Putzfrau bei den Beatles - Birgit Rabisch - E-Book

Putzfrau bei den Beatles E-Book

Birgit Rabisch

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Beschreibung

50 Jahre 1968! Ein Grund zu feiern? Ja. Ein Grund zu kritisieren? Durchaus. Ein Grund zu lachen? Oft. In "Putzfrau bei den Beatles" heuert die junge Möchtegern-Schriftstellerin Jana als Putzfrau auf dem "Yellow Submarine" an, um mit Ringo, George, John und Paul in die Vergangenheit ab- und in der Gegenwart wieder aufzutauchen. Doch nichts ist, wie es scheint, und dann entert auch noch ein Zwölfjähriger das Boot, der behauptet, Pauls Enkel zu sein ... Die Begegnungen, Konflikte und Krisen zwischen der Generation '68 und ihren pragmatischeren Nachkommen werden von Birgit Rabisch seit längerem thematisiert, zuletzt auch in ihren Romanen "Die vier Liebeszeiten" und "Wir kennen uns nicht".

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verlag duotincta

E-BOOK

BIRGIT RABISCH

PUTZFRAU BEI DEN BEATLES

ROMAN

Birgit Rabisch studierte Soziologie und Germanistik und lebt als Autorin in Hamburg. Sie hat zahlreiche Bücher veröffentlicht, darunter den utopischen Roman »Duplik Jonas 7« (als E-Book bei duotincta), der zum Bestseller und Standardwerk für den Schulunterricht zum Thema Gentechnologie avancierte. Bei duotincta sind die Romane »Die vier Liebeszeiten« und »Wir kennen uns nicht« erschienen.  

www.birgitrabisch.de

Meiner Freundin Brigitte gewidmet,

die mich zu Ringo inspiriert hat.

All you need is loveThe Beatles, 1967A million candles burning for the love that never cameYou want it darkerWe kill the flameLeonard Cohen, 2016

JANA

George stimmt seine Gittarre und blickt nicht auf, als ich den Wohnraum betrete, John lächelt mich an, Paul winkt mir zu und Ringo schlägt einen kurzen Trommelwirbel.

Ich stelle mich vor die offene Tür zwischen Wohnzimmer und Studio und rechtfertige meine Verspätung:

»Ewige Warterei beim Zahnarzt!«

Normalerweise frühstücken sie noch, wenn ich zum Putzen komme, aber heute hat mich der verdammte Dr. Nolte fast eine Stunde dem Gedudel des Gute-Laune-Senders in seinem Wartezimmer ausgeliefert, so dass meine Laune auf dem Tiefpunkt war, als er mein Zahnfleisch endlich mit seiner professionellen Zahnreinigung malträtierte. Nein, auf dem Tiefpunkt war sie, als mir seine Assistentin danach lächelnd die Rechnung über den Tresen schob. Achtzig Euro!

»Und, Jana? Hast du dich wenigstens diesmal gegen den Raffke gewehrt?«, fragt John. Er hat mir vor ein paar Tagen einen langen Vortrag darüber gehalten, dass die professionelle Zahnreinigung von der Krankenkasse zu Recht, völlig zu Recht! nicht bezahlt würde, dass ihr Nutzen wissenschaftlich nicht nachgewiesen sei und sie nur dazu diene, den ach so verarmten Zahnärzten die Taschen zu füllen. Ich habe nicht die geringste Lust, mich schon wieder auf eine Diskussion mit John einzulassen. Warum bin ich so feige und wehre mich nicht gegen Dr. Noltes Griff in mein ohnehin nicht gut gefülltes Portemonnaie? Warum ist meine Generation generell so duckmäuserisch? Ja, ja, ich weiß, John würde sich das niemals bieten lassen, niemals!, obwohl er es in seinem Portemonnaie gar nicht merken würde, aber es ist eine Frage des Prinzips, ja, des Prinzips! Für John ist andauernd etwas eine Frage des Prinzips. Und das, obwohl er die ewige Prinzipienreiterei seines Vaters angeblich so gehasst hat. Oder gerade deshalb? Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, oder? Aber wenn ich den Spruch bringen würde, oh, oh, oh! Dann müsste ich mir garantiert eine endlose Belehrung über Evolution, Biologismus, reaktionäre Weltsicht und was sonst noch alles gefallen lassen!

»Ich muss mich beeilen«, sage ich, »sonst siegt der Staub.«

»Der siegt letztlich sowieso«, knurrt John, lässt aber von mir ab und schlägt auf seiner Gitarre ein paar Akkorde an. Ich werfe einen kurzen Blick in die Küche, aber hier gibt es für mich heute nichts zu tun. Die Fab Four haben brav ihr Frühstücksgeschirr in den Geschirrspüler gestellt und von ihrer abendlichen Kocherei kann ich auch keine Spuren mehr entdecken. Ich steige die Wendeltreppe zum ersten Stock hoch, wo ihre Zimmer sind. Heute ist nach meinem Putzplan Johns Zimmer dran. Bei ihm liegt nie etwas herum und ich kann gleich anfangen, mit einem Staubtuch über die Möbel zu wischen. Ich lasse die Tür offen, wie ich es meistens tue, außer beim Staubsaugen natürlich. Von unten klingen die ersten Takte eines Songs herauf, den ich schon erkenne, bevor Pauls Stimme erklingt:

It’s been a hard day’s night,

and I’ve been working like a dog …

Ich höre ihrer Musik gern zu, aber, ehrlich gesagt, manchmal auch ihren Gesprächen beim Frühstück. Ich bin nun mal entsetzlich neugierig. Das muss eine Schriftstellerin auch sein, finde ich, und Schriftstellerin will ich schließlich mal werden.

Vor einem halben Jahr las ich auf einem Zettel an einem Ampelmast: Zuverlässige Reinigungskraft gesucht. 4x2 Std. vormittags. Gute Bezahlung.

Wenn das kein verlockendes Angebot für eine Vierundzwanzigjährige mit einem abgebrochenen Studium in Geschichtswissenschaft ist! Meine wahre Leidenschaft gilt weniger der Geschichte als den Geschichten. Das habe ich aber leider erst nach dem achten Semester erkannt und den verwegenen Plan gefasst, Geschichten nicht nur zu lesen, sondern selbst zu schreiben. Ich habe sogar mit schön schrägen Texten zwei Hamburger Poetry-Slams gewonnen und beim OpenMike im vorigen Jahr den dritten Platz ergattert, aber von der Zusicherung des Lektors eines renommierten Verlages, wenn ich mal einen Roman schriebe, würde er den wirklich gern prüfen, konnte ich nicht leben. Noch nicht. Natürlich würde ich ihn schreiben, meinen großartigen Debütroman, nur, bis die Tantiemen strömten, musste ich von irgendetwas meine Miete und andere Kleinigkeiten bezahlen. Warum nicht am Vormittag zwei Stunden meiner Zeit der Reinigung eines Hauses widmen, dachte ich beim Studieren des Zettels. Noch dazu in der Nachbarschaft, nur vier Häuser von meiner Dichterinnenklause unterm Dach entfernt! Nach dem Putzen hätte ich noch genug Zeit zum Schreiben. Dass ich noch nie einen Putzjob gemacht hatte – wo war das Problem?

Ich entschied mich, nicht anzurufen, sondern machte mich kurz entschlossen auf den Weg zu der großen Gründerzeitvilla, an der ich fast jeden Tag vorbeikam. Sie war nach einer Renovierung vor einem Jahr ein Prunkstück der Tornquiststraße im Hamburger Stadtteil Eimsbüttel: Sonnenblumengelbe Fassade mit strahlend weiß abgesetzten Fensterrahmen und ebenso strahlend weißem Stuck. Warte, warte nur ein Weilchen, hatte ich nach Entfernung des Gerüstes im Vorbeigehen oft gedacht, warte nur einige Jahre, dann wird aus dem strahlenden Weiß wieder ein schmutziges Grau. Aber es war natürlich der pure Neid, der aus diesem Gedanken sprach. Was für ein Glückspilz mochte in der Villa wohnen? Bestimmt ein reicher Schnösel, arrogant und selbstverliebt. Mit Frau und Kindern? Jedenfalls nicht mit jemandem, der den Dreck wegmachte. Wollte ich das wirklich tun? Egal, sagte ich mir, Hauptsache, die Bezahlung stimmt. Von deren Höhe hatte allerdings nichts auf dem Zettel gestanden, nur: gute Bezahlung. Gut war ein sehr subjektiver Begriff. Ich würde mich auf keinen Fall über den Tisch ziehen lassen.

Vor der Villa angekommen, musste ich einen schmalen Vorgarten durchqueren und stand dann auf einem Fußabtreter, der mich mit Welcome to our Yellow Submarine begrüßte. Und verblüfft stellte ich fest, dass es zwar nur einen Klingelknopf gab, aber daneben vier Namensschilder angebracht waren: Prof. Dr. Michael Mann, Kristian Tugendhat, Dr. Thomas Kaufmann, Arnold Behringer.

Gleich vier Schnösel?, dachte ich verwirrt, drückte aber trotzdem energisch auf den Klingelknopf.

Der Mann, der die Tür öffnete, entsprach keineswegs meinem Bild von einem Schnösel. In abgewetzten Jeans und kariertem, kurzärmeligem Hemd stand ein untersetzter, fast glatzköpfiger älterer Mann vor mir. Braungebrannte runzlige Haut, registrierte ich. Der Gärtner?

»Ich, äh … ich komme wegen der Anzeige.«

Er hob fragend die Augenbrauen.

»Wegen des Putzjobs.«

In seinen Augen leuchtete Erkenntnis auf.

»Ah ja … das hätte ich jetzt … so schnell … wer hat denn … ja, kommen Sie doch rein, bitte!«

»George, wer ist denn da?«, hörte ich eine tiefe Männerstimme aus dem Hintergrund. George? War das nicht ein typischer Name für einen Butler? In mein Bild von einem Butler passte der Mann, der mich jetzt durch einen schmalen Flur führte, nun wirklich nicht. Der Flur öffnete sich zu einem riesigen Raum, der offenbar fast das ganze Erdgeschoss einnahm und in dessen Mitte eine Wendeltreppe in den ersten Stock führte. Links konnte ich einen Blick in eine topmodern eingerichtete offene Küche werfen, doch der Glatzkopf führte mich rechts an der Treppe vorbei in eine – tja, wie nennt man sowas? Wohnlandschaft würde wohl in einem Möbelprospekt stehen.

Auf einem riesigen Ecksofa saß ein zweiter Mann, der mir deutlich jünger vorkam als der, der mich in Empfang genommen hatte. Ein Irrtum, wie sich später herausstellte. Beide waren achtundsechzig und der Mann auf dem Sofa war drei Monate älter. Er lächelte mich an und mein erster Eindruck war: attraktiver Kerl! Männliche Gesichtszüge, braune Augen, volles dunkles, mit wenig Grau meliertes Haar. Als er aufstand, um mir die Hand zu geben, streckte sich ein großer, schlanker Körper, an dem die schwarze Jeans und das weiße Button Down-Hemd wie maßgeschneidert saßen.

»Jana Jessen«, stellte ich mich vor. »Ich bin interessiert, bei Ihnen als Reinigungskraft zu arbeiten. Und da ich in der Nachbarschaft wohne, dachte ich, ich komm einfach mal vorbei …«

»Ah, sehr gut! Gute Idee! Kristian Tugendhat, angenehm. Nehmen Sie doch Platz, bitte. Möchten Sie etwas trinken?«

»Einen Saft, wenn Sie haben.«

Es war George, der mir ein Glas Orangensaft aus der Küche brachte und danach die große Glastür zur Terrasse beiseiteschob und laut »Ringo! John! Kommt ihr mal?«, in den Garten hinausrief.

Kristian Tugendhat, der gerade angefangen hatte, mich nach meinen Referenzen zu fragen, ersparte mir erst mal die Antwort, denn er bemerkte offenbar meine Verwirrung über diese Namen, die mir, auch wenn ich lange nach der Beatles-Zeit geboren wurde, doch nicht unbekannt waren:

»Wer fehlt noch?«, fragte er mit verschmitztem Lächeln.

»Bitte?«

»John, George, Ringo und …?«

»Paul.«

Er nickte zufrieden, als hätte ich eine Schulaufgabe gelöst, erhob sich noch einmal kurz und sagte:

»Call me Paul.«

Bevor ich mir meine Frage beantworten konnte, bei was für seltsamen Vögeln ich denn bloß gelandet war, rollte ein Mann mit energischen Armschwüngen an einem Rollstuhl herein, gefolgt von einem kleinen, schmächtigen Mann mit einem wilden weißen Lockenkopf. Eine Stunde später nannte ich den Rollstuhlfahrer schon ganz selbstverständlich Ringo und den weißen Lockenkopf John, flirtete mit dem charmanten Paul und wartete geduldig, bis George seine gestammelten Sätze beendet hatte.

Und seitdem bin ich die Putzfrau der Beatles.

Ich bin mit Johns Zimmer fertig und reinige das große Bad mit Badewanne und WC. Im Erdgeschoss ist noch eine Dusche plus WC, alles behindertengerecht. Das mussten die vier nicht umbauen lassen, als sie vor einem Jahr in die Villa einzogen, die Ringo von seinen Eltern geerbt hat. Das hatten die schon gemacht, als klar war, dass ihr einziges Kind ein Leben lang auf einen Rollstuhl angewiesen sein würde. Spina bifida, ein offener Rücken, wie die Ärzte kurz nach der Geburt feststellten. Ein Fehler in der Embryonalentwicklung. Kam vor, sagten sie. Schicksal. Auch der Fahrstuhl, der von der Tiefgarage über das Erdgeschoss bis in den ersten Stock fuhr, war noch funktionsfähig, obwohl Ringo gleich nach dem Abitur 1967 zu Hause ausgezogen war. Er wollte mit seiner Hamburger Kaffeeröster-Familie nichts mehr zu tun haben, mit diesen Koofmichels und Profiteuren des Kolonialismus! Er rollte nicht nur während der Studentenbewegung auf allen angesagten Demos mit, auch später, als Lehrer an einer Schule für Behinderte, war er mit seinem roten Rollstuhl ein gefürchteter Aktivist der Krüppel-Gang, die mit ihren schwer zu räumenden Elektrorollstühlen gerne mal die Eingänge zum Hamburger Rathaus blockierten und lauthals eine gleichberechtigte Teilhabe am öffentlichen Leben forderten.

»Dass wir da bis heute ein ganzes Stück vorangekommen sind, ist auch uns zu verdanken«, erklärt mir Ringo stolz, als er mich nach getaner Arbeit wieder mal auf ein Tässchen Tee einlädt. Er brüht für mich einen English Breakfast Tea auf, für ihn selbst aber muss es Kaffee sein. Er gibt eine ordentliche Portion Hamburger Fairmaster in den alten Porzellanfilter aus dem Erbe seines Vaters. »Echter Arabica-Hochlandkaffee, abgestimmt auf das Hamburger Wasser und natürlich bio und fair gehandelt«, wie er mir zum wiederholten Male vorschwärmt. Auch über die tollen Taten aus seiner Jugendzeit höre ich nicht zum ersten Mal etwas. So ist das nun mal bei alten Männern!

Fast immer bittet mich einer der Beatles an den großen Küchentisch, wenn ich Staubsauger und Putzlappen weggeräumt habe. »Kleiner Klönschnack?«, fragt John dann. Paul bittet mich gentlemanlike, ihm ein paar Minuten meiner kostbaren Zeit zu schenken und George zeigt einfach auf einen Küchenstuhl und lächelt mich auffordernd an. Aus den Minuten wird leicht mal eine Stunde und aus dem Tässchen Tee eine ganze Kanne. Aber das liegt auch an mir. Warum nach Hause an meinen Schreibtisch eilen? Es fällt mir ja sowieso nichts ein. Writer’s block, aber sowas von! Da sitze ich doch lieber gemütlich mit meinen Beatles an ihrem Küchentisch und lausche ihren Erzählungen von der guten alten Zeit, den 68ern, einer Zeit, als man noch etwas wollte und nicht nur an die Karriere dachte. Ich will auch etwas, nämlich ein Buch schreiben. Oder ist das an die Karriere denken? Von den vieren haben jedenfalls drei eine ganz ansehnliche Karriere gemacht, auch wenn sie nie daran gedacht haben wollen. Oder gerade deshalb? Wie auch immer: George war Frauenarzt mit einer gutgehenden Praxis, Ringo vor seiner Pensionierung Schulleiter und John sogar Physik-Professor mit internationalem Renommee. Nur bei Paul hat’s mit dem großen Durchbruch nie geklappt. Er war der einzige der vier, der ihr gemeinsames Hobby zum Beruf machte, Musiker wurde. Ein geschätzter Gitarrist in vielen Bands, aber für eine Solokarriere hat es nie gereicht. Ich kann mir kaum vorstellen, dass er den gleichen Beitrag wie die anderen drei zu den Kosten für das Haus, den Lebensunterhalt und nicht zuletzt mich leistet. Wahrscheinlich sponsern sie ihn. Aber danach frage ich lieber nicht. Paul wirkt zwar immer so, als ob nichts sein Ego ankratzen könnte, aber wer weiß. Sind nicht die sich so souverän Gebenden oft die größten Sensibelchen? Er tut gern so, als wäre er der echte Paul McCartney, ein genialer Musiker, forever young und von Frauen umschwärmt. Er erzählt am liebsten von der Zeit, als die vier Obertertianer des Eimsbütteler Gymnasiums Kaiser-Friedrich-Ufer die Schulband Die Beating Boys gründeten und mit Begeisterung die Songs der umjubelten Gruppe aus Liverpool nachspielten. Dafür wurden auch sie von ihren Schulkameraden bejubelt. Sie durften nach Schulschluss im Fahrradkeller üben und sie übten fanatisch, exzessiv und ekstatisch, um sich genauso anzuhören wie ihre großen Vorbilder. Echt voll wie die Beatles erschien ihnen als das größte Lob. Sie traten bei Abifeiern und sonstigen Schulfesten auf und nach dem Abitur in Jugendhäusern, Kellerclubs und auf Stadtteilfesten. Am Anfang spielten sie nur auf der Bühne ihre Rolle als Beatles, aber bald sprachen sie sich auch gegenseitig mit deren Namen an. Aus den pickligen Jungen mit bravem Mittelscheitel Michael, Thomas, Arnold und Kristian wurden die Pilzköpfe John, George, Ringo und Paul.

»Das haben wir beibehalten, unser Leben lang, wie auch unsere Freundschaft. Freundschaft mit Pausen natürlich, wie auch nicht. Und Höhen und Tiefen. Klar. Schon selten, sowas. Kostbar. Kennt ihr das überhaupt noch? Ist was anderes als Facebook-Freunde«, sinniert Ringo und schenkt mir noch eine Tasse Earl-Grey ein.

»Wir können das schon unterscheiden, keine Sorge.«

»Na, hoffentlich! Jedenfalls … unsere Freundschaft, die hat gehalten, wenn uns das Leben auch in viele Richtungen auseinandergetrieben hat. Und das meine ich nicht nur örtlich. Aber die Freundschaft, ja, und die Musik … die Musik hat uns immer wieder zusammengeführt.«

»Seid ihr denn auch später noch zusammen aufgetreten? Als Beatboys?«

»Beating Boys!«, korrigiert Ringo mit erhobenem Zeigefinger und sein jungenhaftes Lächeln zaubert wieder die Spuren vieler gelebter Jahre aus seinem Gesicht. »Ab und zu schon, aber selten, meist auch nur privat, auf Festen und so. Das wurde schon damals schwieriger, als George einen Medizin-Studienplatz in Stuttgart gekriegt hat, wir hatten keinen Übungsraum mehr und spätestens, als John dann ans MIT gegangen ist …«

»MIT?«

»Massachusetts Institute of Technology. Ganz berühmt! Egal. Musst du nicht kennen. Da hat er promoviert. Quantenphysik. Frag ihn bloß nie danach! Wenn John erst anfängt, dir Vorträge über die spukhafte Fernwirkung und weiß der Geier was zu halten, dann kommst du hier nie wieder weg!«

»Apropos Wegkommen. Die Kanne ist leer und ich glaub, ich muss dann mal …«

»Ja, ich hab dich mal wieder viel zu lange aufgehalten. Schreib’s auf den Stundenzettel.«

Ich winke ab, aber ich schreibe es natürlich auf den Zettel, den ich John, dem Finanzchef der Beatles, am Ende des Monats zur Abrechnung vorlegen werde. Pro Stunde zwanzig Euro zahlen sie mir, das ist wirklich nicht kleinlich. Aber sie können es sich locker leisten, schätze ich (außer Paul, wie gesagt). Ich arbeite schließlich für eine privilegierte Luxus-Senioren-WG, die können mir gern unsere Klönschnacks als psychosoziale Dienstleistung honorieren. Eine sehr angenehme Dienstleistung, das gebe ich zu. Manchmal nervt zwar die Verklärung ihrer glorreichen Vergangenheit, aber wer weiß, wie ich als Achtundsechzigjährige von der Zeit erzählen werde, als ich die Putzfrau der Beatles war! Meistens höre ich ihren Geschichten gerne zu und ich bewundere ehrlich den Mut und die Entschlusskraft, mit der sie sich ihrem Alter stellen, es gestalten wollen.

»Ich hab keine Lust, irgendwann mit beschissenen Windeln in einem beschissenen Heim zu landen, wo keiner Zeit hat, sie regelmäßig zu wechseln.« Originalton John. Paul würde so etwas nie sagen. Er tut so, als könnten für ihn auch in Zukunft weder Gebrechlichkeit noch Inkontinenz zum Problem werden. Er hat sich auch an den detaillierten Planungen für ihre gemeinsame Zukunft nicht beteiligt, als Ringo seinen drei Freunden anbot, die ehemalige Villa seiner Eltern zu ihrem gemeinsamen Altersruhesitz umzugestalten. Paul war nur wichtig, dass sie einen Raum als Studio ausbauten, so dass sie endlich jederzeit üben und spielen konnten, wann immer sie Lust dazu hätten. Er fand die Idee einfach genial, endlich mit seinen alten Kumpels zusammen zu wohnen. Die rollstuhlgerechte Villa war ja auch bestens für Ringo geeignet. Der Gedanke, dass er selbst vielleicht einmal auf einen Rollstuhl angewiesen sein könnte, lag ihm fern. Mit so etwas konnte man sich ja beschäftigen, wenn es so weit wäre, das war seine Philosophie. Aber am besten, es wäre einfach nie so weit. Seine drei Freunde diskutierten vor dem Einzug in die Villa jedoch heftig alle denkbaren Szenarien, die das Alter mit sich bringen konnte, auch wenn sie sich jetzt noch nicht wirklich alt fühlten. Sie schauten sich nach einem ambulanten Pflegedienst in der Nähe um, nach kompetenten Ärzten und ließen ein Zimmer im ersten Stock zum Gästezimmer mit separatem WC und Dusche ausbauen. Wenn nötig, konnte dort später eine Pflegerin wohnen.

»Du siehst, wir gehen die Sache offensiv an«, hat Ringo mir bei einem unserer ersten Klönschnacks erzählt. »Dies hier ist unser Yellow Submarine, mit dem wir gemeinsam abtauchen werden in Tiefen, die keiner von uns kennt und aus denen keiner wieder auftaucht. Aber während des Tauchens gilt an Bord …« Er summte ein paar Takte und sang dann mit seiner kratzigen Stimme:

As we live a life of ease

Everyone of us has all we need

Er brach ab und zwinkerte mir zu: »Zu diesem life of ease leistest du einen beträchtlichen Anteil.«

»Aber ist das wirklich alles, was ihr braucht? Life of ease?«, konterte ich. »Wie steht’s denn mit dieser Erkenntnis?« Ich räusperte mich und sang nicht schön, aber laut:

All you need is love, love, love

love, love, love

Ich hatte erwartet, dass Ringo lachen würde, doch ein Schatten huschte über sein Gesicht. Er senkte den Blick und schwieg eine Weile, bevor er seine Schlagfertigkeit zurückgewann und sich einer Weisheit der Rolling Stones bediente:

You can’t always get what you want

Mehr als diese Zeile sang er nicht und ich weiß bis heute nicht, welche Rolle die Liebe in seinem Leben gespielt hat. Die taucht in den bunten Schilderungen seines Lebens nicht auf. Er hat mir etwas erzählt über seinen Kampf für das Recht auf Sex für seine behinderten Schülerinnen und Schüler, das ihnen auch als Erwachsenen oft abgesprochen wurde. »Als wenn gelähmte Beine dich zum Neutrum machen!«, hat er sich empört. Aber ob er von seinem Recht auf Sex Gebrauch gemacht hat und wenn ja, mit wem – da klafft eine Leerstelle in seinen Erzählungen. Nicht nur beim Sex, überhaupt bei persönlichen Beziehungen, Liebe, Familie, Kinder – darüber spricht weder er noch sprechen die anderen Beatles darüber. Seltsam. Das Private ist politisch. Hieß so nicht ein Spruch der 68er? Einmal habe ich Paul gefragt, ob sie denn alle keine Kinder hätten, die sich um sie kümmern könnten, wenn sie irgendwann auf Hilfe angewiesen wären. Er hat wie immer ein abweisendes Gesicht gemacht, wenn es um das Thema ging, und mich nur kurz informiert:

»Ich hab zum Glück keine, Ringo auch nicht, John hat einen Sohn und eine Tochter und sogar einen Enkel, drüben in Berkeley, wo er seine letzte Professur hatte, aber er ist schon lange geschieden, die sind bei der Mutter aufgewachsen, da läuft nicht viel. Und George …« Er verstummte einen Moment, bevor er fortfuhr: »George hat’s echt schlimm erwischt. Seine Tochter Annika ist mit dreizehn an einem Gehirntumor gestorben und seine Frau hat er vor fünf Jahren auch an den Krebs verloren. Da hat er immer noch schwer dran zu knacken.«

Danach war nie wieder die Rede von Liebe, Sex, Frauen und Kindern. Auch heute ging es ja wieder mal um Ringos Lieblingsthemen: seine Jugend, die Musik, die Beatles, seine Aktivitäten in der Behindertenbewegung.

Ich stehe auf, will das Geschirr abräumen, doch Ringo winkt ab:

»Das ist mein Job! Moment, warte! Nimm noch ein Glas Himbeer-Marmelade mit. Aus unserem Garten. Hat George eingekocht. Wirklich lecker!«

Georges Einkochen vor ein paar Tagen ist mir nicht verborgen geblieben. Ich durfte viele rote Spritzer noch in den entferntesten Winkeln der Küche wegputzen. Aber die Himbeer-Marmelade ist wirklich lecker, das weiß ich schon, denn auch John und der Einkoch-Meister George himself haben mich mit Gläsern beglückt. Ich komme selten hier weg, ohne dass mir etwas zugesteckt wird. Irgendwie rührt mich das. Dieses Etwas-Zustecken kommt mir wie die fürsorgliche Geste von Eltern gegenüber ihren erwachsenen Kindern vor, die auf deren Fürsorglichkeit eigentlich nicht mehr angewiesen sind. Meine effizienten Eltern haben so etwas nie getan. Sie haben mir pflichtgemäß Geld überwiesen, solange ich studiert habe. Seit meiner Entscheidung, mich der brotlosen Kunst des Schreibens zuzuwenden (»Gibt es nicht schon genug Bücher auf der Welt?«), bleibt mein Konto leer.

Ich bedanke mich bei Ringo, stecke das Glas Marmelade in meine Schultertasche und verabschiede mich.

»Bis morgen! Gruß an die anderen. Wo stecken die überhaupt?«

»George ist hinten in seinem geliebten Kräutergarten, John muss mal wieder beim Kardiologen seine diversen Bypässe kontrollieren lassen und Paul turnt mit einer jungen Krankengymnastin herum. Und wenn ich turnt sage, meine ich tatsächlich turnt.« Er zwinkert mir zu und ergänzt: »Es klappt immer besser mit seiner neuen Hüfte. Na ja, wir sind eben nicht mehr die Beating Boys, sondern eine Alte-Knacker-WG.«

Sein Lächeln ist aber wieder ein Beating Boy-Lächeln. Er bringt mich zur Tür und winkt mir hinterher. Ich winke zurück und dann bin ich auf dem Weg nachhause, auf dem Weg zu meinem Zimmer, zu meinem Schreibtisch und meine Schritte werden langsamer.

Was will ich schreiben? Bloß nichts über junge Leute und ihre Beziehungsunfähigkeit, keinen Großstadtroman mit viel Nachtleben, Clubbing und Sex, nichts Intertextuelles, nichts krampfhaft Innovatives, kein l’art pour l’art! Sondern? Hmmh. Was Relevantes. Über Flüchtlinge? Das Thema unserer Zeit! Oder muss es nicht Geflüchtete heißen? Und schon beschäftige ich mich wieder mit der Sprache statt mit dem Problem. Oder über die Globalisierung? Die Klimakatastrophe? Alles höchst relevant. Und verkaufsträchtig. Also? Ach, das können andere viel besser. Warum schreibe ich überhaupt? Ich habe doch gar nichts zu sagen. Will ich überhaupt schreiben? Eine große Unlust packt mich, mich ewig im Kreis dieser Fragen zu drehen.