Putins kleiner Finger - Marc Späni - E-Book

Putins kleiner Finger E-Book

Marc Späni

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Beschreibung

Frühling 2022. Ein Autor porträtiert drei Menschen aus seinem Umfeld: eine junge Primarlehrerin, einen Vorsorgeberater und einen Rentner. Er möchte ihr Leben in Beziehung setzen zu Narrativen, wie sie über Gratiszeitungen und Newsplattformen vermittelt werden, und daraus einen experimentellen literarischen Text schreiben. Als Russland die Ukraine überfällt, stellt sich die Berichterstattung über den Krieg in einen sonderbaren Kontrast sowohl zum Alltag der vier Personen als auch zu den Alltäglichkeiten, über welche die Medien sonst berichten. Marc Späni skizziert in seiner Erzählung die ersten dreissig Tage des Ukraine-Krieges und lässt seine Protagonisten existentielle Fragen stellen.  

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Putins kleiner Finger

Erzählung

von

Marc Späni

boox-verlag

Beheimatet am Fuße der Alpsteinregion (CH), mit einer innigen Beziehung zur Natur, spendet boox-verlag seit Bestehen (2011) jährlich 1 % seiner Einnahmen an eine Schweizer Naturschutzorganisation.

Impressum

© 2023 boox-verlag, Urnäsch

Alle Rechte vorbehalten

Korrektorat: Beat Zaugg

Coverbild: Marc Späni

Covergestaltung: Jonathan Graf, media-graf.ch

ISBN 978-3-906037-84-4 (ebook)

Auch erhältlich als:

ISBN 978-3-906037-83-7 (Taschenbuch)

www.boox-verlag.ch

Inhaltsverzeichnis
Putins kleiner Finger
Inhalt
22.2.2022
24.2.2022
26.2.2022
26.2.2022
28.2.2022
28. 2.2022
2.3.2022
2.3.2022
3.3.2022
4.3.2022
4.3.2022
5.3.2022
6.3.2022
8.3.2022
10.3.2022
15.3.2022
16.3.2022
18.3.2022
21.3.2022
Drachen
Verfalldatum
Die Flut
Die Dose
23.3.2022
24.3.2022
25.3.2022
28.3.2022
31.3.2022
1.4.2022

22.2.2022

Ein Lieferwagen steht vor unserem Wohnblock, junge Leute schleppen Möbel, Kisten, Regalbretter, Lampen, Teppiche und allen möglichen Kram ins Haus.

Ralf ist vom Wohnzimmertisch aufgestanden und beobachtet das Treiben.

»Studenten, garantiert. Ich sag dir, jetzt geht’s los mit nächtelangen Partys, lauter Musik, Cannabis-Wolken im Treppenhaus.«

Zu fünft fugen sie das Umzugsgut ins Haus. Sie heben etwas hoch, verschwinden damit hinter der Kirschlorbeerhecke, tauchen nach einer Weile wieder auf, holen die nächste Fuhre, plaudern, lachen, als wäre es das Spaßigste der Welt.

»Was die alles anschleppen!«, staune ich.

»Pah. Das ist ein Bruchteil von dem, was wir damals aus dem Haus ausgeräumt haben.«

»Definitiv keine Vertreter des Minimalismus.«

»Für Minimalisten habe ich schon gar nichts übrig«, brummt Ralf.

»Ich meine Leute, die versuchen, mit wenig auszukommen«, präzisiere ich, »die in Minihäusern leben und nur das Nötigste kaufen.«

»So ein Quatsch.«

»Na ja, wenn man sich mal überlegt, was man wirklich braucht«, sinniere ich, »kann es sicher nicht schaden, mal aufzuräumen und Platz zu schaffen.«

»Hier muss man aufräumen«, sagt Ralf und tippt sich an die Stirn, während er sich wieder hinsetzt.

Ralf ist Rentner und mein Nachbar. Unsere Vorgärten grenzen aneinander, und obwohl er dauernd unterwegs ist, kann ich sicher sein: Wenn ich nur einmal schnell rausgehe, um eine zu rauchen, steht er schon da, gleich darauf auf meinem Sitzplatz, und wenn es kalt ist, in der Wohnung. Er hat immer etwas zu erzählen, verfolgt die Nachrichten und interessiert sich für meine Schreibarbeit. Ich rechne ihm das hoch an, ist er doch einer der wenigen.

Die letzte halbe Stunde haben wir uns über die Lage in der Ostukraine unterhalten, was Russland mit dem riesigen Truppenaufmarsch und den Manövern bezweckt und wie sich die europäischen Politiker in Moskau zur Lachnummer machen.

Anna huscht zwischendurch vorbei, macht sich in der Küche einen Tee, verschwindet wieder in ihrem Arbeitszimmer. Sie meint, Ralf halte mich von der Arbeit ab. Aber wenn ich ehrlich bin, kommen mir seine Besuche ganz gelegen. Ich stecke nämlich fest. Ich hatte vorgehabt, die Wochen, bis die Schreibseminare an der Volkshochschule wieder losgehen, kreativ zu nutzen. Für eine mehrschichtige Erzählung auf der Basis von Artikeln aus Gratiszeitungen, von Netflix-Serien und sozialen Netzwerken. Vor allem die Gratiszeitungen haben es mir angetan. Auch wenn ich zuhause arbeite, gehe ich im Lauf des Morgens zum Bahnhof und hole mir eine aus der Box. Ich habe schon eine schöne Sammlung, notiere mir jeweils in Kurzform die Themen einzelner Artikel. Hier das Ergebnis von heute:

Influencerin zeigt ihren Freund

Riesige Qualle trifft auf Taucher

Musiker wegen Depressionen in Therapie

Ehe-Aus von Ex-Miss

Tochter (10) von Fußballstar bekommt Zwergkaninchen

Blabla-Kassen in französischen Warenhäusern

Secondos haben es geschafft

Am 22.2.22 heiraten: glückliche Paare

Junge Frau gießt Pflanzen mit Periodenblut

Fischstäbchen-Pizza dank Twitter

Youtuber endlich stolz auf sich

Eine eigene Welt aus aufgeblasenen Belanglosigkeiten, aber mit eigenen Erzählstrukturen und Deutungsmustern, die ich für eine experimentelle Erzählung verwenden möchte. Aber eben, ich stecke fest. Ich möchte diese bunte Erzählwelt kontrastieren mit der Welt gewöhnlicher Leute, die in ihrem Leben keine solche Dinge erleben, sehe aber noch nicht, wie ich die beiden Ebenen verknüpfen soll.

Vor einigen Tagen kam mir die Idee, ich könnte Menschen aus meinem Umfeld porträtieren und in diesem Zusammenhang auch Ralfs unabwendbare Besuche für mein Projekt verwerten.

»Du möchtest meine Memoiren schreiben?«, fragt er amüsiert.

»Nicht deine Memoiren. Mich interessiert dein Leben, dein Alltag.«

»Mein Alltag«, murmelt er, als hörte er das Wort zum ersten Mal.

»Was machst du, wenn du nicht anderen Leuten die Zeit raubst?«

Er lacht. »Was Rentner halt so machen.«

»Zum Beispiel?«

Er erzählt mir von den Kaninchen, von ihrer Pflege, der Instandhaltung von Stall und Außengehege. Er hält die Tiere in seinem Vorgarten.

»Und sonst?«

»Aquafit«, sagt er nach kurzem Überlegen, »drüben im Wasserpark.«

»Aquafit«, wiederhole ich wenig begeistert.

»Kannst ja mal mitkommen.«

Ich schüttle den Kopf und wir schauen eine Weile aus dem Fenster. Der Lieferwagen ist in der Zwischenzeit weggefahren. Während ich mir überlege, ob Ralf wirklich als Figur für meine Erzählung taugt, monologisiert er weiter über die triste Weltlage: »Dieser Putin verarscht doch alle, die EU, die NATO, die Amis. – Nein, da hat Europa nichts mehr zu melden, wir sind weltpolitisch weg vom Fenster – der macht doch eh, was er will«, und so weiter, und so fort.

Es klingelt, Anna macht auf. Vor der Tür stehen zwei junge Leute und stellen sich als die neuen Mieter vor. Eine eher klein gewachsene Frau mit Pferdeschwanz und lebhaften Augen, ihr Freund, mit rundlichem Gesicht und gutmütigem Blick, die Haare trotz Umzug sorgfältig gestylt. Nur sie ziehen ein, Sandra und Filip, beide Anfang zwanzig, die andern waren bloß Umzugshelfer. Auch Ralf kommt zur Tür.

»Ralf wohnt eigentlich da«, erkläre ich und zeige auf die Wohnungstür gegenüber.

»Er ist Schriftsteller«, sagt jetzt Ralf, als erkläre das die Situation.

Ich will schnell darüber hinweggehen, aber Sandra hakt gleich nach: »Echt? Vielleicht hab ich was von dir gelesen.«

»Sandy liest Unmengen Bücher«, erklärt Filip.

Ich nenne ihr meine drei Krimi-Titel und sie schüttelt etwas verlegen den Kopf.

»Braucht man nicht zu kennen«, beruhige ich sie. Sowieso schäme ich mich immer ein wenig für die Krimis, den größten Absatz hatte ich, als sie im lokalen SPAR an der Kasse auflagen, weil ich den Inhaber kenne. – Aber die Krimis sind immerhin herausgekommen. Für die wirklich guten Sachen suche ich noch immer einen Verleger. Na ja, zu einem guten Teil sind sie auch noch nicht geschrieben.

Wir plaudern noch ein wenig über den Umzug, den Wohnblock, beantworten Fragen zur Benutzung der Waschküche und zum Fahrradkeller, dann verabschieden sich die beiden wieder und ziehen sich in die Wohnung zurück, wo sie zwischen Kisten und halb zusammengebauten Möbeln die Nacht verbringen werden.

»Nette Leute, ganz nette Leute«, wiederholt Ralf mehrmals, bevor er mir einen schönen Abend wünscht und doch noch in seine eigene Wohnung zurückgeht.

24.2.2022

Russland hat seine Militäroffensive gegen die Ukraine gestartet. Über Nacht Artillerie- und Raketenbeschuss, erste Panzereinheiten auf dem Vormarsch Richtung Kiew. Auf allen Kanälen laufen Sondersendungen, auf allen Newsplattformen nur Berichte über den Militärschlag, wie Selenski zur Verteidigung aufruft, die ganze Welt Empörung äußert, der Westen erste Sanktionen beschließt, die Schweiz noch zögert, sich anzuschließen.

Ein historisches Ereignis.

Für uns aber zuerst mal ein Medienereignis.

Alle historischen Ereignisse, die ich erlebt habe, waren für mich Medienereignisse: 9/11 habe ich am Fernsehen mitverfolgt, ich erinnere mich, dass ich in Bremen an einer Tagung war, schon Desert Storm lief über den Bildschirm wie ein Online-Game, und auch die Corona-Pandemie vor zwei Jahren kam zum größten Teil über die Medien rein: chinesische Seuchenschutzbehörde in Ganzkörperanzügen, Konvois von Militärlastwagen mit Särgen in Norditalien – wie in einem schlechten Katastrophenfilm. Die Krise betraf mich persönlich dann aber nur so weit, als ich einige Monate zuhause arbeiten und an öffentlichen Orten eine Maske tragen musste.

Den ganzen Tag verfolge ich das Geschehen im Internet, lese den Newsticker von SRF, schaue die Medienkonferenz des Bundes. Ich ertappe mich beim Gedanken: Endlich geht etwas! Ein historisches Ereignis, und ich kann zuschauen! – Gleichzeitig schäme ich mich dafür, weil es doch schrecklich ist, weil Menschen sterben. Aber das Ganze bleibt irgendwie irreal. Wir sehen nur Korrespondenten vor verstopften Ausfahrtstraßen, verwackelte Handyaufnahmen von fernen Bombeneinschlägen, Panzerkolonnen auf schwarzweißen Überwachungsvideos von russischukrainischen Grenzposten.

Anna und mich schockiert die Unverfrorenheit der großangelegten Aktion, die plötzliche Rückkehr von militärischer Gewalt. Dass es so etwas überhaupt geben kann. Anna fragt mich, warum die Geheimdienste Putin nicht einfach eliminieren können.

Auch den Abend verbringe ich am Bildschirm: verfolge zuerst die Tagesschau, dann eine Sondersendung mit Spezialisten im Studio, Korrespondenten in der Ukraine, in Moskau, in Brüssel und Washington. Bilder, Berichte, Analysen.

Der zugeschaltete Militärexperte, ein Journalist der NZZ, war mit mir in der Rekrutenschule und hat sich später offenbar bis zum Oberstleutnant hochgedient. Er erklärt das taktische Vorgehen der Russen, fast wie wir das damals geübt hatten, als Nachrichtenzeichner, mit blauen und roten Filzstiften auf einer Schweizer Landeskarte im Maßstab 1:50000. Ich erinnere mich, dass er nach der RS alle aus seinem Zug zu sich nach Thun eingeladen hatte und dass wir den ganzen Abend Dire Straits hörten: Sultans of Swing und Money for Nothing.

Eine Korrespondentin, die aus einer Kleinstadt in der Krisenregion berichtet, versucht die Absurdität der Situation anschaulich zu machen: dass plötzlich dort, wo man wohnt und arbeitet, Raketen einschlagen, dass man sich vorstellen muss, die Männer auf den ukrainischen Panzern, die in Gegenrichtung zu den Autokolonnen Richtung Frontlinie fahren, könnten in den nächsten Tagen tot sein, Söhne, Brüder, Ehemänner, Familienväter. Ich versuche mir vorzustellen, wie das hier wäre, hier bei uns. Schaue mich um, horche. Draußen fährt der Ortsbus vorbei, der Kühlschrank brummt, Anna telefoniert mit einer Freundin. Bombeneinschläge? Raketen? Beschuss durch Armeehelikopter? Am nächsten an ein reales Erlebnis kommt eine Netflix-Serie, die ich mir kürzlich angeschaut habe, über den norwegischen Nato-Einsatz in Afghanistan. In einer Episode gerät ein Konvoi unter Beschuss, und am Ende der Staffel ist man mitten in einem Bombenanschlag: Staub, blutüberströmte Gesichter, kein Ton. Um mir solche Situationen ansatzweise vorstellen zu können, muss ich auf Netflix zurückgreifen.

Wir bleiben Zuschauer.

Natürlich sind wir empört, entsetzt, entrüstet. Und natürlich wollen wir auch auf dem Laufenden bleiben, was in der Zwischenzeit passiert ist, wo die Truppen stehen, ob schon Panzer in Kiew sind, Häuserkämpfe toben.

26.2.2022

Ich fahre mit dem Bus zum Wasserpark. Während die Bevölkerung von Kiew in den Metrostationen die Bombenangriffe aussitzt, ziehe ich meine Badehose an, stelle mich unter die Dusche und betrete den dunstigen Badebereich. Gleichförmig rauschen die Filterpumpen, ein künstlicher Himmel zieht sich über das Wellenbad und das Kinderbecken, weiter hinten gehts zum Rutschenparadies. Es sind erst wenige Leute da, kleinere Kinder und ihre Mütter, die sich schnell die wenigen Liegestühle sichern. Von einem Bademeister lasse ich mir den Durchgang zum Solebad zeigen, wo ich mit Ralf verabredet bin.

Hier sind noch weniger Leute, mehrheitlich ältere, einige mit altertümlichen, bunten Gummibadekappen. Ich bin zu früh und platziere mich auf einer weißen Liege am Beckenrand. Das Rauschen wirkt betäubend. Durch die Scheibe sehe ich in einen Fitnessbereich im oberen Stock. Eine Person, ich nehme an es ist eine Frau, den Kopf sehe ich nicht, läuft unaufhörlich auf einem Laufband, wie eine Maschine, Schritt für Schritt, Schritt für Schritt.

Schließlich taucht Ralf auf, braungebrannt, ein Badetuch über der Schulter. Mir fällt auf, wie dünn er ist.

»Na los«, begrüßt er mich, »rein ins warme Nass!«

Es ist sehr warm, und salzig. 36 Grad steht irgendwo angeschrieben.

Wir lehnen uns an den Beckenrand, wo Düsen den Schulterbereich massieren, weiter drüben sind andere Rentner, Ralf grüßt ab und zu jemanden.

»Jetzt ist er am Ende doch rein, der Sauhund«, sagt er nach einer Weile, zieht die Beine an und macht unter Wasser irgendwelche Gymnastikübungen.

»Ja, eine Riesenschweinerei das.«

»Die Welt ist kein friedlicher Ort.« Er holt tief Luft und schiebt sich vom Rand weg in Richtung einer Sprudelbank. »War sie nie. Wir können uns glücklich schätzen, dass wir hier leben.«

Dann sitzen wir im warmen Sprudel. Meine Badeshorts füllen sich nach kurzer Zeit mit Luftblasen und ich muss sie beim Bund wieder rauslassen.

»Kommst du jeden Tag her?«, beginne ich mein Interview.

»Zwei-, dreimal die Woche. Immer morgens, da sind weniger Leute. Jetzt am Samstag eher selten, da hat es mir zu viele Kinder. Vorletzte Woche waren noch Skiferien, du kannst dir den Rummel vorstellen, da habe ich dann mal pausiert.«