Prof. Dr. Christina Reichenbach hat den Lehrstuhl für Heilpädagogik an der Evangelischen Hochschule Bochum inne.
Lektorat / Redaktion im Auftrag des Ernst Reinhardt Verlags: Ulrike Auras, München
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UTB-ISBN 978-3-8252-3046-3 (Print), 978-3-8385-3046-8 (E-Book) ISBN 978-3-497-02071-3
ISBN 978-3-838-53046-8 (E-Book)
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Einführung
Psychomotorik ist Gegenstand vielfältiger pädagogischer Studien-, Aus- und Weiterbildungsgänge
in den Fachgebieten Pädagogik und Psychologie. Je nach Ausbildungsgang und zum Teil
je nach Lehrkraft werden unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt und verschiedene Inhalte
nahegelegt.
Psychomotorik ist eine Fördermaßnahme, die über Bewegungsinhalte die Entwicklung in
unterschiedlichen Bereichen (z.B. motorisch, psychisch, emotional, kommunikativ) aufbaut.
Psychomotorische Förderung unterstützt Kinder dahingehend, dass diese an sie gestellte
Aufgaben und alltägliche Anforderungen (leichter) bewältigen können. Psychomotorische
Förderung gibt es für verschiedene → Klientel und Altersgruppen und sie kann sich
über die gesamte Lebensspanne hinweg erstrecken.
Die Ursprünge der Psychomotorik sind sehr breit gefächert; so haben sich im Verlauf
der Jahrzehnte vielfältige theoretische und praktische Vorstellungen entwickelt, die
in der Regel nicht alle in der Lehre berücksichtigt werden. Beides – Schwerpunktsetzung
und breite Fächerung – kann zu sehr speziellen, aber auch zu eher globalen Auffassungen
von Psychomotorik führen. Eine genaue Erklärung der Begrifflichkeiten erfolgt in Kapitel
1.
Das Buch gibt zunächst einen Einblick in die Wurzeln bzw. Ursprünge der Psychomotorik
sowie die theoretischen Grundlagen (Kapitel 2 und 3). Anschließend wird eine Auswahl
psychomotorischer Konzepte für unterschiedliche → Klientelen im Überblick vorgestellt
(Kapitel 4). Dabei ist es nicht möglich, pro Konzept eine allgemeingültige Praxis
vorzustellen. Stattdessen werden beispielhaft praktische Sequenzen beschrieben. Außerdem
wird jeweils auf spezielle Aspekte der psychomotorischen Konzepte (z. B. theoretische
Begründungen, Menschenbild, Bewegungsmodell, Diagnostik, Spiel usw.) Bezug genommen,
sodass man letztlich die Konzepte und Arbeitsweisen miteinander vergleichen und begründet
voneinander abgrenzen kann. So wird eine Auseinandersetzung bezüglich der Konzeptvielfalt
möglich, wie auch eine Reflexion hinsichtlich der möglichen Nutzung von vorhandenen
Konzepten für spezifische Zielgruppen. Und nicht zuletzt können Studierende und Auszubildende
erst unter Berücksichtigung der Vielfalt der Konzepte
und unter Beachtung des eigenen Arbeitsfeldes und des individuellen Entwicklungsverständnisses
– also der Vorstellung darüber, wie und wodurch sich Menschen entwickeln – eine eigene
Positionierung entwickeln. Eine solche Stellungnahme dient der begründeten Darstellung,
der Standortbestimmung und der Reflexion hinsichtlich seines eigenen beruflichen psychomotorischen
Handelns. Im 5. Kapitel schließlich geht es um die Erarbeitung eines eigenen Handlungskonzeptes
für eine psychomotorische Förderung. Der Serviceteil zu Ausbildungsmöglichkeiten gibt
einen Einblick in die Psychomotorik ausgewählter europäischer Länder. Dies ist für
Studierende insofern interessant, wenn sie beispielsweise ein Praktikum oder ein Semester
im Ausland absolvieren möchten und sich dort weiterhin mit dem Fachgebiet Psychomotorik
auseinandersetzen.
1
Was ist Psychomotorik?
Der Begriff Psychomotorik findet sich heutzutage in zahlreichen pädagogischen, sportwissenschaftlichen,
medizinischen und auch psychologischen Fachbüchern wieder. Das Begriffsverständnis
weicht dabei zum Teil stark voneinander ab und umfasst eine große inhaltliche Spannbreite.
Diese Begriffsvielfalt ist nach Krus „Ausdruck einer sich ständig weiterentwickelnden
Konzeptionsbreite aber auch -verschiedenheit“ (2004, 15).
Im Folgenden wird zunächst die Spannbreite der Begrifflichkeiten beispielhaft aufgezeigt,
ehe später in Kapitel 3 weitere theoretische Grundlagen veranschaulicht werden.
Definition „Psychomotorik“
Die (begriffliche) Geschichte der Psychomotorik lässt sich bis an den Anfang des 20.
Jahrhunderts zurückverfolgen. Im deutschsprachigen Raum war es Charlotte Pfeffer (s.
auch Kap. 2), die diesen Begriff erstmals nutzte (Pfeffer 1941, 1958). Sie verstand
unter Psychomotorik einerseits eine „äußerst wichtige sowohl psychologisch als auch
physiologisch zu erfassende Lebensäusserung des Kindes“ und andererseits eine grundlegende
erzieherische und → heilpädagogische Maßnahme, bei der „die Bewegung an den Anfang
aller Erziehung“ gestellt wurde (1958 / 1941, 3). Ernst J. Kiphard – Vater der deutschen
Psychomotorik – übernahm dann den Begriff „Psychomotorik“ in seine Überlegungen (Irmischer
1989); später entstanden, zum Teil aus berufspolitischen Gründen, weitere neue Begrifflichkeiten
wie z.B. → Motopädagogik oder → Mototherapie (Kiphard 1989; Zimmer 1999; www.motopaedie-verband.de, 20.10.2008). Diese Begriffe haben sich jedoch nie durchsetzen können.
Vielmehr findet der Begriff Psychomotorik gerade auch durch seinen verbindlichen Gebrauch
im europäischen Raum zunehmend wieder stärkere Verwendung.
Merksatz
Bis heute fehlt jedoch eine einheitliche Definition dessen, was unter dem Begriff
„Psychomotorik“ allgemeingültig zu verstehen ist.
Diese uneinheitliche Vorstellung in Bezug auf das Verständnis von Psychomotorik hat
sicherlich damit zu tun, dass Psychomotorik seit jeher mit unterschiedlichen Arbeitsfeldern
und Berufsgruppen verbunden ist, sodass zahlreiche Facetten in die Begriffs- und Theoriebildung
einfließen.
Sinnvoll ist hier zunächst eine Unterscheidung, wie sie Seewald (1997, 272) vorgenommen
hat. Er stellte unterschiedliche Bedeutungen des Begriffs Psychomotorik fest und formulierte
dementsprechend ein Glossar, welches vier übergeordnete Unterschiede herausstellt:
1. Psychomotorik als Konzept der Entwicklungsförderung: Hier steht Psychomotorik als
Eigenname oder als Begriff für ein bestimmtes (Förder-) Konzept, d.h. jemand „macht“
auf eine bestimmte Art und Weise Psychomotorik und ein anderer „erhält“ Psychomotorik.
Was speziell das Ziel einer psychomotorischen Förderung ist, hängt von dem zugrunde
liegenden Konzept ab (siehe dazu Kapitel 4). Beispielhaft können als Förderziele →
motorische Fähigkeiten (u. a. Gleichgewicht) oder → emotionale Fähigkeiten (u. a.
Selbstbewusstsein) genannt werden. Derartige Förderkonzepte können für Menschen eines
bestimmten Alters (z.B. Jugendliche, ältere Menschen) oder mit speziellen Erscheinungsbildern
(z. B. Aufmerksamkeitsstörung) angeboten werden.
2. Psychomotorik als Begriff, der die Einheit von motorischen und psychischen Prozessen
bezeichnet: Psychomotorik wird in diesem Zusammenhang als Begriff verstanden, der
die Verknüpfung von seelischen und körperlichen Prozessen zum Ausdruck bringt.
3. Psychomotorik als Begriff der (Sport-)Motorikforschung: Hier ist Psychomotorik
als Oberbegriff für Theorien zu verstehen, die sich mit der → psychisch gesteuerten
→ Motorik befassen. Es geht dabei um eine „Rekonstruktion des Zusammenhangs von inneren
unsichtbaren Prozessen … mit äußeren sichtbaren Bewegungen“ (Seewald 1997, 272).
4. Psychomotorik als entwicklungsorientierter Begriff: Psychomotorik bezeichnet hier
eine Phase der kindlichen Entwicklung, wobei die Entwicklung in vier Phasen von der
→ Neuromotorik, zur → Sensomotorik, über die Psychomotorik hin zur → Soziomotorik
verläuft (Kiphard 1980).
Schon anhand des Glossars nach Seewald wird deutlich, dass die vielfältige Verwendung
des Begriffs Psychomotorik zu Missverständnissen führen kann. Insbesondere, wenn sich
verschiedene Fachpersonen über „Psychomotorik“ unterhalten und dabei unklar ist, welches
jeweilige Begriffsverständnis zugrunde liegt. Innerhalb dieser vier Auffassungen bzw.
Zugangsweisen gibt es wiederum zahlreiche enge und weite Definitionen, die das Verständnis
zunächst oft erschweren. An dieser Stelle seien exemplarisch jeweils zwei Definitionen
für Psychomotorik als Konzept und Psychomotorik als Begriff genannt, da diese in der
Praxis am gebräuchlichsten sind.
Definition
Psychomotorik als Konzept
Definition 1: „Psychomotorik kennzeichnet eine ganzheitlich-humanistische, entwicklungs-
und kindgemäße Art der Bewegungserziehung“ (Kiphard 1989).
Definition 2: Unter Psychomotorik können „eine Reihe von verschiedenen pädagogisch-therapeutischen
Methoden [verstanden werden], die alle von der Möglichkeit ausgehen, motorische, kognitive,
soziale und schulische Lernprozesse und therapeutische Zielsetzungen bei Kindern durch
eine (systematische) Beeinflussung der Bewegung / Motorik zu fördern“ (Eggert/Lütje-Klose
2005).
Psychomotorik als Konzeptbegriff benennt demnach die Ziele und ein Vorgehen der Förderung
für eine ausgewählte → Klientel.
Definition
Psychomotorik als Allgemein-Begriff
Definition 1: „… mit dem Begriff Psychomotorik wird die enge wechselseitige Verknüpfung
von psychischen Vorgängen mit motorischen Phänomen betont“ (Hünnekens / Kiphard 1960).
Definition 2: Der Begriff „psychomotorisch“ kennzeichnet „die funktionelle Einheit
psychischer und motorischer Vorgänge, die enge Verknüpfung des Körperlich-motorischen
mit dem Geistig-seelischen“ (Zimmer 1999, 22).
Der Begriff Psychomotorik betont hier also eine wechselseitige Abhängigkeit von der
seelischen Befindlichkeit und der → motorischen Fähigkeit. So kann eine eingeschränkte
→ motorische Leistung möglicherweise auf einen negativen seelischen Zustand zurückgeführt
werden.
2
Wurzeln der Psychomotorik – Gymnastik, Rhythmik, Sinnes- und Bewegungsschulung
Psychomotorik hat sich historisch betrachtet aus zahlreichen Wurzeln entwickelt. Dieses
Kapitel veranschaulicht zusammenfassend die Ursprünge der Psychomotorik in Deutschland.
In anderen Ländern gibt es auch psychomotorische Konzeptionen, jedoch haben diese
anderweitige Wurzeln, auch wenn Überschneidungen vorhanden sind. Die Bearbeitung historischer
Quellen verdeutlicht zum einen die geschichtliche Entwicklung des Förderkonzeptes.
Andererseits können damit ggf. zukünftige Ausdifferenzierungen der Psychomotorik in
verschiedenen Konzepten besser eingeschätzt werden (Seewald 2002).
Die Idee bzw. das Gedankengut, welches sich hinter dem Begriff Psychomotorik verbirgt,
hat in Deutschland eine lange Tradition (seit 1955) und ist sehr facettenreich. Helmut
Hünnekens und Ernst J. Kiphard waren die Ersten in Deutschland, die versucht haben,
eine spezielle Methode der Erziehung durch Bewegung zu entwickeln. Sie haben diese
Methode in dem Buch „Bewegung heilt“ (1960) vorgestellt. Damals galt das Motto „Erziehung
zur Bewegung“, was den Fokus der „Heilung“ der Bewegung hervorhob. Im weiteren Verlauf
wandelte sich dies zur „Erziehung durch Bewegung“; hier wird Bewegung eher als Mittel
gesehen, welches für Erziehungsprozesse genutzt werden kann. Ernst „Jonny“ Kiphard
(1923–2010) gilt bis heute als „Gründervater“ der Psychomotorik in Deutschland, und
seine Ausführungen, Gedanken und sein Tun werden als „Meisterlehre“ bezeichnet (Seewald
2002).
Befasst man sich näher mit der Entstehungsgeschichte der Psychomotorik, so wird deutlich,
dass Kiphard umfangreich recherchiert und letztlich viele Überlegungen aus vorhandenen
Literaturquellen übernommen bzw. aufgegriffen hat.
Merksatz
Das erste Konzept war inhaltlich im Grunde nichts Neues, jedoch war das Zusammenfügen
der verschiedenen wertvollen Elemente aus vorhandenen Quellen neu und besonders. So
nutzten Hünnekens und Kiphard vor allem Elemente aus den Bereichen:
• Leibeserziehung und Gymnastik,
• Rhythmik sowie
• der Sinnes- und Bewegungsschulung
(Hölter 1993; Irmischer 1989; Seewald 2002).
Im Folgenden werden aus den genannten Bereichen ausgewählte Personen und ihre Einflüsse
vorgestellt, die als Grundlagen bzw. Wurzeln psychomotorischer Entwicklungsförderung
anzusehen sind.
Leibeserziehung und Gymnastik
Gymnastik kann als eine Form der Leibeserziehung angesehen werden, welche die Schulung
der Bewegung durch Entwicklung, Steigerung und Erhaltung der Kräfte des Körpers zur
Aufgabe hat. Einzeln oder in Gruppen werden grundlegende körperliche Eigenschaften
(z. B. Kraft, Beweglichkeit, Lockerheit) und allgemeine koordinierte Bewegungsformen
durch Gehen, Laufen, Hüpfen, Federn, Springen und Schwingen in harmonisch gestalteten
Bewegungsabläufen entwickelt. Im Mittelpunkt stehen dabei die Funktionalität des Körpers,
der Ausdruck des Seelischen sowie die anatomische Betrachtung des Körpers.
Als Vertreter werden insbesondere Delsarte, Mensendieck, Gindler sowie Gaulhofer genannt
(Irmischer 1989; Seewald 2002).
François Delsarte (1811–1871) war ein französischer Schauspielpädagoge, Sprecherzieher, Musiker, Sänger,
Komponist und Bewegungspädagoge. Nach einem Studium zur Gesangsausbildung war er vorwiegend
an der Bühne (Oper und Theater) tätig. Da ihn insbesondere die Verbindung zwischen
Musik, Bewegung und → Emotion beschäftigte, und dies zu seiner Zeit entgegen der eher
unnatürlichen Bühnenkunst stand, wird ihm eine Wiederentdeckung der Beziehung zwischen
körperlicher und seelischer Bewegung zugeschrieben. Er stellte zu seiner Zeit neue
Schönheitsgesetze der Bewegung auf und trat für einfache und natürliche gymnastische
Bewegungsformen und körperliche Ausdrucksbewegungen
sowie für entsprechende legere Kleidung ein. Bühnentanz und Ausdruckstanz wurden maßgeblich
durch ihn beeinflusst.
Bess Mensendieck (1864–1958) gilt als Wegbereiterin der Krankengymnastik und legte ihren Schwerpunkt
auf Veränderungen der Frauengymnastik. Die amerikanische Ärztin beschäftigte sich
mit Form- und Haltungsproblemen und entwickelte die Mensendieck-Gymnastik, deren Grundlage
die Analyse der menschlichen Bewegung sowie die Verknüpfung mit der Körperarbeit ist.
Ihre Schüler sollten ihren eigenen Körper detailliert kennenlernen und dies in viererlei
Hinsicht: architektonisch (Skelettkenntnis), anatomisch (Muskel- und Gelenkkenntnis),
physiologisch (Muskelfunktionen) und mathematisch (Gesetze, nach denen Bewegungen
entstehen) (Seewald 2002). Für Mensendieck war zudem das Erkennen der Schönheit in
den Bewegungen wichtig, und sie lehrte, wie Frauen notwendige Aufgaben im Haushalt
entspannter und mit einem Minimum an Anstrengung verrichten können. Seewald betont
die dreifache Relevanz der Arbeiten von Mensendieck für die Psychomotorik: „Die Bedeutung
des Körpers mit seiner impliziten Normativität (a), den Bezug zur normalen alltäglichen
und gesunden Lebensführung (b) sowie die geschlechtsspezifische Ausrichtung (c)“ (2002,
30).
Elsa Gindler (1885–1961) gilt als Wegbereiterin der konzentrativen Bewegungstherapie (eine körperorientierte,
psychotherapeutische Methode, die Wahrnehmung und Bewegung als Grundlage von Erfahrung
und Handeln nutzt). Sie entwickelte ein eigenständiges Gymnastiksystem, das heute
noch in den USA, in Israel und in einigen europäischen Ländern Einfluss im Rahmen
der Gymnastiklehre hat. Zudem entwickelte Gindler eine ästhetische künstlerische und
allgemeine pädagogische Erziehung (Ludwig 2002). Für sie waren Atmung, Entspannung
und Spannung wichtige Mittel ihrer Arbeit (Seewald 2002). Dabei stand das Empfinden
des eigenen Körpers als hohes Ziel im Mittelpunkt: Die Schüler sollten sich über jeden
Muskel und auch die kleinste Veränderung im Körperverhalten bewusst werden; zudem
wurden die Gefühle und Gedanken, die durch Bewegung bewusst wurden, reflektiert (Ludwig
2002). Gindler arbeitete eng mit dem Musikpädagogen Heinrich Jacoby (1889–1964) zusammen,
der unter anderem über die Bedeutung von Verhalten für Wahrnehmungsvorgänge forschte.
Seewald sieht einen Bezug zur Psychomotorik „im weiteren Sinne im Zugang zu einem
ganzen Spektrum prozesshafter Körper- und Bewegungsarbeit“ sowie in der Betonung der
→ Leiblichkeit (2002, 31).
Karl Luitpold Gaulhofer (1885–1941) studierte Naturgeschichte, Mathematik und Turnen. Er arbeitete u.a. als
Referent für körperliche Ertüchtigung im österreichischen Unterrichtsministerium.
Gaulhofer wurde in seiner Arbeit von Bess Mensendieck und dem ungarischen Tänzer,
Choreografen und Tanztheoretiker Rudolf von Laban (1879–1958) beeinflusst und entwickelte
das „natürliche Turnen“, welches das damalige Schulturnen ablöste. Das „natürliche
Turnen“ wandte sich gegen das als unnatürlich empfundene Ordnungs-, Haltungs- und
Freiübungsturnen der Kaiserzeit. „Natürlich” bezog sich dabei zum einen auf die Forderung
nach mehr Leibeserziehung in der freien Natur und zum anderen auf ein neues Bewegungsprinzip,
verbunden mit einer veränderten methodischen Sichtweise: Die natürliche Bewegung betonte
den flüssigen, ganzheitlichen Ablauf aus einem einheitlichen Impuls heraus, gemäß
den Bewegungsgesetzen des menschlichen Körpers. Dem natürlichen Turnen ist die erstmalige
Ausprägung eines spezifischen Schulturnens für Grundschulkinder zu verdanken, das
sich an den physiologischen und psychologischen Bedürfnissen des Kindes orientiert.
Natürlichkeit und Kindgemäßheit waren wichtige Prämissen der körperlichen Erziehung,
in der das Kind und nicht die Inhalte die Arbeit bestimmen sollte (Hammer 2004). Gaulhofer
arbeitete eng mit der österreichischen Turnpädagogin Margarete Streicher (1891–1985)
zusammen und verfasste mit ihr das Buch „Grundzüge des österreichischen Schulturnens“.
Rhythmik
Einen wichtigen Einfluss auf die Psychomotorik in Deutschland hat die → Rhythmikbewegung
– d.h. Vertreter, die sich mit der → Rhythmik wissenschaftlich und praktisch auseinandersetzen
– genommen. Insbesondere in den frühen Arbeiten von Kiphard wurde der → Rhythmik bzw.
der rhythmischen Erziehung eine fundamentale erzieherische Bedeutung beigemessen (Seewald
2002; Hünnekens / Kiphard 1960). Als Bezugsquellen sind vor allem Jaques-Dalcroze,
Bode, Medau, Feudel, Scheiblauer, Pfeffer und Frostig zu nennen.
Emile Jaques-Dalcroze (1865–1950) entwickelte nach und nach die rhythmische Gymnastik (Rhythmik-Lehre)
und strebte als Erster eine künstlerische Gymnastik an. Er studierte Komposition,
Musik und Schauspiel und hatte eine Professur am Genfer Konversatorium,
ehe er in Hellerau bei Dresden eine Schule leitete. Der österreichische Musikpädagoge
vertrat die Ansicht, dass der Körper der Musik und dem → Rhythmus untergeordnet werden
sollte. Demnach dienen Körper und Bewegung der Darstellung und Verkörperung der Musik
und haben ihr zu gehorchen. Seine Devise war: nicht zum → Rhythmus erziehen, sondern
den → Rhythmus selbst zum Erzieher werden lassen (Irmischer 1989; Seewald 2002). Durch
die Körper-Rhythmik sollten Gestalt und Wesen der Musik erlebt und dadurch gleichzeitig
alle seelisch-schöpferischen Kräfte gelöst und gesteigert werden. Nach Seewald „hat
der ‚Geist von Hellerau‘ eine große Wirkung entfaltet, die sich auch auf die Psychomotorik
ausgewirkt hat“ (2002, 27).
Rudolf Bode (1881–1970) gilt als Schöpfer und Vater der rhythmischtänzerischen → Ausdrucksgymnastik.
Im Gegensatz zu Jaques-Dalcroze sah Bode → Rhythmus als „Urphänomen des Lebens“ an,
also nicht vom Menschen gemacht, sondern dem Menschen innewohnend (Seewald 2002).
Ein Wechsel von Anspannung und Entspannung stellte für Bode ein wesentliches rhythmisches
Prinzip dar. Sein Ziel war es, „Körper und Bewegung von der Vorherrschaft des Willensaktes“
zu befreien (Seewald 2002, 28). Er wollte eine Körperschulung, welche den ursprünglichen
Fluss der Bewegung mit Hilfe der Musik wieder herstellt (Ludwig 2002). Bereits 1911
gründete Bode die Bode-Schule für Rhythmische Gymnastik in München, welche heute die
älteste Lehranstalt dieser Art in Deutschland ist.
Hinrich Medau