Pros & Cons: Steele - A.E. Wasp - E-Book

Pros & Cons: Steele E-Book

A. E. Wasp

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Beschreibung

Fünf Aufträge. Fünf Chance auf Wiedergutmachung. Eins ist sicher: Diese Männer sind keine Engel. Wer hätte gedacht, dass man von einem Toten erpresst werden kann? Wir jedenfalls nicht. Wir – das sind ein Hacker, ein Dieb, ein Hochstapler, ein Mann fürs Grobe und ein beurlaubter FBI-Agent. Die Abmachung ist einfach: Wir erledigen unsere Aufträge und Charlies Anwältin löscht dafür das belastende Material, mit dem er uns selbst nach seinem Tod noch in der Hand hat. Der erste Auftrag erfordert Muskelkraft - und damit fällt er an mich. Ich bin Steele Alvarez, ehemaliger Special Forces Close Protection Specialist, oder kurz gesagt: Bodyguard für nicht ganz so nette Kerle. Meine Aufgabe: einen scheinbar unangreifbaren Senator mit einer Vorliebe fürs Verprügeln von männlichen Prostituierten aus dem Verkehr ziehen. Doch dann lerne ich das jüngste Opfer von Senator Harlan kennen, Breck Pfeiffer, den attraktiven Escort-Boy mit dem Herzen aus Gold und der Seele eines Kämpfers. Um Breck zu beschützen, würde ich sogar über Leichen gehen. Er will den Senator jedoch nicht tot sehen, er will Rache. Dafür werde ich jede Hilfe brauchen, die ich kriegen kann. Ob es uns gefällt oder nicht, dieser Auftrag erfordert Teamarbeit.

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Seitenzahl: 443

Veröffentlichungsjahr: 2023

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A.E. WASP

PROS & CONS: STEELE

PROS & CONS 1

 

 

Aus dem Englischen von Lisa Schnack

 

 

Die englische Ausgabe erschien 2019 unter dem Titel »Pros & Cons of Vengeance« bei Kelpie Press.

 

 

Deutsche Erstausgabe August 2020

 

© der Originalausgabe 2019: A.E. Wasp

© für die deutschsprachige Ausgabe 2020:

Second Chances Verlag

Inh. Jeannette Bauroth, Steinbach-Hallenberg

 

Alle Rechte, einschließlich das der vollständigen oder auszugsweisen Wiedergabe in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Alle handelnden Personen sind frei erfunden, Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

 

Umschlaggestaltung: AngstyG

Umschlagmotiv: Depositphotos, iStock

 

Lektorat: Corinna Wieja

Korrektorat: Julia Funcke

Satz & Layout: Second Chances Verlag

 

ISBN: 978-3-948457-01-3

 

www.second-chances-verlag.de

 

Über das Buch

Fünf Aufträge. Fünf Chancen auf Wiedergutmachung. Eins ist sicher: Diese Männer sind keine Engel.

Wer hätte gedacht, dass man von einem Toten erpresst werden kann? Wir jedenfalls nicht. Wir - das sind ein Hacker, ein Dieb, ein Hochstapler, ein Mann fürs Grobe und ein beurlaubter FBI-Agent.

Die Abmachung ist einfach: Wir erledigen unsere Aufträge, und Charlies Anwältin löscht dafür das belastende Material, mit dem er uns selbst nach seinem Tod noch in der Hand hat. Der erste Auftrag erfordert Muskelkraft – und damit fällt er an mich. Ich bin Steele Alvarez, ehemaliger Special Forces Close Protection Specialist, oder kurz gesagt: Bodyguard für nicht ganz so nette Kerle.

Meine Aufgabe: einen scheinbar unangreifbaren Senator mit einer Vorliebe fürs Verprügeln von männlichen Prostituierten aus dem Verkehr ziehen. Doch dann lerne ich das jüngste Opfer von Senator Harlan kennen – Breck Pfeiffer, den attraktiven Escort-Boy mit dem Herzen aus Gold und der Seele eines Kämpfers.

Um Breck zu beschützen, würde ich sogar über Leichen gehen. Er will den Senator jedoch nicht tot sehen, er will Rache. Dafür werde ich jede Hilfe brauchen, die ich kriegen kann.

Ob es uns gefällt oder nicht, dieser Auftrag erfordert Teamarbeit.

Über die Autorin

Amy Wasp ist eine geborene Träumerin und Idealistin. Nachdem sie ihre Kinder großgezogen, verschiedene College-Abschlüsse erworben und die Welt im Dienst des US-amerikanischen Außenministeriums bereist hat, widmet sie sich jetzt wieder ihrer ersten großen Liebe, dem Schreiben.

Am liebsten schreibt sie über Menschen, die in einer einsam erscheinenden Welt Liebe und Zuversicht finden. Dabei zeigt sie ihre Figuren gern von ihrer verletzlichsten Seite, mit all den Hoffnungen und Ängsten, die auch ihre Leserinnen und Leser kennen.

Amy hat in Großstädten und kleinen Dörfern auf vier Kontinenten gelebt und dabei festgestellt, dass Zeit und Entfernung keine Hindernisse für die Liebe sein müssen.

Inhaltsverzeichnis

Titel

Impressum

Über die Autorin

Widmung

Die Akteure

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Epilog

Mehr von A.E. Wasp

 

 

 

Für Zoe, die mich mit ihrer Begeisterung für die Serie »Leverage« ansteckte, und für meinen Vater, dem ich meine Vorliebe für Heist-Movies verdanke.

DIE AKTEURE

 

DIE STRIPPENZIEHER

 

Charlie Bingham (45) – verstorben. Hochstapler, Dieb, Erpresser, Informationsbroker und wahrscheinlich noch so einiges mehr.

Miranda Bosley (42) – Rechtsanwältin. Charlies Nachlassverwalterin. Wahrscheinlich Charlies beste Freundin.

Josie DuPont (Alter unbekannt, da sie es nicht preisgibt) – Charlies Mitarbeiterin. Mysteriöse Dame von Welt. Versteht sich als Ersatzmutter der Jungs (sogar von Leo).

Der interessierte Freund (?) – eine körperlose Stimme am Telefon. Scheint über alle Geschehnisse auf dem Laufenden zu sein. Spricht nur mit Leo. Möchte Al genannt werden.

 

DIE JUNGS

 

Leo Shook (45) – Special Agent beim FBI. Beurlaubt aus nicht näher bekannten Gründen. Spezialist für Charlie Bingham.

Castille (Steele) Alvarez (30) – Close Protection Specialist (Bodyguard). Ex-Army-Ranger. Bezeichnet sich selbst als Sumpfratte aus Georgia.

Carson Grieves (Alter unbekannt) – Meister der Täuschung und des Betrugs. Hochstapler. Geburtsort und Geburtsdatum unbekannt.

Ridge Pfeiffer (21) – Dieb. Nicht sehr gesprächig. Experte für das Knacken traditioneller Safes und Schlösser. Fassadenkletterer und Einbrecher.

Wesley Bond (27) – Hacker und Social Engineer, Internet-Trickbetrüger. Kämpfer für soziale Gerechtigkeit.

 

DIE ARMEN KERLE, DIE IN DEN SCHLAMASSEL MIT REINGEZOGEN WURDEN

 

Breck Pfeiffer (21) – Ridges Zwillingsbruder. Ex-Collegestudent, Ex-Escort-Boy. Verrückt nach Steele.

Danny Munroe (19, fast 20) – Ex-Escort-Boy, ein Freund von Breck. Wird in die Geschehnisse hineingezogen und dann von Josie, Miranda und eigentlich auch allen anderen adoptiert.

PROLOG

 

EIN INTERESSIERTER FREUND

»Charlie hat sich ein nettes Plätzchen zum Sterben ausgesucht.«

Palmen schwankten leicht unter einem klaren blauen Himmel, die Luft schmeckte nach Salz, und die wenigen Quadratmillimeter meiner Haut, die nicht unter der Maskenbildnerarbeit, falschem Haar oder dem langen Priestergewand aus Polyester verborgen waren, spannten bereits und versprachen einen beginnenden Sonnenbrand.

Florida musste man einfach lieben. Es war ein wunderbares Fleckchen Erde, wenn es sich nicht gerade von seiner schlimmsten Seite zeigte. Sogar die in ordentlichen Reihen stehenden Grabsteine auf dem Friedhof wirkten irgendwie heiter.

Die Frau neben mir löste ihren nachdenklichen Blick von den Trauergästen, die sich um das frische Grab versammelt hatten, und schaute sich hastig um, ob jemand meine Bemerkung gehört hatte.

Pfft. Als ob ich mir einen solchen Anfängerfehler erlauben würde.

»Sprich leise, Vater, sonst fliegst du noch auf.«

Ich strich mir durch den langen grauen Bart, wobei ich überprüfte, ob er noch fest an meinem Gesicht haftete, und verzieh ihr die kritische Bemerkung. Priester vergaben, das war ihre Aufgabe, und ich war ein großer Fan von Method Acting.

»Ich meine ja nur«, sagte ich in einem leiernden Singsang. »Strahlender Sonnenschein, dazu diese hohen, klagenden Vogelrufe für das Extra-Quäntchen Dramatik, das ist doch die ideale Atmosphäre für eine Beerdigung. Volle Punktzahl für Florida. Charlie hätte das gefallen.«

Ein Mann aus der Trauergesellschaft sah misstrauisch zu mir herüber. Ich lächelte ihn wohlwollend an und hob eine Hand zum Segen. Prompt schaute er weg.

»Du Idiot, ich warne dich, wenn dich einer von denen erkennt und eine Waffe zieht, hau ich ab und überlasse dich deinem Schicksal. Kapiert?«

Ach, Miranda. Sie ließ mir nichts durchgehen, und dafür liebte ich sie.

»Klar.«

Sie nickte und widmete sich wieder der Beobachtung der schwarz gekleideten Männer und Frauen, die in Grüppchen zusammenstanden und sich unterhielten. »Außerdem ist es hier heißer als in der Hölle. So viel zur idealen Atmosphäre.«

»Es ist August, und wir sind in Sarasota, Ms Bosley. Kühler wird es hier zu dieser Jahreszeit nicht, wenn kein Wunder geschieht.« Ich räusperte mich. »Und Wunder sind rar, besonders da, wo der arme Charlie jetzt ist.« Ich neigte den Kopf und sah vielsagend zu Boden.

»Ich würde es sehr schätzen, wenn du dir Andeutungen über Charlie, wie er auf alttestamentarische Art in der Hölle schmort, verkneifen könntest. Dir macht es vielleicht nichts aus, dass er tot ist, aber ich … Also, mir wird er fehlen«, sagte sie. Ihre Augen glänzten verdächtig.

Ich seufzte und wippte leicht auf den Fußballen auf und nieder. »Es ist ja nicht so, dass mir sein Tod egal ist, Randa.« Charlies prächtige Villa mit dem Ausblick über den Strand würde ich zum Beispiel sehr vermissen. Man konnte vom Pool aus den Sonnenuntergang genießen, einfach traumhaft.

Außerdem war Charlie ein weltweit renommierter und respektierter Dieb gewesen, der auch mit Informationen handelte. Ohne ihn würde es für mich künftig schwieriger werden, denn sein Ruf und sein Einfluss hatten mir oft den Weg geebnet. Aber da ich nicht besonders sentimental veranlagt war, würde ich vermutlich trotzdem nicht lange um Charlie trauern. Um der guten alten Zeiten willen hatte ich vor, diesen letzten Job noch zu erledigen und mich danach spurlos aus dem Staub zu machen.

Diese Gedankengänge behielt ich vorerst jedoch lieber für mich. Miranda hatte dafür jetzt bestimmt kein offenes Ohr. Jedenfalls nicht, solange sie Trübsal blies.

»Ich glaube eben daran, dass Charlie Binghams gute Seiten in Erinnerung bleiben werden, verstehst du?« Ich merkte selbst, wie lahm das klang.

Sie warf mir einen Blick zu, wohl um abzuschätzen, ob ich es ernst meinte, und ich blinzelte treuherzig zurück. Sie schniefte.

»Und noch was«, fuhr ich fort. »Ich erkläre dich offiziell zum größten Trauerkloß, der mir je begegnet ist.«

Sie schnappte nach Luft. »Das nimmst du zurück!«

Ich faltete fromm die Hände. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass es als Sünde gilt, wenn ich lüge, solange ich mich als Priester ausgebe.«

»Du bist unmöglich«, sagte sie kopfschüttelnd, aber ich sprach einfach weiter.

»Gib es zu, Miranda Bosley, hinter der Fassade der eiskalten, knallharten Anwältin …«

»Professionell, meinst du wohl.«

»… verbirgt sich eine mitfühlende Seele. Du nimmst Anteil am Schicksal deiner Mandanten.«

»Charlie war eine Ausnahme«, erwiderte Miranda leise und sah mich aus zusammengekniffenen Augen an. »Die einzige Ausnahme.«

»Ach, komm schon«, sagte ich und nickte einer hübschen Rothaarigen zu, die sich in der dritten Reihe von vorn niedergelassen hatte. Ich versuchte, sie ernst anzuschauen, wie ein Mann, der sich um den Zustand ihrer Seele sorgte. Aber ganz ehrlich, alles, wofür ich Augen hatte, war ihre Handtasche, die unbeachtet unter ihrem Stuhl lag. Manchmal legten es die Leute geradezu darauf an, beklaut zu werden.

»Wie lange warst du Charlies Anwältin? Zehn Jahre? Wir beide kennen uns doch schon viel länger. Und du liebst mich.«

»Träum weiter.« Miranda musterte mich von oben bis unten, begutachtete jedes Detail meiner Verkleidung und stieß dann einen angewiderten Seufzer aus. »Selbst schuld, du wolltest dieses lächerliche Vorhaben ja unbedingt durchziehen.«

»Lächerlich?« Ich räusperte mich empört. »Hör mal, Randa, Charlies Zeit war gekommen, und alle wussten das. Viele Leute wollen ihr Gewissen erleichtern, bevor sie abtreten. Die Waagschalen ins Gleichgewicht bringen, indem sie Unrecht wiedergutmachen, das sie begangen haben. Das ist doch nicht lächerlich, sondern bewundernswert! Ich bin jedenfalls froh darüber, dass ich etwas für Charlies Seelenheil tun kann.« Gut, das war vielleicht ein bisschen dick aufgetragen. Ich strich mir wieder durch den Bart und überlegte kurz, ob ich mir einen echten wachsen lassen sollte. Die Geste hatte etwas außergewöhnlich Beruhigendes. »Ich kann doch nichts dafür, wenn ich auch ein bisschen Spaß an der Sache habe, Babe. Du kennst mich doch.«

»Stimmt, ich kenne dich. Und Charlie kannte ich auch.« Miranda bedachte mich mit einem bohrenden Blick aus ihren grünbraunen Augen. »Charlie hätte unauffällig verschwinden sollen. Möglichst ohne dass die ganze Welt es mitbekommt, so wie es alle anständigen Diebe tun. Stattdessen veranstalten wir hier diese pompöse Beerdigung und erpressen Leute, damit sie seine Arbeit zu Ende führen.«

»Harte Worte«, sagte ich. »Wo bleibt denn dein Respekt vor dem Toten?«

»Nicht hart, nur zutreffend«, erwiderte sie und setzte wieder ihr Pokerface auf. »Ich kann einfach nicht glauben, dass wir bei dieser Sache mitmachen. Dir ist schon klar, wie wahnsinnig gefährlich das ist, oder?«

»Miranda«, beschwichtigte ich sie, »es wird schon gut gehen, ganz bestimmt.«

Sie pikste mich mit einem ihrer makellos manikürten Fingernägel schmerzhaft in die Schulter. »Schau dir die Typen da drüben doch mal an. Die sind nur hier, weil wir ihnen quasi keine Wahl gelassen haben.« Sie wies mit dem Kinn auf einen engelhaften Blondschopf in der ersten Reihe, der so unnatürlich still saß, wie ich es bisher nur bei Psychopathen, Auftragskillern und absoluten Ausnahmedieben beobachtet hatte. »Der da ist Ridge Pfeiffer. Er könnte dir deine Seele rauben und wäre damit schon zwei Staaten weiter, bevor du es überhaupt bemerken würdest, mein Lieber. Und dann haben wir da drüben noch Castille Alvarez und Wesley Bond.«

Ich folgte ihrem Blick zu einer einsamen Palme, die etwas abseits von der größten Gruppe Trauernder stand. In ihrem Schatten schob sich ein unverschämt gut aussehender schwarzhaariger, breitschultriger Riese schützend vor einen kurz geratenen, unruhig wirkenden Kerl mit dunkelrotem Haar. Ich hatte schon immer gedacht, Alvarez hätte Model werden sollen, das wäre die perfekte Tarnidentität für ihn. Model-Schrägstrich-Auftragskiller. Man konnte in hässlichere Gesichter blicken, wenn man seinen letzten Atemzug tat.

»Du weißt schon, dass Steele dich auf zehn verschiedene Arten umbringen könnte, bevor du auch nur auf die Idee kämst, um Hilfe zu schreien? Und Bond könnte mit einem Kaugummi und einer Lupe einen Laserstrahl erzeugen, der deine Leiche ruckzuck in einen Schmorbraten verwandelt«, sagte Miranda.

Ich schnaubte.

»Und Special Agent Leo Shook muss ich gar nicht erst erwähnen, oder?« Fragend zog sie eine Augenbraue hoch.

»Nein, musst du nicht.«

»Und nicht zu vergessen Carson Grieves.«

Ich schaute mich nach ihm um und runzelte die Stirn. »Ich kann ihn nirgendwo entdecken.« Jetzt, wo ich so darüber nachdachte, fiel mir auf, dass ich gar nicht genau wusste, wie Grieves aussah.

»Braunes Haar, brauner Anzug, dritte Reihe. Tut so, als wäre er scharf auf die Blondine mit der tief ausgeschnittenen Bluse«, erklärte Miranda.

»Oh, verdammt«, murmelte ich und versuchte, nicht allzu beeindruckt zu klingen. »Er hat’s drauf.«

»Wundert dich das etwa?«, fragte Miranda tadelnd. »Sollte es nicht. Carson könnte dich am helllichten Tag vor zwanzig Zeugen erschießen, und keine zwei Menschen würden eine identische Personenbeschreibung abgeben oder sich überhaupt daran erinnern, dass er da war.«

»Miranda, meine Liebe, warum muss ich denn in jedem deiner kleinen Szenarien am Ende sterben?«

»Weil das hier verdammt gefährlich ist«, sagte sie und nickte lächelnd dem Bestattungsunternehmer zu, der ihr über die Köpfe der Versammelten hinweg irgendein Zeichen gegeben hatte. »Diese Typen sind nicht hier, weil sie Charlie Bingham die letzte Ehre erweisen wollen. Die wären nicht mal aus perverser Neugierde gekommen. Sie sind deiner Einladung nur gefolgt, weil Charlie etwas gegen sie in der Hand hatte und ich gedroht habe, das Material zu veröffentlichen, wenn sie nicht auftauchen und brav mitspielen.«

Miranda drehte sich wieder zu mir um. »Und du hast tatsächlich den Nerv, dich rausgeputzt wie eine Mischung aus Rasputin und dem Weihnachtsmann an Charlies Grab zu wagen.« Sie legte eine Hand auf das schwere Silberkreuz, das ich an einer Kette um den Hals trug. »Manchmal frage ich mich, ob du es darauf anlegst, erwischt zu werden. Damit du Charlie ins Grab folgen kannst.«

Ich blinzelte betroffen. Verdammt, die Frau kannte mich einfach viel zu gut und wusste besser, was in mir vorging, als ich selbst. Ich nahm ihre Hand und hielt sie locker, ganz der Priester, der eine trauernde Freundin tröstet.

»Zuerst einmal werden sie mich nicht erwischen«, sagte ich bestimmt. »Auf gar keinen Fall, verstanden? Ich habe mich noch nie erwischen lassen und habe auch nicht vor, jetzt damit anzufangen. Ich bin wie ein Geist, an den keiner einen Gedanken verschwendet. Charlies unsichtbaren kleinen Helfer hat keiner auf dem Schirm.«

Ich schaute hinüber zu den Männern, die wir eingeladen hatten. Es waren Typen wie ich oder Charlie. Gefährlich, aber anständig. Kriminelle, die sich streng an ihren moralischen Kodex hielten. Aus diesem Grund hatte Charlie sie ausgewählt. »Es ist sicherer für alle, wenn sie nie herausfinden, wer ich bin oder in welcher Verbindung ich zu Charlie stehe, und so soll es bleiben. Ich werde mich in Charlies Missionen nicht einmischen, und wenn doch, dann nur aus der Ferne.«

Miranda sah mich einen Moment lang prüfend an, dann nickte sie.

»Und zweitens spüre ich Rasputins Geist in mir«, fuhr ich fort und fasste mir mit einem Finger an die Schläfe. »Ihn zu verkörpern, ist nicht einfach, aber ein Tipp von Tyra Banks war sehr hilfreich. Du kennst doch das YouTube-Video, in dem sie erklärt, man könne ruhig schlampig herumlaufen, solange man es mit Stil tut. Also, was hältst du von meiner Rasputin-aber-mit-Stil-Interpretation?« Ich blickte an meinem wallenden Gewand hinab.

Sie konnte ein kleines Lachen nicht unterdrücken, tarnte es jedoch schnell als Schluchzer und rieb sich die Stirn.

»Furchtbar! Nimmst du eigentlich je irgendetwas ernst?«, fragte sie.

Ich seufzte. »Natürlich, das weißt du doch, Randa-Panda«, sagte ich. »Ich nehme nichts von alledem hier auf die leichte Schulter. Ich nehme Charlies letztes Anliegen ernst, und die Gefahr, die von Alvarez, Pfeiffer, Grieves, Bond und Agent Shook ausgeht, nehme ich auch ernst. Aber die Aufträge, die sie erledigen sollen, weil Charlie selbst nicht mehr dazu gekommen ist, nehme ich noch viel ernster. Das soll Charlies letzter großer Triumph werden, Babe, sein letzter Coup. Wir bereiten ihm einen stilvollen Abgang. Einverstanden?«

Sie atmete tief ein und zupfte am Saum ihres schwarzen Jacketts, als suche sie dort Halt.

»Ich wiederhole mich ungern«, bemerkte sie dann ohne eine Spur ihrer früheren Ergriffenheit, »aber hier ist es heißer als in der Hölle.«

Miranda war wieder ganz die beherrschte Anwältin, und ich presste die Lippen zusammen, damit sie mein Lächeln nicht sah. Gott, wieso fand ich ernsthafte Leute, die sich ständig Sorgen machten und sich an die Regeln hielten, nur immer so anstrengend?

»Hör auf mit dem Gejammer«, sagte ich und strich mir wieder durch den Bart. »Was glaubst du, wie ich unter diesem Rasputin-Gewand schwitze?«

»Leg es doch ab. Sogar Priester müssen bei dieser Hitze Zugeständnisse machen.«

»Geht leider nicht«, wandte ich betrübt ein. »Ich trage nichts drunter.«

Es dauerte eine Sekunde, bis sie das vollständig verarbeitet hatte, aber dann starrte sie mich mit großen Augen und offen stehendem Mund an.

»Ich glaub dir kein Wort.« Sie schüttelte kaum wahrnehmbar den Kopf. »Nie im Leben bist du nackt da drunter.«

War ich nicht, jedenfalls nicht komplett, aber ihr Gesichtsausdruck war die Lüge wert. »Möchtest du nachschauen?«

Miranda sah so schockiert aus, dass ich fast in Lachen ausgebrochen wäre. Sie kniff die Augen zusammen. »Dass du noch lebst, lässt mich ernsthaft am Der-Stärkste-überlebt-Erfolgskonzept zweifeln.«

»Ich habe neun Leben, wie eine Katze«, sagte ich verhalten lächelnd.

»Acht, wenn du das hier durchziehst und ich dich danach in die Finger kriege, Vater.«

Der Bestattungsunternehmer gab ein weiteres Zeichen und winkte mich zu dem bescheidenen Podium, das vor den versammelten Trauergästen aufgebaut worden war. Showtime.

Ich drehte mich zu Miranda um. »Du erledigst deinen Teil und ich meinen. Für Charlie.«

»Für Charlie«, wiederholte sie und wollte sich gerade auf den Weg machen, da kam ein Mann auf uns zu. Er war groß, mit dunklem, an den Schläfen leicht angegrautem Haar und dem schmalen, markanten Gesicht eines Models. Kiefer und Wangenknochen waren so scharf ausgeprägt, dass man damit Diamanten hätte schneiden können. Mein Herz erkannte ihn zuerst und klopfte bereits heftig in meiner Brust, als mein Verstand ihn endlich identifizierte.

Special Agent Leonard Shook. Durch die silbernen Schläfen wirkte er noch vornehmer als früher, was wirklich erstaunlich war. Einst der Liebling des FBI, war er kürzlich für längere Zeit beurlaubt worden.

Mirandas Augen weiteten sich im selben Moment wie meine, wenn auch wahrscheinlich aus einem anderen Grund.

»Ms Bosley«, grüßte Shook freundlich, während er mich nur mit einem flüchtigen Blick streifte. »Vater.«

Seine tiefe, raue Stimme, volltönend wie ein Kontrabass, hatte ich wohl schon eine Million Mal in meinen Träumen gehört. Natürlich hatte er bei diesen Gelegenheiten weit schmutzigere Dinge gesagt und mich todsicher nicht mit »Vater« angesprochen. Ich hingegen hatte ihn möglicherweise schon das eine oder andere Mal »Daddy« genannt. Jeden Morgen, wenn ich verschwitzt und erregt und leider allein aus diesen Träumen erwachte, redete ich mir ein, dass seine Stimme unmöglich so tief sein konnte und meine Vorstellungskraft mir diesbezüglich ganz sicher einen Streich spielte.

Aber da lag ich falsch. Wenn überhaupt, klang sie in Wirklichkeit noch rauer und aufregender.

»Vater?«, fragte Miranda scharf und schaute mich eindringlich an.

Verflucht, während ich in Erinnerungen an meine feuchten Träume schwelgte, stand das Objekt meiner Begierde leibhaftig vor mir und wartete auf eine Antwort.

»Verzeihung«, sagte ich in einer etwas höheren Stimmlage als normal und imitierte den leichten russischen Akzent meiner Großmutter. »Die Hitze macht mich ganz benommen.«

Leo runzelte die Stirn und fasste mich am Ellbogen, wohl aus Sorge, ich könnte das Bewusstsein verlieren. »Geht es Ihnen nicht gut? Möchten Sie sich setzen?«

»Nein, nein«, wehrte ich ab und schüttelte den Kopf, obwohl das Teufelchen auf meiner Schulter anderer Meinung war. Ja, bitte, am liebsten auf deinen Schoß. »Es ist alles in Ordnung.«

»Vielleicht legen Sie besser das Gewand ab«, schlug Leo vor, was Miranda mit einem erstickten Geräusch quittierte.

»Nein, danke. Das wäre unangemessen.«

»Sie werden doch um der Pietät willen keinen Hitzschlag riskieren«, stellte Leo sachlich fest und griff nach dem Saum.

»Nein! Bitte nicht, mein Sohn.« Ich trat einen Schritt zurück. Sagten russisch-orthodoxe Priester überhaupt »mein Sohn«? Ich konnte mich nicht erinnern. In diesem Moment kam ich mir schrecklich schlecht vorbereitet vor. Ich saß hier auf dem Präsentierteller, schon ein klitzekleiner Fehler konnte mich auffliegen lassen.

Vielleicht hatte Miranda recht damit, dass ich das alles nicht ernst genug nahm. Ich hatte mir eingeredet, es sei wichtig, heute hierherzukommen. So konnte ich die Lage beurteilen, ohne selbst gesehen zu werden, und Miranda später hinter den Kulissen helfen. Dabei war ich davon ausgegangen, dass die Priesterverkleidung mich praktisch unsichtbar machen und keiner dieser Ganoven ausgerechnet einen Geistlichen näher unter die Lupe nehmen würde.

Aber ich hatte eben nicht mit Leo Shook gerechnet. Verflucht, wieso ging mir dieser Typ so unter die Haut?

Ich konnte nicht mehr sagen, wann oder wo genau ich mich in Leo Shook verliebt hatte, aber es war passiert, bevor wir uns persönlich begegnet waren. Er war der Javert zu Charlies Jean Valjean, genau wie bei den Gegenspielern aus »Les Misérables« hatten sich ihre Wege immer wieder gekreuzt. Einmal hätte er Charlie fast erwischt, ohne es zu wissen. Shook war Charlies Nemesis gewesen, ihm immer ganz dicht auf den Fersen. Die Katz-und-Maus-Spielchen waren so amüsant gewesen, dass ich mich, obwohl ich zu Charlies Team gehörte, manchmal nicht hatte entscheiden können, wem ich nun die Daumen drücken wollte.

Ich atmete tief durch. »So«, sagte ich mit meiner hohen Priesterstimme und vergaß auch nicht den Akzent, »jetzt geht es mir besser.«

»Wenn Sie meinen«, entgegnete Leo zweifelnd.

»Vielleicht sollten Sie die Trauerrede lieber nicht halten, Vater«, schlug Miranda vor. »Ich übernehme das gerne für Sie, dann können Sie sich für die letzten Bestattungsriten zurückziehen.«

Ich nickte, dankbar für den Ausweg, den sie mir bot. »Ja, so könnte es gehen.«

»Ich muss zugeben, es war mir nicht bewusst, dass Charles Bingham so ein ausgesprochen religiöser Mensch war.« Leo musterte Miranda skeptisch.

Gott sei Dank hatte er sich an sie gewandt. Ich war mir nicht sicher, ob ich seinem prüfenden Blick standgehalten hätte. Wahrscheinlich hätte ich es nicht geschafft und die Sache vermasselt, noch bevor sie richtig angefangen hatte.

Miranda hingegen verwendete sein Misstrauen gegen ihn. »Es gibt viele Dinge, die Sie über meinen Mandanten nicht wissen, Agent Shook.«

»Es hat ganz den Anschein. Dass Charlie ein Erpresser war, wusste ich zum Beispiel auch nicht.«

»›Erpressung‹ ist ein hässliches Wort«, gab sie zurück. »Und in diesem Fall trifft es auch gar nicht zu. Es handelt sich um eine rein geschäftliche Vereinbarung.«

»Vereinbarung«, wiederholte Leo. »Mit wem? Charlie ist tot. Die zahnmedizinischen Unterlagen haben das bestätigt.«

Merkwürdig, wie betroffen er sich anhörte. Wir hatten allerdings auch eine verflucht intensive Dreiecksbeziehung, Charlie Bingham, Leo Shook und ich.

»Als Nachlassverwalterin bin ich autorisiert, die Bedingungen der Vereinbarung auszuhandeln, allerdings in Zusammenarbeit mit einem anderen Interessenten.«

»Ein Interessent«, sagte Leo und schnaubte gereizt. »Und wer zum Teufel soll das sein?« Er warf mir einen entschuldigenden Blick zu. »Bitte verzeihen Sie meine Ausdrucksweise, Vater.«

Mr Interessent, das war ich höchstpersönlich. Der Strippenzieher hinter den Kulissen, der mit Charlie Binghams Ehrenrettung beauftragt worden war und aus dem Verborgenen heraus fünf sehr gefährliche Männer wie Marionetten an unsichtbaren Fäden lenkte.

Ich winkte ab und betrachtete hoch konzentriert die Spitzen meiner auf Hochglanz polierten schwarzen Schuhe, die unter dem Gewand hervorlugten.

»Ich werde von meinen Mandanten sehr für meine Diskretion geschätzt«, merkte Miranda an.

»Es interessiert mich verdammt wenig, was Ihre Mandanten an Ihnen schätzen«, erwiderte Leo bissig. »Ich will wissen, wie vielen Leuten Charlie erzählt hat, was er über mich wusste. Oder zu wissen meinte.«

»Zurzeit bin ich die Einzige.« Miranda inspizierte ihre Fingernägel. »Wie ich bereits sagte, als Nachlassverwalterin bin ich bevollmächtigt, Ihnen und einigen weiteren ausgewählten Kandidaten einen Job anzubieten. Natürlich im Austausch gegen … gewisse vertrauliche Informationen, die für Sie wichtig sein könnten.«

Miranda zuckte leicht die Schultern, als wäre es nichts Besonderes, dass sie einen FBI-Agenten auf einem Friedhof vor fünf Dutzend Zeugen derartig unter Druck setzte. Sie hatte mehr Mumm als die meisten, sogar viel mehr, als Charlie je bewiesen hatte. Verflucht, sie war wahrscheinlich mutiger als die ganze Versammlung von Trauernden zusammengenommen. Außerdem hatte sie einen gesunden Respekt vor dem Gesetz, weshalb sie auch so darauf bedacht war, es nicht zu brechen. »Sie haben das Vorkaufsrecht, Agent Shook. Wenn Sie das allerdings nicht nutzen möchten, werden andere die Gelegenheit erhalten, für die Ware zu bieten.«

»Diese Ware, also Bilder von …«

Miranda fiel ihm schroff ins Wort. »Nicht hier. Wir halten nach der Beerdigung eine exklusive Versammlung in Mr Binghams Haus ab. Dann können Sie Ihre Fragen stellen.«

»Eine exklusive Versammlung«, wiederholte Leo.

Er verhielt sich wie ein Papagei – was ganz untypisch für den gelassenen, in sich ruhenden Agent Shook war, den ich kennengelernt hatte. Normalerweise hätte ich mich sehr darüber amüsiert, aber vor lauter Furcht, entdeckt zu werden, hatte ich immer noch Herzrasen. Der Schweiß lief mir buchstäblich in Strömen die Beine hinunter und sammelte sich in meinen ach so angemessenen Schuhen.

»Sehr exklusiv«, bestätigte Miranda, »Sie sollten unbedingt daran teilnehmen. Das Haus ist oben an der Gulf Shore Road, das Unternehmen heißt …«

»Bigolb-Autumn Enterprises, ich weiß«, sagte Shook seufzend.

Er kannte Charlies Wohnsitz? Und den dämlichen Namen von Charlies Briefkastenfirma auch? Wie war das möglich?

Miranda war schockiert und versuchte gar nicht erst, es zu verbergen. »Woher wissen Sie das?«, fragte sie. »Diese Information ist streng vertraulich.«

»Ach, das weiß ich schon seit Langem«, antwortete Shook müde und schüttelte wehmütig den Kopf. »Nur Charlie Bingham würde sich einbilden, er könne ein Unternehmen ›Big Old Bottom Enterprises‹ nennen und das vor aller Welt geheim halten.«

Aber es war wirklich ein Geheimnis gewesen. Nicht einmal die zwei oder drei Personen, denen Charlie die Wahrheit anvertraut hatte, hätten es je herausgefunden, wenn er es ihnen nicht gesagt hätte. Leo Shook war scharfsinniger, als ich ihm zugetraut hatte. Und er war Charlie dichter auf den Fersen gewesen, als der sich jemals hätte träumen lassen.

Miranda und ich wechselten einen Blick. Verdammter Mist!, signalisierte ich mit meinem und las in ihrem: Du Idiot, ich hab dich gewarnt, dass es gefährlich wird!

Dass Leo über diese Informationen verfügte, war eine besorgniserregende Neuigkeit. Trotzdem musste ich zugeben, dass ich auch verdammt angetörnt war.

Leo fuhr sich mit einer Hand durch sein schwarzes Haar. »Dann freue ich mich auf die Besprechung später im Haus«, sagte er in einem Tonfall, der nahelegte, dass es weder eine erfreuliche noch eine friedliche Auseinandersetzung werden würde.

Er drehte sich zu mir. »Kommen Sie auch, Vater?«

»Wer, ich? Nein. Um Himmels willen, nein«, erwiderte ich lächelnd, als wäre das ein völlig abwegiger Gedanke, und übertrieb es dabei vielleicht etwas mit dem Akzent. Ich wäre zwar gern dabei gewesen, damit ich jedermanns Reaktion mit eigenen Augen hätte beobachten können, aber es war klüger, die Geschehnisse aus der Ferne zu verfolgen. Zumindest für den Augenblick.

Leo nickte. »Also dann. Darf ich um Ihren Segen bitten, Vater?«, fragte er mit ernster, feierlicher Miene.

Verflucht, als Agent, der sich in gewissen Kreisen bewegte, war er natürlich mit den Gepflogenheiten der russisch-orthodoxen Kirche vertraut.

Glücklicherweise hatte sich der Wortlaut des Segens dank der unzähligen Messen, die ich mit meiner Babuschka Sonia besucht hatte, so tief in mein Gedächtnis eingebrannt, dass ich ihn, ohne nachzudenken, aufsagen konnte. Ich erhob eine Hand und hielt sie ihm dann entgegen, wie es der Brauch verlangte, woraufhin er sie mit seinen beiden umschloss und zum Kuss an die Lippen zog.

»Passen Sie gut auf sich auf«, sagte Leo, als er meine Hand losließ. Er nickte Miranda kurz zu und nahm neben Ridge Pfeiffer Platz.

Ich ballte die Fäuste so fest, dass ich den schnellen Puls in jedem meiner Finger spürte. Nur eine einzige Berührung von Leo, und mein Magen fuhr Achterbahn.

Miranda hatte recht: Charlies letzter Coup erwies sich als gefährliches Spiel für uns alle. Aber jetzt war es zu spät, um noch einen Rückzieher zu machen.

KAPITEL 1

 

STEELE

Zum Glück war jemand schlau genug gewesen, um die Klimaanlage in Charlies Villa eingeschaltet zu lassen. Tote zahlen schließlich keine Rechnungen. Verdammtes Florida. Ich hatte es vor langer Zeit verlassen und irgendwie ganz vergessen, wie übel einem die Luftfeuchtigkeit mitspielen konnte. Rund um Bagdad stiegen die Temperaturen zwar ab und zu auch über fünfundvierzig Grad, aber dort herrschte eine trockene Hitze.

Ich überlegte, mein Jackett abzulegen, oder wenigstens die Krawatte. Doch bevor ich nicht herausgefunden hatte, was zum Teufel sich hier abspielte, würde ich mir keine Unvorsichtigkeit erlauben.

Abgesehen davon stand mir der Anzug hervorragend.

»Nette Hütte, was?«, bemerkte Wesley, der mir über die Schulter schaute, während ich mir den Grundriss des Hauses einprägte und in Gedanken eine Liste der kritischen Stellen anlegte. Wie gesagt, solange ich nicht wusste, warum ich hier war, wollte ich auf alles vorbereitet sein.

»Ich habe schon größere gesehen.« Im Vergleich zu manchen Anwesen der sehr reichen und sehr bösen Männer, die mich als Bodyguard anheuerten, wirkte dieses hier wie ein Poolhaus. Was nicht abfällig klingen soll, überhaupt nicht. Allein der Eingangsbereich war größer als die Wohnung, in der ich aufgewachsen war.

Einer nach dem anderen, wie eine Reihe Entenküken, folgten wir Ms Miranda Bosley, Charlies Anwältin, durch den gefliesten Flur. Aus der ganzen Gruppe kannte ich nur Wesley, und daher war er der Einzige, dem ich so weit vertraute, dass ich ihn hinter mir gehen ließ. Sogar Ms Bosley wirkte, als würde sie mir, ohne zu zögern, ein Messer in den Rücken rammen, sollte sie das für notwendig erachten.

Wes hier zu treffen, hatte mich überrascht. Wir hatten uns kurz unterhalten, und obwohl wir beide unsere Worte auf die Goldwaage legten, stellte sich schnell heraus, dass wir aus demselben Grund hier waren – wir wurden von Charlie erpresst.

Ich konnte mir nicht vorstellen, was Charlie gegen dieses Kind in der Hand haben könnte. Bisher hatte ich nur zweimal mit Wes zusammengearbeitet; er war die Art von Hacker, die sich für eine gute Sache auch mal auf die dunkle Seite schlug. Eine Mischung aus MacGyver und Anonymous, weshalb das FBI ihn wahrscheinlich beobachtete, seit er zwölf gewesen war.

Schon bei unserer ersten Begegnung war mein Beschützerinstinkt sofort angesprungen. Außer dass er ab und zu auf meine Muskelkraft zählte, hatte er jedoch nie Hilfe nötig. Er konnte sich dank seiner Jiu-Jitsu-Kenntnisse ganz gut behaupten. Aber manchen Leuten muss man einfach eine richtige Tracht Prügel verabreichen, und das übernahm ich gern für ihn. Es war befriedigend.

Engelchen hingegen, wie ich den hübschen blonden Knaben getauft hatte, der während der Beerdigung ein paar Reihen vor mir gesessen hatte, weckte ganz andere Instinkte in mir. Seinetwegen hatte ich an Dinge gedacht, die auf einer Beerdigung tabu waren. Allerdings wirkte Engelchen auch nicht gerade so, als wäre er von Trauer überwältigt. Ich war nicht wirklich überrascht gewesen, als er sich nach der Beerdigung Mirandas Gefolge anschloss, zu dem auch Wes und ich gehörten. Hochinteressant. Was hatte dieser Chorknabe wohl verbrochen, dass er sich in so jungen Jahren bereits in so schlechter Gesellschaft wiederfand?

Ich spielte mit der Ehrenmedaille, die ich immer in der Hosentasche bei mir trug und die mich an all die Situationen erinnern sollte, die ich überlebt hatte, ebenso wie an die Freunde, die nicht so viel Glück gehabt hatten. Das vertraute Gefühl der geprägten Oberfläche besänftigte die nagenden Zweifel, die sich in meinem Unterbewusstsein regten.

Der vierte Kandidat in unserer kleinen Parade hatte neben Engelchen gesessen. Ich hatte ihm den Spitznamen »Mr Bundesagent« gegeben, denn dieser Typ war so offensichtlich ein Agent, dass ich darauf meinen Hut verwettet hätte. Ich schätzte ihn auf Ende dreißig, maximal Anfang vierzig.

Für einen einfachen Cop um die vierzig war er viel zu gut in Form. Er wirkte, als könnte er sich in einem Kampf gut behaupten und bei einer Verfolgungsjagd locker mithalten. Alles an ihm verriet den Bundesagenten: sein Haarschnitt, die Körperhaltung und, nicht zu vergessen, das Achselholster, das sich unter seinem Jackett abzeichnete. Wer zu Charlie Binghams Beerdigung ging, musste nun mal damit rechnen, dass die Mehrheit der Trauergäste bewaffnet erschien.

Das fünfte Mitglied unserer Gruppe, Mr Anonym, bot keinerlei Anhaltspunkte für eine Einschätzung seiner Person. Er sah so unglaublich durchschnittlich aus, dass ich Schwierigkeiten gehabt hätte, ihn zu beschreiben. Da er bisher noch kein einziges Wort gesprochen hatte, konnte ich keine Rückschlüsse aus einem möglichen Akzent oder Sprachmuster ziehen. Seine unauffällige Anzughose und das Hemd aus dem Kaufhaus gaben keinen Hinweis auf seinen Beruf oder seine Herkunft. Aber ich nahm an, dass er irgendwie zu uns gehörte, denn er wirkte trotz allem nicht wie ein gesetzestreuer Durchschnittsbürger.

»Meine Herren, bitte setzen Sie sich.« Miranda deutete auf eine Gruppe von Sesseln und Sofas in dem riesigen Wohnzimmer. Deckenhohe Fenster gewährten einen großartigen Ausblick auf den Golf. Im Vorbeigehen registrierte ich den Höhenunterschied zum Strand und eine Steintreppe, die zu den oberen Stockwerken führte.

»Bitte, Mr Alvarez, wenn Sie so freundlich wären.« Miranda schaute demonstrativ von mir zu den anderen vier Männern, die bereits Platz genommen hatten.

Engelchen saß allein auf einem Zweisitzer, die reinste Platzverschwendung. Ich ging zu ihm hinüber und schenkte ihm ein Lächeln der Stufe vier. Ich bin ein toller Typ, du bist ein toller Typ, und wir beide stehen auf tolle Typen. Später irgendwann Lust auf Sex?

Er blickte einfach durch mich hindurch, mit Augen, so kalt und leer, wie ich sie bisher nur bei Scharfschützen und Eishockeytorhütern gesehen hatte. Es fühlte sich an, als hätte er mir einen Eimer kaltes Wasser ins Gesicht geschüttet.

Gut, dann eben nicht. Ich lächelte weiter, änderte beiläufig den Kurs und setzte mich neben Wesley, wobei ich mit einer Hand die Knöpfe meines Jacketts öffnete.

Wesley, der kleine Scheißer, simulierte mit den Händen einen Flugzeugabsturz und untermalte das Ganze mit nahezu lautlosen Soundeffekten.

»Was soll’s? Eh nicht mein Typ«, murmelte ich ihm zu. Das war nur zum Teil gelogen. Ich stand auf Männer, die etwas zugänglicher waren und – um ganz ehrlich zu sein – etwas weniger selbstsicher. Ich mochte es, wenn jemand mich brauchte. Engelchen kam bestens allein klar, das merkte ich ihm an.

Miranda schlug die Beine übereinander und wippte mit dem oberen Stiletto-beschuhten Fuß rhythmisch zu einer Melodie, die wohl nur sie wahrnahm. Sie war eine gut aussehende, schlanke Frau, deren durchdringenden grünbraunen Augen nichts entging. Sie wirkte, als würde sie all unsere Geheimnisse kennen. Und dem Brief nach zu urteilen, der mich dazu veranlasst hatte, mich von meinem heimatlichen Sumpf an die Sonnenküste zu begeben, tat sie das auch.

Eine lateinamerikanisch wirkende Frau von unbestimmbarem Alter, die eine Art Hausmädchenuniform trug, wie ich sie nur aus Filmen kannte, rollte einen eleganten Servierwagen herein. Darauf standen ein silbernes Kaffeeservice und ein mit Kondenswasser beschlagener Krug voll Eistee.

»Tee für die Herren? Ms Bosley?« In ihrer Stimme schwang nur ein Hauch von Akzent mit. »Oder Kaffee? Ich kann beides anbieten.«

Miranda schloss die Augen und massierte sich die linke Augenbraue. »Josie, was soll denn das?«

Josie richtete sich auf und blinzelte. »Es ist heiß, Miran… Ma’am. Ich dachte, nach der Beerdigung wäre eine Erfrischung angenehm.«

Miranda hielt die Augen geschlossen, wies Josie jedoch mit einer Geste an, weiterzumachen. Der Wagen bewegte sich fast lautlos über den polierten Holzboden.

»Oh, was haben wir denn hier für einen niño bonito, einen hübschen jungen Mann?« Josie reichte Engelchen ein Glas mit Eistee. Ich hätte schwören können, dass sie ihn nur zu gern in die Wange gekniffen hätte. Ihr Akzent klang allerdings eher nach Südstaaten als nach Mexiko, was ihre Herkunft anging. Wahrscheinlich sprach sie nicht besser Spanisch als ich: gut genug, um eine Mahlzeit zu bestellen, nach der Toilette zu fragen oder zu flirten.

Miranda seufzte schwer, als Josie den Wagen in meine Richtung schob.

»Eistee? Sie sehen ein wenig erhitzt aus.« Josie schenkte mir bereits ein Glas ein, bevor ich auch nur zu einer Antwort ansetzen konnte.

»Danke, Ma’am.« Ich nahm das herrlich kalte Glas entgegen und seufzte glücklich auf, als ich daran nippte. Es schmeckte eher wie Zuckerlimo mit einem Hauch von Tee-Aroma, genau wie der Eistee meiner Mutter.

Josie richtete sich auf und blickte mir direkt in die Augen. »Sie riechen nach Ärger. Und sehen viel zu gut aus. Was Sie sicher nicht zum ersten Mal hören.«

Ich grinste sie an. Für Frauen mittleren Alters hatte ich etwas übrig. Ihnen konnte man nichts vormachen – sie durchschauten einen sofort. Josie und meine Mutter würden sich prächtig verstehen.

»Josie.« Miranda klang schnippisch.

Josie presste die Lippen zusammen, und ich hätte schwören können, dass sie dabei vor Entrüstung schnaubte. Egal, was zwischen den beiden vorging, Josie hatte mich bereits auf ihre Seite gezogen. Nachdem sie auch den Rest der Gruppe mit Getränken versorgt hatte, rollte sie den Wagen zu Miranda. »Fehlt sonst noch etwas? Ich könnte noch bleiben und ein paar Snacks zubereiten.«

»Nein, danke.«

»Ganz sicher nicht, Ma’am?«

Ich hätte gegen ein paar Pizzen nichts einzuwenden gehabt.

»Ganz sicher. Und, Josie?«

»Ja?«

»Bringen Sie bitte dieses lächerliche Kostüm dahin zurück, wo auch immer Sie es gefunden haben.« Miranda verbarg ihr Lächeln hinter vorgehaltener Hand, doch ihre Augen verrieten sie.

»Gefällt es Ihnen nicht?« Josie nahm die weiße Schürze ab. »Ich mag es. Ich finde, es verleiht mir ein offizielles Aussehen.«

Miranda schüttelte gutmütig den Kopf. »Das haben Sie wirklich nicht nötig, Josie.«

Josie reichte ihr eine zierliche Tasse, gefüllt mit Kaffee, ohne Milch. »Wie Sie wünschen, Miranda.«

»Danke sehr.« Miranda nahm einen Schluck, und sofort entspannten sich ihre Schultern ein wenig. »Ich rufe Sie nach der Besprechung an.«

Josie nickte und öffnete den Mund, als ob sie etwas sagen wollte, ging dann jedoch kopfschüttelnd davon.

Sehr interessant. Ich hatte schon mit vielen reichen Leuten zu tun gehabt, sogar mit ein paar äußerst einflussreichen Staatsanwälten, und normalerweise nahmen diese eine Bedienstete so gut wie nie zur Kenntnis. Umgekehrt würde eine Hausangestellte es sich nie herausnehmen, auf diese Weise mit ihrem Arbeitgeber zu sprechen.

Es war bereits später Nachmittag, und die tief stehende Sonne sandte ihre Strahlen durch die getönten Fenster. Reflektiert vom türkisfarbenen Wasser des Ozeans, tauchten sie das Zimmer in einen goldenen Schein. Winzige Partikel tanzten im Licht, und mir fiel auf, dass die Regale und Dekorationsgegenstände in dem geschmackvoll eingerichteten Raum von Staub bedeckt waren. Charlie hatte dieses Zimmer entweder schon lange nicht mehr benutzt, oder er hätte ein paar echte Hausmädchen beschäftigen sollen.

»Lassen Sie uns anfangen.« Miranda zog einen braunen Umschlag aus ihrem Aktenkoffer und legte ihn sich auf den Schoß. »Bevor wir uns den Details Ihres Auftrags widmen, halte ich eine Vorstellungsrunde für angebracht.«

»Meiner Meinung nach sollten wir schnellstmöglich zum Punkt kommen«, widersprach Mr Bundesagent. »Ich kenne bereits drei dieser Männer, und mit keinem von ihnen möchte ich unbedingt Freundschaft schließen.«

Jemand sollte diesem Kerl mal eine reinhauen, damit ihm das spöttische Grinsen verging. Allerdings wäre es schade um sein Gesicht. Er sah gut aus, wenn man auf den Typ stand. Markant wie Captain America, wenn er nicht gerade so tat, als wäre er was Besseres. Denn da er mitten unter uns in diesem Zimmer saß, statt Verbrecher zu verhaften, nahm ich an, dass sein Heiligenschein etwas von seinem Glanz verloren hatte. Vielleicht sollte er seine Einstellung noch mal überdenken.

Aber gut. Es gab mehr als einen Weg, einen Typen wie ihn zu provozieren. Ich hielt zwar vieles über mich und meine Vergangenheit geheim, aber zu meiner Homosexualität stand ich. Schließlich hatte ich die Zeit als schmächtiger schwuler Halbwüchsiger nicht überlebt, um meine sexuelle Orientierung als Erwachsener wieder zu verstecken.

Ich lehnte mich zurück und überkreuzte gemächlich die Beine, was seine Aufmerksamkeit erregte. Während ich mir die Manschetten zurechtzog und die Bügelfalten meiner Hose richtete, ließ ich den Blick langsam an Mr Bundesagent rauf- und runterwandern. Ich musterte ihn ganz offen, hob eine Augenbraue und grinste ihn an.

»Ach, wirklich?« Ich ließ ein wenig Süd-Georgia-Sumpfratten-Akzent durchklingen. »Ich hätte nichts dagegen, dir zu zeigen, wie freundschaftlich ich werden kann.« Ich beugte mich vor. »Sobald du dir den Stock aus dem Hintern geholt hast, Mr Bundesagent.« Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Miranda an ihrem Kaffee nippte und uns beobachtete.

Zu meiner Überraschung zog der Kerl ebenfalls eine Augenbraue hoch und nahm mich von Kopf bis Fuß in Augenschein. Einerseits war das irgendwie heiß, andererseits beschlich mich aber ein ungutes Gefühl. Anscheinend registrierte er jedes noch so kleine Detail und speicherte es mental ab. Als würde er erkennen, dass der teure Anzug ein Geschenk eines großzügigen Gönners gewesen war, während ich die Tommy-John-Unterwäsche aus der Kommode einer meiner Zielpersonen gestohlen hatte. Schlechte Menschen hatten überraschend oft einen hervorragenden Geschmack in Klamottenfragen, und an der Unterwäsche hatten immer noch die Etiketten gehangen.

Mr Bundesagent schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, Alvarez, aber daraus wird wohl nichts. Du bist nicht mein Typ. Ich mag meine Männer ein wenig respektabler. Und wenn ich von den vielen zierlichen jungen Männern ausgehe, mit denen du dich im Bett und an weniger bequemen Orten vergnügst, bin ich genauso wenig dein Typ.«

Wesley stieß ein lang gezogenes »Oooooh« aus und zeigte mit dem Finger auf mich. »Brauchst du ein Pflaster? Das hat bestimmt wehgetan.«

Unter Aufbietung all meiner Selbstbeherrschung lehnte ich mich langsam zurück. Woher zum Teufel kannte der Kerl meinen Namen und wusste, mit wem ich schlief? Ich sah hinüber zu Miranda, die meinen Blick gleichmütig erwiderte. Ich vergaß immer wieder, dass sie alle Trümpfe in der Hand hielt. Ich hatte die Wahl. Entweder ging ich jetzt voll auf Mr Bundesagent los, oder ich ließ es gut sein. Da ich das, was Charlie gegen mich in der Hand hatte, unbedingt an mich bringen wollte, entschied ich mich für Letzteres.

Ich zwang mich zu einem Lächeln. »Zweimal abgeblitzt an einem Tag. Ich hab’s offensichtlich nicht mehr drauf.«

Engelchen brach in schallendes Gelächter aus, und sogar Mr Anonym hielt nur mühsam ein Lächeln zurück.

»Ach, Engelchen, du nicht auch noch.« Ich legte mir eine Hand aufs Herz. »Ich bin am Boden zerstört.« Ich kippte den Rest meines Eistees hinunter und hätte gern gewusst, ob Charlie freundlicherweise sein Whiskysortiment aufgestockt hatte, bevor er starb.

Verdammter Charlie. Das war alles seine Schuld. Ich hatte ihn ein einziges Mal getroffen, nur einen Auftrag mit ihm zusammen erledigt, und das war Jahre her. Als die Frau, von der wir beide dachten, sie wäre auf seiner Seite, mir befohlen hatte, ihn zu erschießen, hatte ich meine Entscheidung im Bruchteil einer Sekunde getroffen. Ich hatte gerade lange genug gezögert, dass er entwischen konnte. Für Leute, die wie diese Frau ein doppeltes Spiel spielten, hatte ich nichts übrig. Und das war nun der Dank dafür, dass ich das Richtige getan hatte.

Ich atmete ein paarmal tief durch, bis ich mich beruhigt hatte. Ehrlich gesagt wusste ich genau, womit Charlie mich erpresste. Wenn es herauskäme, wäre das nicht nur schlecht für die Army und mich, sondern auch für die Männer, die mit mir gedient hatten. Ich war wegen der Dinge, die ich getan hatte, vor langer Zeit mit mir ins Reine gekommen, und die Army war mir herzlich egal. Aber ich würde lieber sterben, bevor ich zuließ, dass meine Männer für meine Taten büßen mussten. Damit war es mir todernst. Wir hatten mehr als einmal unsere Leben füreinander riskiert, und ich würde es jederzeit und ohne Zögern wieder tun.

Miranda räusperte sich. »Wie gesagt, ich denke, es ist Zeit für eine Vorstellungsrunde.«

»Warum übernimmt das nicht Mr Bundesagent?«, schlug ich vor. »So, wie es aussieht, weiß er ja bereits alles über uns.«

»Für dich immer noch Mr Special Agent, Alvarez. Wie in ›Special Agent Leo Shook vom FBI‹. Wenn ich wollte, könnte ich dich auf der Stelle verhaften.«

Ha. Er war also tatsächlich ein Agent. Hatte ich es doch gewusst.

»Das wage ich zu bezweifeln«, warf Miranda ein. »Immerhin wurden Sie von Ihrer Behörde offiziell beurlaubt.«

Wesley zeigte nun auf Special Agent Shook und brach in Gelächter aus. »Oooh, noch ein Pflaster, bitte.«

Shook wandte sich ihm zu. »Wer zum Teufel sind Sie eigentlich? Nein, sagen Sie nichts. Ich finde es selbst heraus. Ich kann jeden hier identifizieren.«

Er deutete zuerst auf mich. »Castille Alvarez. Auch Steele genannt. Netter Spitzname übrigens, so männlich und originell. Hauptberuflicher Bodyguard und Teilzeit-Auftragskiller. Normalerweise für die bösen Jungs tätig, wahrscheinlich weil sie besser zahlen.«

Auftragskiller? Was redete der Kerl für einen Blödsinn! Ich sprang auf. »Zwei.« Zur Bekräftigung hielt ich zwei Finger hoch. »Ich habe nur zwei Menschen bei meiner Arbeit als Bodyguard getötet, und in beiden Fällen nur, um mich zu verteidigen, weil sie versucht hatten, mich umzubringen.«

»Nur zwei als Bodyguard?« Mr Anonym hatte den Sessel in der Ecke belegt. Er sah aus wie der Typ Mann, der sich immer im Schatten hielt, immer einen dunklen Winkel fand, aus dem heraus er alles beobachten konnte. Seine Stimme klang jedoch kultiviert und nach Oberschicht. Sein leichter britischer Akzent war vornehm näselnd, als hätte er Dauerschnupfen oder eine heiße Kartoffel im Mund. »Haben Sie denn in Ihren früheren Berufen auch getötet? Sie waren auf jeden Fall beim Militär, oder?«

»Das sieht man doch auf den ersten Blick«, bestätigte Engelchen.

»Wie heißt du eigentlich?«, platzte ich heraus. »Ich kann dich schließlich nicht ewig Engelchen nennen.«

»Klar kannst du das.« Er schob sich die blonden Locken aus der Stirn und lächelte mich breit an. »Du kannst mich nennen, wie du willst.«

Ach, jetzt wollte er flirten? Solche Ablenkungsmanöver durchschaute ich allerdings sofort.

Special Agent Shook musterte ihn aus zusammengekniffenen Augen. »Engelchen heißt eigentlich Ridge Pfeiffer. Er ist ein professioneller Dieb und wird mit einer Reihe größerer Einbrüche in Verbindung gebracht. Für eine Weile ist er unter dem Radar geflogen, aber in letzter Zeit ist uns sein Name häufiger zu Ohren gekommen.«

Er neigte den Kopf in Richtung des Mannes, den ich als Mr Anonym bezeichnete. »Der Herr in der Ecke, der möglichst nicht auffallen möchte, ist Carson Grieves, ein Meister des Trickbetrugs im großen Stil. Er hat seine Finger in tausendundeinem Verbrechen drin. Leider sind beide so schlüpfrig wie Aale – sie entwischen uns immer wieder.«

Er wies mit dem Kinn auf Wesley. »Sie sind der Einzige, den ich nicht kenne. Welche Rolle spielen Sie in dieser Farce?«

»Farce?«, wiederholte ich.

»Possenspiel? Schmierenkomödie?« Carson sprach in dem gleichen hochnäsigen Ton wie die Bösewichte bei »Doctor Who«, die rüberkamen, als fänden sie alles auf seltsame Art amüsant.

»Seine Bezeichnungen hören sich irgendwie besser an«, kommentierte Wesley.

»Ein britischer Akzent lässt alles besser klingen«, fügte Ridge hinzu. »Das ist doch genauso bekannt wie die Tatsache, dass man jemandem sofort zehn Prozent vom geschätzten IQ abzieht, wenn er mit Südstaatenakzent spricht.«

Ich zeigte ihm den Stinkefinger.

»Ich bin Don Juan Zero Juan Juan. Man nennt mich Zero.« Wes grinste und wirkte dadurch noch mehr wie ein Teenager, der sich bei einer Besprechung von Erwachsenen eingeschlichen hat.

»Nein, das ist doch nicht möglich.« Shook griff geschockt – anders konnte man das nicht nennen – mit der rechten Hand an seinen Gürtel, doch da waren natürlich keine Handschellen mehr.

Wesley lehnte sich zurück und breitete die Arme auf der Rückenlehne des Sofas aus. »Da haben Sie recht. Ich nehme Sie nur ein wenig auf den Arm.«

Shooks Haltung war immer noch angespannt, als ob er sich jeden Moment auf Wesley stürzen wollte. Offenbar hatte ich nicht die geringste Ahnung, wer Wes in Wahrheit war. Schätze, es war naiv von mir gewesen, anzunehmen, ich würde ihn kennen.

»Nennen Sie mir einen guten Grund, warum ich Sie nicht auf der Stelle in den Knast schicken sollte, Zero«, verlangte Shook.

»Hier wird niemand in den Knast geschickt.« Miranda hinderte Wesley mit scharfer Stimme an einer Antwort. »Außer von mir. Wie Sie sich vielleicht erinnern, sind Sie alle aus einem ähnlichen Grund hier.«

»Ich verlange, zu erfahren, wer noch in diese Sache verwickelt ist«, forderte Shook. »Für wen arbeiten Sie, Ms Bosley? Wer bezahlt Sie? Und wie ist Charlie Bingham überhaupt gestorben?«

Miranda lächelte dermaßen diabolisch, dass ein weniger selbstbewusster Mann sich in die Hosen gemacht hätte. »Das Schöne daran, alle Trümpfe in der Hand zu haben, Special Agent Shook, ist, dass ich Ihnen keine Rechenschaft schuldig bin. Erledigen Sie einfach die Aufträge, die Charlie jedem von Ihnen hinterlassen hat. Dann müssen Sie weder mich noch einander jemals wiedersehen.«

»In Ordnung«, sagte ich. »Erklären Sie mir einfach, was ich tun soll, und ich kümmere mich darum.«

»Sehe ich auch so«, stimmte Ridge zu. »Wie bald können wir den Schwachsinn hinter uns bringen? Ich habe wirklich noch was anderes zu tun.«

»Noch was zu klauen?« Wesley grinste ihn an.

Miranda ignorierte die Bemerkungen. »Wie Sie alle aus den Briefen wissen, die ich Ihnen geschickt habe, hat Charlie in seinem Testament Instruktionen für jeden Einzelnen von Ihnen hinterlassen.« Sie schien ihre Worte mit Bedacht zu wählen und machte zwischen den Sätzen jeweils eine kleine Pause. »Sie alle hatten mit ihm zu tun, und er zählt darauf, dass diese gemeinsamen Erlebnisse Sie dazu … motivieren, einige Angelegenheiten für ihn zu Ende zu bringen, mit denen er sich unglücklicherweise vor seinem viel zu frühen Ableben nicht mehr selbst befassen konnte.«

»Sie meinen, er erpresst uns aus dem Jenseits, damit wir seine schmutzigen Geschäfte für ihn erledigen?« Wesley zog die Beine unter sich. »Und falls wir tun, was er von uns will, geben Sie uns, was auch immer Sie gegen uns in der Hand haben, und wir können fröhlich von dannen ziehen?«

»Sie haben es erfasst.« Miranda klopfte mit einem Finger auf den Schreibtisch, als wägte sie ab, wie viel sie uns sagen durfte. »Charlie hat besser als jeder andere um den Wert von Informationen gewusst. Er hat sie gekauft, verkauft, gestohlen und zu seinem Vorteil eingesetzt. Vom Standpunkt des Gesetzes aus gesehen, war er alles andere als ein Vorzeigebürger.« Sie warf Mr Bundesagent einen ironischen Blick zu. »Aber seine Motive waren meistens ehrenhaft. Er verfügte zwar über jede Menge sensible Informationen, doch die meisten hat er nie verwendet. Manche hat er für einen guten Zweck eingesetzt, was ihm ein paar mächtige Feinde beschert hat. Da haben Sie die Antwort auf Ihre Frage, warum Charlie nicht mehr unter uns weilt, Agent Shook. Er hat sich mit den falschen Leuten angelegt.«

»Mit wem?« Shook klang, als würde er sich gleich in voller Rüstung aufs Pferd schwingen und ausziehen, um Charlies Tod zu rächen.

»Das soll nicht Ihre Sorge sein«, erklärte Miranda milde. »Zumindest jetzt nicht.«

»Aber …«

Miranda reagierte nicht auf Shooks Einwurf. »Charlie wusste, auf wie vielen Abschusslisten er stand.« Agent Shooks Gesichtsausdruck verriet, dass er sich nicht gern ignorieren ließ. »Er wusste zwar nicht, wann und wie er sterben würde, aber er hat geahnt, dass ihm nicht mehr viel Zeit blieb. Dieses Mal nicht. Also hat er beschlossen, Ihnen als Gruppe einige seiner höchst brisanten Informationen zu hinterlassen. Sie betreffen verschiedene Missstände, die er korrigieren wollte, wozu er jedoch nicht mehr kam. Das obliegt nun Ihnen. Im Austausch erhält jeder von Ihnen die Informationen, die Charlie über Sie gesammelt hat.«

Sie spreizte die Finger und legte die Hände flach auf die Schreibtischplatte. »Es handelt sich dabei um Angelegenheiten, die nicht von jedem x-Beliebigen erledigt werden können. Dazu braucht es ein Team von Spezialisten, und Charlie nahm an, dass Sie fünf insgesamt über alle erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten verfügen. Um seine Aufträge zu erledigen, müssen Sie jedoch nicht nur zusammenarbeiten, sondern auch zusammenleben.«

»Zusammenleben?« Shook sah aus, als hätte er in eine Zitrone gebissen. Wahrscheinlich hielt er sich für etwas Besseres. Trotzdem blieb er sitzen, statt aus dem Raum zu stürmen, was mich in der Annahme bestärkte, dass er selbst einige Leichen im Keller hatte.

»Ja, Agent Shook. Charlie war der Meinung, auf diese Weise würde er sich am besten Ihrer Kooperation versichern und gleichzeitig die … Verbundenheit zwischen Ihnen fördern, um es mal so auszudrücken.«

Engelchen – Ridge Pfeiffer, korrigierte ich mich selbst – schnaubte laut auf. Ich konnte ihm nur zustimmen. Die Chancen, dass wir uns zusammenraufen und so gute Freunde werden würden, dass wir uns gegenseitig die Haare flochten, tendierten gegen null. Länger als drei Tage gab ich dem Experiment nicht, falls wir wirklich alle zusammen im selben Haus wohnen mussten.

Ich persönlich hatte nichts dagegen, eine Weile an der Küste zu leben. Ich hatte gerade sowieso keinen festen Wohnsitz, und dieses Haus war um einige Kategorien besser als die meisten, in denen ich bisher gewohnt hatte. Allerdings könnte ich ein paar Wechselklamotten gebrauchen und auch einige andere Dinge, die ich zurückgelassen hatte, weil ich dachte, ich müsste nur für eine Übernachtung packen. Meinen SUV, zum Beispiel. »Was ist mit unseren Sachen?«, wollte ich von Miranda wissen. »Ich habe meine Glücksbringerunterhosen in Georgia gelassen.«

»Es steht Personal bereit, das sich sofort auf den Weg macht und die gewünschten Sachen für Sie holt, sollten Sie Charlies Angebot annehmen.«

»Als ob wir eine Wahl hätten.« Ridge sprach mir aus der Seele und klang dabei recht bitter. Die ganze Sache war ein abgekartetes Spiel. Warum also sich so verhalten, als könnten wir ablehnen? Wir saßen in der Falle. Was meiner Ansicht nach der Verbundenheit untereinander nicht gerade förderlich war.

»Man hat immer eine Wahl, Mr Pfeiffer, wenn man bereit ist, die Konsequenzen seiner Entscheidung zu tragen.« Miranda runzelte leicht die Stirn und presste die Lippen zusammen.

Shooks Miene verfinsterte sich immer mehr.

»Ich glaube, Sie werden schnell feststellen, dass das Leben hier viele Vorteile zu bieten hat«, fuhr Miranda fort. »Charlies Ressourcen stehen Ihnen uneingeschränkt zur Verfügung. Dieses Haus, seine Autos, sein Privatflugzeug, seine technische Ausrüstung und die Computer. Sie können sich jederzeit an mich wenden, genau wie an einige andere, die Charlies Vertrauen genossen haben und Ihnen bei der Erfüllung Ihrer Aufträge ebenfalls gern behilflich sein werden. Sollten Sie darüber hinaus noch etwas benötigen, können Sie es sich jederzeit hiermit beschaffen.«