Queerlequin 14: Das Internat - Katja Slonawski - E-Book

Queerlequin 14: Das Internat E-Book

Katja Slonawski

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Beschreibung

"Gertrud stieg von ihr herunter, rollte sich auf den Rücken und seufzte tief. Es klang, als ob es ihr gefallen hatte."Als Julias Eltern der Arbeit wegen nach Stockholm ziehen, wird Julia an Axel Siegfrieds höherer Internatsschule für junge Damen eingeschrieben, um für ein Universitätsstudium vorbereitet zu werden. Die junge Frau fühlt sich dort verloren und als Außenseiterin, aber ihr Stundenplan lenkt sie ab. Schon nach kurzer Zeit ist Julia in ein tiefgehendes Drama mit Gertrud verwickelt, der Königin der Intrige und Manipulation. Dies ist der Beginn einer außergewöhnlichen Freundschaft und lässt ein Verlangen aufkeimen, das immer stärker wird."Das Internat" ist ein Band in der Serie Queerlekin: Erotik, die alle einschließt.-

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Katja Slonawski

Queerlequin 14: Das Internat

Übersezt von Gertrud Schwarz

Lust

Queerlequin 14: Das Internat

 

Übersezt von Gertrud Schwarz

 

Titel der Originalausgabe: Internatet

 

Originalsprache: Schwedisch

 

Coverbild/Illustration: Shutterstock

Copyright © 2017, 2021 Katja Slonawski und LUST

 

Alle Rechte vorbehalten

 

ISBN: 9788726918243

 

1. E-Book-Ausgabe

Format: EPUB 3.0

 

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.

Prolog

Ödeshög, 1958

 

Als es das erste Mal passierte, konnte sie nicht widerstehen, bis sie ausgestreckt auf dem Boden in ihrem eigenen Schweiß lag. Erst da, hinterher, verstand sie, was gerade vonstatten gegangen war. Gertrud stieg von ihr herunter, rollte sich auf den Rücken und seufzte tief. Es klang, als ob es ihr gefallen hatte. Oder klang der Seufzer sarkastisch? Julia starrte weiter an die Zimmerdecke. Ihr Körper zuckte noch vom Höhepunkt. Sie fühlte sich, als ob tausend kleine Schüsse in ihren Unterleib, Bauch und Hals abgefeuert wurden. Sie wog ab, irgendeine Form eines bissigen Kommentars hervorzubringen. Das hier könnte auch überhaupt nichts bedeuten. Vielleicht würde es gegen sie verwendet werden, aber sie war sich ziemlich sicher, dass es niemals herauskommen würde. Das war das Geheimnis von ihnen beiden.

Eine Weile lagen sie schweigend da. Gertrud hustete und steckte sich eine Zigarette an, bot Julia jedoch keine an. Etwas Unheilvolles lag über der Situation. Was taten sie hier eigentlich gerade? Julia bekam das Gefühl, dass es genauso gut eine Verarschung gewesen sein könnte und dass jetzt gleich ein paar kleine Mädchen auftauchen und kichernd auf sie zeigen würden, wie sie nackt und entblößt mit Staub in den Haaren da lag. Gertrud war die Eroberin, und plötzlich war sich Julia überhaupt nicht mehr sicher, dass das, was heute Abend geschehen war, wirklich zwischen ihnen stattfand.

Doch nichts passierte – keine kleinen heranlaufenden Füße, kein Kichern. Gertrud lag reglos und schwer neben ihr, wenn auch nicht so nah, dass sie einander berührten, aber Julia spürte die Wärme, die unter ihrer Bluse hervorströmte. Ihr Herz hatte sich wieder beruhigt, der Schweiß war getrocknet. Gertruds Zigarette war fast aufgeraucht. Der Moment war vorbei. Julia ärgerte sich, ihn nicht besser genutzt zu haben, nicht Gertruds Hand genommen zu haben. Warum hätte sie es allerdings tun sollen? Sie richtete sich auf und zupfte ihre lose an ihr herabhängenden Klamotten zurecht. Ohne Gertrud anzusehen, ging sie aus der Tür. Hinter sich hörte sie Gertruds Stimme.

„Wohin gehst du, Liebling?!“

Gertruds Stimme klang neckend, aber nicht auf die liebevolle Art wie vor einer halben Stunde, als sie sich auf dem Boden des Dachbodens geküsst hatten. Tief in Julia erwachte die Wut. Wie hatte sie nur so dumm sein können? Wie konnte sie sich derart unterwerfen? Gertrud hatte ihre Wange gestreichelt, und Julia hatte sich der Verführung sofort hingegeben. Das war ein Zeichen von Schwäche, das war ihr klar. Wenn sie etwas gelernt hatte, seit sie hier angekommen war, dann jenes – niemals den Kopf zur Seite legen zu dürfen. Und jetzt hatte sie ihre verletzlichste Seite auch noch freiwillig präsentiert – im wahrsten Sinne des Wortes. Scham und Wut trieben ihr daraufhin die Tränen in die Augen, und sie stolperte die Dachbodentreppe zum einsamen Flur hinunter. Dort angekommen, blieb sie stehen und lauschte. War das Gertrud, die ihr folgte? Julia fühlte sich beobachtet, konnte das Gefühl aber nicht genau lokalisieren, geschweige denn sich richtig darauf konzentrieren. Einen Moment später brach die Welt mit all ihrem Gewicht über ihr herein, und sie lief weiter. Als sie ihren Schlafsaal erreichte, hatte sie jede Fassung verloren.

Kapitel 1

Es war Anfang September, als Julia Hammar in der Schule ankam. Sie war allein mit dem Zug von Stockholm nach Ödeshög gefahren und hatte dann mit ihrem Gepäck die unwegsame Strecke zur Schule hochgehen müssen, die sich etwa einen Kilometer vom Bahnhof entfernt befand. Axel Siegfrieds Internat für junge Frauen nahm seine Schülerinnen etwas länger auf als andere Internate, weil sie diese auf eine Zukunft als Universitätsstudentinnen vorbereiten sollte. Deshalb wurde das Internat als radikal angesehen, auch wenn es im Ausland noch exklusivere Schulen gab.

Julias Eltern, die gerade von Frankreich in die Heimat zurückgezogen waren, fanden, dass die Schule Axel Siegfrieds in einer guten Entfernung von Stockholm gelegen war – gerade so weit weg, dass Julia testen konnte, ob sie bereits flügge war, wie sich ihre Eltern ausgedrückt hatten, aber doch so nah, dass die Tochter ab und zu nach Hause kommen konnte.

Diese Lösung war als vorübergehend gedacht, da Julias Eltern sich als Freigeister verstanden. Nach vier Jahren in den experimentellen Künstler*innenkreisen in Paris hatten sie das Angebot bekommen, in Stockholm zu unterrichten, und Julia wurde kurzerhand ins Internat gesteckt, um in der Anfangszeit nicht im Weg zu sein. Ihre Entwicklung zur Selbstständigkeit wurde als Grund angegeben, aber Julia wusste genau, warum sie gehen sollte.

Am Ende hatten ihre Eltern sie nur durch den Kauf einer teuren Polaroidkamera zum Schweigen bringen können – so eine, wie die Journalist*innen in Frankreich sie zu benutzen pflegten. Und selbst dann war Julia noch höchst widerwillig in Stockholm in den Zug gestiegen. Auf der Hinfahrt hatte sie beschlossen, in allen Fächern Bestnoten zu erreichen, damit sie an einer Pariser Uni angenommen würde und dann als Journalistin arbeiten konnte. Das war schon immer ihr Traum gewesen, obwohl ihre Eltern versuchten, sie mehr für die Kunstwelt und die Theaterszene zu interessieren.

Als sie den Hügel hinaufstieg, wo die Gebäude von Axel Siegfrieds Internat standen, fragte sie sich, ob alle Schülerinnen diesen Weg nahmen. Sie hatte noch niemanden gesehen. Direkt an der Schule befand sich ein großer Wald, der sich so weit erstreckte, wie ihre Augen reichten. Hinter ihr lag die Stadt mit dem Bahnhof und der Kirche. Dazwischen lagen gelbe Felder. Julia fand den Anblick dramatisch.

 

„Fräulein Lindberg, willst du dich für mich um diese junge Dame kümmern?“

Das offensichtlich weltgewandte Mädchen neben Julia nickte desinteressiert. Es stellte sich heraus, dass die meisten Schülerinnen früher am Tag angekommen waren und dass Julia die Letzte war. Einer Gruppe Schülerinnen war offenbar angewiesen worden, die Neuankömmlinge herumzuführen. Jetzt standen sie herum und hofften, bald gehen zu können.

„Wo muss sie hin?“, fragte das Mädchen neben Julia.

„Zimmer 29“, sagte die Lehrerin.

Das Mädchen nahm eine von Julias Taschen und ging schnell durch die Tür. Julia eilte ihr nach.

„Ich bin übrigens Sally“, rief das Mädchen über die Schulter.

„Julia“, antwortete Julia schnell.

Von innen wirkte die Schule hübscher als erwartet, auch wenn sie mit recht dunklen Möbeln eingerichtet war, die aus der Zeit vor der Jahrhundertwende stammen mussten. Alle Lehrer*innen, an denen sie im Flur vorbeiging, nickten ihr zu.

Sally ging schnell, und Julia hetzte hinterher.

„Die Schlafsäle sind im dritten Stock, genau wie der Klubraum. Die Klassenzimmer sind im zweiten Stock, die großen Säle, die Bibliothek und der Essenssaal im ersten. Die Lehrer*innen wohnen im Erdgeschoss, da musst du also nicht sein. Wir haben einen Dachboden und einen Keller, wo wir Schülerinnen uns nicht aufhalten dürfen, wenn wir nicht gerade Dinge für die Küche holen. Gymnastik haben wir draußen, wenn es das Wetter erlaubt, ansonsten haben wir das in der umgebauten Scheune im Hof. Du musst umgezogen sein, wenn du dort hinkommst. Du kannst jederzeit zu Fräulein Bjärne gehen und dir deinen Sportanzug abholen“, ratterte sie herunter, als ob sie es schon tausendmal getan hätte.

„Habt ihr keine Schuluniform?“, fragte Julia in einem Versuch der höflichen Konversation.

„Keine Schuluniform, aber Blusen und Röcke in gedeckten Farben sind vorzuziehen“, antwortete Sally gelangweilt. Auch das klang wie etwas, das sie schon oft gesagt hatte.

Sie schleppten das Gepäck in den dritten Stock mit den Schlafsälen. Sally ging zu Zimmer 29 und klopfte. Als niemand antwortete, ging sie mit der Tasche hinein.

„Kein Schloss?“, fragte Julia.

Sally kicherte. „Kein Schloss. Hier stehlen alle ständig voneinander, also hast du am besten immer all deine Besitztümer bei dir, wenn du Angst um sie hast. Kommst du jetzt allein klar?“

„Ich glaube schon“, sagte Julia und fragte sich, ob sie wohl Freundinnen finden würde. Erst als Sally mit schlendernden Armen gegangen war, stellte Julia fest, dass Sally ihr zumindest sympathisch war.

 

Etwa eine Woche später hatte sich Julia in die neuen Tagesabläufe hineingefunden. Doch sie fühlte sich noch immer nicht richtig zu Hause und verspürte immer einen leichten Kloß im Hals. Die Schule war stattlich und gleichzeitig schön, aber nicht sonderlich einladend, als ob das Gebäude selbst keinerlei Besucher*innen haben wollte oder als ob etwas Dunkles darin wohnte.

Julias Schlafsaal war ein klaustrophobisch kleiner Raum, der mit vier Betten vollgestopft war, obwohl nur drei Mädchen darin schliefen. Das eine Mädchen war klein und nervös und befand sich im ersten Internatsschuljahr. Von ihr kannte Julia noch nicht einmal den Namen, weil sie in Julias Nähe noch kein einziges Wort gesagt hatte. Das andere Mädchen war in Julias Alter, besuchte schon seit mehreren Jahren die Schule und hieß Marit.

Marit war gegen so ziemlich alles allergisch und hatte ständig eine rote Nase, nieste und entschuldigte sich fürs Niesen. Ihre Hände waren vom vielen Waschen rot und rissig. Julia hatte ihr einmal ihre Handcreme angeboten – eine fettreiche Wunderkur, die sie aus Paris mitgenommen hatte –, aber Marit hatte sie angeekelt angesehen, abgelehnt und etwas von ausländischer Bakterienflora gemurmelt.

 

Der Stundenplan an der Siegfrieds war durchgetakteter als der ihrer vorigen Schule in Frankreich. Die ganze Einrichtung wurde von den Schülerinnen betrieben. Um sieben gab es Frühstück. Um rechtzeitig da zu sein, mussten die Mädchen sich bei ihrer Morgentoilette in dem jeweiligen kleinen Bad stapeln, das an den Schlafsaal angeschlossen war. Um acht hatten sich die Mädchen draußen auf dem Rasen zur Gymnastik aufzustellen, wofür sie Sportkleidung anziehen mussten, danach mussten sie wieder in ihre normale Kleidung wechseln. Von neun bis achtzehn Uhr folgten Unterrichtsstunden mit einer halben Stunde Mittagspause dazwischen. Nach dem Unterricht durften die Mädchen sich vor dem Abendessen um neunzehn Uhr ihre Freizeitklamotten anziehen, während es zwischen neunzehn und einundzwanzig Uhr frei wählbare und einige obligatorische Aktivitäten gab.

Die Schülerinnen organisierten verschiedene Klubs und Gruppen, zu denen Julia bisher nicht mitgegangen war. Um zweiundzwanzig Uhr mussten alle in ihren Zimmern sein, um dreiundzwanzig Uhr mussten sie das Licht ausmachen. Lehrerinnen kontrollierten in unregelmäßigen Abständen, ob sich die Mädchen alle in den richtigen Zimmern befanden und patrouillierten durch den dritten Stock mit den Schlafsälen, damit niemand aufstehen und herumspazieren konnte.

Die Schülerinnen hatten außerdem zusätzlich jede Woche einen rotierenden Dienst. Das konnte sein, im Park helfen zu müssen, Bücher in der Bibliothek zu sortieren, Essen zu kochen oder die Räume zu putzen. An der Siegfrieds gab es durchaus einen festen Stab an Hauswirtschafterinnen, also ging Julia davon aus, dass die Dienste eine Erziehungsmaßnahme darstellen sollten − sie wurden gezwungen, anderen Schülerinnen in der Mittagspause kalte Leberwurstbrötchen zu servieren. Welchen Dienst man in der kommenden Woche haben würde, wurde am Sonntagabend am Schwarzen Brett im Gemeinschaftsraum angeschlagen. Jede Woche endete also damit, dass sich die Mädchen vor dem Schwarzen Brett drängelten, um entweder einen zufriedenen oder einen unzufriedenen Schrei auszustoßen – je nachdem, welchen Dienst sie erwischt hatten.

In ihrer dritten Woche an der Siegfrieds hatte Julia noch immer Essensdienst am Donnerstag, und sie fragte sich, ob beim Sortieren wohl etwas durcheinandergekommen war. Bis dahin hatten sie donnerstags nämlich immer ein Käsebrot zum Mittag bekommen und Erbsensuppe mit Pfannkuchen am Abend. Sie hoffte, dass es diesmal etwas anderes sein würde, weil die Mädchen sich in der Essensschlange schubsten und versuchten, mehr Pfannkuchen und weniger Erbsensuppe zu bekommen. Es endete immer mit einem Streit zwischen den Schülerinnen, die in der Schlange standen, und denjenigen, die das Pech gehabt hatten, beim Küchendienst gelandet zu sein und auf diese Weise bei der bevorzugten Speise grundsätzlich den Kürzeren zogen. Die Essenszubereitung war dennoch unter den Schülerinnen sehr beliebt, weil dieser Dienst am meisten Zeit von der Unterrichtszeit beanspruchte.

Wie an den vorigen Donnerstagen stand Julia eine Stunde vor den anderen auf, um noch in die Küche zu gehen und das Tagesmenü zusammen mit den anderen aus ihrer Gruppe vorzubereiten. Als sie in die Küche kam, war dort bereits Leben und Bewegung. Sie krempelte die Ärmel hoch, wusch sich die Hände und band sich Schürze und Kopftuch um. Schnell wurden sie von der Köchin in drei Gruppen eingeteilt, darunter eine kleinere Mittagsgruppe, die nur Brot schneiden und Essen für die anderen aus dem Keller holen musste. Julia landete in der noch in der Küche verbleibenden Frühstücksgruppe. Zu ihrer Freude bemerkte sie, dass sich auch Sally in dieser Gruppe befand und sich bereits die Verantwortung für den Haferbrei zugeteilt hatte und von daher emsig in der riesigen Schüssel rührte, sodass sich ihre Locken unter dem Kopftuch lösten. Als sie Julia sah, grinste sie breit und winkte ihr zu.

„Hallo auch, hast du auch die Niete gezogen?!“, lachte sie müde, schien aber besser gelaunt zu sein als beim ersten Mal, als Julia sie gesehen hatte.

Es wurde ein netter Morgen. Sally erzählte, dass sie immer etwas früher zum Küchendienst ging, um dabei zu helfen, die schweren Säcke vom Keller hochzuholen und die Küche in Ordnung zu bringen. Im Gegenzug bekam sie Kekse und Karamellbonbons, die eigentlich für die Lehrer*innen bestimmt waren und die sie mit den anderen Mädchen tauschen konnte. Sie wechselten sich während des Gesprächs mit dem Rühren der Grütze ab. Wer nicht rührte, salzte und zuckerte und schmeckte ab.

„Das hier ist der beste Ort, wenn man Gerüchte hören will. Die Haushälterinnen wissen alles.“ Sally hob die Augenbrauen. „Du warst nie in einem Internat, oder? Gerüchte sind hier wie harte Währung. Wenn du weißt, dass jemand nicht zugelassenes Eigentum an der Schule hat oder bei den Prüfungen schummelt, dann kannst du es gegen die Person verwenden. Je besser dein Gerücht ist, desto mehr springt dabei für dich raus.“

Sie schlug mit dem Löffel, dass die Grütze nur so spritzte. Julia musste skeptisch ausgesehen haben, denn Sally fuhr schnell fort: „Wir tun das nicht aus Boshaftigkeit, musst du wissen, es ist nur … So ist es einfach.“ Sie stieg vom Hocker, und sie tauschten die Plätze.

„Und was für Gerüchte gibt es an so einer Mädchenschule? Habt ihr dafür neben dem ganzen Gelerne überhaupt Zeit?“, fragte Julia, während sie in der Grütze rührte.

„Oh, du würdest staunen!“, sagte Sally theatralisch.

Zum Mittagessen gab es erneut Erbsensuppe und Pfannkuchen, aber diesmal mit Schlagsahne von einem Hof in der Nähe. Das Gedrängel in der Schlange war noch schlimmer als sonst. Sally, deren Taschen nach der Extraschicht voller Karamellbonbons waren, hatte dafür gesorgt, dass Julia und sie beim Abwasch landeten und nicht beim Essensausteilen. Von Weitem sahen sie, wie die Mädchen beim Essensausteilen darum kämpften, die Kontrolle zu behalten, während die Schlange immer länger wurde und sich immer wilder gebärdete.

„Sie benehmen sich wie die Tiere“, stellte Sally fest. Sie deckten die Teller der Lehrer*innen ab, die traditionell eine halbe Stunde vor den Schülerinnen aßen. Julia blickte zur langen Warteschlange. Darin entdeckte sie ein Mädchen in ihrem eigenen Alter, mit dunklen Locken und ungewöhnlich aufrechter Haltung. Von Weitem sah sie nicht so aus, als würde sie zu den anderen Mädchen gehören, zur Erbsensuppe und zum gräulichen Licht im Essenssaal.

„Weißt du, wer das ist?“

„Oh, das ist Gertrud. Sie ist eine echte Hexe.“

Gemeinsam stapelten sie das Porzellan aufeinander und trugen es in die Küche. Auf dem Weg kam Julia an der Schlange vorbei. Julias Blick traf auf Gertruds, und etwas in Gertruds Augen blitzte auf. Daraufhin eilte Julia in die Küche und bot an abzuwaschen, während Sally sich ums Einsammeln des schmutzigen Geschirrs kümmerte. In den Wellen des Abwaschwassers fühlte sich Julia wie aufgelöst. Ihre Hände zitterten, als sie mit den klebrigen Tellern hantierte. Aus dem heißen Abwaschraum hörte sie, wie das leise Klirren von Glas und Tellern den Saal erfüllte. In Julias Ohren klang es wie Tropfen am Fenster. Mit jedem Klirren durchfuhr sie ein Stoß. Der Gedanke daran, Gertrud noch einmal zu sehen, ließ ihr Herz rasen.

 

Als sie mit ihrem Dienst fertig waren und Julias Hände vom heißen Wasser und ihrem enthusiastischen Abwaschen rissig geworden waren, schlich sich Sally an ihre Seite und drückte ihr ein Bonbon in die Hand.

„Weil du neu bist, teile ich ein bisschen Tratsch mit dir“, sagte sie und zog Julia zur Seite. „Gertrud ist hier ziemlich beliebt. Sie benimmt sich wie ein amerikanischer Filmstar und wird auch so behandelt. Im Rahmen der Schule und deren Angebote kann sie einem alles ermöglichen, wenn sie es nur will.“

Etwas in Sallys Tonfall ließ ihre Worte nicht uneingeschränkt positiv klingen – und tatsächlich folgte noch eine Einschränkung. „Aber sie bringt auch viele Probleme mit sich. Das ist keine Person, mit der du dich bekannt machen willst, glaub mir.“

Kapitel 2

Julias erstes persönliches Treffen mit Gertrud ergab sich während der Morgengymnastik in der letzten Septemberwoche. Vorher hatte sie das Mädchen nur ab und zu in den Fluren zwischen den etwa hundert anderen Schülerinnen gesehen – immer elegant mit ihren dunklen Haaren und dünn gezupften Augenbrauen.

Julia war nicht naiv. An der Art, wie die anderen Schülerinnen sich um Gertrud herum benahmen, hatte Julia festgestellt, dass man sie entweder bewundern oder Angst vor ihr haben musste, vielleicht auch beides. Gertrud hatte ein glamouröses Äußeres mit sorgfältig geschminkten Lippen und einer stolzen Haltung, aber sie strahlte eine Grobheit und Rücksichtslosigkeit aus, die Julia an Les Misérables erinnerte.

Nun standen sie jedenfalls in der gleichen Gruppe auf dem Rasen und ahmten die Bewegungen der Lehrerin nach. Julia mochte die Morgengymnastik im Gegensatz zu anderen Schülerinnen der Schule. Kalter Tau kroch ihr in die Strümpfe, als sie auf dem welkenden Gras stand, und sie konnte mit ihrem Atem große Wolken formen, da die Luft am Morgen schon sehr kühl war. Es würde demnächst noch kälter werden.

Während der Gymnastik stellten sie sich mit einer Armlänge Abstand voneinander auf, etwa hundert Schülerinnen in weißen Gymnastikkleidern mit dunkelblauen Krägen, die den Bewegungen der Lehrerin folgten. Fräulein Bjärne war unerwartet beweglich für ihre große Körperfülle. Sie führte alle Übungen schnell und korrekt aus – und mit weniger Anstrengung als die Schülerinnen. Julia empfand das Licht, das sich über den großen Wald an der Schule erstreckte, als fast magisch. Immer wieder kam sie aus dem Takt, während sie auf den Wald sah. Sally hatte erzählt, dass sie dort manchmal Runden liefen, und dass es einen Klub gab, der dort Laub, Tannenzapfen und Vögel suchte, um diese dann zu zeichnen und zu bestimmen. Für Julia klang das nach einem langweiligen Zeitvertreib, aber ihre Neugier darauf wuchs, wie es zwischen den hohen Bäumen aussehen müsste. Es schienen vor allem Nadelbäume zu sein, aber auch die ein oder andere Laubkrone lugte hervor. Der Waldrand war so scharf gezogen, dass es so aussah, als hätte ihn jemand mit Gewalt eingegrenzt.