Quasi Jesus - Michael Vögel - E-Book

Quasi Jesus E-Book

Michael Vogel

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Beschreibung

Ein Autor setzt sich, in der Hoffnung, seine Schreibblockade zu überwinden, in ein kleines Bergdorf ab. Doch während er sich selbst zum Beobachter der dortigen Situation erklärt, hat in Wahrheit die Situation ihn bald fest im Griff. Mit einem Antiheimatroman ist der Autor vor sieben Jahren gefeiert worden, kein Wunder also, dass die Dorfbewohner sich durch den Schriftsteller beobachtet, gar bedroht fühlen. Sie befinden sich mitten in den Vorbereitungen für die alle fünf Jahre stattfindenden Passionsspiele. Außerdem spaltet ein geplantes Riesenhotel die ökonomischen und ökologischen Gewissen der Dorfbewohner. Neben dem Protagonisten, der sich nicht an die unausgesprochenen Regeln des Dorfes hält, gibt es noch andere, die mit diversen Drogen, Affären und Rivalitäten den uralten Traditionen und dem Dorfgasthaus "Zum Hirschen" trotzen: alles in allem ein klassisches Dorfunidyll. Als das Dorf aufgrund heftiger Schneefälle länger von der Außenwelt abgeschnitten ist, eskaliert die Situation und es beginnt, ums Überleben zu gehen.

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Seitenzahl: 457

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Michael Vögel

QUASIJESUS

Roman

Gedruckt mit Unterstützung der Stadt Wien, MA7 / Literaturförderung und des Landes Vorarlberg

Vögel, Michael: Quasi Jesus / Michael Vögel

Wien: Czernin Verlag 2018

ISBN: 978-3-7076-0643-0

© 2018 Czernin Verlags GmbH, Wien

Lektorat: Senta Wagner

Satz, Umschlaggestaltung: Mirjam Riepl

Autorenfoto: Winfried Sochor

Druck: finidr

ISBN Print: 978-3-7076-0643-0

ISBN E-Book: 978-3-7076-644-7

Alle Rechte vorbehalten, auch das der auszugsweisen Wiedergabe in Print- oder elektronischen Medien

Inhalt

I Im Anfang war das Wort

II Und das Wort ist Fleisch geworden

III Kein Stein bleibt auf dem anderen

IV Die Spreu vom Weizen trennen

V Wenn der Feigenbaum reif ist

VI Schalen des Zorns

VII Das Neue Jerusalem

I

Im Anfang war das Wort

Es grüßten bereits die Berge, die schneeweißen, aus einem satten Hellblau sich schneidenden Gipfel, die schroffen Zacken und Kanten, Zinnen und Türme, die jäh aus tiefen Gründen aufschießenden Hänge, über die sich schützend dunkle Nadelwälder geworfen hatten, die schaurig rauschten, wenn der Föhn durch sie pfiff. Die nackerten in Ocker getauchten Bündte und Weiden, auf denen verfrüht die Krokusse blühten und im Tageslicht golden strahlten wie die sonnenverwöhnte Haut einer Almwirtin. Mit aufmüpfigen Wassern ein eisblauer Bach, der ohrenbetäubend durch die Klamm hinaus ins Land donnerte. Ein senkrecht in den Himmel ragender, wie ein mahnender Zeigefinger sich aus dem Tal emporstreckender Fels. Und die immer deutlicher aus dessen Schatten tretenden, zitternd im unwirtlichen Gelände verharrenden Häuser aus Stein, die aus Balken gezimmerten Tennen abseits davon und das alle Dächer überragende Zwiebelturmkirchlein eines Dorfes, das sich entlang der Bundesstraße reihte wie die Perlen an der Schnur eines Rosenkranzes.

Endlich kam das Taxi auf dem Dorfplatz zum Stehen. Josef Quantenspringer stieß die Tür auf, streckte seinen Kopf weit hinaus und einen, bald drei Finger in den Hals hineinsteckend begann er zu würgen. Nein er war nicht in bester Form. Die vielen Kurven hinauf ins Tal, in seinem Inneren rissen sie noch immer. Aber nichts wollte aus ihm heraus, nichts außer tiefe Würgetöne und der lauwarme Dampf einer zuvor in der Landeshauptstadt verspeisten Leberkässemmel. Denn es war nicht die Zeit zum Kotzen, das war von Anfang an keine Geschichte, in der einfach alles aus sich herausgekotzt werden konnte. Die Zeit, innezuhalten, war gekommen.

Also bezahlte er stoisch den Fahrer, der nicht schnell genug weiterfahren konnte, und weiter hieß hier zurück. Seine Tasche über die Schulter geworfen blieb er auf dem Dorfplatz eine Zeit lang so stehen. Um ihn herum stabile Gebäude, die draußen hielten, was ungebeten reinwollte, und drinnen verwahrten, was draußen nichts verloren hatte. Die Fensterläden bei den einen grün, bei den anderen rot. Aus dem Giebelspitz eines Gasthauses schaute ein mächtiges Hirschgeweih. Ein Brunnen führte kein Wasser und die Blumenbeete hatten keine Blumen, die Erde lag braun und krumig und trug ihr Winterkleid nicht. Er steckte sich eine Zigarette in den Mundwinkel, zog den Rauch tief in sich hinein und blies ihn nach einer kleinen Ewigkeit wieder aus sich heraus. Ein lebhafter, aber milder Wind zerstob den blauen Qualm sofort ins Unförmige. Eine Ruhe herrschte hier, die ihn gnadenlos an sich, an das laue Gefühl in seinem Körper erinnerte. Keiner hatte seine Ankunft wahrgenommen. Das war beruhigend. Er war nicht der erste Fremde hier, wohl aber bald der letzte. Da warf er die halb gerauchte Zigarette auf den Boden, ging in Heiner Baldaufs kleinen Spezialitätenladen und kaufte sich eine Flasche vom Wacholderschnaps. Denn der Wacholder, so heißt es, vertreibt böse Geister. Nach einem ersten Schluck steuerte er endlich dem Gasthaus Hirschen zu.

Die massiven hölzernen Bänke waren alle leer, bloß von den Wänden glotzten ihn skelettierte Gams-, Reh- und Hirschschädel aus dunklen Höhlen an, ein ausgestopfter Auerhahn plusterte sich vor ihm auf. Schließlich fand er hinter dem Tresen die Wirtin, die Maria hieß. Ihr Dirndl für die Zimmerstunde bereits abgelegt schmierte sie sich, im verzerrenden Metall der Bierschank sich spiegelnd, frisches Rot an die Lippen, die sie schmatzend aneinanderdrückte, und richtete sich ihre dunklen Locken zurecht. Sie hatte kein Auge für den Gast, auch dieser kam ihr ungelegen. Darum rief sie nach Leonie, rief noch einmal und lauter und noch ein drittes Mal, bis diese endlich dahergeschlichen kam. Dem Herrn ein Zimmer solle sie zeigen.

Ein schmollmundiges, blondes, viel zu süßes Ding erschien. Eine hautenge Leggins bedeckte die spitzen Beine, ein hingehauchter weißer Stoff die fragilen Schultern und die frivolen Nippel ihres noch nicht volljährigen Körpers. Genervt kullerten ihre großen Augen unter die Knochen ihrer Brauen und wieder hervor. Sie ging mit Quantenspringer einen Stock höher und sprach kein Wort dabei, öffnete ein Zimmer. Das schlechteste von allen, das an der schattigen Rückseite des Hauses und über dem Dampfabzug der Küche. Ein spärliches Licht fiel hinein, kalt und grau, ein paar Jungtannen wuchsen vor dem Fenster und mittlerweile über dieses hinaus. Es roch nach dem Fett der Fritten und Schweinshaxen, die in diesem Haus unzählig gebrutzelt und gefressen wurden, vermischt mit dem Zigarettenrauch und den Bierausdünstungen der früheren Bewohner. Speckig das Tischchen, der Schrank, das Bett mit der durchgelegenen Matratze. Die Wirtin hatte ihrer Tochter zuvor heimlich einen vertrauten Blick zugeworfen, sie vermutete wohl, der unrasierte, in die Jahre gekommene junge Mann in seiner zerknitterten Hose und der rissigen Lederjacke hätte kein Geld. Quantenspringer nahm das Zimmer, fragte nicht nach dem Preis. Ja er lehnte dankend ab, als die überraschte und nun beschämte Wirtshaustochter dem Gast plötzlich ein besseres zeigen wollte, eines, das auf die Sonnenseite zum Dorfplatz hinausschaute.

»Im Hässlichen lassen sich die schönsten Ideen gebären.« Er sah ihr in die Augen.

»Was sind denn Sie? Ein Perverser?«

»Schriftsteller.«

»Schriftsteller … vielleicht ein perverser Schriftsteller?« Sie lachte und hörte auf damit, als Quantenspringer nicht mitlachte.

Wie er aber seine Tasche auf das Bett warf, mit geübtem Blick das Bad inspizierte, aus dem Fenster nach dem Blick schaute, da spürte er die Flammen sprühenden Augen der Kleinen auf ihn gerichtet, spürte, wie sie sich gierig im Chaos seiner Haare verfingen, über die Konturen seines Gesichtes strichen und sich durch die Bartstoppeln wühlten, sich an die Lederjacke hefteten und hineinkrochen, wo sie offen stand und sein Hemd hervorschaute, um schließlich an den Beinen hinunterzugleiten, bis sie aufgeregt in den Löchern seiner ledernen Schleicher stecken blieben.

»Wie lange wollen Sie denn bleiben?«

»Wie lange?«, Quantenspringer kratzte sich am Kinn. »Tage. Wochen. Vielleicht ewig.«

»Ewig? Das halten Sie nicht aus.«

Er schlüpfte aus der Lederjacke, legte ein Bündel Blätter auf das Tischchen, aber die Hirschentochter, die gleich wieder gegangen war, huschte immer wieder durch seine Gedanken. Die Reize dieses frischen Körpers hatten sich in sein Gewebe gebrannt, plagten ihn jetzt wie eine Wunde. In der Dusche dann ließ er den dampfend heißen Wasserstrahl so lange über seine zuckende Haut prasseln, bis alles Störende aus ihm herausgewaschen, bis die Leonie wieder aus seiner Haut gedampft war. Der Spiegel verriet seinen zerstörerischen Lebensstil, den er in der Stadt in den letzten Jahren praktiziert hatte, dass die Nächte lang waren und die Tage verloren. Um die Augen hatten sich Falten in die Haut gegraben, graue Haare schrien vereinzelt, aber doch hartnäckig vom Kopf herab oder stachen aus den dunklen Bartstoppeln hervor wie abgestorbene Bäume aus einem Wald. Die Zornesfalte auf der hohen Stirn, sie fraß sich tiefer und tiefer. Unterhalb der Brust gedieh ein Bäuchlein. Hunger kam in ihm auf. Es wurde dämmrig, es wurde dunkel, vom Wirtshaus herauf strömten deftige Gerüche. Also warf sich Quantenspringer wieder in seine Lederjacke und glitt die Stufen hinunter und hinein in die Hirschenstube.

An einem hinteren Tisch bestellte er sich ein Wienerschnitzel, für das der Wirt in der Region einen Namen hatte. Er musste das Fleisch schlecht geklopft haben oder er hatte ihm heute ein besonders zähes Stück in die Pfanne gelegt: Wie ein schwerer, dunkler Meteorit lag es in seinem Magen. Am Stammtisch hinter ihren Krügen saßen bärtige Männer mit langen Haaren und in Strickkitteln und waren derart in Gespräche vertieft, dass keiner den Fremden beachtete. Quantenspringer wollte hinaus, aber er ließ sich von drei am Tresen sitzenden jungen Männern abhalten. In einem tiefer gelegten Karren waren sie eben angefahren gekommen, ein Bass hatte daraus gedröhnt wie der Herzschlag eines gehetzten Tieres. Blank wie Babyärsche glänzten ihre Gesichter, die Nacken hatten sie sich weit nach oben rasiert. Zügig tranken sie von ihren Bieren. Der Kleinste von ihnen bestellte zuerst einen Toast Hawaii, worauf der Zweite dem Ersten folgte und dann der Dritte dem Zweiten. Hau, Mau und Sau wurden sie genannt, Hau, Mau und Sau nannten sie sich selbst. Unaufhörlich riss einer von ihnen einen Witz, Sabber und Bier spritzten dann aus ihren Mündern, Stücke vom Toast Hawaii flogen durch den Raum, klebende Geschosse in einer niemals endenden Schlacht. Bald verarschten sie die Ausschankgehilfin Angelika, die, arm im Geiste, immer alles in sich hineinfraß, was ihr das Leben zum Fressen anbot. Nicht nur die Knödel, Braten und Torten im Hirschen, sondern auch den verbalen Dünnschiss ihrer Peiniger. Zog Grimassen dabei, quälte ihr eigenes Gesicht, nur um Heiterkeit zu bewahren, und gab den dreien damit bloß weiteren Anreiz. Quantenspringer nahm jetzt einen großen Schluck. Hinübergehen sollte man, dachte er sich, und nicht sitzen bleiben. Aber er fand plötzlich keine Worte mehr in seinem Kopf. Sitzen bleiben sollte man und sich nicht aufregen, beruhigte er sich. Er musste jetzt verdrießlich dreingeschaut haben, denn die drei schauten jetzt verdrießlich drein, ließen übertrieben ihre Schultern hängen und fuhren sich lachend über den Kopf, als ob sie ihre Haare nach hinten streichen würden. Jetzt äfften sie ihn nach, so viel war klar. Als Quantenspringer nicht mehr auswich und der Schmerz in seinem Blick mit der Freude in ihren Blicken verschmolz, quiekten sie auf und hoben zum Prost ihre Gläser ihm entgegen. »Lebensfreude« riefen sie ihm nun zu, »Lebensfreude«, immer wieder »Lebensfreude«.

Rechter Hand von ihm aber ging ein Mann zwischen die Auseinandersetzung, eine hünenhafte Erscheinung im Trachtenjanker und mit blondem, kurz geschorenem Haar. Zwischen strengen Gesichtszügen blitzten zwei Augen hervor, die so blau waren wie das Nordpolarmeer. Gleich stutzte er die drei am Tresen zurecht, und damit sie Ruhe gaben, bestellte er mit gespreizten Fingern drei Bier für sie. Ob er der Schriftsteller sei, wollte er wissen, obwohl er es bereits wusste. Über was er denn schreibe? Über Gott und die Welt? Na, die Welt sei hier noch in Ordnung, und zwar weil man sich der göttlichen Ordnung füge. Klaus-Peter Heller, Tourismusmanager, der alles managte, was sich managen ließ, sowie Oberhaupt einer im Dorf aufstrebenden Partei. Dass er willkommen sei, drohte er ihm. Gott sei Dank, der Mann war gleich wieder weg.

Endlich war Quantenspringer auf der Straße, kramte nach einer Zigarette und nach ein paar verfluchten Versuchen diese anzuzünden blies er den Rauch erleichtert in einen funkelnden Himmel. Langsam, aber sicher hatte er die letzten Häuser hinter sich gelassen. Dunkelheit umgab ihn nun wie ein schwarzes, nächtliches Meer. Plötzlich fand er Geborgenheit, ging darin auf wie ein aufgeblasener Schwimmreifen, wollte er nicht untergehen in der Lache seiner Selbstzweifel. Jetzt war er plötzlich froh, hier zu sein, hier in diesem Dorf in den Bergen und nicht in der Stadt. Denn hier wurde es dunkel, hier konnte er verschwinden.

Er folgte einem Weg auf eine Anhöhe, die von den Einheimischen der Schmalzbuckel genannt wurde und die einen Blick auf die Häuser darunter freigab. Aus den Fenstern floss warmes Licht, das sich mit dem der Straßenlaternen zu einer leuchtenden Masse vermengte, die der Straße folgend und an den Weggabelungen sich verzweigend einen Körper mit verzerrten Beinen und Armen und Köpfen bildete. Der flirrende Körper eines schlafenden Drachen, den keiner sich bislang getraut hatte aufzuwecken. Jetzt stand er mausalleine da oben und blickte hinunter. Er sollte jetzt, dachte er bei sich, das tun, was ein Städter tut, wenn er in die Berge kommt: alles nach Leibeskräften aus sich herausschreien. Den Drachen wecken. Aber dies war von Anfang an keine Geschichte, in der einfach alles aus sich herausgeschrien werden konnte. Also beschloss er, wieder hinunter ins Dorf und auf sein Zimmer zu gehen, um dort vielleicht ein Blatt Papier mit der in Worte gefassten derzeitigen Stimmung zu verfinstern.

Am Hirschen angekommen hörte er aber von der Rückseite des Hauses ein dumpfes Hämmern. Leonies Hip-Hop dröhnte aus einem kleinen Spalt eines geöffneten Fensters in die Nacht hinaus. Ein kaltes Feuer reizte noch immer tief unten in ihm. Warum, wollte er jetzt nicht wissen, aber er schlich an der Mauer entlang bis direkt an den Spalt. Wärme drang heraus und der anrüchige Duft ihres jungen Körpers. Sie schien zu schlafen, von den abgehackten Wortsalven ihrer Möchtegerngangster in die Träume getragen. Bilder der Jugend sprangen in ihm auf, schwebten bunt blühend durch seinen Kopf wie plötzlich sprießende Blumen. Und Leonies zarter Leib, der geschmückt dazwischenlag. Quantenspringer stöhnte auf. Nein so jung war sie nicht mehr. Aber so alt war sie auch wieder nicht. Seufzend machte er sich davon. Erreichte sein Zimmer, riss das Fenster auf und rauchte eine Zigarette. Vor ihm ein Tal, Berge, Sterne darüber. Seine Hand wollte keine Ruhe haben. Ihm wurde immer wärmer. Angenehm schmerzend baute es sich in ihm auf, einander überlappend und sich ineinander werfend trieb sich Welle für Welle einem Gipfel entgegen, um gleichzeitig in grundlose Gründe hinabzustürzen. Raum dehnte sich und fiel im selben Moment in sich zusammen, entspannte sich bloß, um sich von Neuem zu verdichten, immer enger, immer weiter, immer höher, immer tiefer, und das zeitgleich. Ein teuflisch schöner Ritt, er ließ es laufen, ließ es gehen, endlich und doch unaufhörlich dem Glätten dieser unheimlichen Wogen entgegen. Jetzt durfte die Hand endlich ruhen. Immerhin, ein erster Höhepunkt.

Schwer atmend versank das Tal in einer Nacht, in der alle Lichter verblassten und sich nichts mehr rührte im Dorf außer einer in den Gassen jammernden Katze oder einem aus den Bäumen rufenden Kauz; in Quantenspringers Zimmer aber brannte Licht. Rauchend lag er in seinem Bett, spitzte die Lippen zum Wacholderschnaps und fand doch keinen Schlaf. Wälzte sich in den Laken, bis der Wirtshausgeruch durch die Poren seiner Haut zu ihm gekrochen kam. Schlief erst ein, als die Glocken des Kirchturms morgens um sechs mit lauten Schlägen die Dämonen der Nacht vertrieben hatten. Da machte der Sunagler Albert, der hinter dem Hirschen seine Landwirtschaft hatte, die Lampe seines Stalles an, ging ans Ausmisten, Viehfüttern und Melken. Die Pendler brummten in ihren Wagen hinaus ins Land, um in den Fabriken dem allgemeinen Wohlstand zu dienen, den sie mit ins Tal hinaufbrachten. Unten in der Wirtsstube fing die Kaffeemaschine an zu gurren, surrte die Brotschneidemaschine und heulte der Eierkocher, denn die Wirtin richtete das Frühstück für die Gäste her. Der Zimmermann Liebknecht sperrte seine Werkstatt auf, Heiner Baldauf seinen Laden, beim Bauunternehmen Hump brummte schweres Gerät und der Skiliftbetreiber Schnabel warf auch an diesem Morgen seinen Blick in einen gleichgültigen Himmel, der ihm schon den ganzen Winter nichts anderes zu sehen gab als von Süden heraufschleichende Föhnwolken, die in diesem Jahr auf seinen Hängen nicht das begehrte Weiß bringen wollten. Erst als der Wirt in der Küche unter seinem Zimmer anfing auszuräumen, was er abends erst aufgeräumt hatte, Töpfe zu klappern, zu zischen und zu fauchen begannen, er mit dumpfen Schlägen die Schnitzel weich klopfte und im tosenden Fett goldbraun briet, als der Dampfabzug zu raunen begann und es schon wieder die Gerüche der unten zerkochten Speisen in einer penetranten Melange nach oben trieb, da war es um das bisschen Schlaf geschehen, und schwerfällig, die zerknitterten Augen sich reibend stemmte sich Quantenspringer aus dem viel zu weichen Bett, um sich an das Tischchen zu mühen, wo die Schachtel mit den Zigaretten lag.

Nachmittags ging er hinaus. Unter seinen löchrigen Schuhen ein in den Abgrund fallender oder in schwindelerregende Höhen gierender Boden. Grüßte dabei keinen, ja seinen Kopf bekam er kaum aus dem Kragen. Den Blick wahllos umherschweifend, die Ohren gespitzt zog er durch die paar Gassen und weg vom Dorf. Er war ein Jäger, ein trügerisch harmlos den Raum durchschleichender Jäger, auf der nie zu stillenden Jagd nach Einfällen, nach Einfällen lechzend, nervös wartend, bis ihm eine Idee vor seine abschussbereite Flinte lief.

Das Dorf in seiner geballten Anordnung aber blieb ihm fremd. Stumme Gebäude, in die Zeit gedrückt wie darin einzementierte Bausteine harrten sie ihrer eigenen Geschichten, die für ihn versiegelt blieben. Ein feuerroter alter Opel Corsa mit platten Reifen und schräg im Hof hinter einem Bauernhaus parkend rostete nur verschwiegen vor sich hin. Ein schiefer, von Wind und Wetter zerschlissener Lattenzaun grenzte ihn aus. Ein geschnitzter Heiland starb an einem Kreuz an einer Weggabelung einen immer neuen, eigenen Tod. Die Berge grüßten nicht, für sich schwangen sie in fernen Sphären. Die Tiere im Wald flohen vor ihm, flohen vor seinen Tritten, flohen vor seinem Atem, flohen vor seinem Hunger. Begegnete ihm einer der Dorfbewohner, schreckte dieser zurück. Erkannte gleich, er war keiner von ihnen, sie trennte mehr als nur die unterschiedliche Art, den Körper in der Welt zu behaupten. Er gehörte hier nicht einmal als Gast dazu, als jemand, der wieder ging. Denn wer von wo geht, muss dort erst einmal Halt gemacht haben. Quantenspringer aber blieb unfassbar, blieb in der Schwebe, aus der er jederzeit hätte fallen können.

Es dauerte nicht lange und hinter seinem Rücken wurde geredet. Wer das war, was der hier machte, wollte man voneinander wissen. Fremd wirkte der Fremde auf eine eigenartige Weise und wurde fremder, je öfter man ihn zu Gesicht bekam. Eine schreckliche Einsamkeit umgab ihn, wenn er verschwiegen und irgendwie gelangweilt an einem hinteren Tisch im Hirschen saß, mit traurigen Augen die Gaststube und die Menschen darin durchmaß und hin und wieder etwas in ein kleines Notizbüchlein kritzelte. Ewig wolle er bleiben, habe er gesagt. Die Frauen sahen ihm nach, wenn er durch die Gassen zog, blickten im Gasthaus scheu zu ihm herüber. Auch die Kellnerinnen verhielten sich irgendwie verlegen in seiner Nähe, selbst die Wirtin verlor ihre resolute Haltung und wurde beinah freundlich. Und die Leonie hatte plötzlich wieder Hunger und kam aus ihrem Zimmerchen im Keller und verlangte in engem Stoff nach Essen, aber nur wenn der Schriftsteller in der Stube saß. Den Männern im Dorf war er naturgemäß bald unheimlich. Die kantigen Kieferknochen, das unrasierte Gesicht, die hohe Stirn. Aber die wässrig wirkenden Augen und ein hübsch geschwungener Mund gaben ihm wiederum etwas Sanftes. So viel war klar, da saß kein Schweinsgrind vor ihnen, sondern ein Kopf, der an den innewohnenden Geist erinnerte. Die Widersprüche darin. Und die nachbarliche Mesmerin musste einmal mit ansehen, wie er sich zu später Stunde pudelnackert ans offene Fenster gestellt hatte, um, so beschrieb sie es aufgeregt, die Sterne zu küssen. Was war das für einer? Ein Poet? Ein Spinner? Ein Sittenstrolch? Er selbst habe sich als Schriftsteller bezeichnet.

Gierig zog diese Information von Mund zu Ohr wie ein um sich greifendes Feuer. Josef Quantenspringer? Der komische Name war bald gefunden im Netz. Dichter und Autor, Kult geworden mit einem Buch namens Mein Krampf. Ein Heimatroman, der von Bergeshöhen, Trachtenjankern und Heimattreue, aber auch vom Saufen, vom Ficken und von in Kokainräuschen vollgeschissenen Betten handelte. Nestbeschmutzer schimpfte man, Popliteratur ätzte die Kritik. Aber der Aufschrei im Land, der weit über die Bergspitzen hinausgehallt war, hatte ihm zu Ruhm und einem Batzen Geld verholfen. Doch seit diesem Erfolg, und der war sieben Jahre her, hatte er nichts Gescheites mehr hinbekommen. Das Netz verriet noch mehr: Aufgewachsen war der Schreiberling nämlich in einem Tal nicht weit von hier, geboren aber wurde er unter dem Namen Kantinger Josef, und sein Vater war der in der Region bekannte Holzbildhauer Kantinger Werner. Schließlich brannte sich vor allem eine Frage in die Köpfe der Einheimischen und glühte selbst im harmlosen Tratsch: »Schreibt er über uns?«

Man fing an, den Schreiberling zu beobachten, was er hier beobachten könnte. Der Stammtisch schaute, was er schaute. Quantenspringer aber schaute, ob sie schauten, wenn er schaute.

»Er wird hier nichts finden!«, winkten die einen ab mit flatternder Hand, während ein in der heimischen Literatur bewanderter Pensionist beruhigte: »Am Ende zerfleischt er sich doch nur selbst.«

Doch auf Quantenspringers Tischchen blieben die Blätter jungfräulich, warteten vergeblich darauf, von ihm befleckt zu werden. Fing an und blieb solange auf einem Wort sitzen, bis er von diesem herunter- und in die gähnende Leere dahinter stürzte. Einmal schreckte ihn dabei sein Telefon aus dem Schlaf: Ob er gut angekommen sei, wie es ihm denn gehe? Zum Kotzen gut? Sein Verleger, der Schweinehund. Gleich schwappte ein Text in Quantenspringers Gehör: Die frische Luft werde ihm guttun! Das werde schon! Nur nichts wieder verknoten! Entspannen müsse er sich! Nur nicht zu viel wollen, dann laufe es schon! Wahrlich, dieser Mann war ein Dampfhammer, der ihn unaufhörlich antrieb.

Zurück konnte er jetzt nicht, nicht mit leeren Händen, nicht halb verrichteter Dinge. Nicht jetzt gleich schon. Nicht ohne eine Geschichte, ohne wenigstens ein Wort mitgebracht zu haben. Was auch tun in der großen Stadt? Dort blühten bloß wieder die Neurosen, brachten aber keine Frucht. Er musste wohl oder übel hierbleiben, musste sich seinen Dämonen stellen, musste hier die Wahrheit finden, dieses Tal durchschreiten. Punkt. Gut, dass er noch etwas Wacholderschnaps in der Flasche fand … böse Geister, die fliehen. Ruhig Blut, alter Knabe, alles wird gut! Es wird sich dir hier schon noch etwas auftun! Du bist doch erst angekommen, musst erst einmal die frische Bergluft ertragen!

Der Föhn blies und blies stärker und stärker, jagte die Temperaturen im Tal noch einmal auf zwanzig Grad, machte Tier und Mensch gleichermaßen fickrig. Ein Wetterumschwung deutete sich an, man sprach von Schnee, der folgen sollte. Bis zum Nachmittag zeigte sich der anfangs strahlende Himmel bereits vollständig geschlossen, dunkle Wolkenschiffe schoben sich von Südwest über die Berge und verdichteten sich zu einer grollenden Masse. Bald schon fauchten erste zornige Böen über sich beugende Wälder hinweg, die jaulten und polterten und mit den Wipfeln aneinanderschlugen, als tanzten sie einen wilden Hexenreigen. Heulend griffen sie ins Dorf hinein und pfeifend an Mauern und Dächern vorbei und rissen dabei scheppernd lose Tafeln und Abdeckungen um und mit, auch ein am Ortseingang gespanntes Banner mit einem dornengekrönten Jesus als Werbung für ein Passionsspiel darauf flog in Fetzen zerrissen davon. An den unzähligen Kanten, Felsvorsprüngen und Höhlen der umliegenden Berge hob der Wind ein aberstimmiges Gezeter von solch schauriger Tonart an, als hätten die Steinkolosse beschlossen, dem Dorf sein Untergangslied zu singen, und manch altes Weiblein, dem Aberglaube noch immer sehr verbunden, glaubte in dem Gejaule beinah die sieben Posaunen der Apokalypse auszumachen. Noch bevor die hereingebrochenen Schatten des Abends sich verfinstert hatten, hatten die unheilvollen Stimmen des Sturms gänzlich das Sagen im Dorf übernommen. In den Gassen zwischen den Häusern war keine Menschenseele mehr zu sehen, ein Blatt Papier, altes Laub, eine Plastiktüte fegten durch, und das im Höllentempo. Die dürren Zweige winterlich nackter Büsche wurden gnadenlos im Sturm hin- und hergerissen, bereuten es, hier an diesem Ort, in diesem Tal Wurzeln geschlagen zu haben und genau aus diesem Grund nicht mehr wegzukommen von ihrem peinigenden Hier und Jetzt. Im Hirschen war keine Menschenseele anzutreffen und die Küche blieb kalt, so sangen einzig die knarrenden Balken des Dachstuhles ein unheimliches Opus. In Quantenspringer rumorte bald schon wieder der Hunger, endlich erhoben sich unten in der Stube erste Stimmen, die Einheimischen kamen geballt. Wieder schlüpfte er in die Haut seiner Lederjacke, strich sich die Haare zurecht und tappte die Treppe hinunter.

Das ganze Dorf war jetzt da. Alle Bänke waren belegt, Stühle mussten extra herbeigebracht werden. Die Tür zur Küche wurde aufgerissen und heraus flog die Wirtin, schob im Dirndl ihre prallen Rundungen und in ihrer Hand ein Tablett mit schäumenden Bierkrügen an ihm vorbei und wuchtig in die jauchzende Menge hinein. Ihr folgte eine Kellnerin mit hölzernen Platten, belegt mit würzigen Landjägern, fettem Speck und streng riechendem Käse. »Elena, Elena!«, kam es aus den sabbernden Mäulern. Die Ausschankgehilfin Angelika stand hinter dem Tresen und war damit überfordert, dem Durst der Gäste nachzukommen. Umständlich und die Arme verdrehend ließ sie das Bier in die Gläser schäumen. »Angelika, Angelika …«, seufzte die Wirtin, den das Hemd sprengenden Leib ihrer Gehilfin beiseite drängend und schnurstracks Glas um Glas selbst füllend. Es dauerte, bis Quantenspringer bestellen konnte, und es dauerte, bis er endlich sein Wienerschnitzel serviert bekam. Wienerschnitzel, Wienerschnitzel, jeden Tag wieder so ein weich geklopftes und dann paniertes Stück Fleisch. Vergeblich hatte der Wirt versucht, ihm ein Stück vom selbst erlegten Reh anzudrehen.

Wie plötzlich alles anders war hier drinnen als sonst, wie der Saal plötzlich bebte und die Wände keuchten. Mit seinem Gehör wanderte Quantenspringer hinein in das auf und nieder schwappende Raunen eines auf ihn zubrechenden Stimmenmeeres. Die bärtigen Männer mit den langen Haaren verloren sich in den üblichen Themen, zwischen ihnen klemmten ein paar Frauen, die die Köpfe zusammensteckten oder damit beschäftigt waren, ihre aufgekratzten Kinder im Zaum zu halten. Es wurde aber auch über Jesus debattiert. War der Messias der fromme Gottessohn oder doch eher ein Rebell, vielleicht sogar ein menschlicher voller Wut und der Lust am Umsturz? Haben die Juden den Heiland ans Kreuz gehauen oder doch eher die Römer? Hatte der Erlöser eine Frau unter seinen Brüdern?

Denn mit dem Beginn der Proben für das Passionsspiel hatten sich die Einheimischen bereits vom Alltag ab- und einer biblischen Zeit zugewandt. Ein mehr als zweihundert Jahre altes Gelübde wollte erfüllt werden. In einem besonders schneereichen Winter hatten damals die Dorfbewohner einander und Gott geschworen, alle fünf Jahre das Leiden und Sterben Jesu Christi aufzuführen und sich die Bärte und auch die Haare wachsen zu lassen, wenn er ihr Dorf noch einmal vor Lawinenabgängen verschonte.

Mit zunehmender Dauer des Abends an den bierseligen Tischen des Hirschen aber verlor der Sog des Gelübdes seine Kraft, verflog der Ernst der Leidensgeschichte. Bald lachte man über Versprecher, wenn jemand den Text vergaß oder allzu sehr der blieb, der er immer war. Man stritt sich darüber, wer der geeignetere Darsteller dieser oder jener Rolle wäre. Sprach im Spaß dem anderen die Qualitäten für die von ihm gespielte Figur ab oder fand allzu viele Ähnlichkeiten mit ihr. Herzhaft wurde einander nachgeäfft und schnell schwappten heiter Drohungen und Verwünschungen von einem Tisch zum anderen. So preschten die Stunden unaufhaltsam durch den Abend. Den Schaum aus den Mundwinkeln wischend trieb man sich gegenseitig immer weiter einer dröhnenden Seligkeit entgegen. Ein allgemein wachsendes Selbstwertgefühl hob den Lautstärkepegel und führte das Gelächter und Geschwätz in immer schrillere Höhen, und gemeiner wurde es, je länger der Abend dauerte. Darum bettelnd war den Einheimischen der Alkohol rasch in die Gemüter gezogen. Aus den Mündern drang der säuerliche Geruch des Bieres, stachen die Fahnen vom scharfen Schnaps, und der zudringliche Hauch des zuvor Verspeisten entwich aus allen Körperöffnungen. Runde Gesichter schwollen an und erröteten, hagere fielen in sich zusammen und wurden blasser. Die Adern in den Augen platzten und färbten das Weiß des Apfels rot, wie ein von Blut angelaufenes Fenster, hinter dem gerade eine Sau geschlachtet wurde. Die junge Kellnerin saß den Kerlen bald schon reihenweise auf dem Schoß. Und manch noch so wackeres Mannsbild geriet bereits ins Wanken.

Da ging die Tür noch einmal auf. Herein trat ein altes, bis auf die Knochen abgemagertes Männlein, das neben dem eigenwilligen Aufzug, in dem es steckte, vor allem deshalb auffiel, weil in der Stube plötzlich alles still wurde und sich nach ihm drehte. Getuschelt wurde gleich und auch gelacht. Denn bekleidet war der Alte nur mit einem Leinentuch, das er sich um seine knochigen Gebeine gewickelt hatte, und seine sehnigen, verschrobenen und eingerissenen Füße, aus denen gelbe verbogene Nägel wucherten, trotzten der kalten Jahreszeit nackend. Im Gesicht prangte ein wilder, schmutziger und ergrauter Urwald von einem Bart, und über eine in unzählige Falten geworfene Stirn fielen wirre, fettige Haare. In seinem Schritt aber erhob sich aufreibend die Beule einer Erektion.

Der Krämer Elias. Jeder im Dorf kannte ihn, kannte ihn als eigensinnigen, aber rechtschaffenen, grundehrlichen, ja gottesfürchtigen Mann bis zur Selbstaufgabe. Einer, der schon immer und zu jedem Anlass in seinen verdreckten Stallhosen und in Gummistiefeln erschienen war, meist mit nicht gekämmtem Haar auf dem spitzen Kopf und einem strengen Geruch am Leib von der Arbeit auf dem Feld und beim Vieh. Aber jetzt in diesem Aufzug! Denn jeder wusste, der Alte war einer der wenigen im Dorf, die nicht mitmachten beim Passionsspiel.

»Elias«, rief Bürgermeister Eberle dann, »was ist denn in dich gefahren?«

Mit irrem Blick ging der Alte erhabenen Schrittes durch die Menge hindurch, Stühle ruckelten auf die Seite, wer ihm im Weg stand, wich zurück. Mütter zogen ihre Kinder zu sich heran. Männer verschränkten die Arme. Der alte Jakob, der Orgelspieler der hiesigen Pfarre, bekreuzigte sich schon. Hau, Mau und Sau unterdrückten vergeblich ein Prusten. Ein Junge zeigte mit gewitzten Fingern auf die Erhebung im Schoß des Alten. Der aber, in der Mimik unberührt, lief auf zittrigen Beinchen an allen vorbei und kletterte auf den Tresen.

»Elias, du bist ja sturzbetrunken!«

»Der Herrgott!«, rief der Alte dann mit schriller Stimme und einer Dominanz, die ihm keiner zugetraut hätte. »Der Herrgott wird euch alle richten. Die Guten von den Bösen, die Spreu vom Weizen werden getrennt! Sehet euch vor!«

Die Menge erstarrte.

»Elias, beherrsch dich. Komm wieder runter, bevor es dich runterhaut!«, fasste sich einer ein Herz.

Der Alte aber riss die Augen weit auf, fuhr mit dem Zeigefinger drohend gegen die Decke und völlig unbeeindruckt ließ er sogleich gellende, am zähen Speichel klebende Worte in die Menge regnen.

»Nicht ich stürze Israel ins Unglück, sondern ihr, und eures Vaters Haus dadurch, dass ihr des Herrn Gebote missachtet habt!«

Man sah einander an, wurde lustig. »Komm, Elias, beruhig dich wieder, geh und schlaf deinen Rausch aus!«

Der Alte aber bebte weiter, und das zur wachsenden Unterhaltung, denn man ließ sich jetzt gerne von dem Verrückten beschimpfen und bedrohen, kam so etwas in diesem Extrem doch nicht alle Tage vor.

»Was schwankt ihr nach zwei Seiten?«, rief er fragend in den Pulk und erwartete keine Antwort. »Was wandelt ihr den Baalen nach?«

»Mein Gott«, schlug die bibelfeste Anneros die Hände vors Gesicht, »das sind die Worte des Propheten Elija! Der Elija glaubt er zu sein!«

Es raunte.

Der Elias warf jetzt einen wilden Blick auf die Menge unter ihm: »Es werden Tage über euch kommen«, erhob er wieder seinen Finger, während sein Zorn von Neuem zu glühen begann, »da werden eure Feinde einen Wall gegen euch aufwerfen, euch ringsum einschließen und von allen Seiten bedrängen und eure Häuser dem Erdboden gleichmachen und euch eure Kinder holen. Denn kein Stein wird auf dem anderen bleiben! Weil die Zeit eurer Heimsuchung wolltet ihr nicht sehen und wolltet nichts hören von den mahnenden Rufen des Herrn!«

Aber die Menge lachte nur wieder.

Der Elias wurde lauter: »Der Tag wird kommen, da wird der Herr richten die Toten und die Lebenden, und es wird ein Verderben werden für die Zwieträchtigen, ewiges Leben aber und Friede für die Einfältigen und Gerechten! Der Tag wird kommen, da werdet ihr euch entscheiden müssen! Und der Tag ist nah, nah! Aber die Rechtschaffenen vor dem Herrn, die werden den Heiland erkennen und werden ihm folgen in das offenbarte Himmelsreich, die aber, die Böses taten und sich groß machten und Gott lästerten, die werden mit den Bergen und den Tälern und allem, was sich in und auf ihnen angesammelt hat, untergehen! Sie werden um Vergebung schreien und sie werden die Hände zum Himmel reißen, aber keiner im Himmel und auf der Erde wird sie mehr hören, weil sie nicht hören wollten, als der Herr ihnen zu hören gab, und sie nicht sehen wollten, als sie zu sehen bekamen. Denn der Vater hat seinen Sohn unter sie geschickt, damit sie ihn erkennen und aufhören mit ihren frevlerischen Lügen!«

Hau, Mau und Sau quiekten auf. Kinder bekamen aber Angst und ihre Mütter wandten sich ab, während die Herren vom Stammtisch einander die Köpfe zusteckten. Der Elias war ja außer Rand und Band, das war kein Schauspiel mehr, auch kein außer Kontrolle geratener Rausch, der schien es ernst zu meinen!

Heller schnappte sich den Hau, vorsichtig hangelten sie sich dem Tresen entgegen. Die zwei groß gewachsenen Männer hofften, den Irren packen und zur Ruhe zwingen zu können, wenn er es schon nicht von selbst tat. Der Alte aber, gewahr, dass ihm da jetzt jemand das Wort nehmen wollte, zerbarst nun schier in seinem Eifer. Prall gefüllte blaue Adern traten am Hals und an der Stirn hervor, den zahnluckigen Mund riss er derart weit auf, dass man glaubte, direkt in den Abgrund der Hölle zu blicken. Sich hastig bückend, dabei tobend, griff er vergeblich nach etwas Losem, griff nach Bierdeckeln, Flaschenöffnern, Gläsern, nach allem, was er greifen konnte, was ihm aber alles sofort wieder aus den zittrig starren Fingern glitt, um schließlich in letzter Verzweiflung wütende Luftgeschosse auf die beiden zu feuern.

»Wagt es nicht«, fauchte er sie an, »oder das Feuer der Hölle wird euch versengen!«

Die beiden zogen sich erschrocken zurück, erahnend, dass der Krämer gerade zu allem fähig war und dass es dies wacklige Gestell am Ende vielleicht doch noch von seiner Kanzel warf.

Bald kam die Polizei, sie kam leise und sie kamen zu dritt. Sie mussten nichts sagen, der Pulk stob auseinander wie das von Moses Stab geteilte Meer Sinais. In blauen Uniformen machten sie sich die Umstände gehörig. Scharfen Blickes schauten sie in die Menge, erpicht darauf, den gewonnenen Raum nicht wieder herzugeben.

»Dieser Kristallpalast, der ist euer Grab! Höllenhunde, Nichtige! Elendige!« Noch einmal schwang der Alte trotzig seine schrille Stimme in bislang unerreichte Höhen, spuckte glühende Wortsalven aus sich heraus und wüste Drohungen und Beschimpfungen, und die bereits in einer Sprache, die keiner mehr verstehen konnte. Aber hinter den Nebel seines Wahns war doch eingedrungen, dass sie ihn jetzt holen kamen.

»Komm, Elias, es ist gut. Wir gehen jetzt die Vögel füttern. Die Vögel haben Hunger. Die Vögel fliegen uns sonst noch davon«, sprach Lechner mit süßer Stimme.

Und der Elias schien als Einziger zu verstehen, was der Polizist als Nachbar mit diesen Worten meinte. Denn plötzlich riss er seinen Blick aus den Gesichtern vor seinen Augen und hinein in das rosafarbene, allzu gutmütige Gesicht des vor ihm erschienenen Beamten, und seine Stimme stürzte hinab in das letzte Zittern eines von Wassern plötzlich besänftigten Feuers.

»Die Vögel? Die Vögel … die Vögel habe ich gefüttert heute Morgen … sie haben mir wieder aus der Hand gepickt. Aus der Hand picken sie mir! Ihre warmen, feuchten Zungen spüre ich dann auf meiner Haut, ihre piksenden Schnäbelchen! Die Vögel, die lieben Vögel.« Er lächelte jetzt unendlich sanft.

Lechner kam vorsichtig an den Tresen, streckte seine Hand dem Elias entgegen, keiner traute sich, etwas zu sagen.

»Höllenfeuer!«, kam es doch noch einmal hervorgeschossen, aber die Stimme war bereits gebrochen, der Elias so gut wie ausgeglüht. Als der Polizist den Alten schließlich packte, war er bereits in sich zusammengestürzt, zerknüllt zu einem unlesbaren Knäuel. Der Krämer wurde vom Lechner auf den Boden geholt, an eine Bahre gebunden fuhr man ihn im Rettungswagen hinaus ins Land und dann hinauf ins Nachbartal, wo die allseits gefürchtete Nervenheilanstalt Maria Höhe sich befand. Er sollte in sein geliebtes Dorf, das er zeitlebens kaum verlassen hatte, nie wieder zurückkehren dürfen.

Quantenspringer zog hinaus in die Nacht. Zündete sich eine Zigarette an, zog ein, blies aus. Dehnte die Zeit, öffnete den Raum. Der Himmel rückte ihm näher. Noch fand er darin den Mond und die Sterne leuchten. Schon preschten aber Wolken über die Berge, wurden vom Wind auseinander und sogleich wieder ineinander geworfen, denn was zueinander will, muss erst auseinander sein. Formen entstanden, Formen verschwanden, ein ständiges Werden und Vergehen, da gab es kein Festhalten. Was nicht ist, wurde, was ist, war. Ein ständiger Wandel, ein ständiges Wachsen. Eine beeindruckende Masse an Wolken, wie Gedanken kamen sie daher und zogen wieder weg, erzählten eine immer andere Geschichte, schlugen immer neue Kapitel auf. Ein niemals endender Schwall an neuen Worten. Wortlos das beobachten können, wortlos das ertragen und sich bloß im Schauspiel des Himmels vergessen, wieso wollte ihm das nicht gelingen? Wozu zogen immer wieder neue Worte zwischenrein? Deutungen, Bewertungen, Benennungen, Bedingungen. Warum hörte das denn niemals auf? Worte über Worte. Sein ganzes Leben bestand doch aus Worten, aus Worten, die er einmal angefangen hat auszusprechen oder nur zu denken, und einmal ausgesprochen oder gedacht wurden sie Wirklichkeit, wurde die Wirklichkeit festgenagelt, und mit neuen Worten, die er wiederfand oder auch erfand, umschrieb er nur, was sich nicht beschreiben ließ. Einmal die Worte gefunden wollte er sie nicht mehr verlieren. Vielleicht war deswegen sein Leben, war deswegen sein Schreiben kein Fließen mehr, und womöglich war darum sein Leben wie sein Schreiben und sein Schreiben wie sein Leben: ein klammsteifes Festhalten bis zur Erstarrung. Und jetzt fand er sich doch wieder nur selbst, wie er sich selbst dabei im Wege stand. Wie er Worte um etwas spann, das auch ohne seine Worte spann. So geriet er doch wieder ins Grübeln, ließ sich stören von quälenden Gedanken, fiel aus der Nacht und ihren Geheimnissen zurück auf das harte Pflaster zwischen den Häusern. Unmöglich war es ihm, sich einfach in die Dunkelheit der Nacht tragen zu lassen und wie ein Stern fern darin zu erleuchten.

Der Krämer Elias. Wieder so eine Geschichte, wieder so ein Einfall, wieder so ein Fall. Da kam es ihm plötzlich. Quantenspringer zog sein Notizbüchlein aus der Brustinnentasche seiner Lederjacke. Vergeblich pochte sein Herz so oft gegen den harten Einband um Einlass, jetzt aber öffnete er es mit getriebener Hand und verfasste genau einen Satz, der die gerade gewonnene Idee zusammenfassen sollte: Jesus kommt zurück und rückt gerade, was sie einst verrückten. Was beim einen Wahnsinn war, war beim anderen Literatur. Und als er seinen Blick wieder in den Himmel hob, wurde er gewahr, wie aus den Wolken, die nun zu einer undurchdringlichen Masse zusammengeschoben waren, die ersten zarten Flocken Schnee auf ihn herunterfielen.

II

Und das Wort ist Fleisch geworden

Und es geschah, dass Jesus zwei Jünger nach Betfage sandte, um dort ein Eselsfüllen zu finden, es loszubinden und zu ihm zu bringen. Doch der ausgefahrene Finger zitterte, während er so sprach. Träge aber schlurften Petrus und Johannes dahin wie zwei Lebemänner, warfen auf das vor ihnen ausgerollte Geschehnis einen gleichgültigen Blick und schmunzelten spöttisch, als könnten jederzeit zynische Sprüche aus ihren Mündern dringen. Das Füllen, das sie fanden, war aber gerade läufig und damit eigensinnig.

Eine Gruppe Männer stand da an eine Mauer gelehnt, schwatzte und rauchte und kaute auf der Betel und tat dabei so, als ob sie völlig entspannt wäre.

Petrus, einer, der gerne redete, sprach mit einer Stimme, die lakonisch war: »Der Herr hat uns geschickt, ihm dieses Füllen zu bringen. Denn es soll erfüllt werden, was bereits erfüllt ist!«

Aus der Gruppe der Männer rief einer zurück, wieder so, als wäre ihm vorgeschrieben worden, was er sagen sollte: »Was sind das für Worte, die ihr da sprecht? Was für einem Herrn folgt ihr?« Das war der Besitzer des Tieres, ein Mann, der bekannt war als einer, der grausam zum Vieh sein konnte. Nun lachte er höhnisch, damit es ihm die anderen nachtaten. Und auch die anderen lachten.

Die Jünger antworteten, redeten abwechselnd und doch dasselbe: »Er ist der König der Juden und er wird auf dem Esel nach Jerusalem reiten, um den Thron zu besteigen, der für ihn bestimmt ist.«

Aber die Männer lachten wieder ob der seltsamen Worte, die sie da hörten. Sie alle waren Bauern und dienten schon ihr Leben lang der Arbeit, auf ihren Feldern wähnten sie sich selbst als Könige. Wer sich da ihr König nennen wollte, wurde von ihnen mit Spott bedacht.

»Und was soll das für ein König sein, der auf einem Esel dahergeritten kommt?«

Petrus wurde jetzt zornig: »Sein Reich ist nicht von dieser Welt. Er kann über Wasser gehen und Wasser verwandelt er in Wein.« Aber ein Zweifel zeigte sich, der sich in seine Worte schwang.

Die Männer brüllten jetzt vor Lachen und klopften einander an, denn das konnten sie. Dann solle ihr Herr doch mal bei ihnen vorbeikommen, Wasser nämlich führe ihr Brunnen genug!

»Nehmt den Esel, so einen König haben wir gerne!«

Und Petrus und Johannes banden das Füllen los und führten es an den Ort, wo Jesus und die anderen Jünger auf sie warteten. Sie legten ihre Kleider auf das Tier und halfen ihrem Herrn hinauf, der sich auf diesem aber nur wacklig halten konnte. Mit aufgesetzter Würde klemmte er jetzt auf dem Rücken und verkrampfte dabei, die Jünger aber trieben das störrische Vieh nun an, und das wie blöd, denn unter den Hieben sollte der Esel die Lust nach einer Eselsdame vergessen. Sie kamen nach Jerusalem, in die Heilige Stadt mit den mächtigen Mauern und Gebäuden, die gelb waren wie das Gestein und der Sand der umliegenden Gebirge und Wüsten, mit der aus dem Dunkeln ragenden goldenen Kuppel des Tempels, den Säulen und Balustraden des Palastes, den erhellten Fenstern der Pharisäerhäuser. Auf dem Marktplatz waren Menschen versammelt, die Roben in allen Farben trugen oder auch bloß graue Fetzen, auf nackten Füßen liefen oder in ledernen Sandalen und sich um Bänke und Tische scharten, auf denen Gewürze, Früchte und Gemüse oder übereinandergestapelte Fladen Brot angeboten wurden. Dazwischen gab es Handwerkszeug aus schwerem Eisen und Geschirr und Schalen und Töpfe aus gebranntem Ton. Schwatzend, lachend, feilschend, schimpfend bot das Volk einander Unterhaltung, machte einen Lärm, als ginge es ums Leben. Schafe rannten herum, Ziegen und Hühner. Schöne Mädchen präsentierten sich reizend, denn von überall kamen die jungen Männer her, von nah und fern in ihre Stadt. Sie steckten jetzt die Köpfe zusammen und spitzten kokett auf diese fremden Kerle und beobachteten vor allem ihr wunderliches Gebaren. Sündige Blicke und laszive Sprüche warfen sie hinüber zu ihnen, auf dem Marktplatz einer Metropole wird schließlich alles verkauft. Auch drei römische Soldaten hatten sich unter die Menge gemischt, nichts anderes im Kopf als die von einer Obrigkeit angewiesenen Dummheiten. Feixend und prustend und in klappernden Rüstungen, die Angst und Schrecken erzeugen sollten. Sie hatten sich aber brav ihre Köpfe rasiert. Im Hintergrund weilte schweigend eine Schar Priester, die lapislazuliblaue Roben an den Leibern trug und in den Himmel wachsende Mitren auf den Köpfen. Streng schaute sie auf das Treiben und fragte sich, wohin das alles führen werde. Und Pontius Pilatus erhob sich von seinem Thron und auch er sah den Tumult und beriet sich darum mit seinen Leuten. Einige der Kinder aber mussten lachen und manch Erwachsener folgte ihnen verhalten. Denn der römische Statthalter trug zwar ein kostbares, mit Stickereien verziertes weißes Hemd am Oberkörper, um das ein scharlachroter Umhang gewickelt war und ihm als Herrscher Würde gab und Rang. Darunter aber blitzten seine nackten, behaarten, käseweißen Storchenbeine hervor, die das etwas zu kurz geratene Röckchen nun freigab, und an den blanken Handgelenken klapperten Ketten und Ringe, sodass er mit den im Bühnenlicht schimmernden und glänzenden blauen Augen aussah wie ein grausam schwuler Gigolo, der im Dunkel zwielichtiger Etablissements zu allem fähig war, nicht aber auf dem grell beleuchteten Thron einer Weltmacht. Pontius Pilatus war irritiert ob der ihm geltenden Lacher und wollte schon rot werden an den Backen. Da aber fasste er sich, haute die Züge seines Gesichtes zu grimmigen Ecken und Kanten und beobachtete angefressen, was nun geschehen sollte.

Denn die Menge strömte auf jenen Mann zu, der von sich behauptete, er sei der Messias und könne Lahme gehend und Blinde wieder sehend machen. Und aus allen Winkeln, von allen Seiten eilten sie herbei und zogen und zerrten einander, nur um ihm nahe zu sein, denn jetzt gab es eine Sensation in der Gestalt dieses Fremden! Und sie kamen mit Palmblättern und wedelten damit dem Heiland zu, frohlockten und riefen das Hosianna. Und: »Gepriesen sei der, der da kommt im Namen des Herrn!« Und sie rissen sich ihre Tücher vom Leib und schmissen diese einem Himmel entgegen, der ihnen durch die Ankunft dieses Mannes plötzlich wohlgesonnen zu sein schien. Die Mädchen verschenkten ihre schönsten Blicke nun an den Mann, von dem es hieß, er vollbringe wahre Wundertaten. Der Fleischer vergaß einmal sein Fleisch, so gewahr wurde er dem Geist, der durch das Antlitz dieses Nazareners strahlte. Der Obsthändler traute sich hinter seiner Bank hervor, denn er sah, hier blühte die Frucht des Lebens ewig. Der Töpfer schob seinen wertvollsten Krug beiseite, denn das Gefäß vor ihm in Form dieses Mannes fasste das gesamte All. Und der Engel des Herrn rückte in den Mittelpunkt des Geschehens, denn viel zu oft saß er bloß beiseite, und trällerte jetzt inbrünstig ein Halleluja und durfte beweisen, welch goldenes Stimmchen da in ihm wohnte. Denn wie dieser Mann gerade in ihrer Stadt angekommen war, so waren nun auch sie in ihrer Stadt einmal angekommen, zum ersten Mal waren sie wirklich da. Das Neue Jerusalem, der Traum der Propheten, es war zum Spüren nah.

Doch ein Mann, der sich im Leben als Schnapsbrenner verdingte, fiel auf die Knie und richtete die Hände dem wahrhaftig reinen Geist entgegen. Fiel aber, und das schwerfällig, betete, und das theatralisch. Und die Menge wurde allzu schnell müde in ihrer Begeisterung. Die Freude verebbte, die Stimmen flachten ab. Sie begannen schon wieder über einander zu reden und wollten es auch jetzt nicht lassen, einander zu verlachen. Haben sie sich schon wieder satt gefressen an dem Spuk, trachteten sie bereits nach einer neuen Sensation?

Eine Marktfrau sprach es aus: »Dieser lebensmüde Geck auf seinem Esel soll der Heiland sein?«

Denn der Blick des Heilands verriet Herablassung seinen Mitmenschen gegenüber anstatt Mitgefühl, und seine weisen Sprüche brachen bereits in den krausen Haaren seines Gesichtsschmucks anstatt in den Herzen der nach Erlösung lechzenden Menge. Apathisch ritt er durch das Durcheinander an Armen und Händen, die auf ihn zugeflogen kamen wie träge, fette Vögel, auf dem Rücken des armen Tieres gelangweilt an den Palmblättern und ihm nachgeworfenen Tüchern vorbei und machte noch immer einen fürchterlichen Buckel. Der Heiland war nicht locker genug. Vielleicht, weil der Prozess der Erlösung noch nicht vollendet war. Vielleicht aber auch, weil noch nicht sicher war, ob dieser Mann als Messias keine Fehlbesetzung war.

Da sprang ein Mann dazwischen, der einen dicken Wollpullover und eine Jeans an den Beinen trug. Die lächerlichen Kleider einer lächerlichen Zeit? »Macht weiter«, rief er und fuchtelte wild. Und er fing an, sie zu schelten, weil sie machten, was sie wollten, und nicht, was er von ihnen verlangte. Hannes Bundschuh, der Spielleiter. »Ihr seid jetzt nicht mehr Wirt und Wirtin, Skilehrer und Metallverarbeiter, Banker und Bauer, ihr dürft jetzt die Personen einer bedeutenden Geschichte sein, Menschen, die durch ihre Worte und Taten den Lauf der Geschichte gestaltet haben. Lasst raus, was aus euch rauskommen will!«

Zeit, sich eine Zigarette anzustecken.

Doch Leonie in Gestalt des Engels zeigte auf die Glut im Dunkeln und rief: »Schaut mal, es schaut uns jemand zu!« Und von ihrem ausgestreckten Finger schweifte die Aufmerksamkeit in die Ränge jenseits des Geschehens. Die eine Spannung wich einer anderen, die Glut hatte Quantenspringer verraten. Plötzlich war er mitten unter ihnen. Zwölf mal zwölf Augen, die ihn gefunden hatten.

»Der Schreiberling«, murrte der Wirt in der Robe eines Hohepriesters.

»Soll er uns doch sagen, ob er uns gut gefunden hat«, meinte die Wirtin, die eben noch die Mutter Gottes war. Und der Hannes bat ihn vor an die Bühne zu kommen. Quantenspringer aber drückte schnell die Zigarette in einem Blumentopf aus und gab bloß zurück: »Spielt weiter. Spielen sollt ihr!«

Zwölf mal zwölf Pfeile, die ihn verfolgten, als er, eine nur flüchtige Erscheinung, auch schon wieder im Schneegestöber verschwunden war.

Tief hängende Wolken warfen in den folgenden Tagen eine kniehohe Schicht Schnee in die umliegenden Hänge, auf die Weiden und Bündte im Tal und über die Klippen der Klamm, auf alle Wege, Straßen und Dächer, über parkende Autos, in die Äste von Bäumen und auch auf Stromleitungen. Was sich sonst scharf in den Raum zeichnete, trug nun eine weiche, runde Haube. Formen und Farben verschwanden, Geräusche wurden verschluckt. Eine Stille und Leere breiteten sich aus, gegen die der Mensch sich nun zu stemmen trachtete. In den Gassen gab es plötzlich Leben. Als hätte man einem schläfrigen Kind eine Decke übergelegt, doch sich dagegen wehrend begann es wild zu strampeln. Mit Schaufeln, Hexen, Fräsen räumten die Einheimischen die verschneiten Zufahrten ihrer Häuser frei. Über den Dorfplatz und die Straße hinaus brummten Traktoren mit schweren Pflügen, schoben donnernd den Schnee von der Straße, griffen nach den Haufen und kippten sie in den Tobel hinunter. Helles, hohes Gelächter, Geschrei und Geplärre schwangen zwischen den Häusern, wenn die Kinder die Hänge hinunterrutschten, sich mit Schneebällen bewarfen, die Jungen die Mädchen einseiften und den sonst trägen Alltag des Dorfes nun mit überschwänglichem Puls zum Schlagen brachten.

Was in den langen, milden Wochen des Winters unter den Einheimischen immer und immer wieder beschworen worden war, war jetzt eingetroffen: Am Ende, dann wenn den Schnee keiner mehr brauchte, da kam er dann, und das umso böser. Aber noch wollte keiner es wagen, diesen Kälteeinbruch allzu laut zu verfluchen, brachte dieser doch noch ein paar Nächtigungen in den unterfrequentierten Betten. Mit rasselnden Schneeketten wiegte sich nämlich jetzt eine Kolonne an Wagen im Schritttempo von einer Kurve in die nächste die Klamm hinauf. Dass bloß keiner glaubte mit Sommerreifen daherzukommen. In grellen Skianzügen und mit klobigen Stiefeln an den Füßen klopften die Gäste zu den Skiliften des Schnabel Richard. Der hatte die ganze Zeit über den Himmel umsonst um Schnee angefleht und dabei diesen Winter bereits derart verflucht, dass der sich eigentlich nicht mehr hätte trauen sollen wiederzukommen. Jetzt aber durfte Schnabel den heiß ersehnten Schnee begrüßen. Auf seiner Almhütte, die den Gast am Ausstieg zur Einkehr einlud, drängten sich den ganzen Tag Leute um die Tische, aßen und tranken dabei zu erhöhten Preisen, berauschten sich an Bier und Schnaps, das Ganze untermalt von volkstümlichen Klängen. Die im Winter früher gepflegte Depression, das war einmal. Jetzt herrschte hier oben die Gaudi und nebenbei wirtschaftliche Expansion, das Leben in den Bergen, jahrhundertelang unwirtlich und karg, rentierte sich. Nein, der Schnee war sehr willkommen, nicht nur beim Schnabel, sondern auch in anderer Hinsicht. Weil er nämlich eine Decke bildete, die rein und weiß verbarg, was darunter war und schmutzig und unpässlich sein könnte. Eine Decke, wie sie sich auch über den Fall des Krämer Elias legte.

Im Hirschen, ja im ganzen Dorf wurde nach seinem Anfall zwar von nichts anderem geredet als von dem armen Bauern. Der Prophet Elija glaubte er zu sein! Den Untergang verkündete er! Dass der Heiland wiederkehre! Ja bei Gott, wo gab es denn so was! Immer wieder ließen die Einheimischen die schrecklichen Bilder, die sich ihnen an jenem Abend dargeboten hatten, durch ihre Köpfe stürmen und warfen sie sogleich kopfschüttelnd von sich. Wieder und wieder wurde jener Abgrund heraufbeschworen, der sich da vor ihnen aufgerissen hatte, um als prickelnder Schauer über die Rücken zu schleichen und ein immer neues Gefühl des gewünschten Unbehagens auszulösen. Debattiert wurde, geschimpft, geflucht, auch gelacht, seltener nach Erklärungen gesucht. Aber egal, wie dieses Ereignis gedeutet wurde, ob als lustige oder als schreckliche Geschichte, am Ende blieb man doch darin stecken, und das fassungslos. Was aber doch angenehmer war, als sich im Klaren darüber zu sein, worüber sich niemand im Klaren sein wollte.

Früher habe es doch schon ähnliche Fälle gegeben, beruhigte man sich gegenseitig. Gerade wenn das ganze Dorf bei den Proben war und plötzlich ein Hauch des Himmlischen alles durchwehte. Dann kam es schon vor, dass ein ganz gewöhnlicher Stallbursch auf einmal meinte, ein biblischer Prophet zu sein und zu visionieren begann, glaubte, er könne Kranke heilen, oder gar damit drohte, er sei befähigt Seuchen zu verursachen. Ein Jesus tauchte doch schon vor hundert Jahren auf im Dorf, erinnerte man sich an die Anekdote, als ein Holzfäller und Vater von zehn Kindern von heute auf morgen behauptete, er sei der Erlöser und könne übers Wasser laufen. Um schließlich, unter dem Gelächter der Dorfbewohner, das jetzt von Neuem aufkam, bis zu den Hüften im eiskalten Wasser des Wildbaches zu versinken. Vor nicht allzu langer Zeit, es musste in den späten Sechzigern gewesen sein, beteuerte eine Fabrikangestelltentochter die Jungfrau Maria zu sein. Lief nackend durchs Dorf, um mit aufgerissenen Armen zum Himmel zu flennen, wie schön es doch auf Erden sei. Religiöser Wahn, wusste man Bescheid. Ein Phänomen, das auftauchte, wenn eine labile Seele auf eine hartnäckige Religiosität traf, und für das der Menschenschlag dieses Dorfes eine Schwäche zu haben schien. Die Wissenschaft, die sich sogar damit befasste, verglich es mit dem Jerusalem-Syndrom.

Stellte aber Quantenspringer in den folgenden Tagen Fragen nach dem alten Mann, gab es nur ungern Antworten. Die Wirtsleute wollten darüber nicht sprechen. Dem Wirt zuckte wieder der kleine Finger, er knurrte sich etwas zurecht, nur damit er nicht das sagte, was er sagen wollte, und sagte dennoch das, was er nicht sagte, und als es ihm zu blöd damit wurde, sagte er, dass er jetzt gar nichts mehr dazu sage. Die Wirtin hatte wie immer einiges an Worten auf der spitzen Zunge liegen, entließ jetzt davon aber nur eine einzige Silbe: »Schlimm.« Die wiederholte sie wie ein Kleinkind immer und immer wieder und schluckte den Rest hinunter wie einen scharfen Schnaps. Bei ihr zuckte es nicht im Finger, sondern in den Mundwinkeln, als hätten sich Wirt und Wirtin auch auf diese Art aufeinander abgerichtet. Was der Alte denn mit dem Kristallpalast gemeint haben könnte, fragte sich Quantenspringer erst selbst und dann die anderen, doch man zog nur die Schultern an. Kristallpalast? Keine Ahnung. Doch nach und nach kam es doch hervor. Der Krämer könne damit nur den Bau eines Hotels gemeint haben, das im Hinteren Wildbachtal, im hintersten Zipfel des Tales geplant sei. Ein hochmoderner Komplex aus viel Glas und in der Form eines Kristalls, ein Luxustempel, in dem reiche Russen für viel Geld Wohlgefühle kaufen könnten.

Am Stammtisch tat man so, als beachtete man ihn nicht. Man baute eine Wand vor ihm auf, die aus abfälligen Blicken bestand und sich zwischen ihnen als eine undefinierbare, aber deutlich wahrnehmbare Abneigung bündelte. Wieder wurde vom Schriftsteller geredet als von einem, der im Dorf herumlief und hören wollte, was er nicht hören sollte. Der nach Skandalen, Abgründen gierte. Heller drohte mit Gegenwind, wenn er glaubte, das Dorf und seine Bewohner ausschlachten zu können.

Mit dem Schnee war noch ein neuer Gast in den Hirschen gekommen. Aus den Sümpfen des Nordens war er am Vortag angereist, begleitet von zornigen Winden und grollenden Wolken. Dampfend polterte er bei seiner Ankunft die Stiegen hinauf, machte einen Mordsradau und zog natürlich in das beste Zimmer auf der Sonnenseite des Hauses. Ein Deutscher mit dem Namen Detlef Knorr. Stammgast schon seit siebenundzwanzig Jahren, quasi ein Teil der Familie, wie er selbst sagte, aber keiner von den Wirtsleuten mochte ihn leiden. Noch im Gang nutzte er gleich die erste Gelegenheit, Quantenspringer anzuquatschen. Was er denn von Beruf sei? Schriftsteller, soso. Josef Quantenspringer, diesen Namen habe er noch nie gehört. Ob es sich von der Schreiberei denn leben lasse?