Psychologie des Lebens - Mark Galliker - E-Book

Psychologie des Lebens E-Book

Mark Galliker

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Beschreibung

Wilhelm Dilthey begründete schon 1894 eine humanistische Psychologie, in welcher der Mensch nicht nur objektiv, sondern zugleich subjektiv aufgefasst wird. Im Zentrum seiner Lebensphilosophie steht nicht länger das isolierte Individuum, sondern die Person inmitten ihrer Kultur und ihrer Gesellschaft. In diesem Band der Reihe »Philosophie und Psychologie im Dialog« beziehen sich Mark Galliker und Hans-Ulrich Lessing aus psychologischer bzw. philosophischer Perspektive auf Diltheys »Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie«. Die Autoren suchen nach einem Ansatz zu einer »Psychologie des Lebens«, die den Menschen aus seinem Lebenszusammenhang heraus versteht, anstatt ihn wie die experimentelle Psychologie mit ihren lebensfremden Konstruktionen und Manipulationen zu instrumentalisieren. In den einzelnen Beiträgen und dem darauffolgenden Dialog geht es um Fragen wie: - Worin besteht die Architektur der geisteswissenschaftlichen Psychologie des Lebens? - Welchen Stellenwert haben Kultur und Gesellschaft in dieser Lebenspsychologie? - Was vermag Hermeneutik zur Methodologie der Psychologie beizutragen? - Wohin führen die Lebensphilosophie und Lebenspsychologie? In den Irrationalismus oder zu einer aussichtsreichen psychotherapeutischen Praxis?

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Philosophie und Psychologie im Dialog

Herausgegeben vonGerd Jüttemann und Christoph Hubig

Band 19: Mark Galliker / Hans-Ulrich Lessing Psychologie des Lebens

Mark Galliker / Hans‐Ulrich Lessing

Psychologie des Lebens

Dilthey im Diskurs

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG,Theaterstraße 13, D-37073 GöttingenAlle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Satz: SchwabScantechnik, GöttingenEPUB-Produktion: Lumina Datamatics, Griesheim

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

ISBN 978-3-647-99933-3

Inhalt

Hans-Ulrich Lessing

Diltheys Konzeption einer verstehenden Psychologie

Mark Galliker

Diltheys Beitrag zu einer Psychologie des Lebens

Hans-Ulrich Lessing

Erster Brief an Herrn Galliker

Mark Galliker

Erster Brief an Herrn Lessing

Hans-Ulrich Lessing

Zweiter Brief an Herrn Galliker

Mark Galliker

Zweiter Brief an Herrn Lessing

Literatur

Hans-Ulrich Lessing

Diltheys Konzeption einer verstehenden Psychologie1

Für Moritz und Lotta

Vorbemerkungen

Die hier versuchte textnahe Darstellung von Diltheys Entwurf einer beschreibend-zergliedernden Psychologie, die man auch als eine verstehende Psychologie bezeichnen kann, obwohl Dilthey selbst diesen Begriff für seine Psychologie nicht benutzt, stützt sich vor allem auf seine einschlägigen Hauptwerke: die »Einleitung in die Geisteswissenschaften« und die »Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie«. Auf eine Auseinandersetzung mit der inzwischen sehr umfangreichen Forschungsliteratur zu Dilthey muss aus Platzgründen verzichtet werden.

Wilhelm Dilthey hat ein sehr umfangreiches Werk hinterlassen, zu dem neben einer Vielzahl von philosophischen und philosophiegeschichtlichen Schriften u. a. auch Biografien, literaturgeschichtliche und -kritische, geistesgeschichtliche, poetologische, psychologische und pädagogische Arbeiten sowie ein großer, bislang nur zum Teil edierter Nachlass, ein sehr großer Briefwechsel und etliche Nachschriften von Vorlesungen zur Philosophie, Psychologie und Pädagogik gehören. Unbestritten im Zentrum seines Œuvres steht die Philosophie der Geisteswissenschaften, deren Ziel eine umfassende Grundlegung dieser Wissenschaften war und eine Erkenntnistheorie, eine Logik und eine Methodologie der Geisteswissenschaften umfassen sollte. Diese Grundlegung, die Dilthey mit seinem Hauptwerk, der »Einleitung in die Geisteswissenschaften« (1883; GS, Bd. I), realisieren wollte, konnte von ihm nicht abgeschlossen werden. Zwar liegen einige Veröffentlichungen und zahlreiche Ausarbeitungen, Entwürfe, Fragmente und Dispositionsskizzen zum zweiten Band vor, doch blieb diese »Kritik der historischen Vernunft«, wie Dilthey seinen Plan einer Begründung der Geisteswissenschaften gelegentlich – allerdings mit einer gewissen Zurückhaltung – im Anschluss an Kant auch genannt hat, ebenso unvollendet, wie einige andere seiner Projekte.

Im Mittelpunkt dieser Grundlegung steht neben der Erkenntnistheorie die Psychologie, die eine doppelte Rolle spielt: Sie übernimmt einerseits die Funktion einer Grundwissenschaft in der Stufenfolge der einzelnen Geisteswissenschaften und ist andererseits ein wichtiges Element der Erkenntnistheorie selbst. Die Psychologie ist somit der zentrale Schnittpunkt, gleichsam das Nervenzentrum von Diltheys Theorieprogramm: Sie ist nicht nur grundlegend für die Geisteswissenschaften, sondern auch von fundamentaler Bedeutung für die Erkenntnistheorie, aber auch für die Ethik, die Literaturgeschichte, die Poetik, die Pädagogik und die Philosophie der Philosophie, d. h. die Weltanschauungslehre, der sich Dilthey in seinen letzten Lebensjahren verstärkt zugewendet hat.

Die Psychologie, die diese umfassenden Aufgaben zu erfüllen hat, wird von Dilthey als eine beschreibend-zergliedernde bestimmt und in seiner großen Programmschrift »Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie« von 1894 in ihren Grundzügen entworfen. Sie stellt einen Alternativentwurf zur seinerzeit herrschenden naturwissenschaftlich inspirierten, quantifizierenden Psychologie dar, die von ihm als »erklärende« bzw. »konstruktive« Psychologie bezeichnet wird. Im Gegensatz zu dieser Psychologie verzichtet die von Dilthey entwickelte deskriptive Psychologie auf die Verwendung spekulativer, d. h. empirisch nicht eindeutig überprüfbarer Hypothesen zur Erklärung seelischer Phänomene oder Vorgänge. Im Mittelpunkt seiner Psychologie stehen die Abgrenzung von der erklärenden Psychologie, die Klärung des Begriffs und die Bestimmung der Aufgabenstellung einer beschreibend-zergliedernden Psychologie sowie die Analyse des Strukturzusammenhangs des Seelenlebens. Diltheys Psychologie ist eine Psychologie des Lebens. Das psychische Leben ist nicht nur ihr Forschungsobjekt, sondern sie geht auch vom Leben, d. h. dem erlebten seelischen Zusammenhang bzw. der Totalität der seelischen Kräfte, aus und versucht auf dieser Basis die einzelnen Glieder dieses Zusammenhangs zu analysieren und zu beschreiben.

Für die Interpretation (und Rezeption) von Diltheys Psychologie ist es von nicht unerheblicher Bedeutung, sich bewusst zu machen, dass seine deskriptive Psychologie kein für sich bestehendes, autonomes Konzept ist, sondern vielmehr ein integrales Element seines großen philosophischen Projekts einer umfassenden erkenntnistheoretischen, logischen und methodologischen Grundlegung der Geisteswissenschaften. In meiner Darstellung von Diltheys Psychologie des Lebens gehe ich daher in der Weise vor, dass ich in einem ersten Schritt den Ort und die Funktion der Psychologie im Kontext seines Projekts einer Grundlegung der Geisteswissenschaften erläutere, um dann sein in den »Ideen« entfaltetes Programm einer deskriptiven Psychologie des Lebens detailliert vorzustellen.

Die Funktion der deskriptiven Psychologie im Kontext der philosophischen Grundlegung der Geisteswissenschaften

Die philosophische Grundlegung der Geisteswissenschaften ist das zentrale Projekt Diltheys, dem er sich während der gesamten Zeit seiner wissenschaftlichen Biografie gewidmet hat. Es grundiert und umrahmt fast alle seine Forschungsarbeiten. Das Werk, das diese Grundlegung leisten sollte, ist die »Einleitung in die Geisteswissenschaften«, die den erklärenden Untertitel »Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und Geschichte« trägt. Der erste Band dieses Werks erschien 1883, der geplante Fortsetzungsband, der neben einer breiten wissenschafts- und philosophiegeschichtlichen Darstellung die systematische Begründung der Geisteswissenschaften, d. h. eine Erkenntnistheorie, eine Logik und eine Methodenlehre der Geisteswissenschaften, enthalten sollte, konnte von Dilthey nicht vollendet werden. Sein Hauptwerk blieb ebenso wie die Schleiermacher-Biografie, die »Studien zur Geschichte des deutschen Geistes« und »Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften« ein Torso.

Der erste Band der »Einleitung«, dem zahlreiche Vorstufen und Entwürfe vorausgingen (vgl. Lessing, 1984, 2001), ist Diltheys Freund und wichtigsten philosophischen Gesprächspartner, dem Grafen Paul Yorck von Wartenburg, gewidmet. Er umfasst zwei Bücher, ein systematisches und ein historisches. Das erste einleitende Buch bietet eine »Übersicht über den Zusammenhang der Einzelwissenschaften des Geistes, in welcher die Notwendigkeit einer grundlegenden Wissenschaft dargetan wird« (GS, Bd. I, S. 1–120). Dass diese grundlegende Wissenschaft nicht in der Metaphysik gesucht werden kann, ist das Beweisziel des zweiten, historischen Buchs, das den Titel »Metaphysik als Grundlage der Geisteswissenschaften. Ihre Herrschaft und ihr Verfall« (GS, Bd. I, S. 121–408) trägt und eine »Phänomenologie der Metaphysik« (GS, Bd. I, S. 395, S. 406; vgl. S. 400) verfolgt. In diesem umfangreichen Buch zeichnet Dilthey die Geschichte der Metaphysik von der Entstehung der Wissenschaft in Griechenland bis zur Etablierung der neuzeitlichen Naturwissenschaften nach. Dilthey zeigt hier, dass zwar die »metaphysische Wissenschaft« ein »historisch begrenztes Phänomen« ist (GS, Bd. I, S. 386), Metaphysik als Wissenschaft oder Erkenntnis zerstört ist und eine metaphysische Begründung der Geisteswissenschaften unmöglich ist, die »metaphysische Stimmung« (GS, Bd. I, S. 364 f.), das »Meta-Physische unseres Lebens als persönliche Erfahrung« (GS, Bd. I, S. 384), das »meta-physische Bewußtsein der Person« aber, wie er schreibt, »ewig« ist (GS, Bd. I, S. 386).

Neben der Metaphysik sind es vor allem der Positivismus Auguste Comtes und der Empirismus John Stuart Mills, die Dilthey als seine Hauptgegner betrachtet. An der Auseinandersetzung mit diesen Positionen entwickelt Dilthey seine eigene philosophische Fragestellung und die Ausrichtung seines philosophischen Standpunktes. Insbesondere das sechste Buch »On the logic of moral sciences« von Mills »A system of logic. Ratiocinative and inductive« (1843) wird für Dilthey zur nachdrücklich bekämpften Kontrastfolie, an der seine eigene Position ihre Kontur gewinnt.

Ziel der »Einleitung« ist »die selbständige Konstituierung der Geisteswissenschaften« (GS, Bd. I, S. 8), »die Selbständigkeit der Geisteswissenschaften, ihren inneren Zusammenhang, ihr Leben aus eigener Kraft zur Anerkennung zu bringen« (GS, Bd. I, S. 410) bzw. die »Grundlegung und Organisation der Geisteswissenschaften« (GS, Bd. I, S. 415). Dazu gilt es, »die Frage nach den philosophischen Grundlagen der Geisteswissenschaft« zu lösen, und zwar »mit dem höchsten mir erreichbaren Grad von Gewißheit« (GS, Bd. I, S. xv). Im Hintergrund des Unternehmens steht die Absicht, für die historische Schule, die »die Emanzipation des geschichtlichen Bewußtseins und der geschichtlichen Wissenschaft« vollbrachte, die fehlende erkenntnistheoretische Grundlegung zu liefern. In dieser fehlenden erkenntnistheoretischen Begründung erkennt Dilthey die Ursache dafür, dass die von der historischen Schule etablierte Geschichtsbetrachtung sich nicht gegen den Positivismus Comtes und Mills behaupten konnte, die den Versuch unternahmen, die Geschichtswissenschaft durch die »Übertragung naturwissenschaftlicher Prinzipien und Methoden« zu begründen (GS, Bd. I, S. xvi). Der historischen Schule ist es daher – so Diltheys Kritik – weder gelungen, einen »selbständigen Zusammenhang der Geisteswissenschaften« zu errichten noch »auf das Leben Einfluß zu gewinnen«.

Diltheys Arbeit ist von dem Impuls getragen, die inneren Schranken der historischen Schule aufzubrechen, »welche ihre theoretische Ausbildung wie ihren Einfluß auf das Leben hemmen mußten« und die durch die historische Schule hervorgerufene Grundlagenunsicherheit der Geisteswissenschaften durch eine Erkenntnistheorie zu beseitigen, genauer durch eine Begründung »auf das einzige in letzter Instanz sichere Wissen«, d. h. auf die »Analysis der Tatsachen des Bewußtseins« (GS, Bd. I, S. xvi; vgl. S. xvii f.).

Diese Situation der Geisteswissenschaften motiviert Dilthey zu seinem Versuch, »das Prinzip der historischen Schule und die Arbeit der durch sie gegenwärtig durchgehends bestimmten Einzelwissenschaften der Gesellschaft philosophisch zu begründen und so den Streit zwischen dieser historischen Schule und den abstrakten Theorien zu schlichten« (GS, Bd. I, S. xvii). Im Mittelpunkt seiner Überlegungen stehen die Fragen nach dem Zusammenhang und der sicheren Grundlage der geisteswissenschaftlichen Erkenntnisse: »Wo ist der feste Rückhalt für einen Zusammenhang der Sätze, der den Einzelwissenschaften Verknüpfung und Gewißheit gibt?«. Liegt dieser Zusammenhang, so fragt sich Dilthey, in der Metaphysik, gibt es eine metaphysisch begründete Geschichtsphilosophie und ein entsprechendes Naturrecht? Oder ist die Antwort der Positivisten die richtige? Aber weder die metaphysische noch die positivistische Begründung der Geisteswissenschaften bieten in seinen Augen adäquate Antworten auf die ihn bewegenden Fragen, denn die Positivisten und Empiristen scheinen ihm »die geschichtliche Wirklichkeit zu verstümmeln, um sie den Begriffen und Methoden der Naturwissenschaften anzupassen«.

Wie Dilthey in der auf »Ostern 1883« datierten »Vorrede« zum ersten Band der »Einleitung« schreibt, soll das Gesamtwerk zwei Bände mit insgesamt fünf Büchern umfassen. Das erste Buch enthält zunächst als Ausgangsbasis der Untersuchung eine »Übersicht über die Einzelwissenschaften des Geistes« (GS, Bd. I, S. xix; zur Absicht des ersten Buches vgl. auch GS, Bd. I, S. 416). Das zweite Buch hat eine Darstellung der Geschichte des metaphysischen Denkens zum Inhalt, die auf den Beweis hinausläuft, »daß eine allgemein anerkannte Metaphysik durch eine Lage der Wissenschaften bedingt war, die wir hinter uns gelassen haben, und sonach die Zeit der metaphysischen Begründung der Geisteswissenschaften ganz vorüber ist«. Das dritte Buch, mit dem der zweite Band eröffnet werden soll, wird nach Diltheys Planung die historische Untersuchung mit einer Darstellung der postmetaphysischen Wissenschaftsgeschichte der Geisteswissenschaften und der Erkenntnistheorie fortsetzen und die erkenntnistheoretischen Arbeiten bis in die unmittelbare Gegenwart darstellen und bewerten (vgl. auch GS, Bd. I, S. 407 f.). Mit dem vierten und fünften Buch soll dann versucht werden, die eigene erkenntnistheoretische Grundlegung der Geisteswissenschaften vorzulegen (GS, Bd. I, S. xix).

Eine etwas abweichende und instruktivere Übersicht über die Gesamtanlage und die Aufgabenstellung der »Einleitung« findet sich in dem Brief (vor dem 6. Juli 1882), den Dilthey einer Sendung Korrekturbögen der »Einleitung« an Richard Schöne, den Leiter der Hochschulabteilung im Kultusministerium, beigegeben hat. Die »Einleitung« unternimmt demnach den Versuch, »eine Aufgabe zu lösen, welche durch die Lage der gegenwärtigen Wissenschaft gestellt ist, die metaphysische Grundlegung der Einzelwissenschaften durch eine Erkenntnißtheorie und ein auf sie gegründetes Studium der einzelnen Beziehungen der Wissenschaften zueinander sowie allgemeiner der Naturwissenschaften zu den Geisteswissenschaften zu ersetzen« (BW, Bd. I, S. 885). Diltheys Ziel ist es, wie er schreibt, dadurch »die wirklichen Grundlagen der Geisteswissenschaften festzustellen« (BW, Bd. I, S. 885 f.).

Das erste Buch der Einleitung soll, »im Gegensatz gegen die heute herrschenden Construktionen aus der Schule von Comte und Mill, die wirkliche innere Struktur der Geisteswissenschaften erfassen, wie sie sich in den Einzelwissenschaften geschichtlich entwickelt hat«, woraus sich »der Erweis der Nothwendigkeit einer allgemeinen Grundlegung ergibt« (BW, Bd. I, S. 886).

Das zweite Buch, das »eine Art von geschichtlicher Description der Metaphysik« enthält, soll zeigen, »daß die Metaphysik eine allgemein anzuerkennende Grundlegung der Einzelwissenschaften nicht mehr herzustellen vermag«, da »eine Wissenschaft von dem inneren allgemeinen objektiven Zusammenhang der Erscheinungen, wie sie die Metaphysik zu sein beansprucht«, unmöglich ist (BW, Bd. I, S. 886).

Der zweite Band soll »den Aufbau der erkenntnißtheoretischen Grundlegung« enthalten, der in einer Erkenntnistheorie besteht, »welche im Gegensatz gegen die bisherigen Versuche auf Selbstbesinnung über das ganze Gebiet der Thatsachen des Bewußseins gegründet ist, nicht auf einseitige Untersuchung der Intelligenz«. Daraus ergibt sich als Konsequenz »die Bestimmung des Verhältnisses Naturwissenschaften Geisteswissenschaften« (BW, Bd. I, S. 886), und zwar so, dass die relative Autonomie der geistigen Welt und damit der Geisteswissenschaften erkannt und gesichert wird: »Die geistigen Thatsachen können dem Netz des denknothwendigen Zusammenhangs, welches die Naturwissenschaften feststellen, in einer ganz bestimmten Weise eingeordnet werden, ohne daß dadurch die relative Selbständigkeit der geistigen Welt, die wir ja so erkennen, wie sie wirklich ist, ohne daß die Freiheit des Willens dadurch beeinträchtigt wird« (BW, Bd. I, S. 886 f.). Abgeschlossen werden soll das Werk durch eine »Logik und Methodenlehre der Geisteswissenschaften« (BW, Bd. I, S. 887).

Eine wesentlich differenzierte und umfangreichere Übersicht über Ziel und Anlage, nicht zuletzt der Bücher drei und vier der »Einleitung« sowie der Grundgedanken, die den systematischen Untersuchungen zugrunde liegen, enthält ein Briefentwurf aus dem Februar 1883 an Friedrich Althoff, der seit dem 10. Oktober 1882 die Stelle des Personaldezernenten für die Universitäten im Ministerium der Geistlichen, Unterrichts- und Medicinalangelegenheiten bekleidete.

Wichtig in diesem sogenannten »Althoff-Brief« ist für unsere Fragestellung vor allem Diltheys Bemerkung, dass er mit seinem Werk eine »auf Psychologie basierte Erkenntnißtheorie der Geisteswissenschaften« vorlegen will, wobei mit dem Wort »psychologisch« die »Totalität des Seelenlebens« (BW, Bd. II, S. 32; vgl. S. 34) gemeint ist, d. h. – wie in der »Vorrede« formuliert – die »ganze Menschennatur« oder der »ganze Mensch«, mit anderen Worten »dies wollend fühlend vorstellende Wesen« (GS, Bd. I, S. xviii; vgl. S. xix). Dieser ganze Mensch »in der Mannigfaltigkeit seiner Kräfte« (GS, Bd. I, S. xviii), die seelische Totalität ist das, was Dilthey mit seinem Begriff des »Lebens« bezeichnet, wobei »das Leben« sein Gegenbegriff zum bloßen Vorstellen, d. h. der einseitigen Intellektualität, ist (vgl. GS, Bd. I, S. xix).

Eine kurze Übersicht über Diltheys Verwendung des Lebensbegriffs (Lessing, 2011, S. 61–74) macht im Übrigen deutlich, dass dieser Begriff in seinem Werk eine Entwicklung aufweist. In der »Einleitung« und ihrem Umkreis macht Dilthey vom Begriff des Lebens nur relativ wenig Gebrauch (vgl. GS, Bd. I, S. 141, S. 148, S. 260, S. 265, S. 372, S. 395). Hier dient er als erkenntnistheoretischer Oppositionsbegriff zur klassischen Bewusstseinsphilosophie, die Dilthey durch Intellektualismus und bloßes Vorstellen charakterisiert, und bezeichnet die Totalität des Bewusstseins, den ganzen Menschen, das wollend fühlend vorstellende Wesen und – gegen die Annahme eines starren, ungeschichtlichen Apriori gerichtet – Entwicklungsgeschichte unseres Erkenntnisvermögens (vgl. GS, Bd. I, S. xviii).2 Der »ganze Mensch« in seiner Lebendigkeit steht in diesem Kontext gegen ein intellektualistisch restringiertes abstraktes Erkenntnissubjekt.

Seit Mitte der 1880er Jahre wird der Lebensbegriff zu einem psychologisch-anthropologischen Grundbegriff, der die Struktur des Seelenlebens bezeichnet, und gegen Ende der 1880er Jahre, nachdem Dilthey in der Struktur des Lebens die Grundlage der Psychologie erkannt hatte, wird der psychologische Standpunkt zu einem biologischen erweitert und vertieft (vgl. GS, Bd. XIX, S. 345). Im Spätwerk begegnet dann eine Vielzahl von Stellen, an denen Dilthey auch von der Rätselhaftigkeit und der »Unergründlichkeit des Lebens« spricht (vgl. etwa GS, Bd. XIX, S. 344; Bd. VIII, S. 145).

Daneben bezeichnet Dilthey mit diesem Begriff den individuellen Lebensverlauf und seine Beschreibung (vgl. etwa sein »Leben Schleiermachers«), den gesellschaftlichen oder geschichtlichen Zusammenhang und das Innewerden oder Für-sich-Sein (vgl. GS, Bd. XIX, S. 161).

Das Zentrum von Diltheys Lebensbegriff scheint mir in der sogenannten »Struktur des Seelenlebens« zu liegen, die eine psychologische (Denken-Wollen-Fühlen), aber auch eine biologische (»System der Triebe« [BW, Bd. II, S. 262]) Dimension aufweist. Daher kann Dilthey auch sagen: »Der Mensch ist im Kern ein Bündel von Trieben« (vgl. auch GS, Bd. X, S. 12, S. 50, S. 104 sowie Bd. V, S. 177, S. 205 f., S. 210). Diese Struktur des Seelenlebens erwächst aus der Grundsituation des Menschen in der Wechselwirkung mit seiner Umwelt, die Dilthey durch den Funktionskreis von Reiz und Reaktion kennzeichnet.3

Leben ist somit erstens der Gesamtzusammenhang der strukturierten Tatsachen des Bewusstseins, der für die erkenntnistheoretische Reflexion unhintergehbar ist. Es ist die »Totalität unseres Selbst«, das nicht nur vorstellt und denkt, sondern auch fühlt und will. Leben ist darüber hinaus der Zusammenhang des sich in der Zeit vollziehenden Prozesses, d. h. Entwicklung und Artikulation (vgl. GS, Bd. XIX, xliv). Und Leben ist der Zusammenhang von Trieb, Wille und Gefühl, der in der Wechselwirkung des Subjekts mit seiner Umgebung, seinem Milieu besteht und im Wechselspiel von Eindruck und Reaktion zentriert ist (vgl. GS, Bd. V, S. 95 f.).4

Dieser Zusammenhang der unterschiedlichen seelischen Vorgänge, wie Empfindungen, Vorstellungen, Gefühle, Triebe und Volitionen, der »bei allen animalischen Wesen auf unserer Erde dieselbe ist und das psychische Grundgesetz dieser Lebewesen ausmacht« (GS, Bd. V, S. 95), ist »das Leben selbst« (GS, Bd. V, S. 152; vgl. S. 176 ff., S. 200 ff.). Und dieses »Leben selbst« steht im erkenntnistheoretisch-psychologischen Zentrum von Diltheys Philosophie der Geisteswissenschaften.

Unter den »Geisteswissenschaften« versteht Dilthey in der »Einleitung« »das Ganze der Wissenschaften, welche die geschichtlich-gesellschaftliche Wirklichkeit zu ihrem Gegenstande haben« (GS, Bd. I, S. 4) bzw. die »Wissenschaften des Menschen, der Geschichte, der Gesellschaft« (GS, Bd. I, S. 5). Daneben gibt es in Diltheys frühem und mittlerem Werk noch zahlreiche mehr oder weniger modifizierte Bezeichnungen für die Wissenschaften der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit. Festzuhalten ist, dass er dem Begriff »Geisteswissenschaften«, der nicht zuletzt durch Diltheys »Einleitung« endgültig etabliert wird, durchaus nicht unkritisch gegenübersteht, die Wahl dieses Begriffs allerdings für alternativlos hält.

Die Entscheidung für den Begriff »Geisteswissenschaften« als Bezeichnung der Wissenschaften der Gesellschaft und der Geschichte begründet Dilthey einerseits mit der deutschen Übersetzung von Mills Hauptwerk »Logic« durch J. Schiel, der die »Moral sciences«, die Mill im sechsten Buch seiner »Logik« thematisiert, mit dem Begriff »Geisteswissenschaften« übersetzt hatte, der sich in der Folge durchsetzt und – wie Dilthey schreibt – »eine gewohnte und allgemein verständliche geworden [ist]« (GS, Bd. I, S. 5). Darüber hinaus erscheine dieser Begriff »verglichen mit all den anderen unangemessenen Bezeichnungen, zwischen denen die Wahl ist, als die mindest unangemessene. Sie drückt höchst unvollkommen den Gegenstand dieses Studiums aus. Denn in diesem selber sind die Tatsachen des geistigen Lebens nicht von der psycho-physischen Lebenseinheit der Menschennatur getrennt« (GS, Bd. I, S. 5 f.). Alternativbegriffe wie »Gesellschaftswissenschaft« (Soziologie), »moralische«, »geschichtliche« oder »Kulturwissenschaften« sind in Diltheys Augen »zu eng […] in bezug auf den Gegenstand, den sie ausdrücken sollen« (GS, Bd. I, S. 6). Und der Begriff »Geisteswissenschaften« habe »wenigstens den Vorzug, den zentralen Tatsachenkreis angemessen zu bezeichnen, von welchem aus in Wirklichkeit die Einheit dieser Wissenschaften gesehen, ihr Umfang entworfen, ihre Abgrenzung gegen die Naturwissenschaften, wenn auch noch so unvollkommen, vollzogen worden ist«.

Das Motiv, die Geisteswissenschaften als ein autonomes Wissenschaftsgebiet von den Naturwissenschaften abzugrenzen, reicht, wie Dilthey schreibt, »in die Tiefe und Totalität des menschlichen Selbstbewußtseins«, denn in ihm findet der Mensch »eine Souveränität des Willens, eine Verantwortlichkeit der Handlungen, ein Vermögen, alles dem Gedanken zu unterwerfen und allem innerhalb der Burgfreiheit seiner Person zu widerstehen, durch welche er sich von der Natur absondert« (GS, Bd. I, S. 6; vgl. S. 385). Der Mensch erkennt sich, wie Dilthey mit Spinoza festhält, in dieser Natur als ein »imperium in imperio« (GS, Bd. I, S. 6; vgl. S. 385, S. 388). Während sich das »Reich der Natur« als »Zusammenhang einer objektiven Notwendigkeit« darstellt, blitzt im »Reich der Geschichte« Freiheit »an unzähligen Punkten dieses Ganzen« auf (GS, Bd. I, S. 6). Dieser Gegensatz von objektiver Notwendigkeit, durch die die Natur definiert ist, und Freiheit (des Willens), durch die die Geschichte konstituiert wird, markiert für Dilthey noch bis in seine Spätschrift »Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften« (1910) den Grundgegensatz, der eine Abgrenzung von Natur- und Geisteswissenschaften begründet.

Den konkreten erkenntnistheoretischen Ausgangspunkt einer Sonderung der Geistes- von den Naturwissenschaften findet Dilthey in der »Unvergleichbarkeit« des »Gesamterlebnisses der geistigen Welt« mit der Sinneserfahrung über die Natur (GS, Bd. I, S. 9; vgl. S. 314). Die Geisteswissenschaften basieren auf der »inneren Erfahrung«, die Naturwissenschaften dagegen auf sinnlich gegebenen Erfahrungen (GS, Bd. V, S. 243 ff.). Diese inneren Erlebnisse, die ein eigenes »Reich von Erfahrungen« konstituieren, sind Gegenstand einer besonderen Erfahrungswissenschaft, d. h. der Geisteswissenschaften, und eine wichtige Aufgabe der erkenntnistheoretischen Grundlegung liegt in der Analyse der Erlebnisse der geistigen Welt und der Begründung der von Dilthey postulierten Unvergleichbarkeit von innerer und äußerer, d. h. sinnlicher Erfahrung (GS, Bd. I, S. 9; vgl. S. 11 f.).

Gegen den zeitgenössischen Materialismus und Naturalismus richtet Dilthey mit einer gewissen Emphase ein Argument für die Annahme der Autonomie der Geisteswissenschaften, das nach über hundert Jahren wieder von überraschender Aktualität ist: »Und solange nicht jemand behauptet, daß er den Inbegriff von Leidenschaft, dichterischem Gestalten, denkendem Ersinnen, welches wir als Goethes Leben bezeichnen, aus dem Bau seines Gehirns, den Eigenschaften seines Körpers abzuleiten und so besser erkennbar zu machen imstande ist, wird auch die selbständige Stellung einer solchen Wissenschaft nicht bestritten werden« (GS, Bd. I, S. 9).

Die Geisteswissenschaften sind also die geschichtlichen und gesellschaftlichen Wissenschaften, ihr Objekt sind Geschichte und Gesellschaft bzw. die Kultur. Die Philologien, die heute den Kernbestand der Geisteswissenschaften ausmachen, spielen in der »Einleitung« überraschenderweise aber keine Rolle. Ein entscheidender Grund dafür liegt in der Tatsache, dass die »Einleitung« als Gegenschrift zu Mills »Logik« konzipiert ist, der in seinem Werk auch nur die Wissenschaften der Gesellschaft behandelt (Lessing, 2015a, S. 11–31).

Dilthey thematisiert in der »Einleitung« vornehmlich die Wissenschaften der Gesellschaft, die – wie er deutlich macht – wegen der gegenwärtigen fundamentalen gesellschaftlichen Veränderungen auch von entscheidender praktisch-politischer Bedeutung sind: »Die Erkenntnis der Kräfte, welche in der Gesellschaft walten, der Ursachen, welche ihre Erschütterungen hervorgebracht haben, der Hilfsmittel eines gesunden Fortschritts, die in ihr vorhanden sind, ist zu einer Lebensfrage für unsere Zivilisation geworden. Daher wächst die Bedeutung der Wissenschaften der Gesellschaft gegenüber denen der Natur« (GS, Bd. I, S. 4).

Diese Wissenschaften der Gesellschaft unterteilt er in die »Wissenschaften von den Systemen der Kultur« und die »Wissenschaften der äußeren Organisation der Gesellschaft«. Die Geschichtswissenschaft wird nur zum Ende des ersten Buches (GS, Bd. I, S. 94 ff.) zum Thema einer (methodologischen) Erörterung; sie bildet den Hauptgegenstand von Diltheys Schrift »Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften« (GS, Bd. VII, S. 77–188), die er als unmittelbare Fortsetzung der »Einleitung« konzipiert hat (vgl. GS, Bd. VII, S. 117).

Ihre Aufgabe einer Erkenntnis der gesellschaftlich-geschichtlichen Wirklichkeit können die Geisteswissenschaften nur mithilfe der »Kunstgriffe des Denkens« lösen. Diese sind die Analysis und die Abstraktion (vgl. GS, Bd. I, S. 27). Insbesondere die Analysis nimmt in Diltheys Denken eine herausragende Stelle ein und wird nicht nur in der Psychologie zur zentralen Methode (vgl. u. a. auch GS, Bd. I, S. 373 ff.). Jede der verschiedenen Einzelwissenschaften entsteht nur durch eine selektive Abstraktion aus dem komplexen Gegenstand der geisteswissenschaftlichen Forschung, und zwar durch »den Kunstgriff der Herauslösung eines Teilinhaltes aus der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit« (GS, Bd. I, S. 28). Daraus folgt die für Dilthey wichtige Konsequenz, dass jede einzelne Geisteswissenschaft nur relativ, also ausschnitthaft die gesellschaftlich-geschichtliche Wirklichkeit erkennen kann.

Im ersten Buch der »Einleitung«, das eine einführende Übersicht über den Gesamtbestand der Geisteswissenschaften und ihre Erkenntnisinteressen bietet, entwickelt Dilthey im Fortgang eine Art von System oder eine Hierarchie der Geisteswissenschaften. Als basale Wissenschaft bezeichnet er die »Wissenschaften der Einzelmenschen« (GS, Bd. I, S. 28). Da die Analyse in den Lebenseinheiten oder wie er auch sagt, den »psychophysischen Individuis«, die Elemente erkennt, aus denen sich Gesellschaft und Geschichte aufbauen bzw. zusammensetzen, bildet »das Studium dieser Lebenseinheiten […] die am meisten fundamentale Gruppe von Wissenschaften des Geistes« (GS, Bd. I, S. 28; vgl. S. 375). Die Untersuchung der gesellschaftlich-geschichtlichen Wirklichkeit besitzt, wie Dilthey hervorhebt, der naturwissenschaftlichen Erforschung der Struktur der Materie gegenüber einen entscheidenden Vorteil. Denn dem Geisteswissenschaftler ist in ihm selbst durch Introspektion »die Einheit unmittelbar gegeben, welche das Element in dem vielverwickelten Gebilde der Gesellschaft ist«, da er selbst eine der Lebenseinheiten ist, aus denen sich die Gesellschaft zusammensetzt. Dagegen sind dem Naturwissenschaftler die Elemente der Natur nicht unmittelbar gegeben, sie müssen vielmehr hypothetisch erschlossen werden (GS, Bd. I, S. 28; vgl. auch S. 35–39, S. 402 f.). Während in den Naturwissenschaften die Elemente der Natur »durch eine Zerteilung der äußeren Wirklichkeit, ein Zerschlagen, Zersplittern der Dinge nur hypothetisch gewonnen werden«, sind es in den Geisteswissenschaften »reale, in der inneren Erfahrung als Tatsachen gegebene Einheiten«: »Die Naturwissenschaft baut die Materie aus kleinen, keiner selbständigen Existenz mehr fähigen, nur noch als Bestandteile der Moleküle denkbaren Elementarteilchen auf; die Einheiten, welche in dem wunderbar verschlungenen Ganzen der Geschichte und der Gesellschaft aufeinanderwirken, sind Individua, psycho-physische Ganze, deren jedes von jedem anderen unterschieden, deren jedes eine Welt ist« (GS, Bd. I, S. 29).

Wichtig und grundlegend für Diltheys Philosophie der Geisteswissenschaften ist die Behauptung einer »Verschiedenheit zwischen unserem Verständnis zur Gesellschaft und dem zur Natur« (GS, Bd. I, S. 36). Anders gesagt: Der Geisteswissenschaftler steht in einer anderen Beziehung, einem anderen, »günstigeren« (GS, Bd. I, S. 28) Verhältnis zu dem von ihm zu erforschenden Objekt, also der gesellschaftlich-geschichtlichen Wirklichkeit, als der Naturwissenschaftler zu der von ihm erforschten Natur. Der Grund dafür liegt in der Tatsache, dass der Erforscher der Gesellschaft selbst Element dieser gesellschaftlichen Wirklichkeit ist und dadurch ein anderes, intimes Verhältnis zu seinem Objekt besitzt, das beim Naturwissenschaftler nicht vorliegt. Die menschliche Lebenseinheit, das Individuum, findet sich mit anderen »Individua« in der gesellschaftlich-geschichtlichen Wirklichkeit vor als ein Element unter anderen Elementen dieser Wirklichkeit und in Wechselwirkung stehend mit anderen Elementen.

Dieses besondere Verhältnis des forschenden Wissenschaftlers zur erforschten Wirklichkeit, das für die Geisteswissenschaften spezifisch ist, hat Dilthey in einer Passage der »Einleitung« sehr anschaulich formuliert: »Viel verschlungener noch, rätselhafter als unser eigener Organismus, als seine am meisten rätselhaften Teile, wie das Gehirn steht diese Gesellschaft, d. h. die ganze geschichtlich-gesellschaftliche Wirklichkeit, dem Individuum als ein Objekt der Betrachtung gegenüber. Der Strom des Geschehens in ihr fließt unaufhaltsam voran, während einzelne Individua, aus denen er besteht, auf dem Schauplatz des Lebens erscheinen und von ihm wieder abtreten. So findet sich das Individuum sich in ihm vor, als ein Element, mit anderen Elementen in Wechselwirkung. Es hat dies Ganze nicht gebaut, in das es hineingeboren ist. Es kennt von den Gesetzen, in denen hier Individuen aufeinander wirken, nur wenige und unbestimmt gefaßte. Wohl sind es dieselben Vorgänge, die in ihm, vermöge innerer Wahrnehmung, ihrem ganzen Gehalt nach bewußt sind, und welche außer ihm dieses Ganze gebaut haben; aber ihre Verwicklung ist so groß, die Bedingungen der Natur, unter denen sie auftreten, sind so mannigfaltig, die Mittel der Messung und des Versuchs sind so eng begrenzt, daß die Erkenntnis dieses Baues der Gesellschaft durch kaum überwindlich erscheinende Schwierigkeiten aufgehalten worden ist.« Aber trotz dieser unüberwindlich scheinenden Problematik bedeutet das Eingebettetsein des Forschungssubjekts in das Forschungsobjekt einen entscheidenden Vorteil: »Die Tatbestände in der Gesellschaft sind uns von innen verständlich, wir können sie in uns, auf Grund der Wahrnehmung unserer eigenen Zustände, bis auf einen gewissen Punkt nachbilden, und mit Liebe und Haß, mit leidenschaftlicher Freude, mit dem ganzen Spiel unserer Affekte begleiten wir anschauend die Vorstellung der geschichtlichen Welt« (GS, Bd. I, S. 36).

Ausgehend von dem subjektiven Erleben, der inneren Wahrnehmung, gelingt es dem in Gesellschaft lebenden Subjekt, in einem gewissen Umfang, gesellschaftliche Gegebenheiten oder Sachverhalte zu rekonstruieren oder zu reproduzieren. Dagegen ist die Natur »uns stumm«: »Die Natur ist uns fremd. Denn sie ist uns nur ein Außen, kein Inneres« (GS, Bd. I, S. 36). Ganz anders die Gesellschaft: Sie ist »unsere Welt. Das Spiel der Wechselwirkungen in ihr erleben wir mit, in aller Kraft unseres ganzen Wesens, da wir in uns selber von innen, in lebendigster Unruhe, die Zustände und Kräfte gewahren, aus denen ihr System sich aufbaut« (GS, Bd. I, S. 36 f.).

Wir erfahren also nach Dilthey in unserem eigenen Erleben dieselben Vorgänge, Handlungsmotive, Emotionen, Passionen etc., die die Struktur der Gesellschaft konstituieren. Durch diese Identität von Erkenntnissubjekt und -objekt besitzt der Geisteswissenschaftler einen privilegierten Zugang zur Erkenntnis der Gesellschaft; die Gesellschaft erschließt sich in ihren konstitutiven Elementen durch Rekurs auf die eigene Innerlichkeit.

Dieses besondere Verhältnis zwischen Forschungssubjekt und -objekt bedingt den besonderen Charakter der Erforschung der Gesellschaft, der einen fundamentalen Unterschied zu demjenigen der Naturforschung aufweist. Zwar räumt Dilthey ein, dass die Möglichkeit, auf gesellschaftlichem Feld Gesetzmäßigkeiten zu finden, »nach Zahl, Bedeutung und Bestimmtheit der Fassung« weit hinter den entsprechenden Möglichkeiten auf naturwissenschaftlichem Gebiet zurückbleibt. Hinzukommen die besonderen Probleme, die sich bei der Erforschung der einzelnen psychischen Einheiten ergeben, und zwar »durch die große Verschiedenartigkeit und Singularität dieser Einheiten, wie sie in der Gesellschaft zusammenwirken, durch die Verwicklung der Naturbedingungen, unter denen sie verbunden sind, durch die Summierung der Wechselwirkungen, welche in der Aufeinanderfolge vieler Generationen sich vollzieht und die es nicht gestattet, aus der menschlichen Natur, wie wir sie heute kennen, die Zustände früherer Zeiten direkt abzuleiten oder die heutigen Zustände aus einem allgemeinen Typus der menschlichen Natur zu folgern« (GS, Bd. I, S. 37).