Pros & Cons: Carson - A.E. Wasp - E-Book

Pros & Cons: Carson E-Book

A. E. Wasp

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Beschreibung

Fünf Aufträge. Fünf Chance auf Wiedergutmachung. Eins ist sicher: Diese Männer sind keine Engel. Mein Name? Nennt mich Carson Grieves. Ich bin Trickbetrüger, Hochstapler und ein vollendeter Schwindler. Die größten Lügen sind die, die ich mir selbst erzähle. Zum Beispiel, dass ich ein starker, unabhängiger Krimineller bin, der keinen Mann braucht. Doch so ist es nicht. Um genauer zu sein, brauche ich einen bestimmten Mann: Eric Smallman. Meine erste und einzige große Liebe. Den Kerl, der mir das Herz gebrochen hat und mit dem ich seit fünfzehn Jahren kein Wort mehr gewechselt habe. Auftrag Nummer vier für Charlies Jungs liegt in meiner Hand, und meine Aufgabe besteht darin, Eric zurückzugewinnen. Oder, wie Breck es ausdrückt: Mission »Carson flachlegen lassen«. Charlie hat die anderen erpresst, damit sie nach seiner Pfeife tanzen. Was er gegen mich in der Hand hat, wiegt jedoch schwerer als Erpressung: Schuldgefühle. Selbst aus dem Grab heraus glaubt der Mistkerl noch, dass er über mein Leben bestimmen kann und weiß, was das Beste für mich ist. Es gibt nur ein Problem: Um Eric davon zu überzeugen, mit mir zu reden und mir noch eine Chance zu geben, muss ich reinen Tisch machen, meine Seele entblößen und mein Herz aufs Spiel setzen. Na, wenn es weiter nichts ist …

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A. E. WASP

PROS & CONS: CARSON

PROS & CONS 4

Aus dem Amerikanischen von Anne Sommerfeld

Über das Buch

Mein Name? Nennt mich Carson Grieves. Ich bin Trickbetrüger, Hochstapler und ein vollendeter Schwindler. Die größten Lügen sind die, die ich mir selbst erzähle. Zum Beispiel, dass ich ein starker, unabhängiger Krimineller bin, der keinen Mann braucht.

Doch so ist es nicht.

Um genauer zu sein, brauche ich einen bestimmten Mann. Eric Smallman. Meine erste und einzige große Liebe. Den Kerl, der mir das Herz gebrochen hat und mit dem ich seit fünfzehn Jahren kein Wort mehr gewechselt habe.

Auftrag Nummer vier für Charlies Jungs liegt in meiner Hand, und meine Aufgabe besteht darin, Eric zurückzugewinnen. Oder, wie Breck es ausdrückt: Mission »Carson flachlegen lassen«.

Charlie hat die anderen erpresst, damit sie nach seiner Pfeife tanzen. Was er gegen mich in der Hand hat, wiegt jedoch schwerer als Erpressung: Schuldgefühle. Selbst aus dem Grab heraus glaubt der Mistkerl noch, dass er über mein Leben bestimmen kann und weiß, was das Beste für mich ist.

Es gibt nur ein Problem: Um Eric davon zu überzeugen, mit mir zu reden und mir noch eine Chance zu geben, muss ich reinen Tisch machen, meine Seele entblößen und mein Herz aufs Spiel setzen.

Na, wenn es weiter nichts ist …

Über die Autorin

Amy Wasp ist eine geborene Träumerin und Idealistin. Nachdem sie ihre Kinder großgezogen, verschiedene College-Abschlüsse erworben und die Welt im Dienst des US-amerikanischen Außenministeriums bereist hat, widmet sie sich jetzt wieder ihrer ersten großen Liebe, dem Schreiben.

Am liebsten schreibt sie über Menschen, die in einer einsam erscheinenden Welt Liebe und Zuversicht finden. Dabei zeigt sie ihre Figuren gern von ihrer verletzlichsten Seite, mit all den Hoffnungen und Ängsten, die auch ihre Leserinnen und Leser kennen.

Amy hat in Großstädten und kleinen Dörfern auf vier Kontinenten gelebt und dabei festgestellt, dass Zeit und Entfernung keine Hindernisse für die Liebe sein müssen.

Die englische Ausgabe erschien 2020 unter dem Titel »Pros & Cons of Betrayal« bei Kelpie Press.

Deutsche Erstausgabe September 2021

 

© der Originalausgabe A. E. Wasp

© Verlagsrechte für die deutschsprachige Ausgabe 2021:

Second Chances Verlag, Inh. Jeannette Bauroth,

Eisenbahnweg 5, 98587 Steinbach-Hallenberg

 

Alle Rechte, einschließlich des Rechts zur vollständigen oder auszugsweisen Wiedergabe in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Alle handelnden Personen sind frei erfunden, Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

 

Umschlaggestaltung: AngstyG

Umschlagmotiv: iStock

Lektorat: Annika Bührmann

Korrektorat: Julia Funcke

Satz & Layout: Second Chances Verlag

 

ISBN: 978-3-948457-38-9

 

www.second-chances-verlag.de

Inhaltsverzeichnis

Titel

Über die Autorin

Impressum

Die Akteure

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Epilog

Danksagung

Weitere Bücher von A.E. Wasp

DIE AKTEURE

DIE STRIPPENZIEHER

Charlie Bingham (45) – verstorben. Hochstapler, Dieb, Erpresser, Informationsbroker und vermutlich noch so einiges mehr. Ein echt nerviger Typ.

Miranda Bosley (42) – Rechtsanwältin. Charlies Nachlassverwalterin. Wahrscheinlich Charlies beste Freundin.

Josie DuPont (Alter unbekannt, da sie es nicht preisgibt) – Charlies Mitarbeiterin. Mysteriöse Dame von Welt. Versteht sich als Ersatzmutter der Jungs (sogar von Leo).

Der interessierte Freund (?) – eine körperlose Stimme am Telefon. Scheint über alle Geschehnisse auf dem Laufenden zu sein. Spricht nur mit Leo. Möchte Al genannt werden.

 

 

DIE JUNGS

Leo Shook (45) – Special Agent beim FBI. Beurlaubt aus nicht näher bekannten Gründen. Spezialist für Charlie Bingham. Laut eigenen Angaben inzwischen hauptsächlich Babysitter und offizieller Erwachsener der Truppe. Codenamen: Silberfuchs, Big Daddy.

Castille (Steele) Alvarez (30) – Close Protection Specialist (Bodyguard). Taktiker. Ex-Army-Ranger. Bezeichnet sich selbst als Sumpfratte aus Georgia. Wird häufig unterschätzt und nutzt das zu seinem Vorteil. Codename: Rusty.

Carson Grieves (Alter unbekannt) – Meister der Täuschung und des Betrugs. Hochstapler. Diesmal Anführer der lustigen Gesellen. Früher Emo-Teenager. Bekannte Alias: J. Benjamin Waters junior, Peter Nobocook. Codename: Chaney.

Ridge Pfeiffer (21) – Dieb. Nicht sehr gesprächig. Experte für das Knacken traditioneller Safes und Schlösser. Fassadenkletterer und Einbrecher. Codenamen: Spidey, Tweedledum.

Wesley Bond (27) – Hacker und Social Engineer. Kämpfer für soziale Gerechtigkeit. Codenamen: Neo, Zero.

 

 

DIE ARMEN KERLE, DIE IN DEN SCHLAMASSEL MIT REINGEZOGEN WURDEN

Breck Pfeiffer (21) – erster Auftritt in »Pros & Cons: Steele«. Ridges Zwillingsbruder. Opfer des Mannes, der das Ziel eines von Charlies Aufträgen war. Ex-Collegestudent, Ex-Escort-Boy. Mit Steele zusammen. Codenamen: Undercover Lover, Tweedledee.

Danny Munroe (20) – erster Auftritt in »Pros & Cons: Steele«, spielt eine Hauptrolle in »Pros & Cons: Wesley«. Carsons Protegé, ehemaliger Wettkampfschwimmer. Wurde wegen seiner Homosexualität von seiner Familie in Illinois aus dem Haus geworfen, lebte eine Zeit lang auf der Straße. Hat Breck in D. C. kennengelernt, wo sie beide Opfer desselben Mannes wurden. Hat Wesley um den kleinen Finger gewickelt. Codenamen: Arm Candy, Speedy.

Davis Ethan (30) – erster Auftritt in »Pros & Cons: Wesley«, spielt eine Hauptrolle in »Pros & Cons: Ridge«. Ehemaliger Agent beim Diplomatic Security Service. Milliardär. Stratege. Ridge hat sein Herz gestohlen. Codename: Ducky (als Kurzform für Dagobert Duck).

Eric Smallman (31) – erster Auftritt in »Pros & Cons: Carson«. Ehemaliger AHL-Eishockeyspieler. Carsons Jugendliebe und sein Stiefbruder (obwohl sie beide darauf beharren, dass das nicht zählt, weil sie bei der Hochzeit ihrer Eltern schon sechzehn waren). Sieht wie ein Wikinger aus. Kann einstecken wie ein Profi. Hat keine Ahnung, worauf er sich einlässt. Codename: Tiny.

 

PROLOG

EIN INTERESSIERTER FREUND

Die Ausrüstung eines Eishockey-Torwarts war weitaus schwerer, als ich gedacht hätte. Gab es heutzutage nicht dieses Weltraum-Material: härter als Stahl, leichter als Luft und so weiter und so fort? Eine Schar kleiner Spieler in wahllos zusammengestellter Ausrüstung musterte mich misstrauisch, als ich zum Tor watschelte.

»Kommt schon, Jungs«, sagte ich und schlug mit dem Schläger auf das Eis. »Zeigt mir, was ihr draufhabt.«

»Ich bin ein Mädchen«, antwortete eine Kleine mit einer Gesichtsmaske. In einer Hand hielt sie den Schläger, die andere hatte sie in die Hüfte gestemmt.

»Entschuldige. Kommt schon, Eisratten«, verbesserte ich. »Zeigt mir, was ihr draufhabt.«

Miranda glitt in einem perfekt gebügelten Trainingsanzug, mit Helm, Handschuhen und einem Schläger auf das Eis. Sie hatte eine Tasche mit Pucks bei sich. »Darf ich?«, fragte sie die winzige Meute.

»Die Stick-and-Puck-Zeit ist für Kinder«, meldete sich ein sehr mutiger Junge. Miranda hatte schon Männer eingeschüchtert, die dreimal so alt und doppelt so groß wie er gewesen waren.

»Fünf Minuten, dann gehört er ganz euch«, antwortete sie mit einem gewinnenden Lächeln, das irgendwie furchteinflößender war als ihr finsterer Blick.

»Unsere Eltern haben für die Eiszeit bezahlt«, fuhr er fort und legte herausfordernd den Kopf schief.

Miranda verengte die Augen und schnalzte mit der Zunge. »Okay.« Sie stemmte die Hände in die Hüften. »Wie wäre es, wenn ich euch allen im Anschluss ein Eis kaufe, wenn ihr mich spielen lasst?«

Der mutige Junge und das Mädchen berieten sich leise. Sie nickte. »Okay«, sagte der Junge. »Fünf Minuten.«

»Ehrenwort«, versprach ich.

Miranda grinste mich boshaft an und ließ die Pucks aufs Eis fallen. »Bereit?«

Ich ging leicht in die Hocke. »Fang an.«

Daraufhin schoss sie in Höchstgeschwindigkeit Pucks in meine Richtung. Einigen von ihnen wich ich aus. Einen stoppte ich. Mehrere trafen mich. Hart. »Jetzt verstehe ich, warum du das machen wolltest: damit du mich ungestraft mit Dingen bewerfen kannst.«

»Ich wollte dich schon lange mit Dingen bewerfen.« Sie schoss einen zwischen meine Beine, ich zuckte zusammen und hielt mir eine behandschuhte Hand vor den Schritt. Der Puck schlug gegen den Pfosten und prallte klirrend davon ab.

»Verdammt, Randa.«

»Ist ja nicht so, also würdest du sie benutzen.«

»Also wirklich!« Wacklig fuhr ich hinter das Netz, um den Puck zu holen, aber irgendein Teenager rauschte an mir vorbei und hob ihn auf.

»Hältst du das immer noch für eine gute Idee?«, fragte Miranda.

»Dich Pucks auf mich schießen zu lassen? Nein. Den Job ja. Er ist eine tolle Idee«, antwortete ich. »Er ist ein Kinderspiel mit einer zusätzlichen Familienversöhnung für Carson. Praktisch ein Urlaub.«

»In La Crosse. Nichts für ungut«, fügte sie für die zusehenden Kinder hinzu. »Willst du mal?«, fragte sie das Mädchen.

»Ja, bitte, Ma’am.«

Miranda winkte sie in die Angriffszone.

»Mach La Crosse nicht runter, es ist eine nette Stadt. Sie ist hübsch. Sie haben den Mississippi. Und das Oktoberfest! Das ist riesig.« Das Mädchen zielte mit seinem Schuss auf die Stelle zwischen meinen Beinen, und ich ließ mich im Butterfly-Stil auf die Knie sinken, die Unterschenkel nach außen gespreizt, um ihn zu blocken. Das würde morgen wehtun. Blitzschnell umfasste sie den Schläger anders und schoss den Puck gekonnt in die obere rechte Ecke. »Gut gemacht, Owetschkina!«, rief ich.

Miranda klopfte mit dem Schläger auf das Eis, um den Schuss des Mädchens zu würdigen. »Verzeih mir, wenn ich deine Methoden infrage stelle, aber warum machen wir das jetzt? Wir müssen« – sie hielt inne und warf einen schnellen Blick auf die Kinder um sie herum – »einige ziemlich brisante Ereignisse untersuchen.« Mit einem Nicken bedeutete sie der Kleinen, zur Seite zu treten, und fuhr in einer eleganten Acht vor mein Tor, nachdem sie sich einen Puck genommen hatte. Ich war hypnotisiert wie das Kaninchen vor der Schlange. Nach einer schnellen Bewegung aus dem Handgelenk flog der Puck auf mein Gesicht zu. Verzweifelt riss ich die Hand nach oben, und der Puck schlug mit einem dröhnenden und befriedigenden Klatschen direkt in meinen Handschuh.

»Wuhuu! Ja!« Ich zeigte mit meinem Blocker auf sie. »Hab’s. Dir. Gezeigt!«

Wenig überraschend schoss sie zwei weitere Pucks in schneller Folge auf mich ab. »Warum sind wir hier?«

»Für Carson!«, antwortete ich und tänzelte, begleitet vom Gelächter der Kinder, aus dem Weg.

»Um Carsons willen«, sagte sie und hob eine Braue. Das konnte sie besser als jeder, den ich kannte.

Gelassen schaute ich ihr in die Augen. »Ja. Für Carson.«

Sie bedachte mich mit einem Blick und fuhr dann vom Eis, ohne sich noch einmal umzusehen.

»Das Eis gehört ganz euch!«, rief sie den Eishockey-Minis zu, als ich geringfügig weniger elegant hinter ihr herfuhr. Auf den Matten holte ich sie ein. »Carson ist allein. Und das sollte er nicht sein. Er hat eine Familie, Miranda. Eine wunderbare Familie, die ihn liebt. Er muss endlich die Augen aufmachen und die Dinge mit ihnen klären, bevor er vereinsamt stirbt und die einzigen Leute, die zu seiner Beerdigung auftauchen, FBI-Agenten und Menschen sind, die sich davon überzeugen wollen, dass er tot ist.«

Sie richtete sich auf, nachdem sie die Schoner auf ihre Schlittschuhkufen gesteckt hatte. Den Blick, den sie mir zuwarf, kannte ich nicht von ihr. Er war mitfühlend. Freundlich.

Er war mir unheimlich. »Sieh mich nicht so an. Ich weiß, was du denkst. Es ist überhaupt nicht dasselbe. Charlie hat bekommen, was er verdient hat. Er war kein netter Typ. Er hat jede Brücke abgerissen, über die er gegangen ist, und hat im ganzen Land eine Spur aus gebrochenen Herzen hinterlassen.« Daraufhin zog sie schon wieder die Braue hoch. »Okay, vielleicht keine Spur. Aber einige.«

Ihr Augenrollen brachte uns wieder auf vertrauten Boden zurück. Gott sei Dank.

Sie seufzte schwer, ein Geräusch, das ich mit ihrer Zuneigung für mich verband. »Okay. Schön. Josie und ich werden nachhelfen. Wir treffen uns draußen.«

* * *

Miranda blickte stirnrunzelnd auf ihr Handy, als ich zum Auto kam.

»Stimmt was nicht?«

Sie schüttelte langsam den Kopf. »Ich habe gerade eine E-Mail von einem meiner Kontakte in der FBI-Dienststelle in Miami bekommen.«

»Gute Neuigkeiten?«, fragte ich und grinste gezwungen.

Sie ignorierte mich gekonnt. Natürlich waren es keine guten Neuigkeiten. Das waren sie nie. »Wissen wir schon, wer es auf Leo abgesehen hat?«

Erneut schüttelte sie den Kopf. »Wir haben ein größeres Problem.«

»Ein größeres Problem, als dass Leos Wohngebäude in die Luft geflogen ist und Charlies Haus durchsucht wird?«

»Jemand versucht, einen Gerichtsbeschluss zu bekommen, um Charlies Leiche exhumieren zu lassen.«

»Exhumieren? Sie wollen Charlies Grab ausheben?« Unverschämt. Konnte ein Mann nicht mal mehr in Frieden ruhen?

»Scheint so.« Ihr Gesichtsausdruck war ungewöhnlich besorgt. Was nicht gut war. Ich war Zeuge gewesen, wie Miranda Vereinbarungen zwischen Regierungen und Waffenhändlern verhandelt und nicht so beunruhigt ausgesehen hatte.

»Hmm.« Ich tippte mit dem Wagenschlüssel auf das Autodach, während ich nachdachte. »Tja, dann müssen wir sie zuerst bekommen.«

»Was zuerst bekommen?«, fragte Miranda misstrauisch.

»Charlies Leiche«, antwortete ich und lächelte sie breit an.

Sie blinzelte langsamer als gewöhnlich. »Charlies tote und begrabene Leiche?«

»Genau die!« Ich konnte es mir praktisch vorstellen, Miranda und ich, ganz in Schwarz gekleidet, wie wir uns mitten in der Nacht mit Schaufeln über der Schulter auf den Friedhof schlichen, bereit für einen guten alten Grabraub.

Miranda trommelte mit ihren perfekt manikürten Nägeln im Gegenrhythmus zu meinem Klopfen auf das Autodach. Da sie ihren nachdenklichen Gesichtsausdruck aufgesetzt hatte, biss ich mir auf die Lippe, um nichts Dummes zu sagen, was für gewöhnlich meine instinktive Reaktion auf jegliches lang gezogene Schweigen war.

Das Trommeln hörte auf. »Wenn ich mich recht erinnere«, begann sie langsam, »hat Charlie mehrmals den Wunsch zum Ausdruck gebracht, eingeäschert zu werden. Ich bin sicher, dass diesem Wunsch von seinen Nachlassverwaltern entsprochen wurde.«

Ich nickte ernsthaft. »Ich bin sicher, dass sie es getan haben. Aber vielleicht sollten wir mal nachsehen, nur für den Fall?«

»Definitiv.« Sie stieg in ihr Auto.

Ich klopfte gegen das Beifahrerfenster und musste etwas energischer werden, da sie mich ignorierte. Miranda war zu kultiviert, um hörbar zu seufzen, aber ihre Aura seufzte eindeutig, als sie den Knopf drückte und das Fenster herunterließ. »Ja?«

»Was soll ich jetzt tun?«, fragte ich, denn ich hatte das Gefühl, ein wenig in der Luft zu hängen.

Ihr Grinsen zeigte Zähne und Wut. »Du stehst einfach rum und siehst hübsch aus.«

»Das kann ich«, antwortete ich.

»Und hältst dich bedeckt«, fügte sie hinzu.

»Miranda, ich kann nicht. Ich muss herausfinden, was los ist.«

»Nein.« Sie zeigte nachdrücklich mit einem ihrer perfekt manikürten Nägel auf mich. »Such dir irgendwo eine abgelegene Berghütte, und versteck dich.«

»Aber in Berghütten gibt es keine Pool-Boys«, wandte ich schmollend ein.

»Und trotzdem bin ich irgendwie sicher, dass du einen finden würdest. Ernsthaft, verzieh dich. Wenn ich dein Gesicht auch nur aus dem Augenwinkel sehe, werde ich Josie sagen, dass sie dich erschießen soll.«

Ich hatte nicht den geringsten Zweifel daran, dass sie genau das tun würde. »Schön.« Ich kannte den perfekten Ort.

KAPITEL 1

CARSON

Erschöpfung ließ meine Lider schwer werden, als ich durch die Windschutzscheibe auf das graue Band starrte, das sich unter dem Licht der Scheinwerfer in der Dunkelheit abzeichnete. Die Nacht hüllte den SUV ein, während wir durch Iowa nach Norden fuhren. Im Auto war es zur Abwechslung einmal still, die fünf anderen Männer schliefen entweder oder waren von dem gefesselt, was auch immer ihre Kopfhörer abspielten.

Es war jetzt zwei Wochen her, dass alles den Bach runtergegangen war, angefangen damit, dass Davis’ Mom auf ihn geschossen hatte, das FBI eine Razzia in Charlies Haus durchgeführt und letztendlich jemand Leos Wohngebäude in die Luft gejagt hatte. Zwei Wochen kreuz und quer durchs Land, in denen wir für alles bar bezahlten, in unbekannten Motels und dem einen oder anderen sicheren Versteck übernachteten und nicht ganz sicher waren, warum wir wegliefen oder vor wem. Dem FBI? Charlies Mörder? Der Mafia? Jemandem aus unserer zwielichtigen Vergangenheit? Wer oder was auch immer es war, die Tatsache, dass jemand hinter uns her war, blieb bestehen. Vielleicht mehr als ein Jemand.

Und anstatt an einer Lösung zu arbeiten, war ich auf dem Weg zu dem Ort auf dieser Welt, an dem ich auf keinen Fall sein wollte – nach Hause, um mit der allerletzten Person zu reden, mit der ich reden wollte. Meiner Mutter.

Der wirklich traurige Teil dieses ganzen wahrscheinlich zum Scheitern verurteilten Unterfangens war, dass ich nicht sicher sein konnte, ob sie mich überhaupt erkennen würde, wenn ich auf ihrer Türschwelle auftauchte. Und falls doch, gab es keine Garantie, dass sie mich reinließ. Vielleicht würde sie mich mit offenen Armen willkommen heißen. Der verlorene Sohn, das gemästete Kalb schlachten und der ganze Quatsch.

Ha. Schön wär’s.

Ich musste laut geschnaubt haben, denn Leo schaute mich neugierig vom Beifahrersitz des SUV aus an, in den Miranda uns vor etwas mehr als einer Woche gestoßen hatte.

Mit der Jogginghose und dem langärmligen T-Shirt, den Stoppeln, in denen sich mehr Grauspuren zeigten als in seinen Haaren, die sich ganz und gar gegen jede Vorschrift über seinen Ohren lockten, sah Leo Shook nicht mehr wirklich wie ein FBI-Agent aus. Allerdings hatte er sich auch schon eine Weile nicht mehr wie einer verhalten. Er hatte mich zum Beispiel nicht ein einziges Mal verhaftet. Andererseits, wer von uns war noch der Mann, der er vor dieser ganzen Sache gewesen war?

»Ist irgendwas witzig?«, fragte er.

Ich schüttelte den Kopf. »Ich denke nur nach.«

»Darüber, nach Hause zu kommen? Oder darüber, wie du es verlassen hast?«, hakte er leise nach.

Er war vielleicht kein Agent mehr, aber immer noch scharfsinnig, der verdammte Kerl. Wider besseres Wissen mochte ich ihn. Obwohl zehn Jahre Altersunterschied zwischen uns lagen, hatte ich manchmal das Gefühl, als wären wir beide die einzigen Erwachsenen in dieser Bande fröhlicher Gesellen.

»Ja, ich fürchte, die Gedanken an die Vergangenheit machen mich rührselig. Mir wurde gesagt, dass ich ein ziemlich … dramatisches … Kind gewesen bin, und manchmal hat die Stimme in meinem Kopf einen Hang zur Theatralik.«

Das trübe Licht am Armaturenbrett des SUV erhellte Leos Gesicht genug, dass ich sein schmales Lächeln sehen konnte. »Du? Dramatisch? Ich bin schockiert.«

»Tja. Hin und wieder kann es in meinem Metier ein Vorteil sein.«

»Du hast nie erklärt, warum du gegangen bist«, erinnerte mich Leo sanft. »Ich nehme an, dass der Job, den Charlie für uns hat, damit zusammenhängt.«

Er ermahnte mich nicht und verlangte auch keine Einzelheiten, was bewundernswert war, wenn man bedachte, dass ich den Jungs so gut wie nichts über diese lächerliche Suche erzählt hatte, auf die Charlie mich geschickt hatte.

Wenn Charlie nicht schon tot gewesen wäre, hätte ich ihn ermordet, weil er mich durch Schuldgefühle dazu gebracht hatte. Selbst aus dem Grab heraus dachte der Mistkerl immer noch, mir sagen zu können, was ich zu tun hatte. Er glaubte immer noch, er wüsste, was das Beste für mich war.

Die Sache war die: Manchmal hatte er recht gehabt. Andererseits war das hin und wieder auch nicht der Fall gewesen. Nur die Zeit würde zeigen, was dieses Mal zutraf.

Ein blaues Schild am Highway versprach Essen, Treibstoff und Unterkunft an der nächsten Ausfahrt. Das »Denny’s«-Schild, das sich zwischen den Bäumen erhob und grell in der Nacht leuchtete, besiegelte dieses Versprechen.

»Sollen wir eine Pause machen?«, fragte Leo.

»Ich könnte was essen«, antwortete Steele.

Es stand außer Frage, dass Breck und Ridge immer glücklich über die Gelegenheit waren, eine Pause zu machen und etwas zu essen. Mit gerade mal einundzwanzig waren die Jungs noch immer im Wachstum.

Danny war derjenige, der am dringendsten essen musste, und derjenige, der niemals darum bitten würde. Er bat selten um etwas und schien von allem überrascht zu sein, was ihm gegeben wurde, egal, wie klein es war. Ich war nicht der Einzige, der keine Mühen scheute, um kleine Geschenke für unser jüngstes Teammitglied nach Hause zu bringen. Häufig war das Geschenk essbar, weil Danny nach zwei Jahren auf der Straße und der mit diesem Lebensstil einhergehenden Ernährungsunsicherheit niemals etwas zu essen ablehnte. Wesley, dem harte Zeiten auch nicht fremd waren, achtete darauf, dass Danny kein Essen hortete, und sorgte damit dafür, dass alle möglichen Gesundheitsgefahren eliminiert wurden, während er gleichzeitig genug Vorrat übrig ließ, um Dannys Ängste zu beschwichtigen.

Nicht, dass ich sie verurteilte. Ich hatte selbst Zeiten erlebt, in denen ich nicht gewusst hatte, wo ich meine nächste Mahlzeit herbekommen würde.

Ich wusste, dass Danny seinen rothaarigen Hacker-Freund vermisste, aber Miranda hatte ihn gebraucht, also war er an einem geheimen Ort zurückgeblieben. Er und Miranda kümmerten sich um zwei unterschiedliche Aufgaben. Erstens darum, mehr Informationen darüber zu finden, wer hinter uns her war. Und zweitens darum, »Bigolb-Autumn Enterprises« – die legale Front von Charlies Imperium – am Laufen zu halten. Selbst nach seinem Tod mussten Rechnungen bezahlt werden, und ohne Charlies ausgeklügelte Pläne mussten seine rechtmäßigen Geschäfte das Vermögen einbringen. Da Miranda unerbittlich darauf bestand, dass dabei alles so korrekt wie möglich ablief, waren die Erträge nicht so hoch, wie sie hätten sein können, und unsere kleinen Eskapaden waren nicht billig. Ganz zu schweigen von dem, was auch immer Josie machte. Seit Wochen hatte niemand von uns sie gesehen oder etwas von ihr gehört.

Davis erholte sich auf einem der Anwesen seiner Familie und fungierte als unser persönlicher Bankier. Da sich alle Blicke auf Charlies Geschäfte richteten, war es nicht sicher, Geld zu bewegen, wenn es nicht sein musste. Davis war so weit wieder zu Kräften gekommen, dass er aus dem Krankenhaus hatte entlassen werden können, und er und Ridge hatten zwei Tage miteinander verbracht, bevor Miranda nervös geworden war und uns gesagt hatte, dass wir sofort aufbrechen müssten. Anscheinend war es ein ziemlich wildes Wiedersehen gewesen. Auf Ridges Körper befanden sich unzählige Knutschflecke, Druckstellen von Fingerspitzen und Kratzspuren, die selbst Breck und Danny beeindruckt hatten.

Sowohl Davis als auch Wesley würden in Wisconsin zu uns stoßen.

Ich war, was diese Entscheidung anging, hin- und hergerissen. Ich glaubte nicht, dass wir Davis brauchten, und vertraute Milliardären aus Prinzip nicht. Das war einfach gesunder Menschenverstand. Milliardäre waren nicht wie normale Menschen. Sie waren nicht einmal wie Millionäre. Mit harter Arbeit und mittelmäßigem Erfolg beim Investieren konnte ein Klempner Millionär werden. Milliardär zu werden, erforderte eine Rücksichtslosigkeit, die in der Bevölkerung insgesamt nur selten vorkam, und die Bereitschaft, jedes Schlupfloch in Sachen Arbeitsrecht und Steuern auszunutzen.

Ihre Denkweisen waren so fremd, dass es fast keinen Spaß machte, sie zu betrügen. Man konnte ihnen finanziell nicht schaden, weil es keinen Weg gab, ihnen so viel Geld zu nehmen, dass sie es überhaupt bemerkten. Bestes Beispiel: Davis Ethan. Er hatte der Familie und dem Familiengeschäft den Rücken gekehrt, sich gegen sie verschworen und war von seiner eigenen Mutter angeschossen worden, alles ohne irgendwelche offensichtlichen Konsequenzen. Zumindest ohne finanzielle.

Das Schlimmste, was man einem Milliardär antun konnte, war, seinen Stolz zu verletzen, aber wehe dem, der das tat. Sie konnten aus den tiefsten Taschen schöpfen und verfügten über eine Armee von Anwälten.

Vielleicht war Davis anders, weil er für seinen Lebensunterhalt gearbeitet hatte. Gott allein wusste, warum er sich ausgerechnet für die Strafverfolgung entschieden hatte. Andererseits hatte er seine Stelle als Agent beim Diplomatic Security Service gekündigt, um sein Glück mit Ridge zu versuchen. Ich fragte mich, wie lange das halten würde. Der umwerfenden Uhr an Ridges Handgelenk nach zu urteilen, schien er zu glauben, dass es für immer sein würde. Es lag mir fern, seine Seifenblase zum Platzen zu bringen, aber nach meiner Erfahrung gab es ein Happy End nur in Märchen.

Eine weitere Sache an Milliardären war, dass sie sich schneller langweilten als Normalsterbliche. Wenn man nicht arbeiten musste, um zu überleben, hatte man zu viel Freizeit und keinen Antrieb. Allerdings waren die Pfeiffer-Jungs ziemlich unterhaltsam, also wer wusste schon, was passieren würde? Wer war ich denn, dass ich über wahre Liebe die Nase rümpfen konnte?

»Hat jemand ›Pause‹ gesagt?«, fragte Breck vom Rücksitz.

»Ja«, antwortete ich und setzte den Blinker.

* * *

Leo stieg aus, streckte sich und atmete tief und genüsslich ein.

Die kühle Nachtluft roch wunderbar, vor allem verglichen mit der Luft im Wagen. Nachdem ich den Großteil der letzten zehn Jahre in großen Küstenstädten verbracht hatte, hatte ich vergessen, wie der Wald nachts roch. Eric und ich hatten als Kinder und dann wieder als Teenager auf der Suche nach Privatsphäre viel Zeit im Wald verbracht.

Ich stoppte diesen schmerzhaften Gedankengang augenblicklich. Wir waren Hunderte Kilometer von meiner Heimatstadt entfernt, und diese Reise brachte mich jetzt schon um. Erinnerungen, die ich seit Jahren unterdrückte, kochten an die Oberfläche, und ich hasste es.

Abgesehen von dem Denny’s und der Tankstelle gab es in Sachen Zivilisation nicht viel zu sehen. Eine zweispurige Straße schlängelte sich östlich und westlich vom Highway weg und verschwand hinter den Hügeln. Ein Sattelschlepper rauschte an uns vorbei, ließ den SUV erzittern und sorgte dafür, dass unsere lockere Kleidung im Wind flatterte. Irgendwo hinter mir hörte ich Breck und Ridge mit erhobenen Stimmen streiten, es schien jedoch eher eine gewohnte und lieb gewonnene Diskussion als eine wirkliche Meinungsverschiedenheit zu sein.

»Ich hab Debbie Schnetzer nicht angetatscht«, behauptete Breck beharrlich. »Ich hab einen Käfer von ihrem Oberteil genommen!«

»Ich weiß, was ich gesehen habe«, antwortete Ridge. »Hand unter dem Shirt. Tatschen. Ich war da.«

»Nur weil du etwas gesehen hast, heißt das nicht, dass es passiert ist«, schoss Breck zurück.

Ich war so müde, dass das beinahe Sinn ergab.

»Carson?«, sprach Leo mich an.

Ich richtete meine Aufmerksamkeit wieder auf das Hier und Jetzt. »Ja?«

»Essen?«, fragte er sanft.

Oh ja. Richtig. Dieses Mal war es mein Job. Ich hatte die Leitung. In meinen Venen summte es, als wäre ich noch immer im fahrenden Wagen und hätte den Geschmack von abgestandenem Kaffee auf der Zunge. Es klang gut, eine halbe Stunde auf etwas zu sitzen, was sich nicht bewegte. Alles, um das Unausweichliche aufzuschieben.

KAPITEL 2

CARSON

Es war immer besonders unangenehm, mitten in der Nacht in fluoreszierendes Licht zu treten. Nahm man noch die spezielle Desorientierung dazu, die vom Besuch bei einer Restaurantkette nach stundenlangem Fahren stammte, und ein spätabendlicher Halt bei Denny’s schien wie ein Fixpunkt in der Zeit zu sein.

Wir waren immer in diesem Denny’s gewesen und würden immer in diesem Denny’s sein. Die Kellnerin würde immer ein dünner Teenager mit Nasenring und verblassenden schwarz gefärbten Haaren sein, der keine Miene verzog, während er unserer sehr verdächtig aussehenden Gruppe sechs Wassergläser auf den runden Tisch stellte. Ich fragte mich, was sie von uns hielt.

Steele, ein kubanischer Berg von einem Mann, hatte Breck auf dem Schoß. Das Lächeln auf seinem Gesicht, als er mit den Fingern durch Brecks Haare fuhr, verletzte etwas in meinem kalten, toten Herzen, und ich wandte mich ab.

Der Blick der Kellnerin schoss zwischen Breck und Ridge hin und her. Verständlich. Abgesehen davon, dass sie verdorbene Engel hätten sein können, waren die beiden die eineiigsten Zwillinge, die ich je persönlich zu Gesicht bekommen hatte. Es war nützlich gewesen, jemanden zu haben, der an zwei Orten gleichzeitig sein konnte, aber dieser Vorteil fiel weg, sobald den Leuten klar wurde, dass es zwei von ihnen gab.

Leo und Danny wirkten ziemlich normal, und ich wusste, dass sich die Kellnerin wahrscheinlich nicht einmal daran erinnern würde, mich bedient zu haben, wenn sie gefragt wurde. Aber welche Geschichte würde sie sich ausdenken, um zu erklären, was diese merkwürdige Truppe zu dieser unchristlichen Zeit in einem Denny’s am Highway machte?

»Breckie.« Ridge trat träge nach seinem Bruder. »Hör auf, deinen Freund zu betatschen, und guck dir die Karte an.«

»Du bist nur eifersüchtig, weil dein Freund nicht hier ist.« Breck streckte Ridge die Zunge heraus und schmiegte dann sein Gesicht an Steeles Hals.

»Verlobter«, korrigierte ihn Ridge. »Und du bist nur eifersüchtig, weil dein Freund nicht reich ist.«

»Hey«, mischte sich Steele ein. »Ich verdiene gut.«

Breck schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht glauben, dass du verlobt bist. Hält er immer noch daran fest? Bist du sicher, dass es nicht nur an der Gehirnerschütterung und dem Blutverlust lag?«

Das Blut war das von Davis gewesen und war aus der Schusswunde geströmt, die ihm seine Mutter zugefügt hatte. Ridge hatte eine Gehirnerschütterung erlitten, als er sich mit einem Wurfhaken von einem Kronleuchter geschwungen hatte und nur eine halbe Sekunde zu spät auf Davis’ Mutter gelandet war.

Das war definitiv eine Kennenlerngeschichte, die man eines Tages den Enkeln erzählen konnte.

Ridge lächelte sanft und streichelte die lächerlich teure Uhr, die Davis ihm zur Verlobung geschenkt hatte, während er in einer Pfütze aus seinem eigenen Blut gelegen hatte. »Ja, ich glaube, ich will es wirklich tun. Ist das verrückt?« Flehend und auf der Suche nach Bestätigung sah er seinen Zwilling an. Ich wusste, dass ihm Brecks Meinung wichtig war.

Breck lächelte breit. »Überhaupt nicht verrückt. Solange es eine protzige Hochzeit ist und ich dein Trauzeuge bin.«

»Was denn sonst?«, antwortete Ridge lapidar.

Das Grinsen der Kellnerin verriet, dass sie künftig die Geschichte von den heißen schwulen Zwillingen erzählen würde. »Was kann ich euch bringen?«, fragte sie.

Steele bestellte zuerst, eine doppelte Portion Lachs mit gedünstetem Gemüse, und runzelte die Stirn. »Ich muss wieder ins Fitnessstudio.«

Breck drückte seine Oberarme. »Du siehst großartig aus, Babe.«

Die Kellnerin nickte zustimmend, ehe sie Breck erwartungsvoll anschaute.

»Ich nehme die frittierten Pancake-Bällchen mit Blaubeeren und weißen Schokoladensplittern, dazu Frischkäse-Frosting und einen Erdbeer-Milchshake.«

Leo wirkte entsetzt, und ich stimmte ihm innerlich vollkommen zu.

Ridge schüttelte den Kopf und sprach mit der Kellnerin, ohne von der Karte aufzublicken. »Nein, wird er nicht. Er nimmt ein Rührei-Sandwich mit Käse und Schinken, dazu Hash Browns und ein Glas Milch.«

»Ridge«, winselte Breck.

»Niemand will, dass du wie ein Kleinkind mit Zuckerschock im Auto rumhüpfst. Du brauchst etwas Protein.« Er bestellte sich ein paniertes Steak, die Rühreipfanne und dazu eine Tasse Kaffee.

Wo ging das ganze Essen bei ihnen hin? Sie mussten den Stoffwechsel von Polarforschern haben. Oh, noch mal einundzwanzig sein. Nicht, dass ich mein Leben von damals leben wollte, aber gegen den Körper hätte ich nichts gehabt.

»Und du, Süßer?«, erkundigte sie sich mütterlich bei Danny, obwohl sie nicht älter als achtzehn sein konnte. Ich fragte mich, warum sie so spät noch arbeitete.

Danny lief rot an und stammelte, während er auf das laminierte Blatt in seiner Hand starrte. Der Junge war hinreißend. Wie er nach den beschissenen Jahren auf der Straße noch immer rot werden konnte, wenn ihn ein hübsches Mädchen anlächelte, war mir ein Rätsel. »Oh, ähm, ich nehme, also, nur die Biscuits-and-Gravy-Platte. Das hab ich noch nie gegessen.«

»Noch nie?«, staunte sie mit großen Augen.

»Und du fängst bei Denny’s damit an?«, fragte Steele und runzelte ungläubig die Stirn. Er schüttelte den Kopf. »Ich nehm dich mit zu meiner Mama, und die macht dir welche.«

»Ich darf deine Mom zuerst kennenlernen«, sagte Breck. »Sie wird mich lieben.«

»Ich schicke dich zuerst rein«, antwortete Steele. »Ich war so lange nicht zu Hause, dass sie mir mit Sicherheit ihre gusseiserne Pfanne über den Schädel ziehen wird.«

Steele sah wie ein kubanischer Jason Momoa aus, aber wenn er müde oder gestresst war – und im Moment waren wir alle beides –, klang er wie ein lang verschollenes Mitglied eines reaktionären Hinterwäldler-Clans.

Wie würde meine Mutter reagieren, wenn ich auftauchte? Ich war viel länger weg gewesen als Steele. Na ja, vielleicht hätte sie mich vor all den Jahren nicht wegschicken sollen, wenn sie mich öfter zu Gesicht bekommen wollte.

»Da sind auch Eier und Hash Browns dabei. Wie willst du deine Eier?«, fragte die Kellnerin.

»Äh, verrührt?«, antwortete Danny.

»Quatsch«, sagte Steele. »Du willst ein Spiegelei, damit du es in den Kartoffeln und der Soße zerdrücken kannst.« Er tat so, als würde er auf einem unsichtbaren Teller Essen zusammenmischen.

»Und bringen Sie ihm noch Bacon und ein großes Glas Orangensaft«, fügte Leo hinzu.

»Der Orangensaft kostet mehr als das Essen«, protestierte Danny.

Leo bedachte ihn mit einem Blick. »Ich bin heute großzügig.«

»Hör auf deinen Dad«, mahnte die Kellnerin. »Du bist nur ein Strich in der Landschaft. Du musst mehr essen.«

Danny riss bei dem Wort »Dad« die Augen auf, und Breck schnaubte. Leo ignorierte die beiden und bestellte sich ein Gemüse-Omelett ohne Eigelb und schwarzen Kaffee.

Seufzend und in Anerkennung unseres langsamer werdenden Stoffwechsels tat ich dasselbe.

Ridge wartete, bis die Kellnerin weg war, ehe er sich vorbeugte. »Also, machen wir heute Nacht Rast, oder fahren wir durch?«

»Das hängt davon ab, was unsere Oberbefehlshaber entscheiden«, antwortete ich. »Danny, irgendwas Neues von Wesley?«

Er schüttelte den Kopf. »Du weißt, dass ich es euch erzählen würde.«

»Ja, weiß ich.« Seufzend ließ ich mich gegen die Rückenlehne der rundum laufenden Bank sinken. »Ich hab das Fahren nur satt.«

»Ich glaube, dass du nur nervös bist, weil du nach Hause kommst«, riet Steele. »Ich persönlich will unbedingt wissen, wo der kleine Carson aufgewachsen ist.«

»Ich hätte schwören können, dass du aus England stammst«, sagte Breck.

»Da bist du nicht der Einzige«, versicherte ich ihm. Es war ein Irrglaube, den ich gern unkorrigiert ließ. Ich lächelte rätselhaft, ein Ausdruck, den ich im Spiegel geübt hatte, seit ich sieben gewesen war.

»Warum hast du deine Meinung geändert?«, fragte mich Ridge. »Zuerst warst du so …« Er hob die Stimme. »›Nein, nein, Miranda. Lieber gehe ich ins Gefängnis.‹ Und dann auf einmal: ›Nein, wir gehen nach Wisconsin.‹« Seine Imitation lag irgendwo zwischen Katharine Hepburn und Dick Van Dyke in »Mary Poppins«.

»Ja, das trifft es«, erwiderte ich in meinem Lieblingstonfall: triefend vor Langeweile. Ich hatte eine ganze Sammlung von Tonfällen, und ja, ich arbeitete an ihnen, wenn ich allein war. Als ich jünger gewesen war, hatte ich auch Gesichtsausdrücke im Spiegel geübt. Außerdem las ich psychologische Bücher und Bücher über menschliches Verhalten. Menschen zu betrügen, war sowohl eine Kunst als auch eine Fähigkeit. Es brauchte Übung.

»Außerdem ist das Gefängnis immer noch eine Option«, sagte ich. »Wir sind noch nicht in Wisconsin, ich könnte mich immer noch dagegen entscheiden. Das Gefängnis kann nicht so schlimm sein. War hier schon mal jemand im Gefängnis?«

»Ich«, meldete sich die Kellnerin, als sie mit einem Tablett voller Getränke hinter mich trat.

Es gelang mir nur mit Mühe, nicht zusammenzuzucken. Leo grinste. Verdammter Mist, hatte mich denn niemand warnen können, dass jemand nah genug war, um unsere Unterhaltung mit anzuhören? Ich wusste nicht, wie ich irgendeinen Schwindel mit dieser Truppe durchziehen sollte. Hatte noch nie einer von ihnen das Wort »Diskretion« gehört? Sie waren ungefähr so unauffällig wie eine Herde Elefanten in einem Porzellanladen.

»Na ja, es waren nur ein paar Tage in der Arrestzelle«, gab sie zu, »aber ich war sechzehn.« Sie stellte die Getränke ab, ohne etwas zu verschütten.

»Wie war es?«, wollte Breck wissen.

»Und wie heißt du?«, fragte Danny, ehe sie antworten konnte.

Sie zuckte mit den Schultern. »Eine Weile war es verrückt da. Sie mussten entscheiden, ob ich als Erwachsene oder als Jugendliche vor Gericht gestellt werde. Und ich heiße Shauna.«

»Wow, das ist beschissen«, sagte Breck. »Nicht der Name. Shauna ist ein cooler Name. Aber warum sollten sie dich als Erwachsene vor Gericht stellen?« Er lehnte sich in ihre Richtung und senkte die Stimme. »Hast du jemanden umgebracht?«

Sie schlug mit ihrem Notizblock nach ihm. »Nein«, antwortete sie ungläubig. »Natürlich nicht. Ich bin bei meinem Stiefvater eingebrochen und hab das Portemonnaie meiner Mutter mit all ihren Karten und Ausweisen und so geklaut. Dazu noch ein paar Klamotten und Autoschlüssel. Wir sind ihm entkommen, mussten aber einige Sachen zurücklassen.«

»Und er hat dich verhaften lassen?«, fragte Danny kopfschüttelnd. »Vor langer Zeit wäre ich mal überrascht gewesen.«

Sie verdrehte die Augen und grinste. »Er war sauer, weil sie das ganze Geld von ihrem Konto abgehoben hat, bevor er es tun konnte, und dass sie das Auto hatte.«

»Cool«, sagte Breck und streckte die Hand für einen High Five aus. Selbst Leo nickte und wirkte beeindruckt.

Ich überlegte, wie alt sie war, und wichtiger noch, wie sehr sie an Iowa gebunden war. Sie hatte Potenzial. Miranda könnte sie einsetzen. Sie hatte mich gebeten, nach einem neuen Mädchen Ausschau zu halten.

»Angst davor, nach Hause zu gehen?«, fragte Shauna und sah mich an. »Ich kenne das Gefühl.«

»Ich hab keine Angst, nach Hause zu gehen.« Ich legte so viel Verachtung wie möglich in meine Stimme. Das war eine Lüge. Ich hatte panische Angst. Und das war nur ein Teil davon. Mehrere Emotionen kämpften um die Vorherrschaft, wenn ich daran dachte, wieder nach Hause zu kommen. Schuld war ganz vorn mit dabei, aber rechtschaffene Wut, Scham und ein winziger Hauch von Neugier auf das Mögliche waren auch mit im Spiel. Außerdem gab es den nicht ganz unbedeutenden Teil meiner Psyche, der sich nach einer Prügelei sehnte; mit wem, konnte ich allerdings nicht sagen. »Es ist kompliziert.«

»Das ist es immer«, stellte Danny fest. »Wie lange ist es her?«

»Fünfzehn Jahre«, gestand ich. Fünfzehn Jahre, seit ich zum letzten Mal durch diese Tür gegangen war. »Hinausstolziert« beschrieb es wahrscheinlich besser. Ich war ein sehr dramatisches Kind gewesen.

»Lange Zeit«, stimmte Shauna zu und nickte langsam.

»Ja, ist es.«

Sie nickte erneut weise und entfernte sich dann.

»Also, ernsthaft«, hakte Leo nach. »Warum hast du deine Meinung geändert? Was war in dem Umschlag von Miranda, das dich überzeugt hat?«

»Vergesst es, welchen Auftrag haben wir?«, fragte Breck zu laut. »Es ist eine verdammte Woche her, und ich weiß immer noch nicht, was zum Teufel wir in Wisconsin machen und was Carsons Familie damit zu tun hat. Wie sollen wir einen Plan entwickeln?«

Meine Hand schwebte über der Brieftasche in meiner Jackentasche. Es war keine Erpressung, zumindest nicht so, wie sie dachten. Dies war schlimmer. Es war emotionale Erpressung. Es war meine größte Schwäche und meine tiefste Reue in einem winzigen Foto.

Vielleicht war es das außerweltliche Gefühl im Schwellenraum des Denny’s oder die erzwungene Intimität, die damit einherging, tagelang mit fünf weiteren erwachsenen Männern in einem SUV zu sitzen, oder vielleicht lag es daran, dass ich vermutete, dass mir diese Männer den Rücken freihalten würden, aber ein Teil von mir, den ich für lange tot und begraben gehalten hatte, wollte die Wahrheit sagen.

Ich wollte, dass jemand zumindest einen kleinen Teil meines wahren Ichs sah, was auch immer das war. Falls es je so etwas gegeben hatte, lebten die Überreste in Wisconsin, an den Ufern des Mississippi. Hatte Leo irgendeine Ahnung, was es für mich bedeutete, diesen Teil von mir mit ihnen zu teilen?

Anscheinend ja, denn er lächelte mich freundlich an. »Es ist in Ordnung, wenn du es für dich behalten willst. Wir alle haben ein Privatleben.«

»Sprich für dich selbst«, sagte Breck. »Ich bin ein offenes Buch.«

»Ein offenes Comic-Buch«, erwiderte Ridge grinsend.

»Nein, ist schon in Ordnung. Ich würde es euch gern erzählen.« Langsam öffnete ich meine Brieftasche und nahm das Foto heraus, das ich dort hineingesteckt hatte.

So viele Gefühle brachen über mich herein, als ich das Foto der beiden Frauen betrachtete, die ihre Hände auf die Schultern zweier kleiner Jungs gelegt hatten. Neben ihnen kämpfte ein Kleinkind unbestimmten Geschlechts, aber mit den Gesichtsmerkmalen des Downsyndroms gegen die Gurte, die es in seinem fadenscheinigen Buggy hielten. Ich erinnerte mich genau an diesen Tag. Sammy war nicht glücklich darüber gewesen, angeschnallt zu werden, aber nachdem wir ihn im Streichelzoo beinahe an eine sehr aggressive Ziege verloren hätten, war meine Mutter kein Risiko mehr eingegangen.

Die älteren Jungs waren gerade fünf geworden, obwohl der blonde einen halben Kopf größer war als der brünette. Sein breites Lächeln entblößte zwei fehlende Schneidezähne. Die Frauen, stellte ich mit dem Schock fest, den man bekommt, wenn einem klar wird, dass die Zeit tatsächlich voranschreitet, waren jünger als ich jetzt. Gott. Als meine Mutter in meinem Alter gewesen war, hatte sie bereits zwei Kinder und einen Versager von einem Ex-Ehemann gehabt. Arme Frau.

Ich gab Leo das Foto.

Er hob die Augenbrauen bis zum Haaransatz, als er die Gesichter musterte. »Bist das …?«

Ich nickte.

»Süß.« Er drehte das Foto um und betrachtete die Rückseite.

Ich wusste, was er sah: eine Zeile in der geschwungenen Schrift, die in der Schule heute nicht mehr gelehrt wird. Bitty, Momo, Jake, Eric & Sammy. Apfelfest 1995, stand darauf und darunter eine Notiz in Charlies klobiger Handschrift: Sie wollte, dass ihr zusammen seid. Sprich mit ihnen. Er ist jetzt zu Hause. Hol ihn dir zurück.

»Lass mich mal sehen«, bat Breck und streckte gierig die Hände aus. Leo reichte ihm das Bild, als ich nickte.

»Wer ist das?«, fragte Danny.

Ich antwortete nicht, zu versunken darin, herauszufinden, wie ich das Ganze anstellen sollte.

»Um Himmels willen, Carson«, sagte Ridge, als Shauna ein Tablett herbeibrachte, das schwerer wirkte als sie. »Wer ist das?«

»Meine Mutter und ich.«

Die Unterhaltung kam zum Erliegen, als Shauna das Essen verteilte, ohne auch nur ein Mal die Bestellungen durcheinanderzubringen. »Braucht ihr sonst noch was?«, erkundigte sie sich.

Niemand erwiderte etwas, also ging sie wieder.

»Na, ich will verdammt sein«, meinte Steele und nahm das Bild. »Carson hat eine echte Mama.«

»Natürlich habe ich die. Im Gegensatz zu dir bin ich nicht aus einem Alligator-Ei geschlüpft.«

»Alligatoren legen Eier?«, fragte Breck. Er legte nachdenklich den Kopf schräg und zuckte dann mit den Schultern. »Na ja, ich denke schon. Keine Ahnung, warum sich das falsch angehört hat.«

»Weil du nicht so helle bist?«, schlug Ridge vor. Breck stibitzte sich zur Wiedergutmachung ein Stück Bacon von seinem Teller.

»Ich kann raten, welcher du bist«, meinte Steele, nachdem er das Foto ein paar Sekunden gemustert hatte. »Bist du Jake oder Eric?«

»Jake«, gestand ich. »Mein richtiger Name ist Jake Karlsson.«

Darauf folgte Schweigen.

»Danke, dass du ihn uns anvertraut hast«, sagte Danny dank seiner guten Manieren als Junge aus der oberen Mittelschicht.

Ich lächelte ihn schwach an. »Ja, nun, vergesst nicht, ihn zu benutzen. Ich will den Namen Carson Grieves in der Nähe von Wisconsin nicht hören.«

Obwohl ich wusste, dass es für meine Familie sicherer war, wenn der Name Carson Grieves nicht mit ihnen in Verbindung stand, fühlte es sich seltsam an, ihn nicht zu tragen. Es fühlte sich an, als würde ich einen Teil von mir leugnen.

Carson Grieves war nicht nur mein Name; es war der Name, den ich mir gemacht hatte. Damit war ich in der kriminellen Unterwelt bekannt. Er beinhaltete meinen gesamten Ruf und war sowohl Rüstung als auch Waffe. Und nun begab ich mich ohne ihn auf feindliches Gebiet.

Das Seltsame war, dass ich wirklich nicht sagen konnte, ob ich eine vertraute Maske abnahm und die echte Person zeigte oder ob Jake Karlsson nur eine weitere Maske war. Wenn ich versuchte, mir vorzustellen, wie ein erwachsener Jake Karlsson sein würde, fühlte er sich nicht mehr oder weniger echt an als Carson Grieves.

Manchmal hatte ich das Gefühl, so lange so viele andere Menschen gewesen zu sein, dass ich mir nicht mehr sicher war, was mein wahres Ich war oder ob so etwas überhaupt existierte. Hatten die Menschen eine Art unveränderliche Essenz, die den Kern ihrer Persönlichkeit formte, oder waren wir alle nur das Ergebnis unserer eigenen Schöpfung?

Ich wusste es nicht. Manchmal fühlte ich mich wie eine Zwiebel. Was blieb übrig, wenn man alle Schichten entfernte? Nichts. Dann hatte ich meine Rolle also sorgfältig konstruiert, na und? Alle anderen taten das auch. Sie ließen sich von der allgemeinen Meinung vorschreiben, was sie mochten und nicht mochten, ob sie den Massen nun zustimmten oder nicht. Sie ließen ihre Meinungen von Facebook-Gruppen formen, die nur von Leuten besucht wurden, die genauso dachten wie sie. Sie posteten sorgfältig bearbeitete Fotos auf ihren Social-Media-Accounts und taten so, als hätten sie alles im Griff.

Zumindest hatte ich mich bewusst erschaffen und konnte garantieren, dass es auf der Welt sonst niemanden wie mich gab, egal, wer ich im Moment war.

»Wenn du Jake bist«, sagte Steele, »dann ist die hübsche Dame mit dem großen Vorb…«

»Beende diesen Satz nicht, es sei denn, du willst für den Rest deines kurzen Lebens mit einem offenen Auge schlafen«, schnitt ich ihm das Wort ab.

Breck schnaubte. »So schläft er jetzt schon.«

»Berufsrisiko«, antwortete Steele unerwartet ernst.

Breck zog ihn in eine Umarmung und drückte ihm einen Kuss auf die Schläfe. »Ich weiß, Baby. Keine Sorge. Ich beschütze dich nachts vor Car… Jake.«

»Das hört sich so falsch an«, bemerkte Steele.

»Was passiert tagsüber?«, fragte Ridge.

»Dann ist er auf sich allein gestellt. Wenn Car… Jake ihn überrascht, wenn er wach ist, ist es seine eigene Schuld.«

»Stimmt«, sagte Steele. »Also, wer sind die anderen Leute?«

Seufzend lehnte ich mich zurück. »Wie du schon erkannt hast, ist die Frau mit dem Lollapalooza-T-Shirt meine Mutter. Das Kind in dem Buggy ist mein Bruder, Sammy. Das ältere Kind bin offensichtlich ich. Und nennt mich Carson, bis wir in Wisconsin sind.«

»Es klingt so falsch. Du siehst nicht wie ein Jake aus.«

»Hier schon«, widersprach Steele und tippte auf das Foto. »Schaut euch diesen hinreißenden kleinen Fratz an.«

»Nein«, kam es von Leo.

»Nein, ich war kein hinreißendes Kind?«, fragte ich gespielt verletzt.

»Nein, wir sollten anfangen, dich Jake zu nennen, um uns daran zu gewöhnen.«

Ich seufzte. »Ich weiß, aber es gefällt mir nicht.« Ich spürte, wie ich bei jeder Erwähnung der Vergangenheit wieder zu dem verwirrten Teenager mit dem Wutproblem wurde.

»Wer sind die anderen beiden?«, wollte Steele wissen und gab Danny das Foto.

»Meine Tante Bitty, die beste Freundin meiner Mom, und ihr Sohn.«

»Eric«, stellte Danny fest.

»Eric«, bestätigte ich.

»Er ist einfach zu süß mit diesem Lächeln. Sieht quirlig aus«, bemerkte Steele.

»Er war toll.« Mehr sagte ich nicht dazu.

»Carson, ist deine Mutter dieses Mal die Böse?«, fragte Danny flüsternd und mit großen Augen.

»Nein«, antwortete ich sofort. »Natürlich nicht.«

»Was ist dann der Job?«, hakte Breck viel lauter nach.

Steele schaute sich in dem leeren Raum um. »Nicht der richtige Ort, Babe.«

»Schon in Ordnung.« Ich trank einen Schluck Kaffee, um mir Zeit zu erkaufen. Mein Blut musste mittlerweile zur Hälfte aus Koffein bestehen. Seufzend stellte ich die dicke Keramiktasse auf den Tisch. Alle sahen mich erwartungsvoll an. »Die Sache ist …« Ich richtete meinen Blick auf die schwarze Flüssigkeit und schwenkte die Tasse, um die kleinen Wirbel zu beobachten. »Die Sache ist die, dass es keinen Job gibt. Nicht wirklich.«

»Was?«, fragte Steele. »Keinen Job?«

Ich schüttelte den Kopf. »Nicht im eigentlichen Sinne.«

»Also was will Charlie dann von dir?«, erkundigte sich Leo.

Gott, das war so dämlich. Ich sollte Miranda einfach anrufen und ihr mitteilen, dass ich es nicht tun würde. Aber ich würde nicht anrufen. Was, wenn Charlies verrückte Idee funktionierte? Was, wenn?

»Er, also …« Ich räusperte mich und nahm noch einen Schluck Kaffee. Zu meinem Entsetzen spürte ich, wie meine Wangen heiß wurden.

»Oh mein Gott«, sagte Breck. »Carson-Jake, um Himmels willen, spuck’s aus. Ich muss wissen, was dich in Verlegenheit bringt. Ich hätte nicht gedacht, dass das überhaupt möglich ist.«

»Schön.« Ich stellte die Tasse etwas heftiger als nötig auf den Tisch. »Charlie will, dass ich wieder mit meinem Highschoolfreund zusammenkomme«, antwortete ich und sah Breck direkt in die Augen. »Der zufällig Eric ist.«

KAPITEL 3

CARSON

»Wie bitte?« Breck blinzelte heftig, schüttelte den Kopf und tat so, als würde er sich das Ohr mit dem Finger säubern. »Kannst du das wiederholen? Ich muss mich verhört haben.«

Leo vergrub das Gesicht in den Händen.

»Du hast mich schon verstanden.«

»Ich brauche viel mehr Einzelheiten.« Breck beugte sich atemlos vor, um mir so nah wie möglich zu sein. »Alle Einzelheiten. Je schmutziger, desto besser.«

»Moment mal«, mischte sich Steele ein. Er ließ sich gegen die gebogene Rückenlehne sinken und verschränkte die Arme über der Brust. »Du willst mir sagen, dass Charlie Bingham, Trickbetrüger, Erpresser, Lügner und Dieb, all diese Mühe auf sich genommen hat« – er vollführte eine ausladende Geste, um unsere bunt gemischte Truppe aus Kriminellen einzuschließen –, »nur damit du deinen Ex-Freund anrufst?« Er verengte die Augen. »In welcher Beziehung standest du zu Charlie?«

Leo rutschte auf seinem Stuhl herum, um mir besser ins Gesicht sehen zu können. Verschiedene Ausdrücke huschten über sein eigenes, und in seinen Augen las ich tausend Fragen, aber er stellte keine einzige. Früher oder später würden wir uns über meine lange und komplizierte Geschichte mit Charlie Bingham unterhalten müssen, aber nicht jetzt. Nicht in der Öffentlichkeit.

»Wir haben ein paarmal zusammengearbeitet.« Das war alles, was sie von mir bekommen würden.

»Das kaufe ich dir nicht ab«, sagte Steele mit steinerner Miene. »Du lügst.«

»Babe!«, empörte sich Breck in meinem Namen. Steeles Gesichtsausdruck blieb jedoch ungerührt.

»Er ist ein Schwindler, Babe. Lügen kann er am besten. Ich weigere mich, zu glauben, dass es so einfach ist, wie er behauptet.«

»Ich glaube ihm«, erklärte Leo zu meinem absoluten Erstaunen. Alle Augen richteten sich auf ihn. Jetzt war er es, der seine Kaffeetasse musterte, als befänden sich in ihr die Geheimnisse des Universums. Der verträumte Blick und das schmale Lächeln auf seinen Lippen verrieten mir, dass er sich an etwas Spezielles erinnerte. »Man möchte es nicht glauben, aber Charlie war ein großer Romantiker. Er hat an Seelenverwandte und Happy Ends geglaubt.«

Danny riss die Augen auf. »Wirklich?«

»Wirklich«, antwortete ich und bestätigte Leos Eindruck. »Er hat jede romantische Komödie gesehen, die erschienen ist.« Als ich ihn gefragt hatte, warum er Single war, wenn er so sehr an die Liebe glaubte, hatte er mit den Schultern gezuckt und gesagt: »Ich bin noch nicht tot. Man weiß nie, was passieren könnte.«

Aber ich wusste, was geschehen war. Er war tot und hatte nie seine wahre Liebe gefunden. Das könnte mir genauso passieren. Vielleicht war das der Grund, warum Charlie so entschlossen gewesen war, mich einen letzten, verzweifelten Versuch unternehmen zu lassen, etwas zurückzubekommen, von dem ich sicher war, dass es vor fünfzehn Jahren gestorben war.

Ziemlich sicher. Nicht einhundertprozentig sicher. In meinem Herzen blieb ein Hauch von Hoffnung, der mich diesem aussichtslosen Unterfangen hatte zustimmen lassen. Was konnte schlimmstenfalls passieren? Eric konnte mich nicht noch mehr hassen, als er es bereits tat, oder?

»Wie sieht er jetzt aus?«, fragte Danny.

»Warte kurz.« Bilder von Eric waren leicht zu finden, vor allem, wenn man ihn in seiner Eishockeymontur mochte. Bei mir war das der Fall. Ich rief eines meiner Lieblingsbilder aus dem letzten Jahr auf, als er an einem Eishockeycamp für Kinder aus einkommensschwachen Familien teilgenommen hatte, um ihnen Schlittschuhlaufen beizubringen. Mit seinen eins dreiundneunzig – ohne Schlittschuhe – ragte er über den Kindern auf. Auf diesem Bild hatte er an jeder Hand zwei Kinder, die ihn auf dem Eis nach vorn zogen, doch er lehnte sich zurück, um sich zu wehren. Ein menschliches Tauziehen. Seine blauen Augen funkelten, und sein Lächeln war breit und aufrichtig. Er sah so glücklich aus.

Ich schob den Jungs das Foto zu. »Oh, er ist ein Wikinger!«, sagte Breck. »Meine Küsten könnte er jederzeit plündern.«

»Er ist wie ein blonder Steele«, bemerkte Danny.

Steele brachte seine Meinung dazu mit einem Schnauben zum Ausdruck.

»Na ja, er trägt viel Ausrüstung«, räumte ich ein. »Aber er ist groß. Mit siebzehn hatte er schon diese Höhe.«

»Verdammt, kein Wunder, dass du am Boden zerstört warst, als du ihn aufgegeben hast«, sagte Breck.

Ich nahm das Handy wieder an mich. »Na ja. Allerdings. Danke, dass du mich daran erinnert hast.«

»Keine Sorge, Carson. Wir holen deinen Jungen zurück«, versprach Steele.

Leo runzelte die Stirn. »Ich glaube nicht, dass wir das …«

»Ja!«, rief Breck und schnitt Leo das Wort ab. Er klatschte begeistert in die Hände. »Mission ›Carson-Jake flachlegen lassen‹ läuft. Ich bin auf jeden Fall dabei. Denn, Kumpel, du musst wirklich flachgelegt werden.« Seine Augen waren geweitet, sein Blick ernst. »Ich meine, es ist Monate her, dass wir uns kennengelernt haben, und ich glaube nicht, dass du während dieser ganzen Zeit was mit jemandem hattest. Monate! Ich würde sterben.« Er klammerte sich an Steeles Arm, als bräuchte er die Bestätigung, dass er niemals ein so tragisches Schicksal erleiden würde.

Ah, die Jugend. Leos finstere Miene passte zu meiner.

Breck zuckte zurück, als wir ihn gemeinsam anstarrten. Er hob die Hand, mit der Handfläche nach außen, und lehnte sich vom Tisch zurück. »Ich sag’s ja nur. Könnte helfen. Euch beiden«, fügte er mit einem Blick auf Leo hinzu.

Leo schloss die Augen und drückte sich den Daumen zwischen die Augenbrauen – eine wortlose Geste des Unglaubens, die er in Brecks Gegenwart häufig anwendete. Breck hatte diese Wirkung auf Menschen.

»Wir werden einen Plan brauchen«, meinte Danny. »Wir müssen Eric gründlich durchleuchten. Wir müssen herausfinden, was seine Gewohnheiten sind, was er mag, ob er mit jemandem zusammen ist.«

»Ist er nicht«, unterbrach ich ihn.

»Hast du daran gedacht, ihn anzurufen?«, schlug Leo vor. »Einfach mit ihm zu telefonieren?«

Oh, bitte. Als würde ich ausgerechnet von ihm Ratschläge annehmen. »Wirklich, Agent Shook? Hast du das in deinem Leben je getan? Gab es jemand Besonderen für dich, mit dem du tiefe, aufrichtige Gespräche über den Sinn des Daseins hattest und darüber, was die Zukunft bringt?« Ich hoffte, mein Blick verriet die Tatsache, dass ich mehr über Agent Shook wusste, als ihm lieb war.

Der finstere Blick, mit dem er meinen erwiderte, sagte: Botschaft angekommen.

»Dachte ich’s mir.«

Die Jungs hatten unseren Austausch nicht bemerkt, da sie zu sehr mit der Planung beschäftigt waren.

»Du musst ihn, also, richtig verführen.« Breck schien sich für die Idee zu erwärmen. »Ihm alles geben, was du hast.« Schnell musterte er das, was genau ich hatte. Er wirkte nicht beeindruckt.

Ich wusste, dass ich durchschnittlich aussah. Das war in meinem Metier ein Vorteil. Aber ich freundete mich langsam mit der Idee an, Eric zu verführen und ihm den Hof zu machen.

»Ich glaube, wir müssen wissen, wie es zu Ende ging«, sagte Leo, »bevor wir irgendwie weitermachen.«

»Warum ist das wichtig?«, fragte Danny.

»Was, wenn er fremdgegangen ist?«, warf Ridge ein und stocherte in seinem Essen herum, als würde er sich an vergangene untreue Freunde erinnern.

»Wer ›er‹? Carson-Jake oder der andere Typ?«, wollte Breck wissen.

»Um Himmels willen, nenn mich einfach Carson«, platzte ich heraus.

Breck lachte. Er hatte darauf gewartet, dass ich einknickte. Ridge und er stießen mit der Faust an.

»Arschloch«, murmelte ich.

»Wir müssen es wissen«, sagte Danny eifrig. »Wer war der Böse? Du oder Eric?«

War das nicht die alles entscheidende Frage? Einst hatte die Antwort so offensichtlich gewirkt, aber im Laufe der Jahre hatte ich angefangen, zu glauben, dass ich vielleicht ein winziges bisschen überreagiert hatte.

Von außen betrachtet war ich der Geschädigte. Ich war keine drei Monate weg gewesen, ehe ich früher als erwartet nach Wisconsin zurückgekommen war und Eric dabei erwischt hatte, wie er – ausgerechnet – mit diesem Arschloch Ryan Kantor rummachte, obwohl der theoretisch mit Maddie Kane zusammen gewesen war.

Ryan Kantor, König Mistkerl meiner Highschool, war zu Beginn der elften Klasse aufgetaucht und hatte die Lehrer und Schüler schnell mit seinem mittelmäßigen Aussehen und seiner verlogenen Netter-Typ-Nummer bezaubert.

Für mich war klar gewesen, dass alles an ihm falsch und alles, was er über seine Vergangenheit und seine Eltern erzählte, gelogen war. Es war nicht so, als wäre das schwer zu überprüfen gewesen, aber außer mir hatte das niemand getan. Nicht, dass ich meine Erkenntnisse geteilt hätte. Nein. Ich behielt die Informationen für mich. Seine sehr netten, aber definitiv aus der Arbeiterklasse stammenden Eltern. Seine schlechten schulischen Leistungen. Wissen war Macht, und ich sammelte es, als wäre es Toilettenpapier für den Weltuntergang.

Damals hatte ich zum ersten Mal erkannt, dass die Leute vielleicht zu schnell akzeptierten, was andere über sich sagten, als wünschten sie sich, jemand würde ihnen genau das sagen, was sie hören wollten. Gott sei Dank taten sie das. Ich hatte meinen Lebensunterhalt auf dieser Charakterschwäche aufgebaut.

»Am meisten beschäftigt mich das Wiedersehen mit meiner Mutter«, wich ich aus, um der Schuldfrage einen Moment zu entgehen.

»Ich erinnere mich, dass du meintest, du wurdest rausgeschmissen«, erklärte Danny mit schwacher Stimme. »Aber du bist nie zurückgekommen? Du hast sie seit fünfzehn Jahren nicht gesehen?«

In seinen Augen las ich die Angst und den Schmerz bei dem Gedanken, dass er seine Mutter mehr als ein Jahrzehnt lang nicht wiedersehen würde. Ich bezweifelte ernsthaft, dass das der Fall sein würde. Eigentlich hatte ich vor, mir die größte Mühe zu geben, Mrs Munroe davon zu überzeugen, was für ein schrecklicher Mensch sie war, und ihr klarzumachen, dass ich, wenn ich sie wäre, um Dannys Vergebung flehen und beten würde, dass er sie mir gewährte.

In einer sehr seltenen ehrlich mitfühlenden Geste nahm ich Dannys Hand. »Ich werde es so oft wiederholen, wie du es hören musst. Deine Eltern sind Arschlöcher und haben etwas sehr, sehr Wertvolles verloren. Du musst ihnen nicht vergeben, aber du weißt auch nicht, was die Zukunft bringt. Du bist nicht ich«, sagte ich und drückte ein letztes Mal seine Hand. »Du bist viel vernünftiger.« Ich ließ seine Hand los. »Jedenfalls stimmt es, dass ich meine Mutter sehr lange nicht persönlich gesehen habe. Aber ich habe mit ihr gesprochen. Wir reden zweimal jährlich miteinander. An Weihnachten und am Muttertag.« Ich erwähnte nicht, dass sie aufgehört hatte, mich zu fragen, wann ich nach Hause kommen würde, und dass ihre Reaktion auf meine Anrufe über die Jahre hinweg merklich abgekühlt war.

Vielleicht war ich ein wenig der Böse, obwohl meine Mutter danebengestanden und zugelassen hatte, dass Bob mich ans andere Ende des Landes schickte.

»Und dein Bruder?«, fragte Leo. »Ist er noch da?«, schob er taktvoll hinterher.

Er meinte, ob er noch lebte.

»Ist er. Er ist dreißig und hat jetzt eine Freundin.« Ich spürte das Lächeln auf meinen Lippen. »Wir reden öfter. Meistens sind es Videoanrufe.« Sammy hatte nicht aufgehört, mich zu bitten, nach Hause zu kommen, und es war immer schwerer geworden, seinem Flehen zu widerstehen.

»Hast du vor, sie zu besuchen?«, wollte Steele wissen.

Ich seufzte schwer. »Unvermeidlich.«

»Warum unvermeidlich?«, fragte Leo.

»Sie ist mit Erics Vater verheiratet.«

»Du hast deinen Stiefbruder gevögelt?«, empörte sich Breck, viel, viel zu laut für diese Uhrzeit und den nicht wirklich leeren Diner.

Mit so viel Verachtung, wie ich für sein lüsternes Interesse aufbringen konnte, zeigte ich auf das Foto. »Offensichtlich waren wir Freunde, bevor unsere Eltern geheiratet haben. Wir sind zusammen aufgewachsen. Unsere Mütter waren seit der Highschool beste Freundinnen.«

»Ich weiß nicht, ob es das besser oder schlimmer macht. Ihr wart Familie.«