Professor Zamorra 1107 - Andreas Balzer - E-Book

Professor Zamorra 1107 E-Book

Andreas Balzer

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Beschreibung

Immer noch ist der Absurz des "Höllenflugs" 1402 ein Geheimnis. Nur Zamorra weiß, was es damit auf sich hatte. Doch andere sind darauf aus, es aufzudecken - und tatsächlich wird das Wrack gefunden! Doch statt den Fall abzuschließen, muss Zamorra mit seinen Leuten und "Iron Will" vom CIA jetzt eine Bedrohung ausschalten, die er in den Tiefen des Meeres verschlossen glaubte ...

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Inhalt

Cover

Impressum

Tod auf dem Gelben Meer

Leserseite

Vorschau

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

© 2016 by Bastei Lübbe AG, Köln

Verlagsleiter Romanhefte: Dr. Florian Marzin

Verantwortlich für den Inhalt

Titelbild: Arndt Drechsler

Datenkonvertierung E-Book: Blickpunkt Werbe- und Verlagsgesellschaft mbH, Satzstudio Potsdam

ISBN 978-3-7325-3854-6

www.bastei-entertainment.de

Tod auf dem Gelben Meer

von Andreas Balzer

Bruno knackte seine dritte Bierdose in dieser Schicht und starrte gelangweilt auf die Monitore. Sie zeigten nur trübes Wasser und den schlammigen Meeresgrund. An einem kleinen Arbeitstisch im hinteren Teil der Brücke saß Benjamin Fogler, der Bergungsspezialist der Mission, und wertete die aktuellen Sonardaten aus. Seine finstere Miene sprach Bände.

Seit gut einem Jahr suchte dieSea Hawkim Gelben Meer nach einer Spur von Flug 1402. Gefunden hatten sie nur Müll und Sand.

Bruno, Erster Offizier des getarnten Bergungsschiffes, seufzte und trank einen großen Schluck Bier. Noch zwei Stunden bis zum Schichtende. Er konnte es kaum erwarten.

Dann schlug das Sonar an.

Und die Katastrophe nahm ihren Lauf …

Das Gelbe Meer ist ein auf den ersten Blick eher unspektakulärer Bereich des Pazifischen Ozeans. Umgeben von China und Korea, misst es von West nach Ost 700 Kilometer und von Nord nach Süd 960 Kilometer. Die durchschnittliche Tiefe beträgt gerade mal 44 Meter.

Hier ein Objekt von der Größe einer Boeing 777 zu verlieren, ist so gut wie unmöglich. Vor allem, wenn die Absturzkoordinaten weitgehend bekannt sind.

Trotzdem hatte das Team der Sea Hawk über ein Jahr gebraucht, um eine konkrete Spur von Flug 1402 zu finden. Was sicher auch daran lag, dass dieses Randmeer des Pazifiks keineswegs so unspektakulär war, wie es den Anschein hatte. Auch wenn alle offiziellen Stellen sich bisher geweigert hatten, das Phänomen zu kommentieren, ja überhaupt nur seine Existenz anzuerkennen, hatte es vor gut einem Jahr allerlei Auffälligkeiten in der Region gegeben. Technische Geräte spielten verrückt, das Wetter schlug bizarre Kapriolen, Fischerboote und Sportflugzeuge verschwanden spurlos. In Einzelfällen wurden Mitglieder der verschollenen Besatzungen nach einigen Tagen im Meer treibend aufgefunden, oder sie tauchten ohne jede Erklärung an ihrem Heimatort wieder auf. Doch die Rückkehrer hatten sich verändert. Sie erzählten wirre Geschichten über Götter, die sie in ihren roten Himmel geholt hätten, und verfügten über unerklärliche Kräfte.

Der dramatische Höhepunkt dieser Reihe mysteriöser Ereignisse war der Verlust von Flug 1402.[1] Die Maschine der französischen Airline NewWorlds war auf dem Weg von Paris nach Tokio mit 368 Passagieren und elf Besatzungsmitgliedern an Bord westlich von Korea plötzlich vom Radar verschwunden. Kurz darauf wurden die ersten Trümmer im Meer entdeckt.

Bis dahin war die Geschichte tragisch, aber kaum besonders ungewöhnlich. Flugzeuge stürzten ab, Menschen starben. Das war schrecklich, aber vermutlich der Preis, den die Menschheit für den Fortschritt zu zahlen hatte.

Wirklich bizarr wurde es erst, als die verloren geglaubte Boeing zwei Tage nach dem vermeintlichen Unglück genau dort, wo sie angeblich abgestürzt war, auf spektakuläre Weise auf dem Meer notwasserte. Fast alle Passagiere und immerhin drei Besatzungsmitglieder waren, abgesehen von kleineren Verletzungen, wohlauf. Doch 19 Personen waren und blieben verschwunden – darunter die beiden Piloten. Mysteriöserweise konnte sich keiner der Überlebenden daran erinnern, was nach dem Start passiert war und wer die Maschine sicher gelandet hatte.

Die Ermittler verzweifelten bei dem Versuch herauszufinden, was an diesen beiden Tagen an Bord vorgefallen war und wieso sich das Flugzeug so lange in der Luft hatte halten können. Schließlich gaben sie es auf. Offiziell war der Fall noch nicht abgeschlossen, doch de facto wusste jeder, dass dieses Rätsel wohl auf ewig ungelöst bleiben würde. Genau wie die Frage, um was es sich bei den vermeintlichen Überresten von Flug 1402 gehandelt hatte, die sich in einer Lagerhalle in der südkoreanischen Hafenstadt Mokpo einfach in Luft aufgelöst zu haben schienen. Und zwar genau in dem Moment, als die vermisste Boeing 777 die Wolkendecke durchbrach und aufs Meer zuraste.

Die Besatzung der Sea Hawk musste nicht darüber spekulieren, was mit Flug 1402 passiert war. Die NewWorlds-Maschine war vom Kapitän bewusst mitten ins Zentrum einer räumlich und zeitlich höchst instabilen Zone geflogen worden, die für alle unerklärlichen Phänomene in der Region verantwortlich war. Es war ein Selbstmordkommando mit einem klaren Ziel: mehr über die Anomalie und ihre Beherrschbarkeit herauszufinden.

Dabei spielte ein Passagier eine zentrale Rolle. Der französische Parapsychologe Professor Zamorra besaß eine mächtige Waffe, ein aus der Kraft einer entarteten Sonne geformtes Amulett. Zamorra war unter einem Vorwand an Bord gelockt worden, um zu testen, wie Merlins Stern auf die Anomalie reagierte und ob sich die in ihr tobenden Kräfte mit der Silberscheibe kontrollieren ließen.

Die Ergebnisse waren atemberaubend gewesen, doch es war nicht gelungen, Zamorra das Amulett abzunehmen. Die Mission war daher letztlich gescheitert, aber immerhin hatte sie ein paar wertvolle Erkenntnisse gebracht. Und vielleicht hatte Flug 1402 sogar etwas aus der Anomalie zurückgebracht, das als vollwertiger Ersatz für Merlins Stern dienen konnte.

Doch dazu musste man das Wrack erst einmal finden. Was sich als schwieriger erwies, als man angesichts des recht überschaubaren Gebiets hätte erwarten können. Die Boeing 777 hatte sich stundenlang im Zentrum der Anomalie befunden und war vollgesogen mit den dort herrschenden magischen Energien, die alle Mess- und Suchgeräte verrücktspielen ließen.

Hinzu kam das Problem der Überwachung. Das Gelbe Meer lag in einer der spannungsreichsten Regionen der Welt. Nord- und Südkorea und ihre Verbündeten, allen voran die Volksrepublik China und die USA, beobachteten mit Argusaugen, was in diesem Teil Asiens vor sich ging.

Und dann gab es noch William »Iron Will« Cummings, Leiter einer streng geheimen CIA-Einheit, die auf die Bekämpfung paranormaler Phänomene spezialisiert war. Die Männer auf der Sea Hawk wussten, dass Cummings an der Rettung der Passagiere von Flug 1402 maßgeblich beteiligt war. Und sie waren sich sicher, dass er die Region ebenso im Auge behalten würde.

Also mussten sie warten, bis die Aufmerksamkeit des CIA-Mannes etwas nachließ. Die Sea Hawk war vollgestopft mit modernster Bergungs- und Überwachungstechnologie. Doch nach außen hin war sie nur eine harmlose Luxusjacht, die ihre millionenschwere Klientel zwischen China, Japan und Korea hin und her schipperte. Ihr Kapitän war ein vollbärtiger Korse namens Gilles Dupré, der seit vielen Jahren in Vietnam lebte. Seine Besatzung bestand aus einigen der besten Seeleuten, Militärexperten und Bergungsspezialisten, die für nicht ganz legale Unternehmungen auf dem Markt zu haben waren.

Es war eine lange, anstrengende Suche gewesen, auch wenn Dupré und seine Männer nach außen hin den Anschein erweckten, bei den Vergnügungstouren für ihre angebliche Kundschaft eine ruhige Kugel zu schieben. Doch dann wurden sie fündig.

Der Kapitän hatte sich gerade mit einer Flasche jamaikanischen Rums in die Horizontale begeben, als jemand heftig gegen seine Tür hämmerte. Bevor der schon leicht angetrunkene Korse aufstehen konnte, wurde auch schon die Tür aufgerissen. Ein solch ungebührliches Verhalten wäre im Normalfall der Meuterei nahegekommen. Doch nicht in diesem Fall. »Wir haben es!«, japste sein Erster Offizier Bruno, ein sonst nicht aus der Ruhe zu bringender, bärbeißiger Belgier.

»Sicher?«, brummte Dupré. Es wäre nicht der erste Fehlalarm seit Beginn ihrer Mission gewesen, und der Kapitän hatte keine Lust, ihren Auftraggeber wegen eines verrosteten Wracks aus dem Koreakrieg zu belästigen. Monsieur B. reagierte nicht gut auf unnötige Störungen, das wusste Gilles Dupré aus eigener Erfahrung.

»Ganz sicher«, sagte Bruno und wischte sich mit einem siffigen Tuch den Schweiß von der Stirn. Offenbar war er die ganze Strecke von der Brücke bis zur Kapitänskajüte gerannt. »Fogler meint, die Sonardaten seien eindeutig. Von der Größe und der Form her kann es nichts anderes sein. Wir haben es gefunden. Wir haben es endlich gefunden!«

»Na, dann los!« Mit einer Beweglichkeit, die man dem nicht mehr ganz nüchternen Seebären kaum zugetraut hätte, war Dupré aus dem Bett. Er schlüpfte hastig in Hose und Schuhe und stürmte aus der Kajüte. Hemd und Jacke streifte er im Laufen über. Als Letztes folgte die obligatorische Kapitänsmütze.

»Worauf warten Sie?«, rief er seinem Ersten Offizier über die Schulter zu. »Wenn Monsieur B. recht hat, stehen wir unmittelbar davor, Geschichte zu schreiben. Wollen Sie das verpassen?«

***

Kapitän Dupré starrte mit einer für ihn völlig unüblichen Anspannung auf die Monitore. Die Bildschirme zeigten aus mehreren Perspektiven den aus der Dunkelheit gerissenen Meeresboden. Die Livebilder stammten von einer unbemannten Tauchsonde. Der sandige Grund lag einsam und verlassen da, wie man es erwarten sollte. Nur ab und an geriet ein irritierter Fisch ins Scheinwerferlicht und suchte schleunigst das Weite.

»Wir sind bei 48 Metern«, sagte Benjamin Fogler, der Bergungsspezialist, und fügte unnötigerweise hinzu: »Ideal für unsere Taucher.«

Gilles Dupré kannte diese Meeresregion wie seine Westentasche, und er wusste natürlich, dass das Tauchen bis zu 50 Metern Tiefe als vergleichsweise ungefährlich galt. Sie hatten auch Panzertauchanzüge für größere Tiefen an Bord, aber Froschmänner konnten sich viel freier bewegen als Taucher in starren Anzügen. Und das war bei dem, was sie vorhatten, ein großer Vorteil.

Das Piepsen des Sonars wurde lauter und zeigte, dass das, was sie suchten, unmittelbar vor ihnen lag. Dupré hielt unwillkürlich den Atem an. Hätte er an einen Gott geglaubt, hätte er ihm auf Knien dafür gedankt, dass sich der Beinahe-Absturz in diesem Teil der Welt zugetragen hatte und nicht an einer Stelle, an der das Meer Kilometer tief und voller Gräben war.

»Ich glaub’s nicht«, murmelte Bruno neben ihm und zündete sich eine Zigarette an. »Ein Jahr ergebnislose Rumsucherei, und endlich haben wir’s. Darauf wird erst mal ein Fässchen aufgemacht.«

»Nichts überstürzen«, erwiderte Dupré. »Die eigentliche Arbeit kommt erst noch.«

»Da kommt was!«, rief der Techniker, der die Tauchsonde bediente. Und dann sahen sie es alle. Die Scheinwerfer erfassten ein massives Stück Metall. Zuerst sahen sie im trüben Wasser nur die Heckflosse, doch in rasender Geschwindigkeit schälte sich das gesamte Flugzeug aus der Dunkelheit heraus. Ruhig glitt der Tauchroboter über die gut 60 Meter lange Boeing 777 hinweg. Das NewWorlds-Logo war deutlich zu erkennen. Die Maschine hatte bei ihrem Flug durch die Anomalie und die absturzähnliche Notwasserung erheblichen Schaden erlitten. Die Triebwerke schienen regelrecht explodiert zu sein. Doch der Rumpf war immer noch intakt.

Gut, dachte Dupré. Das würde ihre Arbeit erheblich erleichtern.

Die Sonde hatte den Bug des Wracks erreicht und drehte um, um das Flugzeug auch noch von der anderen Seite in Augenschein zu nehmen.

»Die Taucher sollen sich fertigmachen, wir gehen runter, sobald die Sonne aufgeht«, rief Dupré in die atemlose Stille hinein. »Die Sektkorken können wir später knallen lassen. Jetzt müssen wir erst mal was tun für unser Geld!«

***

Lausanne, Schweiz23.43 Uhr

Das luxuriöse Anwesen am Genfer See lag in völliger Stille und Dunkelheit vor ihr. Chin-Li justierte ihr Nachtsichtfernglas, zoomte das Hauptgebäude näher heran und nahm jedes Fenster noch einmal einzeln in Augenschein. Nichts.

So weit, so gut.

Sebastian Bélanger, der milliardenschwere Inhaber der französischen Fluggesellschaft NewWorlds, hatte das Gelände am Nachmittag verlassen und war von seinem Chauffeur zum Flughafen Lausanne-Blécherette gebracht worden. Von da aus hatte ihn seine private Gulfstream G280 nach Paris geflogen, wo er in diesem Moment eine kurzfristig einberufene Sitzung in der Firmenzentrale leitete. Es war Bélangers erster Besuch in der Zentrale seit über einem Jahr. Der erste seit Flug 1402.

In Lausanne zurückgeblieben waren nur die Haushälterin, die Köchin und ein Gärtner. Die Frauen waren inzwischen offenbar schlafen gegangen. Der Gärtner wohnte mit seiner Familie in einem Vorort von Lausanne und hatte das Anwesen gegen 20 Uhr verlassen. Seit einer Stunde hatte es kein Licht und keine sichtbare menschliche Aktivität auf dem Gelände gegeben. Sollte es noch mehr Personal geben, vielleicht sogar bewaffnete Wächter, so wären sie Chin-Lis Aufmerksamkeit völlig entgangen.

Möglich – aber extrem unwahrscheinlich. Dafür gab es Alarmanlagen und vier Rottweiler, die der chinesischen Kriegerin jedoch kein größeres Kopfzerbrechen bereiteten. Schwieriger fand sie die speziellen Schutzvorrichtungen, die Bélanger und seine Leute installiert hatten. Magie war nicht ihr Fachgebiet, und Chin-Li hasste es, sich bei einem lebenswichtigen Teil einer Operation auf andere verlassen zu müssen. Selbst, wenn es jemand so zuverlässiges war wie Gryf ap Llandrysgryf.

Chin-Li sah auf die Uhr. 23.46 Uhr. Es brachte nichts, noch länger zu warten. Die Chinesin konzentrierte ihre Gedanken auf Gryf.

Ich gehe rein.

Okeydokey, erwiderte ein unangemessen heiterer Silbermond-Druide. Gryf war der Telepath der beiden und hatte die Gedankenverbindung die ganze Zeit aufrechterhalten, um jederzeit auf Empfang zu sein. Und sieh zu, dass du möglichst schnell diesen Scheiß wegwischst, damit ich zu dir stoßen kann. Das wäre ja noch schöner, wenn du den ganzen Spaß für dich alleine hättest.

Gryfs Unbekümmertheit angesichts einer so wichtigen Mission empfand Chin-Li als im höchsten Maße unprofessionell – und als durchaus sexy, wie sie sich widerwillig eingestehen musste.

Genau das war der Grund, warum die attraktive Mittdreißigerin mit der fast knabenhaften Figur und der modischen Kurzhaarfrisur lieber allein arbeitete. Jeder zwischenmenschliche Kontakt war eine Ablenkung. Und Ablenkungen brachten einen um. So einfach war das.

Chin-Li verstaute das Nachtsichtfernglas in einer Seitentasche ihres schwarzen Overalls und ließ sich von dem Baum fallen, auf dem sie die letzten Stunden verbracht hatte. Sie kam katzengleich auf und ging hinter dem dicken Stamm in Deckung.

Das weitläufige Anwesen war von einer etwa zweieinhalb Meter hohen Mauer umgeben, die an die Küstenstraße und einen kleinen Wald grenzte. Im Schutz der Dunkelheit pirschte sich die Chinesin an die Umgrenzung heran. Sie wusste, dass sie jederzeit auf einen Alarmsensor oder eine Mine treten konnte, doch das Risiko musste sie eingehen.

Doch nichts geschah. Chin-Li ging davon aus, dass sich die eigentlichen Schutzvorrichtungen hinter der Mauer befanden. Bélanger würde es nicht riskieren, dass ein harmloser Pilzsammler oder ein neugieriger Reporter, der das Anwesen von außen beobachtete, zu Schaden kam. Das würde nur für unnötige Aufmerksamkeit sorgen.

Die Chinesin presste sich an die Mauer und holte eine Spezialpistole hervor, die ihr schon öfter wertvolle Dienste geleistet hatte. Sie zielte auf einen imaginären Punkt wenige Zentimeter über der Mauerkrone und drückte ab. Mit einem fast unhörbaren Zischen schoss ein mit Widerhaken versehener Metallpfeil aus der Pistole, an dem ein reißfestes Nylonseil befestigt war. Chin-Li wartete, bis das Geschoss auf der anderen Seite ins Gras fiel. Dann zog sie an dem Seil, bis die Widerhaken Halt fanden.

Rasch erklomm sie die Mauer. Chin-Li ließ sich zu Boden fallen, kam sicher auf allen vieren auf und drückte sich wieder gegen die Steinwand. Niemand schien ihr Eindringen bemerkt zu haben. Also weiter. Akribisch suchte sie im fahlen Mondlicht das Mauerwerk ab, bis sie gefunden hatte, was sie suchte. Ein kryptisches Kreidesymbol, dessen Anblick ausreichte, um ihr einen Schauer über den Rücken zu jagen. Die Chinesin hatte keine Ahnung, was das Zeichen bedeutete, aber es stammte eindeutig aus der Welt des Bösen. Daran ließ die unheilvolle Aura, die es umgab, keinen Zweifel.

Die Kriegerin zog ein Tuch aus der Hosentasche und verwischte die Kreide. Sie trug Lederhandschuhe, schwarz wie ihr Overall, trotzdem hatte sie das Gefühl, ihre Nervenbahnen würden Feuer fangen. Als das Symbol nicht mehr zu erkennen war, endete der Schmerz abrupt.

Ähnliche Kreidezeichnungen würden sich rund um das gesamte Anwesen finden lassen. Doch die Zerstörung eines einzigen Symbols reichte aus. Hoffentlich.

Aus der Ferne sah Chin-Li zwei Schatten auf sich zujagen. Rottweiler. Sie schob die Druckluftpistole zurück ins Holster und zog stattdessen den E-Blaster aus der Waffenkammer des Zamorra-Teams.

Kannst du mich hören?

Die Frage hatte sie wieder nur in Gedanken gestellt, doch die Antwort kam prompt.

Laut und deutlich, meine mandeläugige Schönheit.

Gryfs Stimme klang so nah, als spräche ihr der Silbermond-Druide direkt ins Ohr.

Ich hasse es, wenn du in meinem Kopf bist.

-Du hast sowieso ein Problem mit Nähe, meine Liebe.

Lenk nicht vom Thema ab. Der Weg müsste frei sein …

-Sonst irgendwelche Probleme?

Zwei Rottweiler. Nähern sich schnell. Zehn und zwei Uhr.

Die Hunde hatten sie fast erreicht. Chin-Li ging in Abwehrposition.

-Warum sagst du das nicht gleich?

Aus dem Nichts tauchte der Silbermond-Druide neben ihr auf, packte ihren rechten Arm und nahm sie mit in den zeitlosen Sprung. Die Hunde konnten nicht mehr abbremsen, als sich die beiden Menschen vor ihnen in Luft auflösten, und prallten gegen die Mauer.

Als sie wutschnaubend herumfuhren, sahen sie Chin-Li und Gryf drei Meter von der Stelle entfernt, an der sie verschwunden waren. Die beiden Eindringlinge hatten ihre Blaster auf die Rottweiler gerichtet und feuerten in dem Moment, als sich die Hunde auf sie stürzen wollten. Mit einem trockenen Knacken schossen bläuliche, sich verästelnde Blitze aus den Abstrahlpolen der Energiewaffen hervor, und die Tiere brachen betäubt zusammen.

»Nettes Begrüßungskomitee«, murmelte Gryf.

»Es gibt noch zwei weitere Hunde auf dem Gelände.«

»Dann sollten wir uns nicht allzu lange hier aufhalten.«

Gryf ergriff wieder Chin-Lis Arm und sprang mit ihr zu der dunkel vor ihnen liegenden Villa. Der Silbermond-Druide musste einen Ort oder eine Person anpeilen, um sich ohne Zeitverlust von einem Ort zum anderen teleportieren zu können. Da er das Innere des Hauses nicht kannte, brachte er sie sicherheitshalber zunächst zu einem der großen Wohnzimmerfenster. Der geschmackvoll, aber äußerst karg eingerichtete Raum war unbeleuchtet, aber im Mondlicht gut zu erkennen. Niemand befand sich darin.

Nach einem weiteren Sprung befanden sie sich mittendrin. Chin-Li und Gryf rissen ihre Waffen hoch, doch niemand griff sie an. Die beiden Einbrecher nickten sich stumm zu und trennten sich.

Mit der Waffe im Anschlag schlich Chin-Li eine Treppe hinauf, von der sie annahm, dass sie zu den Räumen des Personals führte. Wie sie vermutet hatte, gab es im Haus selbst keine Alarmanlagen oder sonstigen Sicherungen. Der Eigentümer und seine Bediensteten mussten sich schließlich frei bewegen können.

Oben angelangt machte die Chinesin kurz halt und lauschte. Nichts. Von dem kleinen Flur gingen drei Zimmer ab. Lautlos bewegte sich die Kriegerin über den Gang und öffnete die linke Tür. Die hagere, nicht mehr ganz junge Haushälterin lag in ihrem Bett und schlief, dem rasselnden Schnarchen nach zu urteilen, tief und fest. Ohne zu zögern hob Chin-Li den Blaster und schoss. Die blauen Blitze umhüllten die Frau, deren natürlicher Schlaf nahtlos in eine tiefe Bewusstlosigkeit überging. Sie würde am nächsten Morgen vermutlich kräftig verschlafen.

Chin-Li nahm sich den nächsten Raum vor und betäubte auch die Köchin. Zur Sicherheit überprüfte sie auch den dritten Raum, der aber nur als Arbeitsraum zum Bügeln und Nähen diente.

Sie nahm wieder die Treppe und fand Gryf im Arbeitszimmer des NewWorlds-Inhabers, wo er sichtlich gelangweilt einige Aktenordner durchging.

»Hier ist nichts, nur ein paar Rechnungen und belanglose Geschäftsbriefe.«

»Computer?«

»Habe ich dir überlassen, meine Lotushackerin.«

Chin-Li nickte. Seit sie vor etlichen Jahren Sicherheitschefin eines größeren Unternehmens in L.A. gewesen war, kannte sie sich mit Computern einigermaßen aus.

Sie setzte sich an den Schreibtisch und holte ein schwarzes Kästchen aus ihrer Tasche, für das die meisten Cyberkriminellen der Welt getötet hätten. Gebaut hatte es der brillanteste Datendieb Hongkongs, der ab und zu Aufträge für die Bruderschaft der Neun Drachen erledigte. Die unscheinbare Box, an der nur ein schlichtes Bedienfeld mit wenigen Tasten und ein paar Leuchtdioden angebracht waren, war ein persönliches Geschenk des jungen Mannes, den die asiatische Hackercommunity als The Big C verehrte.