Champagner konditioniert, leider. Aber einer, der mit Bier gegossen wurde, soll uns nicht einreden, daß er Schaumwein von Schaumwein zu unterscheiden vermag.

Nicht, daß wir dem berühmten Mann seinen Ruhm mißgönnten. Gott bewahre. Freie Bahn dem Tüchtigen und so. Ist ja geradezu tröstlich, daß auch aus so einem was werden kann. Aber doch nicht gleich etwas derart Erlesenes wie wir!

Soll heißen: Wir machen uns Sorgen, daß der berühmte Mann seine gehobene Stellung nicht verkraften wird, wenn er fortfährt, seine Wurzeln zu kappen.

Der kulturelle Übereifer, den er an den Tag legt, muß ihn ja entsetzlich strapazieren.

Und warum zwingt er sich zum Schlürfen von Austern, die können ihm doch nicht wirklich schmecken?

Wir meinen, daß er viel glücklicher wäre, wenn er aufhörte, sich übertriebene Ansprüche abzunötigen, und mehr nach seiner simplen Natur lebte: volkstümliche Blasmusik von der Cassette, Rippchen mit Sauerkraut, Hollywoodschaukel, rohe Tischmanieren.

 

Unserer Verachtung entgeht er so oder so nicht, für uns ist seine Abstammung in jedem Fall bedeutender als seine Tüchtigkeit, sonst könnten wir uns ihm ja nicht überlegen fühlen.

Gegen uns hat er keine Chance. Pilgert er ins Theater, belächeln wir ihn als Musterschüler, bleibt er daheim, wundert es uns nicht.

Was immer er (nicht) tut, ist typisch für seinen barbarischen Background und mit unseren Taten oder Unterlassungen nicht vergleichbar. Denn während wir uns vor alten Ölschinken lässig langweilen, weil wir uns in der Jugend an ihnen übergesehen haben, resultiert sein eventuelles Desinteresse aus totaler Unbelecktheit, jedenfalls in unseren Augen.

Für uns ist der Unterschied zwischen eingebürgerlichter und basisnaher Prominenz nur insofern von Bedeutung, als uns erstere besser dastehen läßt. Die Bemerkung «Prolet bleibt Prolet» angesichts Blasmusik hörender Gewerkschaftsführer kann leicht rassistisch ausgelegt werden.

Hingegen ist der träumerische Seufzer «Dabei war sein Großvater Stallknecht …» beim Anblick eines Fernsehintendanten mit Schneckenzange nicht mehr als eine melancholische Klage um die verlorene Unschuld des Volkes.

Männer müssen wieder das Sagen haben

Menschen – also: Männer – mit Verantwortungsgefühl finden es besorgniserregend, daß Frauenangelegenheiten zunehmend von Frauen behandelt werden. Frauen drehen Frauenfilme, Frauen schreiben über Frauen, Frauen tragen Frauenfragen in die Politik.

Das kann nicht gut sein.

Der Frau fehlt die nötige Distanz bei der Betrachtung von Frauenproblemen. Sie sieht alles zu einseitig und nie das große Ganze.

Auf tausend mißhandelte Frauen kommt schließlich mindestens ein Mann, dem auch schon mal ganz mulmig war in Gegenwart seines bedrohlich keifenden Weibes.

Hunderttausenden alleinerhaltenden Müttern an der Armutsgrenze stehen gute drei bis vier Ehemänner gegenüber, deren sauer verdientes Geld von verschwenderischen Gemahlinnen in viel zu teures Klopapier investiert wird.

Und ehe man – oder vielmehr: frau – die mangelnden Aufstiegschancen von Akademikerinnen beklagt, sollte der vielen frustrierten Männer gedacht werden, die es nie vom Tellerwäscher zum Millionär gebracht haben.

Frauen sind parteiisch und Gefangene ihres engen Horizonts.

Sie maulen über radikal operierende Gynäkologen ohne Rücksicht auf den wissenschaftlichen Fortschritt.

Sie verlangen höhere Löhne und scheren sich nicht um die Wirtschaft, deren Leistungsfähigkeit infolge höherer Männerlöhne ohnedies fast erschöpft ist.

Sie machen auf Solidarität mit afghanischen Schwestern, statt die speziell miserable Lage dieser Geschöpfe als kulturelle Eigenart einer stolzen Nation zu respektieren.

So darf es nicht weitergehen. Es müssen wieder mehr Männer das Sagen kriegen!

Seien Sie einsichtig, gnädige Frau, und stellen Sie Ihren Platz im Spielplan einem aufstrebenden männlichen Amateurdramatiker zur Verfügung, der zwar keine Ahnung vom Theater, aber dafür prima selbstbewußtseinproduzierende maskuline Geschlechtsmerkmale hat!

Seine geplante Szenenfolge über das männliche Genie ist gesellschaftlich relevant, während Ihr Stück über weiblichen Wahnsinn (als Folge unterdrückter Kreativität) doch höchstens eine abseitige Minderheit betrifft.

Wenn Sie unbedingt was anderes tun wollen als Möhren schnipseln, können Sie die Szenenfolge ja niederschreiben und in eine professionelle Form bringen, solch phantasielose Kleinarbeit macht einen Mann ohnehin wahnsinnig.

Daß Frauenangelegenheiten von Männern wahrgenommen würden, wäre nicht zuletzt im Interesse der Frauen wichtig. Abgesehen vom größeren Überblick, der Männern zu eigen ist, wird auch der bekannte Gettoeffekt vermieden, wenn nicht Frauen, sondern Männer festlegen, wieviel Unterhalt einer ausrangierten Endfünfzigerin naturgemäß zukommt und ob eine Mutter fähig sein kann, ihre Tochter in Eigenregie bei den Pfadfindern anzumelden.

 

Nicht zufällig gelten sogenannte weibliche Ressorts in der Politik seit je als minderwertig. Wozu also eine Frau als Familienminister – wenn Familienministerien sowieso nicht mehr sind als eine Alibispielwiese für Politikerinnen, die man von den echten Schalthebeln der Macht fernhalten will?

Daher: Weg mit den Frauen aus der sogenannten Frauenecke, den Frauen zuliebe, die schließlich nicht festgenagelt und abgestempelt werden sollen!

Weg mit ihnen – aber wohin? In die Landesverteidigung? An die Konzernspitzen? Auf Chefredakteurssessel?

Also das nun wiederum eigentlich überhaupt nicht.

Weil: Was verstehen Frauen von Männerangelegenheiten?

Wie kann eine Frau wissen, was Männer brauchen, fühlen und denken?

Sollen Männer sich von Frauen erzählen lassen, wofür sie sich eignen, was sie glücklich macht, worauf sie Anspruch haben?

Die Vorstellung ist von schwer überbietbarer Lächerlichkeit.

Nie wird eine Frau ermessen können, welch heiliges Feuer im Genspezialisten lodert, der ihr eine mit Affensamen befruchtete Elefanteneizelle in die Gebärmutter pflanzt.

 

Männerangelegenheiten gehen, wie schon der Name sagt, bloß Männer was an, und alles, was Männer auch nur entfernt angeht, ist eine Männerangelegenheit.

Darum wäre es absurd, Frauen sich einmischen zu lassen. Lediglich Männer wissen über Männer Bescheid. Einmischung von Frauen wäre Einmischung von außen: jeder Mann ein eigener Kosmos, weshalb der Kosmos männlich ist.

Daß Frauen über Männer bestimmen, widerspricht der Logik. Daß Frauen über Männer sich äußern, ist überflüssig.

Daß Frauen sich über sich äußern und über sich selbst bestimmen, ist ebenfalls überflüssig, denn auch Frauenangelegenheiten sind Männerangelegenheiten, wir leben schließlich nicht auf Inseln, nach Geschlechtern sortiert.

Kurzum: Seid vernünftig, Frauen, laßt euch von den Männern zeigen, wo es langgeht.

Wo’s langgeht? Geradeaus in die Besenkammer. Zum Putzen braucht man, nein: frau, keine kritische Distanz.

Falsche Frau

Franz hat uns alle schwerstens geschockt. Nein, sooo eine Enttäuschung! sage ich zu Ilse, seiner Frau. Ich bin ganz fertig, wirklich, wo ich doch auf Franz immer so große Stücke gehalten habe. Kannst du es mir erklären, hättest du das gedacht? Also, ich hätte meine Hand für Franz ins Feuer gelegt.

So ein Kerl. Ich habe die halbe Nacht nicht geschlafen, glaubst du mir das? Fühl mal meinen Puls, wie der rast, das ist doch nicht normal, oder? O Gott, o Gott.

Natürlich, niemand ist ein Engel. Aber so was! Deine ganzen Ersparnisse! Sag ehrlich, du hast nie gewußt …? Ich meine, das muß einem doch auffallen, wenn man mit jemandem zusammenlebt, nein? Ein Spieler! Der Franz! Ein Veruntreuer! Der Franz! Die Wirtschaftspolizei! Hinter dem Franz her!

Wie ich es in der Zeitung gelesen habe, habe ich geglaubt, mich trifft der Schlag. Du kannst dir das vielleicht nicht vorstellen, du warst immer robuster als ich.

Weißt du, in Wahrheit hat der Franz viel mehr angerichtet, als man so auf den ersten Blick sieht. Nicht, daß man auf den ersten Blick nicht genug sehen würde – aber trotzdem: dieser enorme Vertrauensbruch, diese tiefe Verstörung … Ist dir klar, daß der Franz meinen ganzen Glauben in die Menschheit erschüttert hat, ist dir das klar?

Ob es ihm eigentlich klar ist? Das wäre mir ja noch irgendwie ein Trost, wenn er jetzt dasäße und sich verzweifelt fragte: Wie konnte ich das meinen Freunden antun, wie konnte ich nur?

Und dann mit diesem Flittchen? Kennst du sie, hast du sie mal getroffen? Na, hätte ja sein können. Ich kenne sie auch nicht wirklich, aber nach allem, was man so hört, soll sie wirklich das Letzte …

Bitte, wenn du willst, höre ich natürlich auf. Ich habe gedacht, es wird dich erleichtern, wenn du erfährst, daß sie gar nicht die tolle Biene ist, die Franz in ihr sieht, sondern ein ganz billiger, ordinärer Trampel. Hübsch, natürlich, sexy, wie man so sagt, aber ordinär. Und ausgerechnet mit so einer …

 

Jaja, ist schon gut. Hab ich dir schon erzählt, daß der Franz für mich immer der Inbegriff der Seriosität war? Wenn man mich nach einem wirklich seriösen Mann gefragt hätte, ich hätte an erster Stelle den Franz genannt; nicht meinen eigenen Mann, sondern meinen guten alten Freund Franz, ist das nicht ein Witz? Das muß der Franz doch gewußt haben. Wieso hat er darauf keine Rücksicht genommen? Verstehst du das?

So ein stilles Wässerchen. Manchmal habe ich mir sogar gedacht: Arme Ilse, er ist so anständig, daß es fast schon langweilig sein muß. Na, mittlerweile kannst du dich über Mangel an Aufregung nicht beklagen, haha.

Du, ich lache, aber das ist der reinste Galgenhumor, in Wirklichkeit geht es mir dreckig. Mein Mann sagt, wenn er könnte, würde er den Franz auch noch verklagen, weil er uns alle zu nervlichen Wracks gemacht hat. Ich mache mir solche Sorgen! Was wird nur jetzt aus dir, was aus deinen Kindern? Belogen, betrogen, verlassen und mittellos wie ihr seid, müssen deine Kinder doch vor die Hunde gehen! Das schaffst du nie, daß du die zu anständigen Menschen erziehst, unter solchen Umständen! Ach, es macht mich ganz krank, daran zu denken, ich halte das nicht aus, da, fühl mal meine Stirn, richtiger Angstschweiß.

 

Ich werde nie wieder richtig unbeschwert sein können. Ich bin total verzweifelt. Ilse! Sag, daß alles wieder gut wird. Ilse! Ilse! So sag doch was!

Ilses rohes Schweigen gibt mir den Rest. Ich fasse es nicht, wie ein Mensch so gefühllos sein kann. Wahrscheinlich hat ihre Herzenskälte Franz zu seinen Verzweiflungstaten getrieben. Mit einer anderen Frau wäre es mit Franz nie so weit gekommen.

Selber schuld

Uns komme keiner mehr mit Sentimentalitäten! Uns verschone man mit der Mitleidsmasche! Wir haben zu helfen versucht.

Wir haben einem Menschen – einem älteren weiblichen Menschen – die Chance geboten, glücklich zu werden. Aber kein älterer weiblicher Mensch hat diese Chance ergriffen.

Zuerst haben wir unter Verwandten und Bekannten umgefragt. Null Begeisterung. Tante Luise wollte lieber Bridge spielen. Die Schwiegermutter gab vor, sich um ihre Praxis kümmern zu müssen. Meine Mutter verwies auf ihre Leiden und beharrte auf der Fehlinterpretation, daß ihre Beschwerden nicht als psychosomatische Folge mangelnden Ausgelastetseins einzustufen seien. Tante Evi (eine Wahltante) ersehnte die Bekanntschaft eines kultivierten Herrn, mit dem sie zu reisen gedachte.

Also probierten wir es mit einem Zeitungsinserat: «Liebevolle Ersatzoma gesucht.»

Wir dachten, Oma sei eindeutig. Aber statt reizender silberhaariger Damen mit Häubchen und selbstlosem Blick meldeten sich resolute Frauen in mittleren Jahren und Hosenanzügen aus Kunstfaser, die sich nach Lohn und Arbeitszeit erkundigten.

Als ob man mit Gefühlen schachern, als ob man menschliche Beziehungen mit der Stechuhr …

Nicht Lohn hatten wir bieten wollen, sondern Familienanschluß als Belohnung. Nicht an einen Job hatten wir gedacht, sondern an eine Aufgabe. Die Oma, die wir vor Augen gehabt hatten, wäre uns unentbehrlich geworden, und daraus hätte sie eine tiefe Befriedigung ziehen können.

Mit ihrer Kochkunst hätte sie unsere Kondition in der Hand gehabt, ihre Umsicht hätte uns die Köpfe frei gehalten für Berufliches, zu ihr wäre unsere Tochter mit nächtlichem Bauchgrimmen geflüchtet, wir wollten sie Märchen erzählen lassen und ihr die Pflege unserer Kissenbezüge aus Satin anvertrauen.

 

Nicht, daß wir eingeplant hatten, abends mit ihr fernzusehen oder sie mit in den Urlaub zu schleppen, nein, sie sollte ein selbständiger Mensch bleiben dürfen.

Allerdings wären wir bereit gewesen, ein Auge zuzudrücken, wenn sie dann und wann mit einem unserer Gäste geschwatzt hätte.

Mein Gott, unsere Ansprüche waren doch realistisch! Man weiß schließlich, wie echte Omas sind.

Die bei uns auftauchten, waren Talmi-Omas, taktlose Geschöpfe, die nie begriffen hätten, wann es angebracht für sie gewesen wäre, sich ans Bügelbrett zurückzuziehen, aufdringliche Weibsbilder, die unter Familienanschluß allenfalls verstanden, daß sie sich uns anschließen sollten, statt abzuwarten, wie sehr wir unsere Tochter an sie anschließen wollten, geldgierig überdies, ungebildet, kaum der Grimmschen, geschweige denn irgendwelcher Kunstmärchen kundig, selbstsüchtige Monster.

 

Eine war so frech, uns zu sagen, wenn wir nicht ordentlich zahlen wollten, sollten wir uns um unseren Dreck selber kümmern.

Der hat mein Mann aber die Meinung gegeigt! Ich habe keine Putzfrau geheiratet, hat er ihr in scharfem Ton erklärt, sondern eine Akademikerin mit qualifiziertem Beruf, in dem sie sich selbst verwirklichen soll.

Eine andere – wir haben sie im Park angesprochen, weil sie fälschlicherweise einen gütigen Eindruck machte – hat nur gelacht und geantwortet, nach über vierzig Jahren harter Arbeit wolle sie ihren Lebensabend ein bißchen genießen.

Und da redet man immer vom Pensionsschock!

Uns kann man nichts mehr vormachen. Die alten Leute verdienen es nicht besser, als sie es haben. Einsamkeit, Depressionen, das Gefühl, nichts mehr wert zu sein – sie brocken sich alles selber ein.

Lektionen in Frust

Kinder müssen rechtzeitig, also frühzeitig, eine gewisse Frustrationstoleranz erwerben. Das weiß doch jeder. Frustrationstoleranz heißt: Das Kind sieht ein, daß die Tante absolut nicht einsieht, weshalb sie ihm was vorlesen soll.

Härten des Lebens.

Kein Zuckerschlecken.

Lieber jetzt als zu spät.

Nur zum Besten des Kindes.

Wenn die Tante der Vierjährigen vorliest, glaubt am Ende noch die Vierzigjährige, es wird immer jemand dasein, der ihr vorliest.

 

Die Härten des Kinderlebens entstehen dadurch, daß die Erwachsenen leider ziemlich schwach sind. Papi hat es einfach nicht ausgehalten, seine Abende mit einem Grießbrei spuckenden Zweijährigen zu verplempern, deshalb sitzt er nun mit einer Frau Freundin am üppigen Buffet des Club Med, fernab nicht nur von gekotztem Grießbrei, sondern von Grießbrei überhaupt.

Weil Papi den Zweijährigen nicht ertragen hat, muß der Zweijährige lernen, die Abende und Wochenenden ohne Papi zu ertragen. Papi drückt das folgendermaßen aus: Er hat sich vor allem darum zur Frau Freundin begeben, damit der Sohn die heile Familie als Lüge durchschauen kann.

So fügt sich eins trefflich ins andere: Aus Papis Bequemlichkeit wachsen wundersam wertvolle Lektionen für den Filius. O weise Mutter Natur.

Dasselbe Phänomen in punkto Geld: Papi schickt keins, damit der Sohn beizeiten begreift, daß nicht jeder alles haben kann. Wenn der Zweijährige eine daunengefütterte Steppjacke hat, hat Papi weniger Geld für Benzin. Da Papi nicht zu verzichten imstande ist, muß der Zweijährige verzichten lernen, schon, damit er nicht ein Konsumtrottel wird wie Papi.

Man könnte auch sagen: Papi nimmt es auf sich, ein Konsumtrottel zu bleiben, um den Sohn vor einem gleichen Schicksal zu bewahren.

 

Laß dich doch nicht von ihm tyrannisieren! sagt die Freundin zur Mutter des Zweijährigen, der johlt und tollt und das Teegeschirr in Gefahr bringt, weil er die Aufmerksamkeit seiner Mutter auf sich lenken will. Die Freundin, die die Aufmerksamkeit seiner Mutter nicht von sich abgelenkt sehen möchte, findet, die Situation schreie nach einem pädagogischen Akt: Die Mutter soll den Zweijährigen tyrannisieren, damit er begreift, daß es bei der Durchsetzung von Ansprüchen ein hierarchisches Gefälle gibt.

Ich hab jetzt keine Lust! brüllt der Onkel den Zweijährigen an, der ebenfalls brüllt, weil er nicht auf Onkels Schultern klettern darf. Und der Mutter erklärt der Onkel: Kinder müssen Rücksicht nehmen lernen.

Kinder müssen Rücksicht nehmen auf Erwachsene, die ihre Lustlosigkeit rücksichtslos vor sich her tragen?

Ja. Jawohl.

Der Zweijährige und seine Mutter neigen zu Verbitterung, weil sie nicht kapieren, wie gut es die anderen mit dem Kind meinen. Sie erkennen nicht den höheren Zweck, zu dem die anderen egoistisch sind. Konsequent verbieten sich Onkel, Freundinnen und Papi Fürsorge, Verständnis und Nachgiebigkeit, weil das Kind sonst später Gefahr liefe, jederzeit und überall fürsorgliche, verständnisvolle und nachgiebige Mitmenschen zu erwarten.

 

Papi, Freundinnen und Onkel wollen den Kleinen rüsten für ein Leben unter Wölfen.

Der Zweijährige soll zu Fürsorglichkeit, Verständnis und Nachgiebigkeit erzogen werden, damit er dereinst besser zurechtkommt inmitten von egoistischen, verständnislosen und unnachgiebigen Mitmenschen.

Das ist das Ziel.

Die Kindesmutter, eine simple Person, faselt was von gerecht und ungerecht. Ein Glück, daß nicht sie allein das Kind auf die Welt in ihrer ganzen Kompliziertheit vorbereitet.

Werner hat keine Ahnung

Gabi hat Werner zuwenig einbezogen in die Kinderpflege. Die Sozialarbeiterin sagt es auch. Allerdings, sagt sie, machen viele Frauen diesen Fehler. Anstatt schon die Schwangerschaft sinnvoll zu nutzen, indem sie ihre Männer schrittweise auf das Baby vorbereiten, werden sie einfach dicker, gehen ins Büro wie immer, kochen und putzen, als würde nichts geschehen, bringen die Oma zum Ohrenarzt, karren die Katze zum Impfen, nehmen an der Mieterversammlung teil und telefonieren hinter dem Klempner her. Eines Tages ist dann das Baby da, und die Männer haben keine Ahnung.

Hätte Gabi in den langen neun Monaten nicht einmal Zeit finden können, um Werner aufzuklären über das, was auf ihn zukam? Aber nein, alles andere war ihr wichtiger. Ein Gitterbett mußte her, das Bad mußte fertig eingerichtet sein, die Abdichtung der Fenster lag ihr am Herzen. So ist es kein Wunder, daß nach der Geburt der Kleinen das Chaos losbrach.

Auf einmal sollte Werner zur Mieterversammlung. Auf einmal sollte Werner mit der Oma zum Arzt. Schon das war ein schwerer Schlag.

Und auch als dann das Kind da war, versäumte es Gabi, Werner behutsam in die Kindesbetreuung einzuführen. Kopflos schusselte sie durch die Wohnung, auf der Suche nach Ohrenstäbchen und Schnullern, statt Werner in aller Ruhe über die Funktion der Babybadewanne ins Bild zu setzen.

Hilflos stand Werner daneben.

Wie hätte er auch auf die Idee verfallen sollen, den vollgekackten Kinderhintern zu putzen? Niemand hatte ihn je darauf aufmerksam gemacht, daß Säuglinge nicht aufs Klo gehen wie andere Menschen auch. Na ja, vielleicht war es ihm mal zu Ohren gekommen, aber so was prägt sich doch nicht ein. Gabi jedenfalls hatte sich ausgeschwiegen.

Gabi hat ja nicht einmal das Ausfahren per Kinderwagen mit Werner geübt.

 

Den Frauen liegt all das im Blut. Sie sehen das kleine Kind, noch nicht abgenabelt, und schon krampfen sich ihre Finger automatisch, instinktiv zum Höschenwindelzuklebegriff. Aber Männern muß man beibringen, daß ein Kind ein Kind ist, wie sollen sie es sonst von einer Skatkarte unterscheiden lernen?

Gabi hat Werner keine Chance gegeben, selber herauszufinden, daß ein schreiendes Kleinkind möglicherweise Hunger hat und daß man diesen Hunger nicht durch Heringsfilets aus der Dose stillt. Noch ehe der kleine Liebling losbrüllte, war sie schon mit Bananenbrei zur Stelle und machte Werner überflüssig. Klar, daß Werner sich gekränkt zurückzog.

So ist es bis heute geblieben. Werner ist ausgeschlossen. Niemand hat ihm jemals mitgeteilt, was es mit dem Kindergarten auf sich hat; wenn das Kind ein Heftpflaster braucht, läuft es zu Gabi, die ihre didaktischen Fähigkeiten zur Gänze an das Kind verschwendet, statt Werner geschickt zur Versorgung blutender Kinderfinger zu motivieren, zum Beispiel, indem sie für versorgte Wunden Schokopudding in Aussicht stellt.

 

Werner ist mittlerweile infolge pädagogischer Vernachlässigung zum Fürsorgefall geworden, er leidet ja nicht allein unter seinem durch Gabi verschuldeten Informationsmanko, sondern auch unter Eifersucht, andauernd wird er zurückgesetzt, immer rennt Gabi und hebt die gefallene Kleine auf und schaukelt sie tröstend auf den Knien, statt sich um Werner zu kümmern und Werner zu schaukeln. Muß Werner erst ebenfalls stürzen, damit sie ihn wahrnimmt?

Die Sozialarbeiterin, die angetreten ist, Werner und Gabi aus ihrer Ehekrise zu hieven, sieht sich vor einer kaum noch lösbaren Aufgabe. Gabi, sagt sie, habe Werner, familiär gesehen, zu einer Art Kaspar Hauser werden lassen, es sei schrecklich.

Kein Grund zum Klagen

Lieber Max, ehrlich gestanden verstehe ich dich nicht ganz. Haushalt ist doch auch kreativ. Brot backen, Pasteten würzen, Blumen zum Wachsen bringen, neue Eintöpfe erfinden – ha, da haben wir es sogar wortwörtlich: erfinden, kreieren.

Doch, Fensterputzen ist ebenfalls schöpferisch: Erst pfui, dann hui, kommt dir das nicht wie die Erschaffung neuer Scheiben vor?

Was heißt, du fühlst dich «isoliert»? Du siehst die Frau an der Supermarktkasse und die … na, die Frau an der Supermarktkasse eben. Mein lieber Max, ein bißchen Geplauder mit sogenannten kleinen Leuten ist oftmals viel befruchtender als eine hochgestochene Unterhaltung mit sogenannten großen Tieren, glaube mir.

Und dann die Kinder! Was man von Kindern nicht alles lernen kann! So viel Spontaneität, so viel, äh, ursprüngliche Dings – ich meine, da liegt ja auch die Chance zu einer völlig neuen Selbsterfahrung drin, im Umgang mit so kleinen Geschöpfen, oder? Du sagst, es strapaziert dich, wenn sich die Kinder mitten auf dem Gehsteig zu Boden werfen und brüllen, bis sie blau anlaufen, aber ich sage dir, nimm es von der spannenden Seite, Max, schaue zu, und schaue dir was ab, nämlich die Fertigkeit, Unbehagen ungehemmt auszuleben.

Deine Haltung den Kindern gegenüber ist mir ja überhaupt schleierhaft, um es einmal ganz offen zu sagen. Willst du wirklich lieber mit Fremden beisammen sein, in einem unpersönlichen Büro, als mit deinem eigen Fleisch und Blut in deinen eigenen vier Wänden?

Was heißt «Abhängigkeit»? Ich an deiner Stelle würde es Sorglosigkeit nennen, Max. Ich erspare dir den Konkurrenzkampf draußen, du brauchst nicht lange nachzudenken, wieviel du wo womit verdienen kannst, du nimmst einfach, was du von mir kriegst, auch wenn’s nicht üppig ist.

 

Sicherheit? Was ist schon sicher auf dieser Welt, Max! Solange du lieb zu mir bist und mir nicht auf die Nerven gehst und mich nicht langweilst und solange mir keiner über den Weg rennt, der mir besser gefällt, werde ich schon dafür sorgen, daß du nicht verhungerst mitsamt deinen Kindern. Freue dich an deiner Geborgenheit, Max, statt pessimistisch in die Scheidungsstatistik zu schielen.

Ach, Mäxchen, für andere dazusein, ist doch viel befriedigender, als selbstsüchtig immer dickeren Autos, fetteren Konten, protzigeren Villen, imponierenderen Titeln hinterherzuhecheln. Ein selbstgenähtes Kinderkleidchen macht doch entschieden mehr Freude als eine läppische Beförderung in ein läppisches Chefzimmer mit zwei Tippsen im Vorraum.

Für durchwachte Nächte an den Betten fiebernder Angehöriger kommt man auf ewig in den Himmel, Max, für einen dicken Vertragsabschluß bloß vier Urlaubswochen lang in die Karibik.

 

Mein lieber Max, so blöd ich das Schlagwort Selbstverwirklichung finde – du hast in meinem Heim, an meinem Herd jede Menge Möglichkeiten, dich selbst zu verwirklichen, du darfst nur dein wahres Selbst nicht länger verleugnen.

Dein Selbst, Max. Meins ist anders. Ich habe von dir gesprochen. Deine Berufung ist die Nächstenliebe. Du lernst durch die Kinder. Dich befriedigt das Fensterputzen. Dein Stolz sind Eintöpfe.

Ich bin von der Natur nicht so programmiert, Max. Ich kann mich nicht ausliefern. Mich machen die Kinder nervös. Mein Blutdruck bricht an Krankenbetten zusammen.

Was probieren? Ich? Ich probiere gar nix. Mich sperrst du nicht ein, auch nicht probehalber. Wofür hältst du mich, für einen idiotischen Kanarienvogel?

Boris Becker contra Thomas Mann

Mein Sohn sagt, als Jugendlicher brauche er Ideale, und der Sport sei ein ideales Ideal für die Jugend.

Ich befinde mich nach Mütterart auf dem Holzweg und fürchte mich daher, wenn er fähnchenschwingend dem Fußballstadion zustrebt, wo es nach einem Entscheidungsspiel voraussichtlich Krawalle geben wird (die aber keine Krawalle sein werden, sondern provokante Ausschreitungen der Gegenseite).

Statt mich zu freuen, daß er Boris Becker nacheifert, lamentiere ich über seinen Tennisarm.

 

Stöhnend rechne ich die Kosten für seine Skiausrüstung zusammen. Und dann nörgle ich an ihm herum, weil er schon wieder vor der Fernsehübertragung eines Autorennens hockt und noch immer nichts von Thomas Mann gelesen hat.

Mein Sohn sagt, ich solle mich schämen, andere Eltern wären froh, wenn ihre Kinder sich für etwas begeisterten. Junge Leute müßten sich für etwas begeistern.

Für irgend etwas? frage ich. Mein Sohn hat es nicht leicht mit mir, denn ich bin begriffsstutzig.

Ich sehe und sehe das Idealistische nicht an Menschen, die für viel Geld anderthalb Stunden lang aggressiv sind zu einer bestimmten Gruppe von Mitmenschen.

Solange mein Sohn klein war, habe ich ihn angehalten, andere Kinder nicht auf den Kopf zu hauen und sich gerade Glieder zu bewahren. Es fällt mir schwer, umzulernen. Ich verstehe nicht, warum einer, der einem zweiten in die Schnauze drischt, oder eine, die sich systematisch und unerbittlich die Knochen kaputt trainiert, oder einer, der sich zum Krüppel rast, plötzlich Vorbild sein soll für meinen Sohn.

 

Mein Sohn beharrt aber darauf, daß er Idole bitter nötig habe, und findet, jemand, der zum Stolz der Nation taugt, tauge allemal auch zu seinem Idol.

Mein Sohn meint, ich solle mich freuen über seinen Tennisarm, weil der von Einsatz und Ausdauer zeuge. Ich weigere mich, Einsatz und Ausdauer an sich und in jedem Fall als Tugenden anzusehen, «Einsatz wofür?» frage ich kleinlich und mache meinen Beifall von einem guten Zweck abhängig.

Meinem Sohn ist der Zweck «Tennis» gut genug, um dafür seine Gesundheit zu riskieren. «Thomas Mann – wozu?» fragt er prustend zurück. Er will schließlich keine außenseiterische Witzfigur sein, sondern erfolgreich und dynamisch.

Ich bin meinem Sohn in der Debatte leider unterlegen, weil ich bloß meine unrepräsentative Privatmeinung vertrete, während er die Medien und die Honoratioren und die Öffentlichkeit hinter sich hat. Mein Sohn redet ja nicht einfach ins Blitzblaue hinein, er weiß, wovon er spricht, er hat massenhaft Zeitungsartikel gelesen und zahlreiche Reden gehört.

 

Deshalb macht es auch keinen Eindruck auf ihn, wenn ich mich über die im Siegesrausch nach einem Fußballspiel zu Tode Getrampelten entsetze: für ihn ist klar, daß die völkerverständigende Wirkung des Fußballsports im Vordergrund steht. Wenn ich sie dort nicht sehen kann, dann muß das ganz allein an mir liegen.

Er informiert mich: Nicht die sauertöpfische Vokabel «Unbelehrbarkeit» ist anzuwenden auf die Skirennläuferin, die trotz erlittener Gehirnquetschung wieder Rennen fahren will, sondern das edle Wort «Tapferkeit».

Kleinlaut packe ich meinen unangebrachten Wortschatz zu meinen nicht gefragten Wertvorstellungen.

 

Mein Sohn geht zum Boxen und läßt mich ratlos zurück. Ob ich je durchschauen werde, wem es nützt, wenn er einen unterentwickelten Geist in einem gefährdeten Körper kultiviert?

Charlys zweite Frau

Charlys zweite Frau blickt lächelnd zu Charly auf, ihre Zähne sind makellos, bestimmt ist das Gebiß von Charlys erster mittlerweile ziemlich verrottet. Charlys erste ist ja auch wesentlich älter, nicht älter als Charly, sondern älter als die zweite, also fast so alt wie Charly; da liegt der Verdacht auf Parodontose nahe.

Charly und seine Nummer zwei haben ihr winziges Kind mit, die Mutter hält es im Arm, während Charly die Mutter im Arm hält, so schützt Charly seine kleine Familie, obwohl wir aus dem windigen Garten längst ins Haus übersiedelt sind, wo sogar ein Feuer im Kachelofen brennt.

Die zweite Frau lächelt innig und spricht im Ton gedämpfter Innigkeit, der Mund geht ihr über, so voll ist ihr Herz mit mildem Mitleid für die Männer. Man darf es ihnen nicht zu schwer machen, sagt sie, während Charly das nunmehr greinende Baby wiegt, zuständig ist ja doch vor allem die Mutter, sie trägt aus, sie gebiert, sie stillt, sie gehört zum Kind, alles andere ist wider die Natur.

Die Gastgeber haben inzwischen auch den Tisch aus dem Garten hereingetragen, wir setzen uns daran und greifen tüchtig zu, Charlys neue, noch hochglanzpolierte Frau lobt den Champignon-Schinken-Salat, nur Charly kann nicht zugreifen und nicht loben, weil er den brandneuen Sohn aus Beruhigungsgründen durchs Zimmer schleppt.

Ein ebenfalls sehr junger männlicher Gast möchte mit schüchternem Eifer biologische und soziale Mutterschaft unterschieden wissen – es können doch auch andere Bezugspersonen und so weiter –, anhimmelnd redet er auf die madonnenhafte Blonde ein. Will er sie durch männliche Überlegenheit bezwingen, oder hat er bloß kein anderes Buch gelesen, mit dessen Wiedergabe er halbwegs imponieren könnte?

Die Madonna entblößt nachsichtig abermals Perlzähnchen und beharrt auf der vorrangigen Verantwortlichkeit der – leiblichen – Mutter: Alles andere sei pervers.

Charly ist erneut zu ihr getreten und legt ihr das vorübergehend beschwichtigte Baby in den Schoß, selbdritt fügen sie sich zu einem altmeisterlich komponierten Bild selbstverständlicher Harmonie, und ich fühle mich wie ein ergrauter Gewerkschafter, dem ein forscher Nachwuchsangestellter vor seinem Abflug auf die Seychellen (wo der Forsche einen Vierwochenurlaub gebucht hat) schnell noch versichert, dieser Grabenkampf vergangener Zeiten, hier Arbeitgeber, da Lohnabhängige, sei wirklich ordinär und widerlich gewesen, es müsse doch nur jeder an seinem Platz seine Pflicht tun, dann regle sich schon alles von selbst.

 

«Wie groß sind eigentlich deine ersten Kinder?» frage ich Charly, und Charly rät sich unter dem klingenden Gelächter seiner zweiten Frau durch mögliche Altersangaben, manche Sachen kann er sich einfach nicht merken.

Der Sohn der Gastgeber trampelt ins Zimmer, Charly weist ihn hinaus, das Baby darf nicht gestört werden. Die Gastgeberin und ihr Sohn verlassen den Raum. Man unterhält sich mittlerweile über eine Ausstellung, Charly redet kaum mit, er ist damit beschäftigt, seine Zweier im Nacken zu kraulen und mit kleinen Häppchen zu füttern.

 

Charly ist jetzt wieder clean, schon seit ein paar Jahren, aber er schaut noch immer ein bißchen aus wie einer, der nach längerer Bettlägrigkeit erstmals Ausgang hat. Ich erinnere mich an die Aufregung, als seine Einser den Stoff entdeckte. Charly hat nichts ausgelassen seinerzeit. Schulden, zuschanden gefahrene Autos, fristlose Entlassung, Freundinnen, die mit Selbstmord drohten. Charly, diese unansehnliche Maus, war eine wilde Hummel. Wenn ich wissen wollte: «Was finden die Frauen bloß an dem?» dann sagte Charlys bester Freund Nick: «Schau dir doch an, welche Frauen was an ihm finden, die Welt ist halt voller einsamer, gebrochener Herzen.»

Heute scheint Charly endlich zu halten, was seine Unscheinbarkeit früher trügerischerweise nur verhieß. Charly wirkt erstmals dankbar. Seine perlzähnige Blonde wird schon wissen, was sie an einem müdegezausten Altspatzen hat, auch wenn sie so aussieht, als ob sie der Taube auf dem Dach noch nicht hätte entsagen müssen. Fragt sich nur, ob Charlys resignative Zahmheit ein Dauerzustand bleibt.

 

Das gastgeberische Kind wagt sich abermals herein, Charly zuckt leidend zusammen, obwohl sein Säugling eh schon vorher angefangen hat zu maunzen; dem Gastgeber gehen die Nerven durch, und er gebietet seinem Sproß mit harschen Worten ein leiseres Auftreten. Das gastgeberische Kind ist zu Recht empört, es stampft, sein Vater brüllt, Charlys Säugling brüllt, Gastgebers verlassen mit ihrem protestierenden Sohn den Raum. Charly kost das Baby, seine Zweier erklärt mit sanfter Stimme, wie froh sie ist über das gute Verhältnis zwischen Charly und ihrem und Charlys Ableger, mit einem autoritären Vater könnte sie nicht leben.

Charlys Zweier führt Charlys resignative Zahmheit, auch im Umgang mit dieser vorläufig letzten und relativ späten Frucht seiner geschundenen Lenden, auf die wahre Liebe