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Seit die fünf Elfenkinder mit ihren geflügelten Freunden den bösen Drachen Vormidorrh besiegt haben, scheint Frieden im strahlenden Tal eingekehrt zu sein. Die Magie ist zurück, doch schon streckt in der Ferne ein grausamer Herrscher seine gierigen Finger nach ihr aus. Er setzt alles in Bewegung, um diese an sich zu reißen, und ein alter Feind erwacht aus den Schatten der Schlucht der Dunkelheit. Die Auserwählten werden vor schwere Entscheidungen gestellt und sie erbringen große Opfer, die sie sich nie erträumt hätten. Der Kampf um die Magie beginnt. Doch was hat Quintarrh mit all dem zu tun?
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Veröffentlichungsjahr: 2021
Patricia Gasser & Aaron Reder
Quintarrh
Kampf um die Magie
Patricia Gasser & Aaron Reder
Quintarrh
Kampf um die Magie
© 2021 Patricia Gasser & Aaron Reder
Herausgeber: tredition
Umschlaggestaltung, Illustration: Poul Art, www.poul.de
Lektorat, Korrektorat: Simon Otto,
Weitere Mitwirkende: Layout Jonan Dohle, [email protected]
Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
ISBN
Paperback
978-3-347-27716-8
Hardcover
978-3-347-27717-5
e-Book
978-3-347-27718-2
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Für Marcus, Serafina und Simeon,
Monja und Gian, Luisa und Nicolas,
Magdalene, Sophia und Luca,
Theresa, Zelia und Tim,
Clemens, Theresa und Felicitas,
für Vromi
und alle unsere Freunde und Familien.
Die Flucht
Gewittergeladene Wolken ballten sich unheildrohend über den Flüchtigen, als diese in einer sommerlichen Nacht aus ihrer Heimat flohen. Geduckt und darauf achtend, möglichst wenige Geräusche zu verursachen, schlichen sie durch die dusteren Gassen der Stadt jenseits des Flusses. Allen voran ging eine drahtige blonde Elfin, gefolgt von ihren beiden Kindern, die vor Angst am ganzen Körper zitterten. Nervös stolperten noch weitere Familien hinter den Dreien her. Annelin trieb sie alle unbarmherzig voran.
„Los, wir haben nur die eine Chance!“ zischte sie die Nachkömmlinge an.
Im spärlichen Licht des Mondes führte die Elfin ihren Trupp gezielt durch die verwinkelten Gassen der Elfenstadt, dabei warfen die umliegenden Häuser unheimliche Schattenbilder auf den Weg und ängstigten sie noch mehr.
„Ahh!“ schrie eines der Elfenkinder, das aus Versehen in den Rinnstein mit eklig riechendem Abwasser trat. Das Schuhwerk war nun nass und jeder Schritt ließ ein schmatzendes Geräusch hören.
„Weiter!“ flüsterte der Vater. „Schau, wo Du hinläufst!«
„Psst! Ihr seid viel zu laut“, kam eine rügende Stimme von hinten.
Die Anspannung war beinahe greifbar. Die lang geplante Flucht musste gelingen. Keinen Tag länger hielten sie es noch unter der Gewaltherrschaft ihres selbsterwählten Oberhauptes Tyrannok aus.
Annelin hob die Hand als Zeichen anzuhalten. Über ihnen flog ihr Drache Visnimbor, der sie auf ihrer riskanten Reise begleitete. Er musste tief fliegen, was nicht ungefährlich war, bei der Dunkelheit, die sie umfing. Die Häuser der Stadt hatten spitzzulaufende Dächer, die leicht den Bauch eines unvorsichtigen Flugwesens aufschlitzen konnten. Die Elfin mit dem Haar von reifem Weizen hatte etwas gehört. Aufmerksam lauschte sie in die Nacht hinaus. Nach einer gefühlten Ewigkeit ging der Marsch weiter. Sie hielt sich auffordernd einen Finger auf die Lippen, ein Zeichen, dass sie weiterhin so leise wie möglich sein sollten. Mit der anderen Hand winkte sie den Trupp voran. Rempelnd kam der Tross wieder in Bewegung.
„Lauf schon!“ raunzte eins der Elfenkinder seinen kleinen Bruder an, der im Stehen eingeschlafen zu sein schien. Widerwillig setzte sich dieser in Bewegung. „Etwas schneller, wenn´s geht. Sonst verlieren wir die anderen.«
Auf dem bisherigen Weg begleitete sie ein andauernder beißender Geruch, der von auf den Straßen und Gassen umherliegenden und geschundenen Elfen ausging. Die in Lumpen gekleideten Heimatlosen kauerten in jeder geschützten Nische oder auf jedem trockenen Fleck. Die Anführerin war darauf vorbereitet und führte ihren Tross dementsprechend über und um die lebendigen Hindernisse. Plötzlich schnellte eine Hand aus dem Nichts und packte eines ihrer Kinder am Knöchel und hielt es fest. Es kam nicht mehr weiter und ruderte panisch mit den Armen. Einen Schrei konnte es gerade noch unterdrücken, indem es sich beide Hände auf den Mund presste. Schwer atmend und ums Gleichgewicht ringend wandte es sich an Annelin.
„Mutter, hilf mir!“ sagte es gerade so laut, dass es noch zu hören war. Die Anführerin war schon um die nächste Ecke gewischt, war aber gleich umgedreht, als sie die Worte ihrer Tochter hörte.
„Lass sofort los, oder ich hetz Euch Tyrannok auf den Hals!“ hörte man sie drohen.
„Nein, nein, nicht Tyrannok!“ kam eine jammernde Stimme aus dem Dunkeln.
„Dann lass uns weiterziehen!“
„Ich lass ja schon los!« murmelte es aus dem Nichts und die Hand, die die Fessel des Kindes festhielt, ließ endlich los.
„Geht es Dir gut? Kannst Du laufen?“ wandte Annelin sich an die erschrockene Tochter.
„Mhm“, wimmerte sie nur und ging dabei versuchsweise ein paar Schritte.
„Los, wir müssen weiter!“ raunte sie den Flüchtenden zu und an ihre Tochter gewandt. „Es ist nicht mehr weit zum Fluss. Du musst jetzt noch ein wenig tapfer sein. Sobald wir den Fluss überquert haben und uns im angrenzenden Wald ein wenig ausruhen können, kümmere ich mich um deinen Knöchel.“
Annelin setzte sich wieder in Bewegung und die Familien folgten ihr und tatsächlich nach kurzer Zeit hatten sie den Fluss erreicht. Doch eine böse Überraschung erwartete sie.
„Wo ist die Brücke?“ fragte eins der Kinder. Fassungslos sahen sie auf die Trümmer, die einst die Brücke über den Fluss war.
„Planänderung! Wir müssen rüber fliegen.“
Einer der Elfenmänner, der sich meist um den Gemeinschaftsdrachen kümmerte, rief Visnimbor, den Wolkenbruchdrachen zu ihnen. Dieser landete sachte und legte seine weiten Schwingen an seinem sturmfarbenen Drachenkleid an. Die Strecke war nicht weit, so dass sie ein paar Elfen mehr pro Flug auf ihn setzten als gewöhnlich. Der Drache drückte sich kräftig vom Boden ab und flog seine Passagiere umgehend an die gegenüberliegende Uferseite. Sie wusste nicht von der zerstörten Brücke und hoffte nun, dass der erste Teil ihres Planes ohne weitere Hindernisse erfüllt werden konnte und sie nicht am Ende doch noch in die Fänge Tyrannoks und seiner Schergen geriet, zu denen nun auch ihr Gatte gehörte. Sie hatte keine Zeit weiter ihren Gedanken nachzuhängen, denn nun war sie und die restlichen Flüchtigen an der Reihe den Fluss zu überqueren. Als sie auf dem Drachen durch die Luft segelte, warf sie noch einen letzten Blick auf die Stadt ihrer Pein und sandte ihr ein hoffnungsvolles: „Auf Nimmerwiedersehen, Stadt des Grauens. Alles ist besser als das, was wir verlassen!“ zu.
Kaum setzte der Drache am Flussufer auf, da schellten die Alarmglocken der Stadt jenseits des Flusses. Jemand musste die Flüchtigen gesehen und verpfiffen haben.
„Wer uns wohl verpfiffen hat?“ fragte eins von Annelins Kindern.
„Keiner wusste von unserem Plan“, war ihre einzige Antwort. Doch sie hätte ihre Hand nicht dafür ins Feuer gehalten. „Lasst uns verschwinden. Wir nutzen den dichten Laubwald und die Dunkelheit. Da können sie uns nicht allzu leicht finden! Rennt!“
Auf dem Flug auf die andere Flussseite war Visnimbor ein wenig zu hoch geraten, womit er einen Wolkenbruch auslöste. Zudem wurde es plötzlich ziemlich windig.
Die Familien sammelten ihre Kräfte und eilten hinter der Anführerin hinterher. Keuchend rannten sie gemeinsam in den Wald und selbst Visnimbor folgte ihnen. In der Luft wäre er zu leicht zu entdecken gewesen. Aber er war auf dem Landweg nicht besonders schnell. Die Elfen rannten eine Weile durch den dichten Regen hinter Annelin her, doch sie war ausdauernder als die meisten und hielt nach einer Weile im Lauf inne. Obwohl sie dank ihrer hervorragenden Kondition kaum außer Atem war, musste sie sich rücksichtsvoll um die anderen kümmern. Sie hatten eine kleine Lichtung erreicht, wo sie im Schein des Mondes, und trotz des kräftigen Regens, ein wenig besser die Landschaft um sich erkennen konnten. Auf der Lichtung konnten sie zwar nicht bleiben, aber Annelin hat einen umgestürzten Baum entdeckt, in dessen Wurzel sie allesamt eine einigermaßen gemütliche und trockene Bleibe finden konnten, es kam einem Mehrfamilienhaus ziemlich nahe. Der Drache konnte sich etwas tiefer im Wald einrollen und auch ein wenig ausruhen. Die Familien suchten sich in der Wurzel jeweils eine Höhle und legten sie mit etwas gesammeltem Moos aus, das sie ohne Probleme auf dem Waldboden finden konnten. Die regennasse Kleidung wurde behelfsmäßig zum Trocknen aufgehängt.
„Wir brauchen Wachen!“
„Ja, wir können uns hier nicht einfach gemütlich zur Ruhe legen. Die Schergen Tyrannoks werden mit Sicherheit auf ihren Drachen nach uns suchen. Ich kann die Alarmglocken immer noch hören.“
„Lasst uns abwechselnd wachen. Wir haben nun beinahe Mitternacht. Wir sind fünf Familien. In der frühen Morgendämmerung sollten wir uns wieder auf den Weg machen.“
„Das klingt gut. Annelin sollte sich jetzt erst mal ausruhen dürfen. Sie hat uns alle heil hierher gelotst und die ganze Verantwortung getragen. Wir sollten sie von dieser Aufgabe entbinden, schon der Gerechtigkeit wegen. Wer ist dafür, dass die Wache unter den restlichen Familien verteilt wird?“
Alle Hände hoben sich ohne Ausnahme. Sie waren sich alle einig.
„Lasst uns kurz vor Sonnenaufgang wieder auf den Weg machen. Ich übernehme die erste Wache.“
Schnell war die Reihenfolge der Wache bestimmt und alle konnten sich zur Ruhe legen. Die Kinder schliefen schon lange, als der Erste seine Wache antrat.
Es dauerte nicht lange und alle schliefen erschöpft auf ihren moosigen Betten. Sie bemerkten auch die den Zwergen ähnlichen Gestalten nicht, die sich unweit der Wache aus der Erde gruben. Das Ziel der nachtaktiven Gnurfe war bloß ihren Hunger zu stillen. Mit ihren spitzen Zähnen knackten sie Eicheln und Kastanien. Sie aßen alles, was ihnen im Weg lag, bis sie satt waren. Dann verschwanden sie genauso schnell wieder im Erdreich, wie sie erschienen waren. Man konnte zwar die schmatzenden Geräusche hören, doch die Gnurfen waren selbst bei Tageslicht für Elfen kaum zu erkennen. Sie waren sehr klein und erdverkrustet. Man erzählte sich geheimnisvolle Geschichten von diesen unschönen Wichten.
Früh am nächsten Morgen, die Sonne war noch nicht aufgewacht, der Regen hatte schon längst aufgehört und der Wind war abgeflaut, wurden die Flüchtlinge von der letzten Wache geweckt.
Die Erde dampfte noch vom nächtlichen Gewitterregen. Nach einer kurzen eiligen Mahlzeit machten sie sich weiter auf den langen Weg zu ihrem Ziel: Dem strahlenden Tal, von dem sie gehört hatten, dass die Elfen dort ihre Magie wiedergefunden hatte.
Davon hatte auch Tyrannok gehört, was ihn derart in Rage brachte, dass er sich kaum beruhigen konnte. Selbst trug er kein Fünkchen Magie, doch für seine Grausamkeiten bedurfte es keine Magie. Trotzdem wollte er sie besitzen.
Gezähmtes Feuer
Der Sommer hatte Einzug ins strahlende Tal gehalten und die Elfenkinder nutzten jede noch so kleine Wasserpfütze, um darin zu baden, während die Sonne heiß auf sie nieder brutzelte. Die Drachen räkelten sich im Sonnenschein, und ihre Schuppen leuchteten in allen Farben.
Apollonia, die Lichtelfin lebte nun unter ihnen, um die Auserwählten in die Lehren der Magie einzuweisen. Jeder in seine eigene Magie, die der jeweiligen Jahreszeit. Da sie nun im Jahresverlauf des Sommers waren, wurde als erster Arion unterrichtet. Das war eine Erleichterung für alle Beteiligten, denn jeder kannte seine Ungeduld, die ihn stets antrieb. Sie versammelte die fünf Erwählten um sich. Dazu wählte sie das Drachennest, ein etwas größeres Häuschen in der Fari-Siedlung, das den Elfen des strahlenden Tales für alle möglichen Feierlichkeiten oder Treffen zur Verfügung stand, wo sie mit ihnen in Ruhe ein wenig über deren Zukunft als »Magier der Jahreszeiten« sprach.
»Meine Lieben, ich habe Euch einiges zu lehren. Es ist Sommer, die Jahreszeit, die Arions Magie entspricht, weshalb er auch der Erste sein wird, der in seine Magie eingewiesen wird.«
Das Warten war zwar nicht unbedingt Arions liebster Zeitvertreib, doch wollte er eigentlich auch nicht als erstes mit der Magie beginnen. Ihm wäre es lieber gewesen, er hätte den Zeitpunkt dazu selbst gewählt. Den Zahn zog ihm die Lichtelfin gleich von Beginn an.
»Och nein, warum immer ich?« nörgelte Arion.
»Weil, halt!« Meinte Apollonia kurzangebunden. Sie ließ sich auf keine Diskussion mit ihm ein. Die hätte sie am Ende wahrscheinlich sogar noch verloren. Seine Argumente saßen zu oft. Dazu hatte sie aber keine Zeit.
Den weiteren Elfenkindern gab Apollonia zunächst kleinere Aufgaben, die sie im eigenen Heim üben sollten.
Juwen und Arturion mochten zwar die Lehrstunden Apollonias, aber die zusätzlichen Übungen wurden ihnen schnell zu viel. Sie wollten sich lieber mit den anderen Elfenkindern vergnügen. Sie nahmen die wertvolle Gabe nicht ernst genug, wie ihnen Apollonia mehrfach rügend mitteilte. Zweifel beschlichen Apollonia. Ob sie wohl ihre Vision missverstanden hatte? Doch sie träumte denselben Traum wie zuvor, und die beiden Elfenjünglinge waren klar und deutlich darin zu erkennen. Sie stellten die Lichtelfin auf eine harte Probe. Eine innere Stimme bewog sie, die beiden in eine weitere Lehre zu schicken, wo sie ihre Talente zusätzlich entfachen konnten, und um ihre Zeit zu nutzen, noch etwas zu reifen, bis sie an der Reihe waren.
So schickte sie Juwen zum Schmied, denn sie wusste um die Faszination des Elfen für die Waffenkunst.
Arturion sandte sie zum Steinhauer der Siedlung. Er liebte es, etwas neu zu gestalten oder zu formen. Aber Apollonia wollte, dass er lernte, an seine Grenzen zu gehen und über sich hinaus zu wachsen; so auch Juwen.
Dies tat Deliah auf der »Mission Wespenstachel« und es schien noch nicht zu enden. Die auferlegten Aufgaben Apollonias erfüllte sie, zum Erstaunen aller, mit einer Reife, die ihr keiner zugetraut hatte. Sie erblühte regelrecht und sie wurde endlich wahrgenommen.
Serah erfüllte genauso brav ihre Aufgaben, aber es kostete ihre Mitelfen einiges an Kraft. Denn das Elfenmädchen zweifelte zu gerne an ihrem eigenen Können. Dies offenbarte sie jedoch nur zu Hause. Dramatische Zusammenbrüche, die ihr verborgenes schauspielerisches Talent auflodern ließen, brachten Kusion und Triziah regelmäßig in Rage. Sie konnten nicht glauben, dass ihre Tochter nicht erkannte, welche Talente in ihr schlummerten, auch wenn sie sie in ihren Aktivitäten stets unterstützten. Wenn Serah nicht gerade auf Poesia den Himmel unsicher machte, turnte sie durch ihr Häuschen und brachte manches Mal das Inventar in Gefahr. Wie der Wind fegte sie durch die wenigen Räume, wenn sie nicht gerade kopfstehend die Umgebung beobachtete.
Während jedes der erwählten Elfenkinder mit seinem Alltag kämpfte, entschloss sich Liuson, den Beruf des Drachenzüchters zu wählen. Die neuen Erkenntnisse, wie sich Drachenmischlinge hervorbrachten, lösten in ihm ungeahnte Fantasien aus. Apollonias Vision bewog ihn, seinen Teil dazu beizutragen. Pretonia, sein Mähnendrachenmischling entwickelte sich bestens. Liuson freute sich sehr über die Tochter Jubas. Er konnte viele Eigenschaften der Mähnendrachendame in Pretonia erkennen. Leider hatte sich aber auch ein wenig von Herons unberechenbarer Flugtechnik auf sie übertragen. Doch der Morgenstern war nicht so groß, wie der des Steinmeissler-Drachens. Liuson kümmerte sich in der Zeit, in der sich die Erwählten in der Lehre bei Apollonia befanden, zusätzlich um die Drachen der fünf. Er war schon ein hervorragender Drachenpfleger.
Apollonia wollte unbedingt mit Arion an der Beherrschung des Feuers arbeiten. Kein einfaches Unterfangen. Doch sie forderte ihn heraus.
»Werter Arion, Deine Aufgabe wird es nun sein, Dein inneres Feuer unter Kontrolle zu halten. Du wirst dich mit geschlossenen Augen auf den zentralen Platz unserer Siedlung stellen. Dein Ziel wird sein, ohne ein Wort zu verlieren, bis zum Sonnenuntergang zu verharren.«
«Heute noch?«
»Natürlich, meine Zeit ist kostbar. Der Sommer dauert nicht allzu lange, und ich muss dich noch vieles lehren, bevor ich Arturion meine volle Aufmerksamkeit schenken kann.«
Arion schluckte schwer. Einfach still in der Siedlung rumzustehen kam ihm doch sehr hart vor. Was sollte das bringen? Er wollte gerade Luft holen, um mit der Lichtelfin zu diskutieren, doch Apollonia ließ ihn nicht zu Wort kommen.
»Deine Zeit ist gekommen. Du kannst dich noch kurz stärken, und auch erleichtern, dann tritt in die Mitte unserer Siedlung, wenn die Sonne am höchsten steht. Es steht Dir zu, Deinen Durst während deiner Prüfung zu stillen. Doch Deine Augen müssen während der ganzen Zeit geschlossen bleiben, um Deine Sinne zu schärfen. Ich werde Dich am Ende persönlich abholen.«
»Was geschieht, wenn ich meine Prüfung nicht antrete oder sie nicht bestehe?«
»Willst Du es nicht versuchen? Wo ist Dein Ehrgeiz abgeblieben?«
»Ich kann mir einfach nicht vorstellen, was das bringen soll? Rumstehen mit geschlossenen Augen, bis die Sonne untergeht. Da kann ich mir eine bessere Zeitvertreibung vorstellen!«
»Diese Aufgaben sind nicht mit Spaß verbunden, werter Arion. Eine große Verantwortung liegt auf euren Schultern. Meine Vision besagte, dass ihr die fünf geeignetesten Elfenkinder für diese Aufgabe seid. Irre ich mich vielleicht?«
»Na gut, ich werd es versuchen.«
Arion lief gemütlich nach Hause. Er wollte noch etwas Zeit gewinnen, bis er diese, in seinen Augen unnütze Aufgabe in Angriff nehmen sollte. Er stärkte sich, nahm genügend zu trinken mit und begab sich auf den Weg zum verabredeten Platz.
Apollonia nahm Arion freundlich in Empfang. Zu seiner Überraschung musste er nicht die ganze Zeit stehen. Er durfte sich auch hinsetzen oder sich sogar hinlegen. Die Lichtelfin zeichnete einen magischen Kreis auf den Boden. Mit einem kleinen Stöckchen ritzte sie diesen in die Erde. Auch wenn Arion den Kreis mit geschlossenen Augen nicht sah, so sollte er es am Leibe spüren, falls er ihn überschritt. Das sagte sie ihm, bevor er sich in diesen begab. Er setzte sich trotzig in den Zirkel. Jedermann konnte an seinem Gesicht erkennen, dass dies nur widerwillig geschah. Bevor er seine Augen schloss, blickte er sich nochmals genau um. Einige Schaulustige hatten sich eingefunden, was ihm noch weniger gefiel als die Sache an sich. Dessen ungeachtet schloss er seine Augen, atmete ein paarmal tief durch und ergab sich seinem Schicksal. Seine Gedanken fuhren Karussell. Ärgerlich brummelte er vor sich hin, als ihm klar wurde, dass Apollonia seine Frage nach der Konsequenz, wenn er die Prüfung nicht bestand, nicht beantwortet hatte. Nun blieb ihm nichts anderes übrig als abzuwarten und sein Bestes zu geben. Seine Gliedmaßen zuckten unruhig. Er wechselte ständig seine Position. Dabei berührte er den magischen Kreis. Erschrocken hielt er inne. Es war nicht angenehm, die magische Grenze zu überschreiten. Er wurde von seiner Suche nach der richtigen Position, um das Ganze durchzustehen, müde. Nach einiger Zeit setzte er sich hin. Mit gekreuzten Beinen und aufrechtem Rücken versuchte er, die Entspannungsposition nachzuahmen, die er bei Apollonia vor einiger Zeit sah, als sie sich unbeobachtet wähnte. Seine Handgelenke legte er locker auf seine Knie, die Handflächen zeigten himmelwärts. Erstaunlicherweise dauerte es nicht allzu lange und eine tiefe Ruhe und eine angenehme Wärme breiteten sich in ihm aus. Arion spürte plötzlich weder die gleißende Sonne noch die neugierigen Blicke auf ihm. Die Zeit schien still zu stehen.
Serah und Quirion schauten zwischendurch nach ihrem Bruder und mussten erstaunt feststellen, dass er absolut regungslos mit einem entspannten Lächeln auf den Lippen auf seinem Punkt saß. Sie konnten es kaum fassen, ihn so zu sehen. Es geschahen noch Zeichen und Wunder. Die beiden jüngeren Geschwister Arions rannten zu ihren Eltern, und auch diese vergewisserten sich des Zustands ihres Ältesten. Es war schon kurz vor Sonnenaufgang, als Apollonia mit Nebula angeflogen kam. Der Nebeldrachen landete sanft auf der Erde. Die Lichtelfin grüßte Kusion und Triziah flüchtig mit einem kurzen Lächeln und begab sich dann vorsichtig zu Arion in den magischen Zirkel. Sanft legte sie eine Hand an Arions Wange und sprach ihn leise an.
»Werter Arion, wache auf. Das Feuer in Dir ist nun gezähmt. Du darfst deine Augen öffnen.«
Der Elfenjüngling öffnete etwas erstaunt seine Augen. Für einen Augenblick wusste er nicht, wo er sich befand. Er blinzelte. Dann nahm er seine Eltern wahr. Die umstehenden Elfen trommelten mit ihren Füßchen auf den Boden. Er schaute Apollonia an, die vor ihm kniete und ihn mit Stolz anblickte. Da wurde ihm auf einmal klar, dass er die Prüfung tatsächlich bestanden hatte. Glücklich grinste er in das kleine Publikum. Die Lichtelfin, die zuvor aufgestanden war, reichte ihm ihre Hand, und zog ihn auf seine Füße. Nun stand er im Zirkel und wusste nicht, was er mit sich anfangen sollte. Er fühlte sich, als hätte er ewig geschlafen. Die Feuerenergie in ihm pulsierte, doch er konnte sie bestens zügeln.
»Werter Arion, Du hast deine Prüfung bestens bestanden. Du darfst stolz auf dich sein. Die folgenden Übungen werden nun ein Leichtes für Dich sein. Dies war die schwierigste Prüfung.«
Erleichtert verabschiedete er sich von Apollonia. Er wollte sich nach Hause zurückziehen, und ein wenig Zeit alleine verbringen. Vielleicht kam ja dann doch noch die Müdigkeit über ihn, und er konnte sich zur Ruhe legen.
»Arion, Du darfst dir morgen einen Tag Pause gönnen. Bitte schicke Arturion stattdessen zu mir.«
Das Meisterwerk
Wie geheißen sandte Arion am nächsten Morgen Arturion zu Apollonia. Dieser wollte sich eigentlich mit seinen Freunden treffen. Doch jetzt musste er schon wieder seinen lästigen Pflichten nachkommen. Ihm wäre es lieber gewesen, Liuson hätte seine Stelle als Träger der Magie des Spätsommers abbekommen. Das erwähnte er gleich bei Apollonia, als er bei ihr ankam.
»Werter Arturion, eine Vision kann man nicht rückgängig machen, oder einfach auslöschen. Das ist eine Ehre, solch eine Verantwortung anvertraut zu bekommen! Du wirst Deinen Teil dazu beitragen, um die Magie in unserem Volk zu belassen. Auch wenn es Dir nun lästig ist oder Dich noch überfordert.«
Arturion schaute die Lichtelfin traurig an. Nun musste er sich wohl doch erneut dem Schicksal ergeben und weitere anstrengende Aufgaben erfüllen, anstatt ein einfaches Elfendasein zu fristen. Apollonia gab ihm ein paar kleine Übungen, die er vorerst in Angriff nehmen sollte, bis seine Zeit für die Lehre kam. Noch war Arions Lehrzeit. Doch wie versprochen, waren die weiteren Aufgaben nun ein Leichtes.
Die fünf flüchtenden Familien aus der Stadt jenseits des großen Flusses kamen währenddessen zügig voran, was auch von Nöten war. Die Landschaft war unspektakulär eben und ohne jegliche Hindernisse. Selbst Bäume gab es kaum. Doch dies erleichterte es auch den Spähern Tyrannoks, sie leichter zu finden. Visnimbor würde ihnen die Gefahr rechtzeitig anzeigen. Er flog und lief abwechselnd nebenher, um sie zu beschützen. Sein kräftiger Drachenschwanz war entspannt. Auf ihrem Weg sammelten sie Beeren und Wurzeln von den spärlich verteilten Büschen in der öden Landschaft, die sie vorsichtig in einen Korb legten. Sie konnten nicht genug auf ihrer Flucht mitnehmen und mussten daher unterwegs pflücken, was ihnen die Natur schenkte.
»Visnimbor flieg hoch, um nach Verfolgern oder anderen Gefahren Ausschau zu halten!« forderte einer der Elfenväter den gemeinsamen Drache auf, und dieser geriet dabei aus Versehen in eine Wolkenwand, was einen plötzlichen Wolkenbruch auslöste und die Elfen in kürzester Zeit komplett durchnässte.
Der spontane Regenguss war eine willkommene Abkühlung. Sie trockneten in Windeseile, da die Sommersonne gleich wieder kräftig vom Himmel schien. Als sie sich gerade etwas im Schatten eines Steines ausruhen wollten, schnellte Visnimbors Drachenschwanz in die Höhe.
»Seht, Visnimbors Drachenschwanz!« rief eins der Elfenkinder und warnte damit lauthals die Elfen um sich.
Schneller als gewollt kam Arturion an die Reihe, denn der Spätsommer nahm Einzug ins strahlende Tal. Was der Elfenjüngling nicht bedachte, war, dass seine Jahreszeit äußerst kurz verlief, und er alles schneller erlernen musste als die anderen vier. Das wurde ihm erst bewusst, als ihn die Lichtelfin darauf aufmerksam machte.
»Geehrter Arturion, Deine Zeit ist etwas verkürzt. Der Spätsommer bringt uns ein wenig in Zeitdruck!«
Das hätte sie besser nicht gesagt. Arturion revoltierte sowieso gerne gegen äußerlichen Druck, und dies sprengte alles, was ihn bisher behelligt hatte. Teauh musste deshalb umso mehr die Launen Arturions ertragen.
Den kleinen Bruder störte dies seit seiner Ernennung, zum zweiten Heilerelfen, kaum noch. Er ging zu seinem Erstaunen immer mehr in dieser Aufgabe auf und genoss die Zusammenarbeit mit Quirion.
Den Erwählten des Spätsommers befriedigte es kaum noch. Er brauchte ein neues Ventil. Apollonia hatte diese Entwicklung an Arturion beobachtet. Auch die anscheinend sehr starke Bindung zu seinem Elfenfreund, dem selbsternannten, zukünftigen Drachenzüchter, wurde zeitweise problematisch. Arturion und Liuson verband seit der geglückten Bebrütung von Jubas Ei, durch Heron, eine tiefe Freundschaft. Er teilte ungern die Aufmerksamkeit seines neuen besten Freundes mit anderen Elfenjünglingen. Seine Freizeit mit Liuson zu verbringen und über die Neuzucht von Drachenmischlingen zu sinnieren, nahm seine Gedanken mehr ein, als die Lehre bei Apollonia. Jegliche Ablenkung von seinem geliebten Zeitvertreib kam ihm überflüssig vor. Der Ärger über seine neuesten Verpflichtungen stieg von Tag zu Tag.
Apollonia wollte nun Arturions angestauten Frust nutzen und ins Positive umwandeln. Daher gab sie ihm viele kleine Aufgaben, die ihm Erfolgserlebnisse bescheren sollten. Von Mal zu Mal erhöhte sie die Anforderungen, um herauszufinden, wo seine Grenze lag. Eine Trennung von seinem Freund für eine begrenzte Zeit schien ihr inzwischen für mehr als sinnvoll. Die Lichtelfin ließ beide Elfenjünglinge zu sich rufen. Denn auch Liuson war ein Teil dieser Aufgabe.
Etwas atemlos kamen die beiden bei Apollonia an. Arturion erhoffte sich, dass sie sich doch noch um entschied, und Liuson trotz ihrer Vision, an seiner Stelle einsetzte. »Seid gegrüßt, werte Herren Arturion und Liuson.« Die Lichtelfin räusperte sich kurz, denn was sie nun zu verkünden hatte, würde nicht auf allzu große Freude stoßen. »Es bleibt mir nichts anderes übrig, als Euch nun für einige Tage zu trennen.«
»Wie? Was meinst Du mit trennen, werte Apollonia?«
»Eure Wege werden sich für fünf Tage ohne Ausnahme trennen. Jeder Verstoß verlängert diese Auflage um einen Tag mehr. Eure Freundschaft mag Euch sehr wichtig sein, aber das Wohl des Volkes ist wichtiger!«
Arturions Wünsche wurden nicht erfüllt, wie er eben erfuhr. Im Gegenteil belästigte sie ihn erneut mit einer weiteren absurden Aufgabe. Die Schlimmste, und hoffentlich Letzte! Fünf Tage keinen Spaß mit Liuson. Kein einziges Treffen wurde ihnen erlaubt. Beide schauten die Lichtelfin entsetzt an.
»Das grenzt an Grausamkeit!« wetterte Liuson, hängte aber gleich noch ein »werte Apollonia«, hinterher, als ihm bewusst wurde, wie respektlos seine Worte waren, und senkte beschämt seinen Blick.
»Das ist nicht Euer Ernst! Das könnt Ihr uns doch nicht antun!« klönte Arturion hinterher. »Wenigstens nur einen Tag«, bat er hoffnungsvoll.
Aber Apolonia blieb unbeugsam und ließ nicht mit sich verhandeln. Der Elfenjüngling konnte keine Ablenkung gebrauchen. Seine Zeit an ihrer Seite war kostbar und allzu kurz. Der Spätsommer war allzu schnell vorbei. Und der Widerwillen gegen seine Verpflichtungen musste endlich ein Ende nehmen. Es war verständlich und einfacher, sich mit unterhaltsamen Dingen zu beschäftigen, anstelle sich mit sich selbst auseinanderzusetzen. Dies stand Arturion nun bevor.
Während Arturion noch mit seinem Schicksal haderte, suchten die Augen der Flüchtenden die Gegend nach der Gefahr ab, die der Wolkenbruchdrache durch seinen steil hochstehenden Drachenschwanz anzeigte. Rasmok entdeckte sie zuerst. Er zeigte zum Himmel, wo sich die Drachen Tyrannoks abzeichneten. Der Stein, in dessen Schatten sie sich etwas ausruhen wollten, gab ihnen nicht genug Schutz vor den Augen ihrer Verfolger. Sie mussten schnell handeln. In ihrer Nähe waren noch einige weitere, etwas kleinere Steine verstreut.
»Kinder, verteilt euch hinter den Steinen. Geschwister jeweils gemeinsam«, wies Annelin den Elfennachwuchs mit knappen Worten an. Wie geheißen liefen sie umher und suchten gemeinsam hinter verschiedenen Steinen Deckung.
»Es gibt keinen freien Platz mehr hinter Steinen«, rief ein kleines Elfenmädchen panisch und rannte ihren Schwestern hinterher.
»Hierher!« riefen diese und duckten sich hinter ein paar abgeknickte Schilfhalme. Doch von oben konnten sie trotz Stein und Schilf noch ohne Probleme gesehen werden. Sie brauchten eine zündende Idee, um sich gegen die Häscher Tyrannoks zu behaupten.
»Geehrter Liuson, meine Entscheidung mag Euch grausam vorkommen, aber Arturion kann nun keine weitere Ablenkung mehr gebrauchen. Er muss sich endlich seiner Bestimmung bewusst werden. Geh, und kehre in fünf Tagen wieder zurück. Solltet ihr meiner Anweisung nicht Folge leisten, dann vielleicht auch in ein paar Tagen später!«
»Nun werter Arturion, deine schwerste Aufgabe zuerst. Danach wird dir alles umso leichter fallen. Finde heraus, was Dich glücklich macht, und wo Deine Stärken, Deine besonderen Fähigkeiten liegen.«
»Aber ich weiß das doch schon!«
»Dann erzähle mir davon.«
»Ich bin glücklich, wenn ich mit meinem Freund zusammen über die Drachenzucht sprechen kann.«
»Ja, das glaube ich Dir. Welche herausragenden Fähigkeiten zeichnen sich dabei bei Dir heraus? Was macht Dich dabei besonders?«
Arturion schaute die Lichtelfin mit seinen tiefgrünen Augen verständnislos an.
»Ich bin dabei glücklich, das war doch eine der Bedingungen.«
»Durchaus richtig, aber worauf es mir besonders ankommt, ist, dass Du erkennst, was Dich ausmacht. Gehe nun nach Hause und denke darüber nach. Deinen Unterricht beim Steinhauer wirst Du übrigens weiterhin besuchen.«
Ohne sich noch umzusehen, oder sich von Apollonia zu verabschieden, drehte sich der Elfenjüngling um und ging wie geheißen nach Hause, wo er ein wenig zu schmollen gedachte.
Angriff der Treiber
Tyrannoks Treiber kamen zu dritt, und jeder flog auf einem Drachen. Der Herrscher der Stadt jenseits des Flusses hielt sich nur eine bestimmte Art von Drachen. Diese mussten schwere Brustpanzer tragen und eine Art eisernen Helm. Deshalb wurden sie nur Eisenpanzerdrachen genannt. Ursprünglich waren es Verwandte der Reisshorndrachen, aber ohne Horn. Sie waren leicht zu zähmen, da Selbstbestimmung keine große Tugend dieser Drachenart war. Zudem pflanzten sie sich schneller als andere Drachenarten fort. Ihre Eier konnten sogar auf dem Markt der Stadt jenseits des Flusses erworben werden. Allerdings zu horrenden Preisen, weshalb sich viele Familien einen Drachen teilten. Die Einkünfte gingen alle an Tyrannok.
Die Harnische waren eine große Last für die Drachen, und kosteten sie viel Kraft. Da die Drachen an und für sich schon eine gut geschützte Haut besaßen, waren diese zusätzlichen Rüstungen eigentlich überflüssig. Der Herrscher der Stadt jenseits des Flusses bestand jedoch darauf. Er wollte seiner Armee seinen eigenen Stempel aufdrücken und dadurch seine Macht präsentieren.
Durch die eisernen Helme wurde die Sicht für die Drachen extrem eingeschränkt. Die Treiber Tyrannoks mussten die Drachen komplett selbst lenken. Das brachte Stefok, einen der Elfenväter, auf eine Idee. Sie mussten die armen Drachen ermüden und deren Reiter verwirren.
»Wir müssen uns bewegen, und zwar in alle Himmelsrichtungen, damit wir die Häscher verwirren und die Drachen ermüden!« dachte er laut und eilte zu den versteckten Elfenkindern und Eltern um seine Idee zu verbreiten, die gleich aus einander stoben.
Die Flüchtenden rannten plötzlich scheinbar wirr umher. Kreuz und quer, was die Häscher Tyrannoks komplett aus der Fassung brachte. Sie versuchten ihre gepanzerten Gefährten so zu lenken, dass sie mit ihren scharfen Krallen nach den wild herumrennenden Elfen greifen konnten. Die Elfen aber waren sehr wendig und entkamen immer wieder. Die drei Drachen ermüdeten sichtlich bei dem Spiel, was die zu verfolgenden Elfen mit ihnen trieben. Tyrannoks Treiber mussten alsbald aufgeben, ansonsten würden sie den Rückflug auf ihren Eisenpanzerdrachen nicht mehr schaffen. Doch für einen der drei war die Entscheidung zu spät. Der gebeutelte Drache schlingerte in der Luft und versuchte verzweifelt mit seinen kräftigen Schwingen an Höhe zu gewinnen, doch seine Kraft war zu Ende. Das Gewicht seiner Rüstung zog ihn und seinen Reiter nach unten. Er stürzte ungebremst auf einen der Steine, der vor Kurzem noch als Schutz der Elfen diente, und begrub seinen Reiter unter sich. Die eiserne Rüstung rettete dem Drachen das Leben. Sein Rückgrat blieb wie durch ein Wunder heil. Er trug nur ein paar kleinere Blessuren davon. Die zwei anderen Häscher Tyrannoks überliessen Drachen und Reiter ihrem Schicksal. Rücksichtslos traten sie den Rückflug an. Die Elfenfamilien hatten den Rückzug der zwei Verfolger bemerkt. In der Nähe des abgestürzten Eisenpanzerdrachens versammelten sie sich. Sie waren sich einig, dass sie erst nach dem Verfolger und dessen Drachen schauen wollten. Mitleid regte sich für den gequälten Drachen. Joak, ein Elfenvater näherte sich vorsichtig dem hübschen Drachen. Der Anhänger Tyrannoks hatte es wohlweislich nicht geschafft, was ihn in dem Moment nicht groß behelligte. Er kümmerte sich nur um das überflüssig gepanzerte Wesen. Mit leisen freundlichen Worten versuchte er, Kontakt aufzunehmen.
»Geehrter Drache, wir sind Dir nicht böse. Wir wollen bloß nachsehen, wie Dein Befinden ist. Ob Du verletzt bist, und wie wir Dir helfen können. Wenn Du einverstanden bist, werden wir dir gleich mal die zusätzliche Last abnehmen.«
Dem Eisenpanzerdrachen entwich nur ein zustimmendes Brummen. Er war von der anstrengenden Verfolgungsjagd völlig erschöpft. Er nahm alle seine Kraft zusammen und versuchte, etwas mehr als ein Grummeln von sich zu geben.
»Bin so müde. Lasst mich in Ruhe.«
»Tyrannoks Anhänger haben Dich einfach hier zurückgelassen. Du hast ihnen sicher treu gedient, wie es Deiner Drachenart vorbestimmt ist. Du kannst Dich uns anschließen, wenn du Dich ausgeruht hast. Wir werden Dich in diesem Zustand keinesfalls so zurücklassen. Wir sind auch erschöpft. Deshalb werden wir uns am besten in Deiner Nähe ausruhen, wo uns Tyrannok mit Gewissheit nicht erwartet!«
Joak winkte die restlichen Elfen zu sich und tauschte seine Gedanken mit ihnen aus. Es war eine hervorragende Idee. Vielleicht kamen sie dadurch zu einem weiteren hilfreichen Drachen an ihrer Seite. Alle erwachsenen Elfen taten sich zusammen und erlösten den Eisenpanzerdrachen als erstes von seiner Last. Dann zerrten sie den Verfolger Tyrannoks unter ihm hervor und begruben ihn unweit von ihrem Lager, um nicht irgendwelches Ungeziefer anzuziehen. Dann endlich legten auch sie sich zur Ruhe, und fielen erschöpft in einen traumlosen Schlaf. Ihre Kinder schliefen schon längst.
Arturion war allzu schnell gelangweilt, sich in Selbstmitleid zu suhlen. Niemand war zu Hause, an dem er seinen Frust gerade auslassen konnte. Zudem war er erschöpft vom Gedanken an die ganzen Verpflichtungen, die ihm bevorstanden. Er schlief einfach ein. So fanden ihn seine Eltern einige Zeit später vor. Er murmelte wirres Zeug im Schlaf und warf sich unruhig hin und her. Sie blickten etwas besorgt auf ihren Ältesten. Seine Ernennung in Apollonias Vision schien ihn sehr zu beschäftigen. Er war in letzter Zeit unerträglich. Teauh konnte von Glück reden, dass er sich mit Quirion um die Gesundheit der Elfen kümmern durfte. Doch nun bekamen sie beide die ganze Palette seines Frustes ab. Sie würden ihm gerne helfen, doch sie wussten nicht wie. Sie ließen ihn erst mal schlafen. Er schien seinen Schlaf zu brauchen. Als Teauh nach Hause kam, legten auch sie sich hin. Es war ein anstrengender Tag, denn sie mussten die geernteten Früchte des Spätsommers für den Winter einmachen, damit sie über den Winter hinweg kamen. Das erforderte viel Zeit und Muße.
Am nächsten Morgen stand Arturion erstaunlich ausgeschlafen von seinem gemütlichen Moosbett auf. Sie aßen alle stillschweigend das typische Frühstück der Elfen des strahlenden Tales, den kräftigenden und sehr sättigenden Springkrautbrei. Eine Spezialität ihres Volkes. Als sie ihre Mahlzeit beendet hatten, sprang Teauh sogleich auf, brachte sein Schüsselchen zur Waschstelle und verließ dann gleich das Haus, um mit Quirion seiner Arbeit nachzukommen, und auch, um seinem großen Bruder aus dem Weg zu gehen. Nun saßen die drei am Tisch, jeder in seine Gedanken vertieft. Der Elfenjüngling machte sich Gedanken, wie er nun seine Zeit totschlagen sollte, wo er sich doch nicht mit seinem Freund treffen durfte und warten musste, bis er zum Steinhauer gehen konnte. Diese anstrengende Arbeit am Stein machte ihm viel Spaß. Sein Meister zeigte ihm bloß ein paar Handgriffe, um den Stein zu bearbeiten, dann überließ er ihn seinem Schicksal. Der Steinhauer hatte viel zu tun, und nicht allzu viel Zeit, den Lehrling, der ihm Apollonia aufgebürdet hatte, in die Arbeit einzuweisen. Doch er musste zugeben, dass der Elfenjüngling sich erstaunlich geschickt anstellte. Vielleicht sollte er ihn weiter ausbilden, und nicht nur für die kurze Zeit, welche die Lichtelfin für ihn vorgesehen hatte. Vision hin oder her, der Jüngling brauchte auch einen Beruf, um später seine eigene Familie zu ernähren. Und Petrion der Steinhauer hatte keine Kinder, die sein Handwerk weiterführen konnten.
Nachdem Arturions Eltern mit ihrem Sohn das Frühstück beendet hatten, machte er sich auf den Weg zum Steinhauer. Eine innere Stimme sagte ihm, dass es ein guter Tag war, um den Stein zu bearbeiten. Die Bilder in seinem Kopf ließen ihn nicht mehr los. Noch kreisten sie wirr in seinem Kopf umher, und warteten darauf sich zu klären. Er musste sie entwirren und loswerden, nicht dass er noch komplett verrückt wurde. Er hoffte, dass ihm das Behauen des Steines dabei half. Liuson war vergessen. Schneller als erwartet.
Beim Steinhauer bat er um einen großen Kiesel, den er behauen durfte. Der Meister wunderte sich zwar, doch führte er ihn, ohne nachzufragen, zu einem der gewünschten Objekte.
»Wo sich das Werkzeug befindet, weißt Du ja. Bringe es mir bitte später wieder zurück.«
»Ja, Meister.« Arturion schaute den Stein vor sich eindringlich an, als wollte er ihn mit bloßen Augen formen. Tatsächlich klärten sich seine wirren Gedanken mit jeder Minute, in der er auf den Stein starrte. Er konnte förmlich erkennen, was daraus werden sollte. Er grinste zufrieden in sich hinein, nahm Hammer und Meißel, und begann sein Werk. Während er konzentriert arbeitete, schien die Luft um ihn magisch zu schwirren. Arturion merkte nichts davon. Er war völlig in seine Arbeit versunken. Seine Hände führten sein Werkzeug gekonnt, als hätte er nie etwas anderes getan. Abends brachten seine Eltern ihm etwas zu Essen. Ungern trennte er sich von seinem Werk, doch sein Magen knurrte und er verspürte großen Durst. Er hatte während der ganzen Zeit vergessen, etwas zu trinken. Er bat seine Eltern, danach weiter arbeiten zu dürfen. Erfreut über seinen Eifer ließen sie ihn gewähren. Sie spürten, dass etwas Magisches in der Luft lag, konnten aber nichts erkennen. Jedoch reichte ihnen schon der glückliche Gesichtsausdruck. So hatten sie ihn schon lange nicht mehr gesehen. Alles war ihnen recht, wenn ihr Sohn nur etwas gefunden hatte, was ihn glücklich machte.
Arturion arbeitete die ganze Nacht durch. Die Dunkelheit der Nacht hüllte ihn ein, doch ein inneres Licht führte seine Hände, und sie schufen ein Meisterwerk. Im Morgengrauen fand ihn sein Meister davor. Tief schlafend und eingerollt. Er schüttelte ihn leicht an den Schultern, um ihn zu wecken. Der Elfenjüngling kam nur schwer zu sich. Blinzelnd schaute er in die spätsommerliche Morgensonne. Den Steinmetz sah er nicht gleich, da ihn das Tagesgestirn blendete. Er kniff seine Augen zu Schlitzen zusammen und erkannte, wer ihn geweckt hatte. Der kräftig gebaute, breitschultrige Elf sah auf seinen Lehrling hinunter und bot ihm eine Hand, um ihn auf seine Füße zu ziehen. Arturion nahm das Angebot dankend an. Als er endlich stand, sah er sein Werk. Mit offenem Mund starrte er den Drachen in Stein an. Es war wahrlich ein Meisterwerk! Drachen und Steine schienen sein Schicksal zu bestimmen. Erst Heron, der aus einem vermeintlichen Felsen schlüpfte, und sich dann als Steinmeissler-Drache entpuppte, und nun dieser in Stein gehauene Drache, den seine eigenen Hände schufen. Er schaute seine Hände an. Sein Herz klopfte wild in seiner Brust. Hatte er diese Skulptur wirklich selbst erschaffen? Tief in ihm erwachte eine neue Zuversicht, dass er den Aufgaben Apollonias doch gewachsen sein könnte. Vielleicht steckte doch mehr in ihm, als er je gedacht hatte. Der Steinhauer räusperte sich, denn Arturion träumte vor sich hin und hatte seinen Meister komplett vergessen. Petrion ließ demütig seine Hände über das Meisterwerk gleiten.
»Arturion, geschätzter Lehrling, falls Du die verantwortungsvolle Aufgabe als Erwählter nicht weiterhin tragen willst, nehme ich Dich liebend gern als Lehrling in meine Obhut!«
»Danke Petrion, werter Meister, ich habe schon versucht, mich zu drücken, doch Apollonia ließ es nicht zu! Sie gab mir diese Aufgabe, um mein Glück zu finden!«
»Und, hast du es schon gefunden?«
»Ja, ich glaube, das habe ich eben gefunden. Ich weiß jetzt, was ich besonders gut kann! Und es macht mich sehr glücklich!«
»Ich muss ehrlich gestehen, ich war nicht besonders glücklich, Dich von Apollonia aufgehalst zu bekommen. Aber sie hat wieder einmal bewiesen, dass sie uns Elfen sehr gut kennt. Jeden Einzelnen von uns. Vielleicht besser, als wir selbst.«
»Da könntest Du recht haben, werter Petrion. Nicht gerade beruhigend, oder?«
Der Steinhauermeister schüttelte seinen Kopf.
»Jetzt muss ich los. Was mache ich aber mit der Skulptur?«
»Ich werde sie Dir nach Hause transportieren!«
»Gute Idee, aber vielleicht gleich zu Apollonia. Dadurch kann ich ihr gleich den Beweis präsentieren!«
Petrion klopfte Arturion noch anerkennend auf die Schulter, dann stob der junge Künstler davon.
Der Elfenjüngling eilte in Windeseile zu Apollonia. Er wollte seine Nachricht gleich loswerden, bevor er nach Hause zu seinen Eltern ging. Auch wenn ihn die Müdigkeit plagte, so war dies nun doch von größerer Wichtigkeit.
Die Lichtelfin hatte nicht so früh mit Arturions Erscheinen gerechnet. Schon wieder hatte sie sich verschätzt. Das geschah ihr in letzter Zeit viel zu oft. Was geschah mit ihr?
Seltsame Gäste
Am folgenden Morgen wachten die flüchtenden Elfenausgeruht auf. Ihre bisherige Reise hatte ihnen schon einiges abverlangt. Nun hatten sie einen weiteren Drachen nebst Visnimbor als Begleiter gewonnen. Der Eisenpanzerdrache Tyrannoks wurde ohne Rücksicht, samt seinem Reiter seinem Schicksal überlassen. Sein Reiter hatte den Sturz nicht überlebt, aber dem Drachen ging es schon erstaunlich gut. Er hatte wie die Elfen die ganze Nacht hervorragend geschlafen. Seine Flügel fühlten sich noch etwas schwer und unbeweglich an. Dies konnte auch vom langen Schlaf kommen. Der Drache konnte sich nicht erinnern, je so lange geschlafen zu haben. Die Häscher Tyrannoks gestatteten ihnen nicht allzu viel Ruhezeit. Andauernd wurde hart trainiert. Stets mit dem zusätzlichen Gewicht der Rüstung. Der Eisenpanzerdrache blinzelte freundlich in Richtung der rettenden Elfen. Stefok erhaschte den aufmunternden Blick des abgestürzten Drachens, und wandte das Wort an ihn:
«Geehrter Drache, wäre es in Deinem Sinne, Dich unserer Mission anzuschließen? Wir sind auf dem Weg ins strahlende Tal, wo wir uns einen gerechten Herrscher erhoffen. Dem Volk dort scheint das Glück hold zu sein.«
Dass dem nicht immer so war, wurde wohl nicht verbreitet.
»Ihr habt mich in euere Reihen aufgenommen, obwohl ich Euch Böses antat.«
»Nicht Du selbst! Dies liegt nicht in der Natur Eurer Drachenrasse, das wissen wir nur zu gut.«
»Ich schäme mich.«
»Das ist nun Vergangenheit. Du kannst es wieder gut machen, und uns auf unserer gefährlichen Reise beistehen.«
»Es wäre mir eine Ehre.«
Der Eisenpanzerdrache vollführte eine äußerst demütige Verneigung. Die Elfen waren gerührt.
»Wie dürfen wir Dich nennen?«
»Wir hatten keine Namen, nur Ziffern. Ich war die Fünfundsiebzig.«
»Du bist vom Himmel gefallen, deshalb nennen wir Dich nun Caprizelon. Gefällt Dir dieser Namen, geehrter Drachenfreund?«
Der Drache nickte und vollführte eine weitere Verneigung. Nun versuchten es auch die Elfen, doch sie schafften es nicht so huldreich wie Caprizelon. Selbst Visnimbor wagte einen Versuch und kam dabei beinahe zu Fall. Der Eisenpanzerdrache brachte ungewollt das Lachen zurück zu den Elfen der Stadt jenseits des Flusses. Ein schönes Gefühl.
»Genug der Freude, lasst uns nun wieder des Weges gehen!« Annelin scheuchte die fröhliche Truppe unbarmherzig zurück zu ihrem wenigen Gepäck. Hastig sammelten alle ihre Sachen zusammen und versammelten sich bei Annelin. Damit ging ihre Reise weiter. Die Drachen flogen nun über ihnen und suchten den Himmel und die Erde nach vermeintlichen Gefahren ab. Die Sonne brannte nicht mehr in der gleichen Stärke wie bisher, denn der Spätsommer hatte nun Einzug genommen. Reife Früchte lieferten ihnen Nahrung. Die nächsten Tage kamen sie ohne große Erschwernisse voran. Dies gab ihnen erneut die Zuversicht, dass sie das strahlende Tal noch vor Wintereinbruch erreichen konnten. Die nächste Etappe führte sie an einen weiteren Fluss. In einer friedlichen Siedlung konnten sie entspannt rasten und nach längerer Zeit endlich einer gepflegten Körperreinigung nachkommen. Erfrischt machten sie sich danach in einem gemütlichen Gasthaus über einen nahrhaften Eintopf her. Sie fühlten sich sicher und geborgen.
Während die Reisenden aus der Stadt jenseits des großen Flusses, sich von den vergangenen Reisetagen erholten, platzte bei Apollonia überraschend und verfrüht ein Elfenjüngling rein. Ihr Erstaunen hätte nicht größer sein können.
»Werter Arturion, sei gegrüßt. Was hältst Du in Zukunft von einem höflichen Klopfen an meiner Tür?«
»Entschuldige, geehrte Apollonia, aber in meinem Glück habe ich meine Manieren vergessen. Verzeih mir, bitte!«
»Was führt Dich in solch früher Stunde zu mir? Solltest Du Dich nicht Deiner Aufgabe widmen?«
»Du hast nicht mitbekommen, dass ich den ganzen gestrigen Tag und die letzte Nacht an einem Stein gearbeitet habe? Früher wusstest Du das immer schon vorher!«
Damit traf Arturion einen wunden Punkt Apollonias. Ihre innere Stimme war nicht mehr verlässlich. Auch ihre Visionen wurden letztlich wirr und unverständlich. Es fiel ihr schwer, daraus ihre Schlüsse zu ziehen. Sie traute sich kaum noch, ihre Augen zu schließen. Doch sie hatte eine wichtige Aufgabe zu erfüllen.
Die Lichtelfin war so in ihre Gedanken vertieft, dass sie nicht einmal das kräftige Klopfen an ihrer Türe hörte. Arturion öffnete sie. Vor ihnen stand der Steinhauer Petrion mit der Statue Arturions. Das Werk seiner letzten Stunden, bevor er in tiefen Schlaf verfiel.
»Höhöm…«, ließ Petrion ein lautes Räuspern hören, was die Lichtelfin tatsächlich aus ihren Tagträumen riss. Verwirrt schüttelte sie ihre wunderschöne Haarpracht, um ihre Sinne wieder zu erwecken. Der Steinhauer starrte Apollonia unwillkürlich an. Er konnte seinen Blick nicht von ihr wenden. Sie umfing eine ätherische Schönheit, die einen in seinen Bann zog. Arturion boxte ihm mit seinem Ellbogen in die Seite, um den Meister auf den Boden der Realität zurückzuholen.
»Aua, was tust Du da?«
»Ich habe Dich gerade aus einer peinlichen Situation gerettet, Meister«, antwortet der Elfenjüngling frech. Petrion lief augenblicklich rot im Gesicht an, als ihm bewusst wurde, dass Arturion damit Recht hatte. Verlegen blickte er zu Boden.
»Sei gegrüßt, Li … Li … Lichtelfin Apollonia!« stammelte er. Zu gern hätte er den Rhythmus seines Herzschlages verlangsamt, doch beim Anblick dieser wunderschönen Elfin wurde dies unmöglich. Um sich nicht weiter zu blamieren, stellte er das Meisterwerk Arturions nun ohne weitere Worte vor Apollonia ab und ging bloß mit einem leise gemurmelten Abschiedsgruß und einem kurzen sehnsüchtigen Blick auf sie durch deren Tür ins Freie.
Die Lichtelfin schaute ihm überrascht nach. Dann fiel ihr Blick auf das Werk Arturions. Sie schaute ihn fragend an.
»Das, geehrte Apollonia, ist die Antwort auf Deine Frage«, meinte er ohne Umschweife. »Dies macht mich glücklich. Es macht mir Freude, etwas Neues zu erschaffen, und ich bin wirklich gut darin!« ergänzte er seine vorangegangenen Worte wenig bescheiden.
Apollonia nickte und kreiste nun um die wunderschön gearbeitete Skulptur, die einen ungewöhnlichen Drachen zeigte. Sie fuhr mit ihren Fingern vorsichtig über das behauene Gestein. Plötzlich spürte sie etwas, das sich wie Buchstaben anfühlte. Sie bückte sich, um genauer hinzusehen. Es waren Schriftzeichen in die Skulptur eingemeißelt. In der alten Schrift ihres Volkes. Sie kniff ihre Augen zusammen, um den Blick zu schärfen und das Geschriebene zu entziffern. Still las sie, was Arturion in seinem Schaffensdrang eingemeißelt hatte:
Drache aus Stein, aus fünf wird ein, so soll es sein.
Der Drache sah anders aus als alle Flugwesen, die sie je gesehen oder von denen sie gehört hatte. Es ging ein starker Sog von der Statue aus. Sie verströmte eine magische Aura. Die Inschrift hatte Apollonia in dem Moment schon wieder vergessen, als sie sich Arturion zuwandte, um ihm ihr ehrliches Lob für sein Werk auszusprechen.
Die Ausbildung Arturions war nun beinahe abgeschlossen. Noch ein paar kleinere Aufgaben, dann war Serah an der Reihe.
Im Gasthaus zum »Nikarus«, wo die fünf Familien einen entspannten Abend verbrachten, kam ein weiterer Gast hinzu. Alle waren in bester Stimmung, als der kostbar gewandete Besucher den Schankraum betrat. Er trug einen bodenlangen purpurnen Umhang, der von einem beeindruckenden, edelsteinbesetzten Gürtel zusammengehalten wurde und war keinesfalls ein Gefolgsmann Tyrannoks. Sein Gewand entsprach nicht dessen Farben und Muster. Zudem würde dieser keinen seiner Leute in solch kostbarer Aufmachung kleiden. Doch wer war dieser Elf, der zu später Stunde in diesem einfachen Gasthaus um Unterkunft bat?
Der mysteriöse Gast setzte sich an einen entfernten Tisch und würdigte die weiteren Besucher keines Blickes. Er schien unnahbar, und als ob er etwas zu verbergen hätte.
Die geflüchteten Familien unterhielten sich nun nur noch im Flüsterton. Der Gastwirt bediente derweil den Edlen mit seinem hervorragenden Eintopf und selbstgebrautem Eichelbier.
Es blieb nicht bei dem einen mysteriösen Gast. Wenig später kam ein Weiterer hinzu. Auch dieser war kostbar gekleidet und schien nicht in die einfachen vier Wände des Gasthauses zu passen. Als der feine Elf den Schankraum betrat, wurde es für einen kurzen Moment mucksmäuschenstill. Diesen schien dies nicht zu stören. Er schaute sich kurz um und lief dann ohne Umschweife zum Elfen im purpurnen Umhang. Beide legten sich, zum Gruße, die rechte Hand auf die Brust, und verneigten sich voreinander. Dann setzten sich beide. Doch sie sprachen kein Wort miteinander. Beide saßen sie still am Tisch und schwiegen sich an. Sie schienen auf etwas oder jemanden zu warten. Nun schauten die Elfenfamilien der Stadt jenseits des Flusses gebannt zur Tür. Sie waren sich sicher, dass gleich ein weiterer Gast kommen musste. Oder sogar mehrere. Und sie sollten Recht behalten.
Widerstand
Arturions Lehrzeit ging schneller vorbei, als er zu hoffen wagte. Bisher hatten seine Freunde sein Werk noch nicht zu sehen bekommen. Es blieb vorerst bei Apollonia in Gewahrsam. Die Lichtelfin überließ Arturion die Entscheidung, wann er den Drachen aus Stein seinen Freunden offenbaren wollte. Er wollte sich damit Zeit lassen. Der richtige Zeitpunkt würde schon kommen, da war er sich sicher. Nun hatte er erst mal den letzten Auftrag zu erfüllen. Er sollte Serah zu Apollonia bringen. Ihre Zeit war gekommen, den Umgang mit der Herbstmagie zu erlernen. Bis zum Winteranfang hatte sie Zeit dazu, dann kam Juwen an die Reihe.
Das Elfenmädchen mit den blonden Locken und den großen blauen Augen war schwer zu finden. Arturion versuchte es als erstes bei den Drachen, wo man sie meistens vorfand. Er fand zwar Poesia, aber Serah war nicht zu entdecken. Bei ihr zu Hause war sie auch nicht. Doch Quirion, der jüngere Bruder konnte ihm weiterhelfen.
»Serah ist bei Deliah.«
»Es sei Dir gedankt. Ich werde mein Glück bei Deliahs Familie versuchen.«
Somit lief er zu deren Zuhause. Es war etwas höher gelegen in der Siedlung am Montaurei. Der Weg dorthin war ein wenig beschwerlich, doch die Lage war hervorragend. Von Deliahs Haus konnte man sogar die strahlende Festung am Montumbra sehen. Und die Aussicht über die weite Ebene am Fuße des strahlenden Tales war atemberaubend.
Etwas außer Atem klopfte er an die Tür der Familie Deliahs. Ihr kleiner Bruder Skarion öffnete diese und ließ den jungen Besucher ein.
»Wir haben Besuch. Arturion ist da.« rief dieser ins Haus hinein. Sofort erschien seine Mutter hinter ihm. Liebevoll wuschelte die zierliche Elfe durch die stoppligen Haare Skarions.
»Werter Arturion, wie können wir Dir helfen?«
»Ich suche nach Serah. Quirion meinte, sie sei bei Euch.«
»Richtig. Die beiden nähen sich gerade ein neues Gewand.«
»Apollonia lässt nach Serah schicken. Ich soll ihr ausrichten, dass ihre Zeit nun begonnen hat, um in die Lehren der Magie eingewiesen zu werden.«
»Wie erging es Dir denn in dieser Zeit?« wollte Deliahs Mutter wissen.
»Besser als gedacht«, meinte Arturion mit einem geheimnisvollen Lächeln auf den Lippen.
Es kamen tatsächlich noch mehr Gäste. Noch einer in edler Kleidung, der sich gleich zu den zwei andern setzte und einer, der eher in dieses einfache Gasthaus passte. Der einfach gekleidete Elf schaute in Richtung der auffälligen Besucher und murmelte unschöne Worte vor sich hin. Er konnte von Glück sprechen, dass die Edlen ihn nicht gehört hatten. Die waren nun in ein angeregtes Gespräch vertieft und gestikulierten wild mit ihren Armen und Händen. Die Flüchtlinge beobachteten alles um sich. Es war ein wahres Schauspiel. Plötzlich wurden sie von einem lauten Knacken abgelenkt. Der letzte Gast, der etwas zu wohlgenährt war, hatte sich auf eine Bank im Wirtshaus gesetzt, und diese gab ächzend unter seinem Gewicht nach. Der Gast in seinem purpurnen Gewand fuhr erschrocken auf und schaute nun grimmig auf den am Boden sitzenden Elfen.
»Schaut mich nicht so schadenfreudig an, ihr Wichtigtuer. Habt Ihr nichts Besseres zu tun, als auf einen armen Geschädigten, schwer für sein Wohl arbeitenden Elfen, hinunter zu schauen? Arrogantes Pack, kommt hierher in euren teuren Gewändern und erniedrigt uns mit euren Blicken!«
Einer der gutgekleideten Elfen packte nun den Dicken grob an seiner Jacke und zog ihn mit Schwung auf die Füße. Die Leichtigkeit, mit der er dies tat, hätte man ihm nicht zugetraut, so schmächtig wie er war.
Der Dicke fühlte sich dadurch umso mehr gedemütigt und fing jetzt erst recht an, die edlen Gäste zu beleidigen:
«Widerliche Schicki-Mickis«, zischte er dem in Augenhöhe befindlichen Elfen im purpurnen Umhang geradewegs ins Gesicht. Stinkender Atem und eine bemerkenswerte Salve Speichel begleiteten seine Worte. Ohne mit der Wimper zu zucken wischte der Elf mit dem Ärmel seines edlen Gewandes über sein Gesicht, mit der anderen Hand hielt er immer noch den Dicken fest, der weiter wetterte.
Der Gastwirt schritt nicht ein. Er beobachtete das Ganze nur. Gelähmt vor Entsetzen! Doch ein Herr der Flüchtlinge, der dieses unflätige Benehmen nicht akzeptieren wollte, mischte sich nun beherzt ein. Auch wenn ihn seine Frau versuchte davon abzuhalten. Auch die anderen Elfenmänner gesellten sich dazu. Die Elfenmütter und ihre Kinder hielten sich im Hintergrund. Ein anderer Elfenvater versuchte, den dicken Elfen zurückzudrängen, um vernünftig auf ihn einzureden. Doch dieser hatte sich schon so in Rage geredet, dass er sich nicht mehr stoppen konnte. Er war nicht nur dick, sondern strotzte auch vor Kraft und fegte zwei der Flüchtlinge zur Seite. Damit hatte er sich nicht nur die edlen Elfen zum Feind gemacht, sondern auch die Flüchtlinge gegen sich aufgebracht. Der dicke ungepflegte Elf rammte mit voller Wucht seinen Kopf in den Bauch des zweiten Edelmannes. Dieser klappte zusammen und schnappte nach Luft. Der Purpurne und der dritte Gast in vornehmer Kleidung wurden zugleich mit je einer Hand von dem aufgebrachten Besucher gepackt und quer durchs Wirtshaus geschleudert. Direkt vor die Flüchtlinge. Annelin half den beiden benommen wirkenden Edelmännern vorsichtig wieder auf die Beine. Die bedankten sich mit einem freundlichen Nicken bei ihr, und drehten sich zurück. Dem Geschehen zu. Da versuchte der Dicke gerade, auch den Dritten von ihnen in die Mangel zu nehmen. Doch er wurde von allen Elfenmännern der Flüchtlinge in Schach gehalten, was kein leichtes Unterfangen war. Die Wut des Dicken schien ihm unermessliche Kraft zu verleihen. Der Dritte im Bunde der edlen Elfen schaute ihn nur verächtlich an, als er sich loszureißen versuchte.
»Du solltest nun dieses Gasthaus verlassen. Sonst kann ich für nichts garantieren. Diese einfachen Leute hier haben sich ehrenhaft benommen, und uns beigestanden, obwohl sie nicht dazu verpflichtet waren. Sie kennen Anstand und Sitte, was man von Dir nicht behaupten kann. Wir haben uns unseren Rang in der Gesellschaft hart erarbeitet und tragen mit Stolz diese edlen Gewänder. Auch wir waren einst einfache Elfen. Wir haben uns durch ehrlichen Handel von Dracheneiern unseren Rang in den Reihen unseres Elfenvolkes erarbeitet. Du hast somit keinen Grund, uns drei zu beleidigen!«
Die fein gekleideten Elfenherren gingen zurück zu ihrem Platz. Die Männer der Flüchtlinge brachten den dicken Elfen zur Tür des Gasthauses. Sie ließen es sich nicht nehmen, ihn mit einem Tritt in den Allerwertesten hinaus zu komplementieren. Befriedigt traten sie zurück ins Gasthaus und gesellten sich wieder zu ihren Familien.
Die drei Dracheneihändler kamen umgehend zu ihnen. Sie verneigten sich dankend.
»Werte Elfen, Ihr habt wahrlich ehrenhaft gehandelt und uns beigestanden. Wir möchten Euch zum Danke etwas schenken.«
»Das war doch selbstverständlich. Wir haben gern geholfen.« Die Händler schauten sich an und nickten einvernehmlich. Dann gingen zwei raus und holten das Geschenk.
In der Siedlung im strahlenden Tal lief Arturion mit Serah den Hang hinunter zu Apollonia, die für die Zeit, in der sie die Auserwählten unterrichten wollte, ein leer stehendes Häuschen der Siedlung bezogen hatte. Vor nicht allzu langer Zeit waren die Elfen zurück auf den Montaurei gezogen, da bald die kalte Jahreszeit Einzug halten würde. Noch war die Zeit der reifen Früchte und bunten Blätter. Die Zeit der Lehre für Serah.
Der Herbst hatte seinen ganz eigenen Geruch. Serah atmete die frische, feuchte Luft gierig ein. Prickelnd lief ein Schauer ihren Körper runter und löste ein wenig Serahs angespannte Stimmung. Ein herab segelndes Blatt streifte ihre Wange, als sie mit Arturion den schmalen Pfad zu Apollonias Häuschen entlanglief. An einer Wegkreuzung hielten sie an, denn eine Wand aus dichtem Nebel baute sich vor ihnen auf und sie wussten nicht, welcher Weg zu ihrem Ziel führte. Die Sicht wurde so schlecht, dass sie kaum die Hand vor ihren Augen sehen konnten.
»Auch das noch!« schimpfte Serah. Sie hatte schon den ganzen Weg wütend vor sich hergebrabbelt. Und es wurde nicht besser, als sie beinahe von einer reifen Beere erwischt wurde, die sich von einem Zweig gelöst hatte, und in freiem Fall auf Serah zuraste. Ihr gutes Gehör rettete sie. Im letzten Moment neigte sie ihren biegsamen Rücken nach hinten und die Frucht landete sanft auf dem am Boden liegenden bunten Laub. »Nicht einmal die Früchte des Herbstes gönnen mir meine Ruhe!«
Arturion bückte sich nach dem fruchtigen Geschoß und packte sie in eine Tasche, die er bei sich trug, um sie später zu einem leckeren Nachtisch verarbeiten zu lassen. Der Nebel lichtete sich. Serahs Laune wurde dadurch nicht besser. Sie herrschte Arturion giftig an:
»Kann ich nicht bis morgen warten?«
»Von mir aus schon, doch ich habe Apollonia versprochen, Dich unverzüglich zu ihr zu bringen. Ich möchte mein Versprechen halten.«
»Versprechen, das ich nicht lache! Was ist so dringend, dass es nicht warten kann?«
»Deine Zeit mit Apollonia ist kostbar. Du hast nur den Herbst, um deine Prüfung zu bestehen!«