Pros & Cons: Leo - A.E. Wasp - E-Book

Pros & Cons: Leo E-Book

A. E. Wasp

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Beschreibung

Fünf Aufträge. Fünf Chance auf Wiedergutmachung. Eins ist sicher: Diese Männer sind keine Engel. Vor der Vergangenheit kann man sich nirgends verstecken. Ein Hochstapler und ein Gesetzeshüter gingen in eine Bar … Und der Hochstapler verwandelte den schlimmsten Tag des Gesetzeshüters in den besten. Mein Name ist Leo Shook. Ich bin Special Agent beim FBI und habe ein Geheimnis, das mich das Leben kosten könnte. Als wäre es nicht schon schlimm genug, dass ich wegen meiner Verbindung zu Charlie vom FBI suspendiert wurde, zwingt er mich selbst nach seinem Tod noch, den Babysitter für sein Team von Kriminellen zu spielen, das durchs ganze Land zieht und in Charlies Namen Selbstjustiz verübt. Doch plötzlich bekomme ich es mit einem irren Stalker zu tun. Und der will nur eines: meinen Tod. Auf einmal werde ich vom Babysitter zum Gejagten – doch nicht nur mein Leben ist in Gefahr …

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Seitenzahl: 371

Veröffentlichungsjahr: 2023

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A. E. WASP

 

 

 

 

PROS & CONS: LEO

 

 

 

 

PROS & CONS 5

 

 

 

Aus dem Amerikanischen von Anne Sommerfeld

 

 

 

 

Über das Buch

Vor der Vergangenheit kann man sich nirgends verstecken.

Ein Hochstapler und ein Gesetzeshüter gingen in eine Bar … Der Hochstapler verwandelte den schlimmsten Tag des Gesetzeshüters in den besten.

Mein Name ist Leo Shook. Ich bin Special Agent beim FBI und habe ein Geheimnis, das mich das Leben kosten könnte.

Als wäre es nicht schon schlimm genug, dass ich wegen meiner Verbindung zu Charlie vom FBI suspendiert wurde, zwingt er mich selbst nach seinem Tod noch, den Babysitter für sein Team von Kriminellen zu spielen, das durchs ganze Land zieht und in Charlies Namen Selbstjustiz verübt.

Doch plötzlich bekomme ich es mit einem irren Stalker zu tun. Und der will nur eines: meinen Tod. Auf einmal werde ich vom Babysitter zum Gejagten – doch nicht nur mein Leben ist in Gefahr …

Über die Autorin

Amy Wasp ist eine geborene Träumerin und Idealistin. Nachdem sie ihre Kinder großgezogen, verschiedene College-Abschlüsse erworben und die Welt im Dienst des US-amerikanischen Außenministeriums bereist hat, widmet sie sich jetzt wieder ihrer ersten großen Liebe, dem Schreiben.

Am liebsten schreibt sie über Menschen, die in einer einsam erscheinenden Welt Liebe und Zuversicht finden. Dabei zeigt sie ihre Figuren gern von ihrer verletzlichsten Seite, mit all den Hoffnungen und Ängsten, die auch ihre Leser:innen kennen.

Amy hat in Großstädten und kleinen Dörfern auf vier Kontinenten gelebt und dabei festgestellt, dass Zeit und Entfernung keine Hindernisse für die Liebe sein müssen.

Die englische Ausgabe erschien 2021 unter dem Titel »Pros & Cons of Obsession« bei Kelpie Press.

Deutsche Erstausgabe Februar 2022

 

© der Originalausgabe A. E. Wasp

© Verlagsrechte für die deutschsprachige Ausgabe 2022:

Second Chances Verlag, Inh. Jeannette Bauroth,

Eisenbahnweg 5, 98587 Steinbach-Hallenberg

 

Alle Rechte, einschließlich des Rechts zur vollständigen oder auszugsweisen Wiedergabe in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Alle handelnden Personen sind frei erfunden, Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

 

Umschlaggestaltung: AngstyG, Frauke Spanuth

Umschlagmotiv: iStock

Lektorat: Annika Bührmann

Korrektorat: Julia Funcke

Satz & Layout: Second Chances Verlag

 

ISBN: 978-3-948457-98-3

 

 

www.second-chances-verlag.de

Inhaltsverzeichnis

Titel

Über die Autorin

Impressum

Widmung

Die Akteure

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Epilog

Weitere Bücher von A.E. Wasp

Anmerkung der Autorin

Danksagung

»Das Vergangene ist nicht tot. Es ist nicht einmal vergangen.«

William Faulkner

DIE AKTEURE

DIE STRIPPENZIEHER

Charlie Bingham (45) – Hochstapler, Dieb, Erpresser, Informationsbroker und vermutlich noch so einiges mehr. Ein echt nerviger Typ.

Miranda Bosley (42) – Rechtsanwältin. Charlies Nachlassverwalterin. Wahrscheinlich Charlies beste Freundin.

Josie DuPont (Alter unbekannt, da sie es nicht preisgibt) – Charlies Mitarbeiterin. Mysteriöse Dame von Welt. Versteht sich als Ersatzmutter der Jungs (sogar von Leo).

 

 

DIE JUNGS

Leo Shook (45) – Special Agent beim FBI. Beurlaubt aus nicht näher bekannten Gründen. Spezialist für Charlie Bingham. Laut eigenen Angaben inzwischen hauptsächlich Babysitter und offizieller Erwachsener der Truppe. Codenamen: Silberfuchs, Big Daddy.

Castille (Steele) Alvarez (30) – Close Protection Specialist (Bodyguard). Taktiker. Ex-Army-Ranger. Bezeichnet sich selbst als Sumpfratte aus Georgia. Wird häufig unterschätzt und nutzt das zu seinem Vorteil. Codename: Rusty.

Carson Grieves (31) – Meister der Täuschung und des Betrugs. Früher Emo-Teenager. Bekannte Alias: J. Benjamin Waters junior, Peter Nobocook. Codename: Chaney.

Ridge Pfeiffer (21) – Dieb. Nicht sehr gesprächig. Experte für das Knacken traditioneller Safes und Schlösser. Fassadenkletterer und Einbrecher. Codenamen: Spidey, Tweedledum.

Wesley Bond (27) – Hacker und Social Engineer. Kämpfer für soziale Gerechtigkeit. Codenamen: Neo, Zero.

 

 

DIE ARMEN KERLE, DIE IN DEN SCHLAMASSEL MIT REINGEZOGEN WURDEN

Breck Pfeiffer (21) – erster Auftritt in »Pros & Cons: Steele«. Ridges Zwillingsbruder. Opfer des Mannes, der das Ziel eines von Charlies Aufträgen war. Ex-Collegestudent, Ex-Escort-Boy. Mit Steele zusammen. Codenamen: Undercover Lover, Tweedledee.

Danny Munroe (20) – erster Auftritt in »Pros & Cons: Steele«, spielt eine Hauptrolle in »Pros & Cons: Wesley«. Carsons Protegé, ehemaliger Wettkampfschwimmer. Wurde wegen seiner Homosexualität von seiner Familie in Illinois aus dem Haus geworfen, lebte eine Zeit lang auf der Straße. Hat Breck in D. C. kennengelernt, wo sie beide Opfer desselben Mannes wurden. Hat Wesley um den kleinen Finger gewickelt. Codenamen: Arm Candy, Speedy.

Davis Ethan (30) – erster Auftritt in »Pros & Cons: Wesley«, spielt eine Hauptrolle in »Pros & Cons: Ridge«. Ehemaliger Agent beim Diplomatic Security Service. Milliardär. Stratege. Ridge hat sein Herz gestohlen. Codename: Ducky (als Kurzform für Dagobert Duck).

Eric Smallman (31) – erster Auftritt in »Pros & Cons: Carson«. Ehemaliger AHL-Eishockeyspieler. Carsons Jugendliebe und sein Stiefbruder (obwohl sie beide darauf beharren, dass das nicht zählt, weil sie bei der Hochzeit ihrer Eltern schon sechzehn waren). Sieht wie ein Wikinger aus. Kann einstecken wie ein Profi. Hat keine Ahnung, worauf er sich einlässt. Codename: Tiny.

PROLOG

 

DER VISCOUNT HINTERSHAM

 

Dashcombe Hall, Devonshire, England

 

Zwanzig Jahre zuvor

 

Den Kirchenbüchern zufolge lebte die Familie schon seit dem Mittelalter in diesem Teil des südwestlichen Englands. Dashcombe Hall war in den 1500ern wiederaufgebaut worden und im Gegensatz zu vielen herrschaftlichen Anwesen in Großbritannien während der verschiedenen sozialen und ökonomischen Umbrüche des zwanzigsten Jahrhunderts immer in privater Hand verblieben.

Während des Ersten Weltkriegs war es ein Krankenhaus gewesen. Mehr als fünfhundert Soldaten, deren Lungen von Senfgas vernarbt waren, die Haut zerfetzt, die Knochen von Kugeln zerstört und die Seelen von den Schrecken des Schlachtfeldes für immer zerbrochen, waren nach Dashcombe Hall gekommen, um ihre Genesung von der frischen Luft und der wilden natürlichen Schönheit Süd-Devons unterstützen zu lassen.

Der derzeitige Viscount Hintersham, Gesellschaftslöwe, Geschichtenerzähler und rechtmäßiger Erbe von Earl Dashcombe, stand an der Spitze der zerfurchten weißen Kreideklippen am Rand des Grundstücks, starrte auf das wogende graue Wasser des Ärmelkanals und fragte sich, ob je einer dieser Soldaten in Erwägung gezogen hatte, sich mit einem Kopfsprung hineinzustürzen.

Gab es da unten menschliche Knochen? Würden sie irgendwann wie die Fossilien von Ammoniten und Brachiopoden an die felsigen Küsten Britanniens gespült werden?

»Bist du nun fertig mit Grübeln?«, fragte eine Frau hinter ihm.

»Ich grüble nicht, Gran.« Er nahm die Hände aus den Taschen und straffte sich. Nachdem er sich das lange blonde Haar aus dem Gesicht gestrichen hatte, drehte er sich um und lächelte die einzige Person auf der Welt an, der er vertrauen konnte. »Ich denke nach.«

»Denkst du darüber nach, zu springen?«, hakte sie leichthin nach. Er konnte die Erschöpfung erkennen, die sie mit ihrem kühlen Ton überspielte.

Er nahm ihre Hände und drückte sie fest. »Als würde ich dich jemals verlassen.« Er zog sie an sich und küsste ihre Wange, die sich unter seinen Lippen papierzart und zerknittert anfühlte. Sie war die Tochter eines ehemaligen Gaiety Girls, das zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts von der Bühne in die Aristokratie eingeheiratet hatte, und war mit ihren einundsiebzig Jahren immer noch wunderschön, aber die vergangenen Wochen waren brutal gewesen. Für sie noch mehr als für alle anderen.

»Eines Tages wirst du es tun«, sagte sie. »Komm zurück ins Haus.«

»Sind die Reporter noch da?«, wollte er wissen. Ihr leichtes Schulterzucken war Antwort genug.

»Dann nein danke. Ich glaube, ich verbringe die Nacht in der Stadt.«

»Deine Eltern sind im Stadthaus«, erinnerte sie ihn und stellte sich neben ihn. »Ich glaube nicht, dass sie vorhaben, zurückzukommen.«

»Hervorragend«, antwortete er trocken. »Veranstalten sie zur Feier des Freispruchs eine ausgelassene Party für ihre Mitverschwörer und Anhänger?«

Er hatte es sarkastisch gemeint, aber ihr leichtes Zusammenzucken verriet ihm, dass er nicht weit danebenlag.

»Gütiger Gott. Sie haben kein Schamgefühl.«

»Nein, ich fürchte, das haben sie nicht.«

Seine Eltern waren tatsächlich all das, was die Presse ihnen anzuhängen versuchte. Sie hatten sich der Partyszene der späten Sechziger und Siebziger angeschlossen, ohne sich dabei von etwas so Unwichtigem wie der Geburt eines Sohnes aufhalten zu lassen. Irgendwann Anfang der Neunziger waren sie in dubiose finanzielle Investitionen verwickelt gewesen, die sich irgendwo zwischen »unmoralisch« und »illegal« bewegten. Sie hatten praktisch ihr eigenes Geld gedruckt, bis das Schneeballsystem in den frühen 2000ern zusammengebrochen war. Schließlich hatte es so ausgesehen, als würden sie von den Konsequenzen ihrer Handlungen eingeholt werden, aber Fehlanzeige. In einer Verhandlung, die scheinbar dazu geschaffen worden war, zu beweisen, wer die genauen Einzelheiten des Gesetzes besser verdrehen konnte, waren sie vollständig freigesprochen worden. Sie waren mit einem Buchvertrag, einem noch schlechteren Ruf als vorher und einem verstärkten Glauben an ihre eigene Unberührbarkeit davongekommen.

»Mein Herz war immer hier.« Gran deutete mit einer ausladenden Geste auf die herrliche Natur, die sie umgab.

»Meins auch.« Es stimmte. Trotz der Versuche der Regenbogenpresse, ihn mit den unzähligen reichen jungen Dingern in einen Topf zu stecken, die dem Scheinwerferlicht hinterherjagten und die Nachtclubs und Partys der britischen Gesellschaft heimsuchten, zog er das Leben auf dem Land vor. Und im Gegensatz zu vielen von ihnen, die offenbar damit zufrieden waren, sich mithilfe ihrer Familiennamen und -vermögen durchs Leben zu bewegen, wollte er seinem Dasein eine Bedeutung geben. Er sehnte sich nach einem Zweck, einem Sinn, für den er seine Flagge hissen konnte.

Zu schade, dass er keine Ahnung hatte, wie der aussehen könnte.

»Sag mir, was du denkst«, bat sie.

Er starrte aufs Wasser hinaus. »Ich glaube, ich muss gehen. Verschwinden. Ich will nicht für den Rest meines Lebens von der Presse gejagt werden, weil ich Dookie Dashcombes Sohn bin. Ich will einfach nur raus aus diesem Zirkus.«

»Aus allem? Du blickst dem Tag, an dem du Earl Dashcombe wirst, nicht freudig entgegen?«

Er lachte laut und lange. »Habe ich das jemals getan?«

»Nein. Aber es gibt keine anderen Erben. Der Titel wird nach dem Tod deines Vaters ruhen, es sei denn, du beanspruchst ihn für dich.«

»Ist es dir wirklich wichtig?«

Sie dachte darüber nach. »Nein«, gab sie zu. »Nicht wirklich. Diese alten Häuser sind kostspielig in der Instandhaltung, und der Adelsstand scheint eine schrecklich veraltete Institution zu sein.«

Er hob die Brauen. »Also, Grandmama, du klingst geradezu amerikanisch. Warst du die ganze Zeit im Geheimen Anhängerin der republikanischen Bewegung?«

»Meine Mutter war Revuetänzerin«, erinnerte sie ihn. »Sie hat dafür gesorgt, dass ich den Privilegien gegenüber nicht blind bin, mit denen ich aufgewachsen bin. Sie war ziemlich rebellisch. Fast schon skandalös.«

»Ich wünschte, ich hätte sie kennengelernt.«

»Sie hätte dich geliebt. Sie hatte schon immer ein Auge für gut aussehende Männer.«

»Hätte es sie gestört, dass ich das auch habe?«

Sie tätschelte seine Wange. »Mama hat ihr Geld am Theater verdient. Glaubst du wirklich, sie wäre von einem Mann geschockt gewesen, der Männer liebt?«

Impulsiv umarmte er sie fest. Obwohl sie beide seit seiner Geburt in gegenseitiger Bewunderung gelebt hatten, drückten sie das nur selten körperlich aus. »Ich hab dich lieb.«

»Ich dich auch. Jetzt bring mich nach Hause. Mir ist kalt, und ich hätte gern einen Tee.«

Er bot ihr seinen Arm an, und sie ließ sich von ihm stützen, als sie langsam zurück zum Herrenhaus spazierten. »Kann ich davon ausgehen, dass du bald abreisen wirst?«

»Ich glaube schon.«

»Sei dir sicher, Winkie.«

»Du bist die einzige Person auf der Welt, von der ich mich so nennen lasse«, sagte er.

»Und du bist der einzige Mensch auf der Welt, der mich Grandmama nennt. Deshalb bist du besonders wertvoll. Ich muss wissen, dass du dir sicher bist.«

»Dann ja, ich werde bald abreisen. Und wahrscheinlich werde ich schwer zu finden sein.«

Sie summte nachdenklich. »Was hoffst du mit dieser Suche nach Sinn zu erreichen, auf die du dich begibst?«

»Gegen Windmühlen kämpfen?«

»Ich bezweifle nicht, dass es davon genug geben wird. Aber von einem praktischeren Gesichtspunkt aus betrachtet, was hoffst du jetzt zu erreichen?«

In letzter Zeit hatte er sehr viel über genau diese Frage nachgedacht und war zu einigen Einsichten gekommen. »Ich will Leute wie sie davon abhalten, ärmere und weniger mächtige Menschen auszunutzen.«

»Das Gesetz?«, schlug sie vor. »Du wirst Rechtsanwalt?«

Er schnaubte abfällig. »Oh, ja. Wir haben ja gesehen, wie nützlich das Gesetz war, nicht wahr? Für die Reichen und Mächtigen gelten andere Gesetze. Sie schwingen sie wie eine Waffe gegen die normalen Menschen und schützen sich damit vor den Konsequenzen ihrer Handlungen.«

»Welche anderen Möglichkeiten gibt es?«

»Ich weiß es nicht. Aber ich bin klug, charmant und habe Verbindungen. Die Menschen mögen mich. Ich wette, dass ich einen Weg finden kann, sie in ihrem eigenen Spiel zu schlagen.«

»Pass auf, dass du dich nicht in dem Spiel verlierst. Man kann Menschen leicht verletzen, wenn man sie als Werkzeuge betrachtet, selbst mit den besten Absichten.«

»Das werde ich. Bevor ich etwas tue, werde ich mich fragen: Was würde die Gräfinwitwe tun?« Er sprach mit seinem nobelsten Akzent, um sie zum Lachen zu bringen.

»Schön. Versprich mir nur, dass du mich anrufst, solltest du mich jemals brauchen. Ich helfe dir, so gut ich kann.«

»Zu einem Preis?«, fragte er zynisch.

Plötzlich blieb sie stehen, sodass auch er innehalten musste, und sah ihn mit verengten Augen an. »Glaubst du das tatsächlich? Habe ich dich jemals um etwas gebeten?«

»Nein. Es tut mir leid.« Er umfasste ihre Hand. »Ich weiß, dass ich dir keine Ehre machen werde. Dass ich dem Namen keine Ehre machen werde.«

»Du hast mich nie enttäuscht. Aber, William, denk gut darüber nach, alles zurückzulassen. Es könnte nicht so einfach sein, zurückzukommen.«

Er schüttelte den Kopf und setzte sich wieder in Bewegung. »Es gibt also einen Preis.«

»Jede Entscheidung hat ihren Preis. Entweder zahlt man ihn sofort oder irgendwann in der Zukunft. Die Frage ist, ob man bereit ist, ihn zu zahlen.«

»Das wird wohl nur die Zeit zeigen.« Er wünschte sich, die Zukunft sehen zu können und wie sich alles entwickeln würde.

»Probieren geht über Studieren.« Sie nickte weise.

Er grinste seine wunderschöne Großmutter an. Gott, er würde sie vermissen. »Hast du noch mehr Weisheiten, die du gern loswerden möchtest?«

»Liebe wächst nicht mit der Entfernung«, sagte sie, als sie die Tür zum Westflügel des Herrenhauses erreichten, den seine Großmutter statt des Witwenhauses bezogen hatte. »Und ich werde nicht jünger. Keine lange Funkstille, selbst wenn ich die Nachricht zum Entschlüsseln nach Bletchley Park bringen muss.«

»Ich verspreche es.« Er hielt ihr die Tür auf. »Weißt du, ich glaube, dass es da keine wirklichen Codebrecher mehr gibt. Ich glaube, es ist ein Museum.«

Sie begrüßte ihre langjährige Haushälterin und bat um Tee. »Nun, das klingt alles sehr aufregend«, fuhr sie fort, als sie es sich in ihrem Wohnzimmer, das so gemütlich war, wie ein Raum voller Antiquitäten eben sein konnte, bequem machten. »Wirst du deine Haare färben und deinen Namen ändern?«

»Vielleicht.«

»Welchen Namen würdest du annehmen?«

»Ich hatte an ›Charlie‹ gedacht.«

KAPITEL 1

CHARLIE

 

Das Virgin Atlantic Clubhouse, Flughafen Heathrow

 

Fünfzehn Jahre zuvor

 

Die Glastüren des Heathrow Virgin Atlantic Clubhouse öffneten sich leise. »Guten Abend«, begrüßte mich die umwerfende Empfangsdame. »Willkommen bei Virgin Airways.«

»Danke.« Ich schenkte ihr mein Lächeln Nummer sechs, mein »Ich mache dich nicht an, denn du arbeitest, aber komm nach Feierabend gern zu mir«-Lächeln.

Ihr höfliches Lächeln sagte: »Du bist der siebzehnte Kerl, der mich in der letzten Stunde angemacht hat, aber da ich sicher bin, dass du ein privilegiertes Arschloch bist, werde ich nett sein.«

Ich reichte ihr meine Bordkarte. Na ja, nicht wirklich meine Bordkarte, sondern eine Bordkarte, die mir den Eintritt in den Club ermöglichte. Businessklasse, nicht erste.

Die Tatsache, dass ich mit einem einfachen Platz in der Businessklasse Zutritt bekam, war einer der Gründe, warum diese edle Lounge zu meinen Favoriten unter den Privatbereichen zählte, die Airlines nutzten, um die VIPs vom gemeinen Volk zu trennen. Menschen, die Businessklasse flogen, waren perfekte Ziele.

Menschen, die erster Klasse flogen, vor allem die, die es regelmäßig taten, hatten in der Regel ein persönliches Vermögen. Sie waren oft, aber nicht immer, älter. Männer in den Sechzigern und Siebzigern in teuren Anzügen, die die Bäuche verdeckten, die sie sich im Laufe ihres bequemen Lebens zugelegt hatten. Unter der Woche reisten sie allein mit Geschäftspartnern und potenziellen Investoren. An den Wochenenden wurden sie von ihren ersten Ehefrauen mit eiskaltem Blick, in Kaschmirkostümen und mit Perlen begleitet – oder von ihren sehr viel jüngeren zweiten (oder dritten) Frauen, deren Gesichter aus Angst vor dem gefürchteten vierzigsten Geburtstag mit Botox versiegelt worden waren. Außerdem steckte die Hälfte von ihnen viel zu tief in ihrer vollkommen legalen Ausbeutung der Allgemeinheit, um meine Hilfe zu benötigen. Sie waren diejenigen, denen ich mit etwas so Einfachem wie einem finanziellen Verlust nicht schaden konnte. Nein, diese großen Fische brauchten eine andere Herangehensweise, die ich allein nicht durchziehen konnte.

Was mich zu meinen eigentlichen Zielen brachte: den unter der Woche reisenden Businessklasse-Fliegern.

Vizepräsidenten von Banken, Börsenmakler oder Kapitalgeber, die noch frisch im Beruf waren, Verkaufsleiter, die darauf hofften, einen Deal abzuschließen, Geschäftemacher, die flogen, um mögliche Lieferanten zu treffen oder eine neue Fabrik zu inspizieren. Sie waren die Schwachpunkte.

Sie flogen alle auf Kosten ihrer Firma, waren von Luxus und einem Lebensstil umgeben, den sie besuchen, in dem sie sich aber nicht dauerhaft behaupten konnten. Sie suchten immer nach irgendeiner Möglichkeit, über ihre Konkurrenz hinauszuwachsen und ein größeres Stück vom Kuchen zu bekommen.

Die perfekten Ziele. Zeigt mir einen gierigen Mann mit einem überhöhten Verständnis von seiner Intelligenz, und ich habe ihn innerhalb von dreißig Minuten am Haken. Außerdem waren sie ein Sprungbrett zur nächsten Ebene der korrupten Manager. Jedes Wort aus ihrem Mund verschaffte mir mehr Zugang zu den Hallen der Macht.

Nachdem ich der makellos gekleideten Empfangsdame versichert hatte, dass ich schon hier gewesen sei und keine Erläuterung der beachtlichen Annehmlichkeiten bräuchte, betrat ich den Raum und glitt durch die Menge wie ein Hai durch einen Schwarm kleiner Fische.

Auf der Suche nach möglichen Zielen schlenderte ich durch die Lounge. Heute Abend war ich wie ein ehrgeiziger Karrierist gekleidet. Mein Anzug war gut geschnitten, aber nicht maßgefertigt. Meine Schuhe gehörten zum günstigen Preissegment einer teuren Marke. Meine Aktentasche war teuer, aber abgenutzt; nicht, als wäre sie ein Familienerbstück, das von meinem Großvater an meinen Vater und dann an mich weitergegeben worden war, sondern als hätte ich sie zehn Jahre lang ständig benutzt – ein Geschenk zum College-Abschluss, das ich nicht durch eine bessere Tasche hatte ersetzen können, obwohl ich kurz vor meinem dreißigsten Geburtstag stand.

In den fünf Jahren, seit ich von zu Hause fortgegangen war, hatte ich meine Berufung darin gefunden, Mistkerle auszuschalten, die sich für unantastbar hielten. Meine Arbeit führte mich um die ganze Welt. Die Staaten, der Nahe Osten, Asien. Von irgendwas musste man die Miete zahlen, wie die Kids sagen. Mein Name wurde immer öfter bei den richtigen Leuten erwähnt, und ich hatte einige große Gewinne verbucht. Aber es reichte nicht. Die großen Jungs waren immer noch unerreichbar. Ich brauchte mehr. Ich brauchte eine Basis und ein Team, um die komplizierteren Betrügereien durchzuziehen, mit denen ich die großen Fische fangen konnte.

Das würde heute Nacht nicht passieren. Heute Nacht war ich einfach unterwegs, klopfte auf ein paar Büsche und wartete ab, was sich regte.

Ich ließ mir von einem gut aussehenden Kellner einen Cocktail bringen und streifte durch verschiedene Teile des Clubs. Niemand erschien auf meinem Radar für potenzielle Ziele.

Und dann entdeckte ich jemanden, der auf einem ganz anderen Radar erschien.

Der Großteil des Clubs war dezent elegant ausgestattet, und die meisten Möbel hätten auch in ein hochklassiges Hotel gepasst. Bis auf eine Sache. Aus Gründen, die nur die Designer kannten, hatten sie Bubble Chairs aus durchsichtigem Plastik installieren lassen, die von der Decke hingen, sodass man darin wie in einem Fischglas saß. Ich hatte noch nie jemanden darin sitzen sehen, der älter war als zehn.

Bis heute.

Ich reichte einer vorbeigehenden Kellnerin mein Glas, bat um Nachschub und brachte mich dann in eine Position, von der aus ich die Erscheinung vor mir besser beobachten konnte.

Der sehr attraktive, dunkelhaarige Mann, der sich gerade langsam in dem Aquarium-Stuhl drehte, trug einen ziemlich zerknitterten schwarzen Smoking, eine Art geflochtene Kette und abgenutzte braune Cowboystiefel.

Er hatte einen Fuß auf die Sitzfläche gestellt und den Arm um sein Knie geschlungen. Mit dem anderen Fuß stieß er sich gerade genug vom Boden ab, um den Stuhl in die eine und dann die andere Richtung zu drehen, wenn die Spannung in der Kette sich löste. In der freien Hand hielt er ein Glas mit einer klaren, sprudelnden Flüssigkeit.

Seine Haut war gebräunt und ein wenig wettergegerbt. Selbst aus drei Metern Entfernung konnte ich die Fältchen in seinen Augenwinkeln erkennen, die vom jahrelangen Zusammenkneifen der Augen auf sonnigen Prärien stammen konnten.

Hallo, Cowboy.

Er bemerkte schnell, dass ich auf ihn zukam. Er zog die Brauen zusammen und blinzelte bei dem Versuch, sich trotz seines offensichtlichen Rauschs zu konzentrieren und die Situation einzuschätzen. Der erste Blick, den er mir zuwarf, fühlte sich unpersönlich an. Mit verengten Augen musterte er meine Hände, mein Gesicht und meinen Oberkörper – möglicherweise suchte er nach Waffen. Sein zweiter Blick war langsamer und sehr viel anerkennender. Ich konnte mit beidem arbeiten.

Er drehte sich erneut im Kreis.

Ich überbrückte den Abstand und wartete die Drehung des Stuhls ab, bis er mir wieder zugewandt war.

Der Mann schaute mich mit trüben Augen an, als ich die Bewegung seines Stuhls stoppte. Dann lächelte er breit. Seine Zähne waren so weiß und gleichmäßig, dass ich wusste, er musste Amerikaner sein, noch bevor ich seine Stimme gehört hatte.

»Na howdy«, sagte er und klang dabei, als wäre er direkt einem der Westernfilme entstiegen, die ich als Kind gesehen hatte und bei denen ich noch nicht ganz hatte glauben können, dass etwas so Offenes und Leeres wie der amerikanische Westen existieren konnte.

Ich musste lachen, ehe ich mich zurückhalten konnte. Zum Glück war er sturzbetrunken. Ich bezweifelte, dass er sich daran würde erinnern können. Er konnte sich glücklich schätzen, wenn er sich an irgendetwas von diesem Abend erinnern konnte.

»Hallo«, erwiderte ich.

»Oh, du bist Brite!« Er klang entzückt.

»Es ist durchaus üblich, dass man Briten in London findet«, antwortete ich mit einem zurückhaltenderen Lächeln. »Obwohl, nicht so viele wie an anderen Orten in diesem grünen und schönen Land, wie so mancher behaupten würde.«

»Ich mag einfach dein’ Akzent«, lallte er und beugte sich vor. Sein Fuß rutschte von dem grünen Kissen und landete auf dem Boden. Sein Drink schwappte gefährlich an den Rand des Glases. »Ups.« Sein Lachen war tief und warm. Ich wollte mich darin wälzen.

Ich nahm ihm das Glas ab, wobei ich so tat, als würde ich seine Hand stützen. Ein kleiner Schluck bestätigte, dass es Gin Tonic war, wie ich vermutet hatte. Er hatte ganz sicher genug davon getrunken. Ich stellte das Glas auf einen Tisch in der Nähe und nutzte die Gelegenheit, um einen sehr viel vernünftigeren Stuhl zu ihm zu ziehen.

In den wenigen Sekunden, die ich dafür brauchte, hatte er es geschafft, sich erneut zu drehen. Ich wartete darauf, dass er wieder zu mir wirbelte, ehe ich die Drehung aufhielt, indem ich die Öffnung mit beiden Händen ergriff.

Obwohl er offensichtlich schon seit Stunden auf Reisen war und trank, roch er wundervoll. Ich erhaschte verlockende Noten eines waldigen Parfüms und einen Hauch von Leder, den ich mir wahrscheinlich einbildete. Aus der Nähe konnte ich an den Schläfen einige graue Strähnen in seinen dunklen Haaren erkennen. Seine Augen hatten einen blassen, klaren Blauton.

Es brannte mir unter den Nägeln, zu erfahren, wie dieser Cowboy im Smoking allein an diesem Ort gelandet war. Ich war ziemlich sicher, dass er einer Vollzugsbehörde oder vielleicht sogar dem Militär angehörte. Sein knapper Haarschnitt und die Art, wie er mich selbst im betrunkenen Zustand gemustert hatte, bevor ich ihm zu nah gekommen war, hatten so etwas an sich.

»Wie heißt denn ein so attraktiver Kerl wie du?«, fragte ich.

»Du findest mich attraktiv?« Er sah mich mit großen Augen an.

»Ich finde dich sehr attraktiv«, antwortete ich aufrichtig. Wurde er rot? Gütiger Gott, dieser Mann würde bei lebendigem Leib gefressen werden. Er war ein Leuchtfeuer für Betrüger aller Art. Ungeachtet der Gründe, aus denen er hier gelandet war, konnte ich ihn nicht mit gutem Gewissen allein lassen. Nicht, dass man mir je irgendeine Art von Gewissen vorgeworfen hatte, aber wenn es sein musste, konnte ich es abrufen.

»Ich finde dich hübsch«, sagte er.

»Hübsch?« Himmel, ich war seit Jahren nicht mehr hübsch genannt worden. Nicht, seit ich meine Tage als Twink hinter mir gelassen hatte. Ich ging mittlerweile auf die dreißig zu.

Er nickte so aufrichtig, wie es nur ein Betrunkener kann. »Richtig hübsch.«

»Tja, vielen Dank. Also, wie soll ich dich nennen?«

»Shook.« Er reichte mir die Hand. »Special Agent Leo Shook, stets zu Diensten.« Sein Akzent war echt. Shook war in Texas geboren und aufgewachsen, wenn ich hätte raten müssen. Irgendwo in Ost-Texas, um genau zu sein. Akzente waren meine Spezialität. Ich war sehr gut darin.

»Special Agent?«, hakte ich nach.

Er nickte feierlich, ehe er sich umsah, als wollte er sichergehen, dass niemand zuhörte. Er beugte sich vor und bedeutete mir, näher zu kommen. Ich beugte mich vor, sodass unsere Gesichter nur Zentimeter voneinander entfernt waren. So nah konnte ich den dunkelblauen Ring in seinen blassblauen Augen erkennen. Und so nah roch er sogar noch hinreißender.

»Ich bin FBI-Agent«, flüsterte er rau.

»Das solltest du lieber nicht überall herumerzählen.«

»Mach ich nicht«, versprach er.

»Nun, es ist mir auf jeden Fall eine Freude, dich kennenzulernen, Special Agent Leo Shook. Du kannst mich Charlie nennen.«

»Nenn mich einfach Leo.« Er blickte auf seine Hand, als wäre ihm erst jetzt aufgefallen, dass er seinen Drink irgendwo verloren hatte.

Ich winkte der nächsten Kellnerin, und weniger als eine Minute später war eine junge Frau bei uns. Ich bestellte Leo ein Tonic mit Zitrone und ein Glas Malbec für mich. Auf keinen Fall würde ich heute Abend etwas schaffen. Das war in Ordnung. Special Agent Shook war viel unterhaltsamer. Ich würde mich an einem anderen Tag um mein Jacht-Problem kümmern.

Ich schaute mich nach Gepäck um, das ihm gehören konnte. Gott wusste, dass er es in seinem betrunkenen Zustand sonst wo abgestellt haben könnte. Ein brauner Lederrucksack, der genauso alt aussah wie seine Schuhe, stand in der Nähe unter einem Tisch. Ich hätte Geld darauf gesetzt, dass er ihm gehörte.

»Was bringt dich nach London?«, fragte ich, während ich meinen Fuß in den Riemen seines Rucksacks hakte und ihn langsam zu mir zog.

»Ein Flugzeug«, antwortete er und lachte über seinen eigenen Witz. Dann wurde er jedoch still und sagte leise: »Ich bin in den Flitterwochen.«

Flitterwochen? Wäre es unhöflich, ihn darauf hinzuweisen, dass er allein war? Ich hatte niemanden in einem Brautkleid bemerkt, und die fielen in der Öffentlichkeit schließlich auf. Wie sollte ich höflich nachfragen? »Deine hinreißende Braut genießt also das Spa?«, riet ich. »Oder macht vielleicht ein Nickerchen?«

Leo runzelte die Stirn, und Wut blitzte in seinen Augen auf. Er schien für eine Sekunde seine Gedanken zu ordnen. »Bräutigam«, korrigierte er mich. »Und nein. Er kommt nicht. Arschloch.« Sein Akzent verblasste, je klarer er im Kopf wurde.

Sieh an, sieh an. Bräutigam. Das änderte die Sache. Ich würde heute auf keinen Fall ohne ihn gehen.

»Hast du was gegessen?«

»Ich hatte im Flugzeug was. Frühstück, glaube ich. Eventuell auch Mittagessen. Wie spät ist es?«

»Zeit fürs Abendessen«, sagte ich. »Also besorgen wir dir etwas.«

Als die Kellnerin unsere Getränke brachte, bestellte ich uns beiden etwas zu essen. Gegrillten Lachs für mich und einen Clubhouse Burger für Leo. Bei einem Amerikaner konnte man mit einem Burger nichts falsch machen.

Wir schwiegen, nachdem die Kellnerin gegangen war. Leo lehnte sich zurück und schloss die Augen. So wirkte er jünger, und ich korrigierte meine Schätzung. Er war wohl so alt wie ich. Wenn er älter als dreißig war, würde ich meinen Hut essen.

Neugier war mein stärkster Charakterzug, deshalb wollte ich natürlich unbedingt die ganze Geschichte von dem Cowboy und dem fehlenden Bräutigam hören, aber es wäre gefühllos gewesen, jetzt danach zu fragen. Sie würde ans Licht kommen. Ich war meisterhaft darin, die Leute dazu zu bringen, mit mir zu reden. Kleine alte Damen auf dem Weg zur Kirche, Kassierer im Supermarkt, sie alle verrieten mir ihre dunkelsten Geheimnisse. Es war eine Kombination aus dem Akzent, den blonden Haaren, den harmlosen grünen Augen und dem Ausdruck aufrichtigen Interesses, den ich stundenlang im Spiegel perfektioniert hatte.

Ich wartete, bis er seinen Burger zur Hälfte gegessen hatte, ehe ich umständlich wieder zum Thema kam. »Ich hoffe, dass das nicht zu aufdringlich ist, aber da sich deine ursprünglichen Pläne geändert haben … Was wirst du jetzt tun? Wo willst du von hier aus hin?«

Leo seufzte. Er erreichte langsam den weniger spaßigen Zustand des Betrunkenseins. Die Erschöpfung und der Jetlag holten ihn ein. Unter seiner Bräune waren seine Wangen blass und seine Augen blutunterlaufen. Wie konnte es sein, dass sie das nur noch blauer wirken ließ? Trotz seiner beträchtlich breiten Schultern und seiner kräftigen Oberschenkel hatte ich das Gefühl, dass Special Agent Shook zerbrechlich war. Und so wahr mir Gott helfe, das sprach den viel zu stark entwickelten Teil in mir an, der Menschen retten wollte.

Vielleicht konnte ich seine Probleme nicht lösen, aber ich konnte ihm helfen, sich zusammenzureißen, bis er an einem Ort war, an dem er sicher zusammenbrechen konnte.

Und anschließend konnte ich ihm möglicherweise helfen, die Scherben aufzusammeln.

»Ich weiß nicht, wo ich hinsoll«, gestand Leo. »Ich kann mich nicht erinnern, wo ich hinwollte, aber ich glaube, ich hab meinen Flug verpasst.«

»Hast du eine Bordkarte?« Andernfalls hätte er es nicht an der Security vorbei und in den Club geschafft.

»Es ist … Ich glaube schon. Gabe hat meine Pläne gemacht. Er hat alles arrangiert. Er war …« Er verstummte und schloss die Augen.

Ich legte eine Hand auf sein Bein und drückte es sowohl mitfühlend als auch testend, um herauszufinden, ob es genauso fest war, wie es aussah. Und wie es das war. Er hatte beim Essen sein Jackett ausgezogen, und die schwarze Weste darunter schmiegte sich eng an seinen flachen Bauch. Die Art, wie er die Manschettenknöpfe geöffnet und die weißen Ärmel hochgekrempelt hatte, hatte eine unangemessene Reaktion in meinen unteren Regionen ausgelöst – als wäre ich wieder ein dreizehnjähriger Junge, der in der Umkleide zum ersten Mal einen Blick auf einen nackten Mitschüler warf.

»Gabe ist ein Flachwichser«, sagte ich entschlossen.

Leo lachte schwach. »Ich bin nicht ganz sicher, was das ist, aber ich glaube, du hast recht.«

Sein Akzent war zusammen mit seiner guten Laune verschwunden, und ich stellte fest, dass ich beides vermisste. Ich wollte ihn wieder zum Lächeln bringen. »Wo könnte deine Bordkarte sein?«

Leo sah sich stirnrunzelnd um. »In meinem Rucksack.« Er deutete auf den Lederrucksack, den ich entdeckt hatte.

Ich nahm das als Erlaubnis dafür, einen Blick hineinzuwerfen. Zu meiner Überraschung befand sich nichts darin, was auf Flitterwochen oder auch nur einen Urlaub hindeutete.

Natürlich hatte er die üblichen Gegenstände für den täglichen Bedarf dabei. Eine Brieftasche mit einer anständigen Summe an US-Dollar und britischen Pfund, eine American-Express-Karte, Musterfotos von einer Familie, die wahrscheinlich schon in der Brieftasche gewesen waren, und einen Führerschein aus Texas. Aber ich fand auch ein Erste-Hilfe-Set, ein dickes Nylonseil, ein seltsames Ding aus Plastik und Gummi, ein Fernglas, einen Textmarker, eine Wasserflasche, ein paar Müsliriegel, eine Rolle Klebeband, eine Schachtel mit wasserfesten Streichhölzern und eine sehr große Taschenlampe, die meiner Meinung nach den Eindruck machte, als könnte man sie auch als Knüppel benutzen. Mein persönliches Highlight war die blaue Regenjacke, auf der in gelben Buchstaben FBI stand. Würde es ihm auffallen, wenn diese Jacke in meine Tasche wanderte?

Also eher eine Einsatzausrüstung als Handgepäck. Waren bereits Koffer mit seinem Namen darauf auf dem Weg zum Fundbüro? Falls nicht, würden wir morgen einkaufen gehen müssen.

In dem Rucksack befanden sich auch sein Reisepass, ein von der Regierung ausgegebener Blackberry und ein FBI-Ausweis. All das hatte Gott weiß wie lange ungeschützt hier herumgestanden. Für einen FBI-Agenten wirkte Leo sehr unvorsichtig. Allerdings waren gebrochene Herzen der beste Antrieb für schlechte Entscheidungen.

Das Einzige, was sich nicht in dem magischen Rucksack befand, war eine Bordkarte.

»Tut mir leid, Leo, aber deine Bordkarte ist anscheinend verloren gegangen.« Ich sah von meiner Bestandsaufnahme auf und stellte fest, dass er bereits zur Hälfte mit einem weiteren Gin Tonic durch war. Raffinierter Mistkerl. Das würde er eher früher als später bereuen.

Er hob in der universellen Geste für »Moment« einen Finger und leerte sein Glas schrecklich schnell. »Oh, das hab ich gebraucht«, sagte er, als er es ziemlich heftig abstellte und der Kellnerin bedeutete, ihm ein neues zu bringen. Tja, ich würde ihn nicht aufhalten. Tatsächlich würde es leichter sein, ihn mit nach Hause zu nehmen, wenn er noch etwas berauschter war.

»Bordkarte?«, drängte ich.

»Vielleicht … Ich glaube, Gabe …«

»Der Flachwichser«, fügte ich hinzu.

»Gabe der Flachwichser«, wiederholte er und schenkte mir dabei ein verschlafenes Lächeln, das etwas mit mir anstellte. »Ich glaube, er hat mir die Buchung per Mail geschickt.«

Ich hob eine Braue. »E-Mail? Formell.«

»Arbeit. Handy?«

Ich reichte ihm das Handy, und er spielte daran herum. Langsam sah er etwas grün um die Nase aus. Er entsperrte es und lehnte sich mit einem dumpfen Geräusch auf dem Stuhl zurück, sodass dieser sich wieder drehte.

»Finde du sie«, erklärte er und reichte mir das Handy.

»Leo, Liebling. Du solltest dein Arbeitshandy nicht jedem geben.«

Er schnaubte abfällig und winkte ab. »Aber du bist Charlie. Du bist kein schlechter Kerl, oder?«

Oh, Leo. »Nein, ich bin kein schlechter Kerl. Aber jeder andere hier könnte es sein.«

»Das sind alles reiche Leute.« Mit verengten Augen musterte er die Menge.

»Denkst du, reiche Leute können keine bösen Menschen sein?«, fragte ich, während ich seine E-Mails durchging, ein paar davon an mich weiterleitete und dann die gesendeten Mails löschte. Man konnte nie wissen, wann man ein paar gute FBI-Mailadressen brauchen würde.

Er runzelte verwirrt die Stirn. »Nein. Wohl nicht. Ich meine, sie können böse sein, richtig?«

»Sie können die Schlimmsten von allen sein«, versicherte ich ihm. »Also, Leo, dein nächster Flug steht erst in ein paar Tagen an, du hast also nichts verpasst. Allerdings sehe ich keine Buchungen für ein Hotel in London.« Es war nur eine kleine Lüge. Außerdem war das Hotel, das der Flachwichser ausgesucht hatte, zu weit von meiner Wohnung entfernt.

Er sackte auf seinem Stuhl zusammen. Sein Rücken musste ihn nach dem Flug und der anschließenden Folter durch dieses Plastikmonster umbringen. »Ich fühl mich nicht so gut«, gestand er.

»Ja, da bin ich mir sicher.« Ich gab dem Drang nach und fuhr mit den Fingern durch seine Haare. »Ich glaube, du musst mit mir nach Hause kommen, damit ich mich um dich kümmern kann.«

Er blickte zu mir auf, und seine blauen Augen waren groß und unschuldig. »Okay.«

Wer war dieser Mann, und warum verspürte ich dieses Verlangen, ihn vor den bösen Menschen zu beschützen? Menschen wie mir. Seufzend half ich ihm auf. »Du wirst mich noch umbringen, Leo Shook«, sagte ich. »Merk dir meine Worte.«

KAPITEL 2

LEO

 

Grandstay Hotel, La Crosse, Wisconsin

 

Heute

 

Ich hatte das Gefühl einer außerkörperlichen Erfahrung, als ich dabei zusah, wie meine Faust Charlies anstößig hübsches Gesicht traf. Die Champagnerflasche landete mit einem dumpfen Schlag auf dem Boden und rollte gegen meine Füße. Blut schoss aus Charlies Nase und tropfte auf sein Kinn und seine Krawatte. Oh Gott.

Charlie legte sich eine Hand auf die Nase. »Ja. Nun. Ich bin ziemlich sicher, dass ich das verdient habe.« Selbst gedämpft durch Blut und Finger konnte ich den geschliffenen Akzent hören, den er nur in meiner Gegenwart benutzte. So viel von ihm war allen außer mir verborgen.

All meine widersprüchlichen Gefühle kämpften darum, gleichzeitig ausgedrückt zu werden, weshalb natürlich gar nichts rauskam. Mir fehlten die Worte.

Anstatt also zu antworten, ging ich mechanisch ins Badezimmer. Charlie ist zurück. Ich nahm ein Handtuch von der Metallhalterung. Charlie lebt. Ich marschierte durchs Zimmer und reichte dem auf wundersame Weise wiederauferstandenen Betrüger das Handtuch. Ich werde ihn verdammt noch mal umbringen.

»Danke«, sagte Charlie und hob das genoppte Handtuch, ehe er es sich aufs Gesicht drückte und den Kopf nach hinten neigte. Er stand noch immer in der Tür, und die Geräusche des Hotels drangen ins Zimmer.

Ohne Blickkontakt herzustellen, zog ich die Sackkarre herein und schüttelte angesichts der vielen Kisten den Kopf. Als ich zurücksah, beobachtete mich Charlie unter dem blutigen Handtuch hervor. Seine grünen Augen verrieten alles, was er mir mitteilen wollte. Ich wollte nichts davon hören, aber wie immer konnte ich in seiner Gegenwart den Blick nicht abwenden. Ich nahm die blonden Härchen auf seinen Wangen und die dunklen Schatten unter seinen Augen zur Kenntnis.

Die Anspannung wuchs. In gleichmäßigen Abständen hob er das Handtuch, um nachzuschauen, ob die Blutung aufgehört hatte. Als er mit dem Ergebnis zufrieden zu sein schien, berührte er vorsichtig seine Nase und zuckte schmerzerfüllt zusammen. »Tja.«

»Hat’s aufgehört?«, fragte ich.

»Sieht so aus«, antwortete er.

»Gut.« Ich packte sein Hemd und zerrte ihn ins Zimmer. Dann knallte ich die Tür zu, vergrub die Finger in seinem Revers und stieß ihn gegen die geschlossene Tür. Seine Augen weiteten sich, und ein Hauch von Angst spiegelte sich in ihren Tiefen, als würde er glauben, dass ich ihn noch mal schlagen würde. Stattdessen presste ich unsere Körper aneinander und drückte all diese widersprüchlichen Emotionen durch eine Attacke auf seinen Mund aus.

Charlie keuchte, ob vor Schmerz oder Überraschung, konnte ich nicht sagen, aber er öffnete den Mund unter meinem Angriff und legte eine Hand an meinen Hinterkopf, um mich festzuhalten. Die andere legte er an meine Hüfte, ließ sie unter mein T-Shirt schlüpfen und strich kreisend über meine Haut.

Unsere Zungen umspielten einander, als ich seinen Mund neu kennenlernte. Ich hatte nie genug Zeit gehabt, um ihn zu erkunden, und so prägte ich mir jedes winzige Geräusch ein, das er von sich gab, und verstaute es zusammen mit den restlichen, dürftigen Erinnerungen, die ich an ihn und unsere zu seltenen und zu kurzen Begegnungen hatte, in meinem Gedächtnis.

Es war ein verzweifeltes Ringen von Lippen und Zähnen, und ich spürte, wie die Entschuldigung, die anzunehmen ich noch nicht bereit war, aus ihm herausdrang. Minuten später wurde der Kuss sanfter, und ich stellte fest, dass ich sein Gesicht umfasste. Charlie griff nach meinen Handgelenken.

Ich löste den Kuss und lehnte meine Stirn an seine. »Ich dachte, du wärst tot, du Arschloch.« Meine Stimme war nicht so fest, wie ich es gern gehabt hätte.

»Ich weiß«, sagte er. »Es tut mir leid. Glaub mir, es war notwendig.« Er küsste mich schnell. »Ich war nicht wirklich tot.«

»Aber ich dachte es. Monatelang.« Meine Stimme brach, und ich bedeckte meine Augen. »Es war so was von beschissen. Ich konnte nicht mal … Ich konnte es niemandem erzählen, Charlie. Ich konnte niemandem erzählen, warum ich so am Boden zerstört war.«

»Ah, Liebling.« Er zog mich in seine Arme. »Sie sind mir zu nah gekommen«, fuhr er leise fort. »Das FBI.«

»Uns«, korrigierte ich.

»Uns«, räumte er ein. »Ich dachte, wenn ich verschwinden, sterben würde, würde es aufhören.«

»Die Ermittlung gegen dich hat aufgehört.«

»Aber der Fall gegen dich nicht. Und das ist ein Problem.«

»Wir beide wissen, dass ich in allen Anklagepunkten schuldig bin.«

»Und bei einigen Dingen, von denen sie nicht einmal wissen.«

»Danke, ich fühle mich gleich so viel besser.«

»Vielleicht hilft das hier wirklich.« Er sah bedeutungsvoll zu der Sackkarre und den Kisten. »Ich hab dir was mitgebracht.«

»Was ist da drin?«

»Alle Akten zu den Ermittlungen gegen dich. Und so einige von meinen.«

»Du machst Witze.«

»Nicht im Geringsten.« Er beobachtete mein Gesicht, als ich den Kopf schüttelte, und runzelte verwirrt die Stirn. »Wirst du mich nicht fragen, woher ich die habe? Wie ich da rangekommen bin?«

»Denkst du, ich hätte in all den Jahren nichts gelernt?«

»Ich glaube, dass ich mehr von dir gelernt habe«, antwortete er auf eine ernste Art und Weise, die ungewöhnlich für uns war. Eine Art und Weise, die wir beibehalten mussten, wenn wir eine Zukunft haben wollten.

»Gott, ich hab dich vermisst.« Meine Stimme war belegt, und Tränen brannten in meinen Augen.

»Ich war nie weit weg«, erwiderte er leise.

Nicht weit weg? Verdammt. Er war es gewesen. »Du hast mich angerufen, richtig? Du bist Al?«

»Ja. Bitte sag es nicht Miranda. Sie wird mich wirklich umbringen. Aber ich konnte mich nicht von dir fernhalten. Das konnte ich noch nie.«

Da war es, unser Problem, auf den Punkt gebracht. Wir sollten uns voneinander fernhalten. Ein Trickbetrüger und ein FBI-Agent. Es war Wahnsinn. Und als Resultat dieses Wahnsinns wurde wegen meiner Handlungen in seinen Fällen gegen mich ermittelt, und er war im Grunde genommen tot.

Aber seit diesem ersten Tag hatte es zwischen uns geradezu explosiv gefunkt. Wir waren nicht dazu fähig, es lange ohne einander auszuhalten. Manchmal hatte ich das Gefühl, dass eine Ewigkeit nicht lang genug sein würde.

»Ich habe so viele Fragen«, setzte ich an.

»Das weiß ich, Liebling. Und ich habe vielleicht einige Antworten. Aber eventuell kann das bis morgen warten?« Erneut überbrückte er den Abstand zwischen uns, und wir griffen nacheinander. Ich wusste nicht mal, warum ich versuchte, ihm zu widerstehen. Es würde keine Gespräche geben, bis wir das Verlangen befriedigt hatten, das zwischen uns brannte. Zumindest zum ersten Mal befriedigt. Aber ich musste es versuchen.

»Morgen soll ich mich mit den Jungs treffen. Miranda wird uns sagen, was unsere letzte Aufgabe ist«, presste ich hervor, obwohl mich Charlies Mund auf meinem Hals ablenkte. Wir waren beinahe gleich groß. Wir passten auf so viele Arten zusammen. Dieselbe Größe, derselbe Geburtstag. Dieselbe Wildheit, obwohl ich meine tief in meinem Inneren verbarg. Nur Charlie konnte sie hervorlocken.

Ich war froh, dass wir in meinem Schlaf- und nicht im Wohnzimmer der Suite waren. Egal, was der Morgen brachte, zumindest für heute Nacht hatten wir Privatsphäre.

Ich schob ihm das Jackett von den Schultern. »Warum trägst du einen gottverdammten Anzug?«, beschwerte ich mich.

Charlie schlüpfte aus dem Jackett und ließ es zu Boden fallen. Seine Finger flogen über die Knöpfe seiner Weste. »Eure letzte Aufgabe ist es, herauszufinden, wer es auf dich abgesehen hat. Ich glaube, dass es jemand aus dem inneren Kreis ist. Aber ich renne gegen Wände, wenn ich versuche, die Person zu finden.«

Er streckte den Arm aus und drehte mir sein Handgelenk zu, damit ich die Manschettenknöpfe öffnete. Normalerweise gehörte das zu meinen Lieblingsbeschäftigungen, und ich zog den Vorgang in die Länge. Heute wollte ich ihn einfach nur nackt haben. »Wer trägt grundlos einen dreiteiligen Anzug?«

Er zog mich an sich und schlang die Arme um meine Mitte. »Ich habe einen sehr guten Grund. Ich wollte gut für dich aussehen.«

»Nackt würdest du besser aussehen«, sagte ich und knöpfte sein Hemd auf.

»Du liebst mich im Anzug.« Er lachte.

Das stimmte. Ich hatte eine Schwäche für Männer in gut geschneiderten Anzügen, und alle von Charlies Anzügen waren bis auf den letzten Zentimeter maßgeschneidert. Dieser dezent hellbraun karierte, aus dem ich ihn gerade mühevoll schälte, gehörte zu meinen Lieblingsanzügen, und das wusste er. »Schön. Du siehst echt umwerfend aus.«

Zu meinem großen Missfallen schob mich Charlie weit genug von sich weg, um nach dem Champagner zu greifen. »Willst du feiern? Es ist unser Jahrestag.«

»Welcher?« Charlie fand an den meisten Tagen einen Grund zum Feiern. Unser erster Kuss. Der erste Streit. Die erste Nahtoderfahrung.

»Als du das erste Mal auf mich geschossen hast«, erklärte er und öffnete den Korken der Flasche. Das Ploppen passte gut zu seiner Aussage.

»Es war nicht das erste Mal. Es war das einzige Mal. Und es war ohnehin deine dämliche Idee.« Ich nahm ihm die Flasche aus der Hand und trank daraus.

»Hat funktioniert, oder nicht?«

»Kommt drauf an, wie man ›funktionieren‹ definiert.«

»Niemand ist gestorben.«

Ich sah ihn bedeutungsvoll an.

»Zu früh?«

»Dafür wird es immer zu früh sein.« Ich hielt ihm die Flasche an die Lippen. »Trink. Und dann zieh dich aus.«

»Sonst was?«, fragte er, ehe er gehorsam einen Schluck trank.

Nachdem ich die Flasche vorsichtig auf den Boden gestellt hatte, schob ich ihm das Hemd über die Arme – ohne die Manschettenknöpfe vollständig zu öffnen –, sodass sie an seinen Seiten gefangen waren. »Sonst muss ich dich wohl in Gewahrsam nehmen.« Ich trat hinter ihn und zog an dem Hemd, um seine Arme hinter seinen Rücken zu bringen.

Er lachte, als ich ihn zu dem großen Doppelbett drängte. »Agent Shook, das ist höchst unvorschriftsmäßig.«

»Es heißt ›Special Agent Shook‹«, sagte ich und hielt seine Handgelenke mit einer Hand fest.

»Du bist etwas Spezielles, so viel steht fest«, antwortete er liebevoll.