QUITT - Stefan Gliwitzki - E-Book

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Stefan Gliwitzki

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Beschreibung

Das von harter Hand geführte Familienunternehmen Peter GmbH & Co. KG in Oberklemmbach bringt zufällig einen sensationellen neuen Quittenbrand mit geheimnisvollen Zutaten auf den Markt und löst damit einen irrwitzigen Hype im ganzen Land aus, als ob die ganze Nation nur darauf gewartet hätte, endlich mal wieder von einer obskuren Obstbranntwein-Kreation umgehauen zu werden. In der Firma jagt deshalb ein Meeting das andere. Alle sind bis zur Oberkante beschäftigt. Manche wittern neue Karrierechancen. Andere fürchten um ihr ruhiges Dasein. Der ganz normale Wahnsinn des Arbeitsalltags steigert sich schließlich auf groteske Weise. Korruption und Verrat überschatten die Euphorie um die neue Erfolgsformel, die streng geheim bleiben muss. Die Konkurrenz schläft jedoch nicht und das Unternehmen wird schließlich Opfer filmreifer chinesischer Spionageaktionen. Eine implosionsreife Welt eröffnet sich – wenn da nicht dieser kleine zugelaufene Hund wäre ... Ein satirischer Roman für Menschen, die mit der Arbeitswelt, ihren Absurditäten und ungeschriebenen Gesetzen vertraut sind, Sarkasmus schätzen und sich den hart erarbeiteten Frust über den Job mal richtig vom Leib lachen wollen. Menschen, die das Leben in Kleinstädten kennen und sich darüber amüsieren können. Menschen, die einfach so gern lachen oder es lernen wollen. „Ein größenwahnsinniger Gesellschaftsroman – so monumental, dass er die 'Buddenbrooks' verblassen lässt. Alles andere wäre für Gliwitzkis Buch wohl unverschämt untertrieben …“

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QUITT!

Impressum

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Lektorat/Korrektorat: Ralf Diesel

Grafisches Gesamtkonzept, Titelgestaltung, Satz und Layout: Stefan Berndt

ISBN: 978-3-95894-278-3

© Copyright: Omnino Verlag, Berlin / 2024

Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen und digitalen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten.

Coverabb.: canva.com/KI-generiert

Inhalt

Der Schrei (Samstag, 30.7.22)

Verrat

Auftakt

Buschido (einige Tage zuvor)

Team Fünfzig (immer noch Montag, 1.8.22)

Der Kick (Dienstag, 2.8.22)

Swing (Wochen davor)

Fahndung (Mittwoch, 3.8.22)

Tarzan (am selben Tag)

Richtungswechsel (Donnerstag, 4.8.22)

Suche (Freitag, 5.8.22)

Alles anders (am selben Tag)

Eien Män (Samstag, 6.8.22)

Keiner da (Samstag, 6.8.22)

Schweigen (Montag, 8.8.22)

Gute Idee (am selben Tag)

Die Daltons

Zwei Mal (Montag, 8.8.22)

Zu dumm (am selben Tag)

Butter (Dienstag, 9.8.22)

Rückfall (am selben Tag)

Entscheidung (Mittwoch, 10.8.22)

Einsatz (Donnerstag, 11.8.22)

Startschuss (Freitag, 12.8.22)

Skandal (Samstag, 13.8.22)

Ausgeschnüffelt

Notfälle (Sonntag, 14.8.22)

Spürhunde (Montag, 15.8.22)

Eskorte (Dienstag, 16.8.22)

Kleine Teile (am selben Tag)

Täter oder Opfer? (Mittwoch, 17.8.22)

Einer zu viel (Donnerstag, 18.8.22)

Startschuss (Freitag, 19.8.22)

Zweierlei Grün (am selben Tag)

Drei Richtige (Samstag, 20.8.22)

Trigger (am selben Tag)

Kampftag (Sonntag, 21.8.22)

Taufe (Montag, 22.8.22)

Herber Abgang (Dienstag, 23.8.22)

Viel Kakao (Mittwoch, 24.8.22)

Alle Neune (Donnerstag, 25.8.22)

Tops und Flops (Freitag, 26.8.22)

Kaffee und Kuchen (Samstag, 27.8.22)

Familiensache (Sonntag, 28.8.22)

Touch of Asia (zur selben Zeit in China)

Daumen hoch (Montag, 29.8.22)

Plötzlich laut (Dienstag, 30.8.22)

Heiße Luft (Mittwoch, 31.8.22)

Entkorkt (Freitag, 2.9.22)

Mission (am selben Tag)

(Montag, 5.9.22)

These boots are made for walking

Entknotet (Dienstag, 6.9.22)

Startschuss (Mittwoch, 7.9.22)

Auf die Plätze! (Donnerstag, 8.9.22)

Kein Weg zurück (Freitag, 9.9.22)

Einer geht noch (am selben Tag)

Häutungen (Samstag, 10.9.22)

Ostwind (Montag, 12.9.22)

Tagebuch 13.9.22) eines Tierverwalters (Dienstag,

Fragen (Mittwoch, 14.9.22)

Countdown (Donnerstag, 15.9.22)

Bühne frei (Montag, 19.9.22)

Sozialer Wohnungsbau (Dienstag, 20.9., bis Freitag, 23.9.22)

Seepferdchen (Montag, 26.9.22)

GO! (Dienstag, 27.9.22)

Fertig! Testlauf (Mittwoch, 28.9.22)

Und dann ist Ruhe (am selben Tag)

Los! (Freitag, 30.9.22)

Saubere Sache

Nachbrenner/Epilog

Der Schrei (Samstag, 30.7.22)

„Sind die denn wahnsinnig?“

Hans Karl Peters Stimme donnerte mit urwüchsiger Kraft durch alle drei Etagen bis ins Dachgeschoss des Hauses, wo das Echo mit alpiner Wucht zu seinem Ursprung zurückgeschleudert wurde. „Dem Verräter schicke ich einen Schlägertrupp nach Hause!“, dröhnte die nächste Brüllattacke und nahm denselben Weg durch Raum und Zeit. Dieses Mal allerdings kippte die Tonlage zwei Oktaven höher ins Fistelige, was der Situation eine ungewollte Komik verlieh. Völlig entgeistert starrte der Seniorunternehmer auf die verhasste Lokalzeitung Die Klemme, die wie jeden Samstag auf seinem Frühstückstisch lag. Beide Mundwinkel zuckten clownesk auf und ab, während er mit seinem rechten Zeigefinger auf die Titelzeile einstach: „Neuer hochprozentiger Topseller der Firma Peter kurz vor Markteinführung“, stand dort. Seine Gesichtsfarbe hatte innerhalb von Sekunden alle Nuancen von blass bis zum aktuellen Infarktblau durchlaufen wie ein Chamäleon auf Speed. Jahrelang hatte er dieses Geheimnis gehütet wie seinen rechten Lieblingsaugapfel und die Mitarbeiter der Peter GmbH und Co. KG zum Schweigen verpflichtet. Nun wussten alle davon: die Konkurrenz, die Kunden, die Geschäftspartner, einfach jeder. Und noch dazu erfuhren sie es aus der Zeitung – der Super-GAU für jedes Unternehmen. Als wäre das nicht schlimm genug, musste er im weiteren Text die üblichen Halbwahrheiten und Spekulationen des örtlichen Chefreporters Uwe Dittmann über sich ergehen lassen. Wofür bezahlte er eigentlich die Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit, die immer von „besten Beziehungen zur Journaille“ faselte? Mit denen gab es einen ganzen Hühnerstall zu rupfen, ach was, man sollte sie alle rausschmeißen. Hans Karl Peter war in Aufruhr, der Tag war im Eimer. Die Woche. Der Monat. Die Zukunft. Die Pläne für die große Feier zum fünfzigsten Firmenjubiläum in zwei Monaten drohten wie eine Seifenblase zu zerplatzen.

Seine Frau Gisela hatte in der Küche bei seinem ersten Wutausbruch augenblicklich die Kontrolle über die Bratpfanne verloren, in der sie just die drei Spiegeleier hatte wenden wollen, die ihr Gatte traditionell – mit der Sonne nach unten – für einen standesgemäßen Anfang des Wochenendes beanspruchte. Die abrupte Klappbewegung ihres rechten Unterarmes in Richtung Oberarm hatte für eine rekordverdächtige Aufwärtsbeschleunigung gesorgt, durch die alle drei Eier synchron die Pfannenbodenhaftung verloren hatten. Auf der Schallwelle des ersten Schreis waren sie spontan nach oben geschossen, wo sie aber auf ihrem Weg jäh von der designpreisgekrönten Deckenleuchte der Marke Illuminato dekorativ aufgehalten worden waren. Dort hingen sie nun formlos herum, wobei sich das Eiweiß besser hielt als der sich langsam auflösende, nach unten tropfende Dotter. Zu schnell für einen Stalaktiten. Das alles war so rasend schnell gegangen, dass Gisela Peter den Nachhall der abwärts scheppernden Pfanne und die Furcht vor einem anschwellenden Tinnitus nicht auseinanderhalten konnte. Dieses fiese Fiepen im linken Ohr! Vor den spitzen Schreien ihres zur Hysterie neigenden Ehemannes hatte ihr Hals-Nasen-Ohrenarzt sie schon öfter gewarnt und zu akustischen Selbstschutzmaßnahmen geraten. Mit dreiundsiebzig schreien Männer offenbar häufig in Sopranlage, mögen sie in ihrer Blütezeit auch eher über einen brunftigen Bass verfügt haben. Die Unternehmergattin kam nicht umhin festzustellen, dass mit dieser Veränderung der Tonlage die Männlichkeit ihres Gatten an Souveränität einbüßte. Früher hatte sein Brummbass Geborgenheit ausgelöst. Und heute? Sie verbot sich, darüber weiter nachzudenken. Musste die Haushälterin ausgerechnet samstags frei haben, wenn ihr tyrannischer Mann sie am meisten beanspruchte? Es war doch wirklich nicht einzusehen, dass sie selbst auf der ganzen Arbeit sitzen blieb. Schließlich war sie weder zur Hausfrau geboren, noch sah sie als Unternehmergattin darin ihre Bestimmung. Auch sie hatte schließlich ein Recht auf freie Zeit. Da würde sich einiges ändern müssen.

Hans Karl Peter griff indessen zum Telefon, rief seinen Sohn Jeremias an und schnauzte in den Hörer: „Familientreffen, sofort! Und bring den Friemel mit! In dreißig Minuten hier am Tisch!“

„Soll ich Fiona auch inf...?“, fragte der verunsicherte Juniorchef.

„Nein, deine Frau kann bleiben, wo sie ist. Für Krisen taugt sie eh nicht“, ranzte ihm sein Vater ins Wort.

Wie befohlen fanden sich Jeremias, alias „Jay Pi“, wie man ihn im Unternehmen nannte, und der Geschäftsführer Johannes Friemel, alias „der Fummler“, der überall seine Finger drin hatte, im Herrenhaus der Peters ein. Das Haus lag inmitten eines bilderbuchartig angelegten englischen Gartens, dessen preisgekrönter Landschaftsgärtner von Hans Karl Peter gewissenhaft unter den vierundachtzig zur Wahl stehenden Anbietern aus ganz Europa ausgesucht worden war. Er war der teuerste von ihnen, hatte zwölf Bücher veröffentlicht und zählte die Queen – Gott hab sie selig – zu seinen Kundinnen. Wie sein Auftraggeber, hasste auch er Bambus aus tiefstem Herzen, was eine gute Arbeitsgrundlage bot. Friemel gehörte nicht zur Familie. Als erfahrener Manager war er damit beauftragt, den Junior an die Hand zu nehmen und für die Führung der Firma fit zu machen, bevor der Vater sich irgendwann aus dem Geschäft zurückziehen würde. Wann das sein sollte, blieb für alle Beteiligten im Nebel der Spekulation verborgen, der sich seit acht Jahren im Unternehmen verbreitete.

Als er fünfundsechzig geworden war, hatte Hans Karl Peter angekündigt, in zwei Jahren einen Schritt zurückzutreten und der jüngeren Generation das Ruder zu übergeben. So stand es dann auch in der Zeitung, und die Menschen zogen respektvoll ihren Hut. Diese Entscheidung war eine Befreiung für den Junior, der einfach nicht in die Fußstapfen seines Vaters passen wollte, solange dieser voranschritt. Fortan stolzierte Jeremias Peter mit geradem Rücken durch die Fußgängerzone von Oberklemmbach, sein neues, strahlendes Selbstbewusstsein reichte für die gesamte Kleinstadt. Den Rückzug hatte der Alte damit begonnen, seinem Sohn gleich bei der nächsten Betriebsversammlung das Rednerpult zu überlassen. Der Vater hatte noch vor der ersten Reihe gesessen und auf der Stuhlkante mit unerträglicher Spannung und eingefrorenem Lächeln auf die ersten Worte seines Sohnes in der neuen Rolle als Thronfolger gewartet. Als Jay Pi seinen zweiten Satz begann mit: „Ähm, ich würde gern in Zukunft, also wenn das okay für euch ist, in enger Zusammenarbeit mit dem Betriebsrat …“, konnte er ihn nicht einmal selbst beenden. Sein Vater sprang mit überraschender Geschwindigkeit auf, hechtete auf das Pult zu und entriss ihm mit eisernem Griff das Mikrofon. Dies sollten vorerst die letzten Worte des Sohnes an die Belegschaft gewesen sein – und das für nun schon mehr als acht Jahre. Gleich zwei Reizwörter in einem Satz waren einfach zu viel für Hans Karl Peter – „Betriebsrat“ und dieses verbrüdernde „euch“. „Was mein Sohn Ihnen sagen will“, tönte der alte und neue König so laut, dass die Lautsprecher knarzten, „ist …“. Der Rest – Legende. Dann zog Hans Karl Peter einen Zettel mit Notizen für seine Ansprache aus der Innentasche seines Anzugsakkos – und mit ihm alle rhetorischen Register. Er legte eine fulminante Rede ohne „äh“ und „aber“ hin, ohne „du“ und „ihr“. Als er fertig war, herrschte gespenstische Ruhe. In den Gesichtern der fünfhundertdreißig Mitarbeiter konnte man den Schock ablesen, der sich wie eine Bleiweste auf ihre Schultern gelegt hatte. Der Betriebsrat, der kurzfristig innerlich um einen Meter gewachsen war, schrumpfte wieder auf Normalgröße. Das Thema Bonuszahlung für alle war von der Tagesordnung verschwunden. Vergessen war alles Rückzugsgeläut des Seniorchefs, blass und gebückt verzog Jeremias Peter sich in die zwölfte Reihe, wo seine Abteilung Betriebliches Vorschlagswesen saß, deren stellvertretenden Leiter er vertrat, wenn der mal nicht da war. Er war immer da.

„Keine Fragen?“

Hans Karl Peter erklärte die Versammlung für beendet.

Auf Geheiß seiner Frau Fiona trat Jeremias Peter schon am folgenden Tag einen „lang geplanten“ achtmonatigen Arbeitsurlaub an, um im Ausland moderne Managementtechniken zu studieren. Zu einem Bericht über seine Erkenntnisse kam es nach seiner Rückkehr ins Unternehmen nie. Der ein oder andere meinte, ihn während dieser Zeit in der Dämmerung am Rande der Stadt dann und wann gesehen zu haben, ganz sicher war sich allerdings niemand. War Jay Pi nicht etwas größer als diese gebückte Erscheinung?

Johannes Friemel hatte also eine echte Herausforderung zu meistern. Diesen Sohn eines übermächtigen Vaters zu einem souveränen und respektierten Unternehmensführer zu formen, erschien ihm als eine zum Scheitern verurteilte Mission. Aber sie war zu gut bezahlt, um sie abzulehnen. Und mit erst vierzig Jahren zum Geschäftsführer eines erfolgreichen Familienunternehmens berufen zu werden, schmeichelte Friemels Ego schon sehr. Die Gehaltsverhandlung verlief ungewöhnlich. Als Hans Karl Peter ihm die eigentliche Aufgabe schilderte, die sich hinter der Position ‚Geschäftsführer für Sonderaufgaben‘ verbarg, runzelte Friemel nur einmal leicht die Stirn. Sein Gehalt wurde in derselben Sekunde verdoppelt, der Dienstwagen – ein Maserati – mit hundert PS mehr ausgestattet und sein Büro bekam eine Minibar. Aufgefallen war Friemel dem Unternehmer als Dozent eines Seminars namens „Wer viel erbt, hat noch nichts geschafft“, an dem beide Peters teilnahmen. Der eine sollte etwas lernen, der andere wollte ihm dabei zusehen. Der Vater belegte später noch ein weiteres Seminar bei Friemel, das den Titel „Die Scherben der Erben“ trug. Spätestens da war ihm klar, dass nur ein Typ wie Friemel seinen Sohn in die Erfolgsspur bringen könnte – wenn das überhaupt möglich war. Jeremias hatte sein Abitur erst im dritten Anlauf auf einem teuren Privatgymnasium fern der Heimat im tiefsten Bayern geschafft, das auch nur mit großer Mühe. Unter ausnahmslos verhaltensauffälligen Pennälern aus besserem Hause hatte er es binnen Stunden geschafft, als stinkreicher „Pinkel“ im Dauerabo nahezu sämtliche Mobbingenergie seiner Mitschüler auf sich zu ziehen. So lernte er zu leiden, ohne zu klagen. Seine Noten reichten hinten und vorne nicht für ein Studium in Deutschland, so blieb nur der Umweg über das Ausland. Nach mehreren Gesprächen, zu denen sein Vater eigens mit einem Anwalt aus London angereist war, nahm ihn schließlich eine Privatuniversität im schottischen Hinterland für den Studiengang Master of Business Administration auf. Um nicht der teuerste Flop der renommierten University of Lagavoulin zu werden, musste Jeremias aber erst diverse Englischkurse absolvieren. Nachdem er diese innerhalb von zwei Jahren abgeschlossen hatte, stellte er fest, dass an seiner neuen Uni ein harter schottischer Dialekt gesprochen wurde. Er verstand wenig bis nichts. Die anderen wiederum verstanden ihn nicht, weil sein heftiger deutscher Akzent jedes englische Wort bis zur Unkenntlichkeit verbog. Seine Bitte am Frühstückstisch „Ken ei hef se brett, pließ?“ sorgte verlässlich für gute Laune. Seine Kommilitonen nannten ihn „Se Dscherman“. Trotz dieser Hürden kam er, strauchelnd, durch die drei Jahre und kehrte mit einem international anerkannten Studienabschluss zurück, dessen Gesamtnote allerdings ein Geheimnis blieb. In seiner Heimatstadt verstanden ihn die Menschen nicht, weil er nun mit einem eigentümlichen Zungenschlag sprach, den niemand zuordnen konnte. Ein Tourist aus der Schweiz, der Jeremias Peter nach einer Straße fragte, fühlte sich von ihm veräppelt, weil dieser offenbar einen Zürcher Dialekt nachäffte. Andere hielten ihn für einen Niederländer mit einem schweren Sprachfehler oder einen Dänen, der längere Zeit in Island gelebt hatte und nun Deutsch als Fremdsprache lernte. Nach einem sechsmonatigen Intensivkurs bei einem Logopädieprofessor mit dem Spezialgebiet Interlinguale Interferenz waren die größten Stolpereien beseitigt. Nur wenn er in seinen Alpträumen laut sprach („Lett mi in pieß, ju schottisch fullidiot, or ei koll mei faser!“), fühlte sich seine Frau Fiona an verständigungslose Zeiten erinnert. Ihren Nachwuchswunsch bekam sie immerhin erfüllt. Die gemeinsame Tochter Fee wuchs in ihren ersten sechs Monaten mit zwei Sprachen auf, verstand aber nur eine davon.

Verrat

„Wer, in Gottes Namen, konnte wieder die Klappe nicht halten?“, polterte Hans Karl Peter über den Frühstückstisch, den seine Frau inzwischen abgedeckt hatte. Mit der linken Hand hielt er seinem Filius und Johannes Friemel die Zeitung entgegen, mit der anderen fuchtelte er wild herum. „Das kann uns Kopf und Kragen kosten!“ Der Topseller der Peter GmbH & Co. KG, der Quittenbrand Sausepeter, war in die Jahre gekommen und verkaufte sich nicht mehr so gut wie in der Blütezeit. Trotzdem war die patentierte Rezeptur noch immer einzigartig, und keiner hatte sie bisher erfolgreich kopieren können. Chinesische Firmen hatten immer wieder versucht, eine Billigkopie auf den Markt zu bringen, waren mit ihren Panschereien aber kläglich gescheitert. Auch mit der Sprache hatten sie es nicht leicht. Ihr Gebräu hatte schillernde Namen wie Prozente Peter oder Quid pro Po. Dennoch, der Geschmack der Konsumenten hatte sich geändert, und dem musste sich auch die Peter GmbH & Co. KG irgendwann stellen. Drei Jahre lang arbeiteten Entwicklungsleiter Jonas Mischke und sein zehnköpfiges Team an trendigen Rezepturen, mixten, probierten, verwarfen und hatten zahllose verkaterte Tage hinter sich. Im Unternehmen durfte das komplette Team keinen Kontakt mehr mit den anderen Mitarbeitern haben, „aus Gründen der Geheimhaltung“, wie es offiziell hieß. In der Kantine war es zu Zwischenfällen und Beschwerden wegen lauter Gesänge und Rangeleien mit dem Küchenpersonal gekommen. Einige „Rühr-Rudis“, wie man sie liebevoll nannte, hatten mehr Hochprozentiges in den Nachspeisen gefordert. Zwei Mitarbeiter mussten noch vor Ende der Entwicklungsphase einen Alkoholentzug antreten. Ein anderer, Fabian Dengler, nahm sich regelmäßig einige Kanister der Testsubstanzen mit in sein Home-Office, wo er sich hingebungsvoll dem Probieren widmete. Sein zwölfjähriger Sohn folgte dem neuen süßlichen Geruch im Haus und schlürfte mit einem Strohhalm aus diesem und jenem Kanister. Erst einmal, dann öfter. Im Englischunterricht hatte er plötzlich einen amerikanischen Akzent und endlich auch die dafür nötige Lockerheit im Mundwerk. Der Englischlehrer war entzückt. Als sich aber der Klassenlehrer bei den Eltern meldete, weil der Junge statt Büchern seinen Schlafanzug im Ranzen hatte, ständig einschlief, komisch roch und in den Pausen kleine Flaschen an Mitschüler verkaufte, sah sich seine fulltime arbeitende Mutter nach zwei Jahren erstmals wieder in seinem Zimmer um. Neben einer beträchtlichen Summe Bargeld fand sie hunderte kleine Flaschen und Etiketten, Versandkartons mit internationalen Adressen und eine Gewerbeanmeldung mit der gefälschten Unterschrift ihres Mannes. Sie hatte den Schock noch nicht verdaut, als eine Mitarbeiterin des Jugendamtes in Begleitung der Polizei an der Haustür klingelte. Die Selbsthilfegruppe der Anonymen Alkoholiker hatte sich aufgrund eines seltsam hohen Zulaufs von Zwölfjährigen eingeschaltet. Man war besorgt.

„Brauchen wir jetzt einen Privatdetektiv, der im Unternehmen die undichte Stelle findet, oder was?“, fragte Hans Karl Peter die beiden schweigenden Männer, die sich nicht trauten, ihren Kaffee anzurühren. Johannes Friemel dachte an den Mann mit den Testkanistern auf dem Parkplatz und fragte sich, was er wohl damit vorhätte. Einer der beiden Mitarbeiter, die in der Entzugsklinik waren, war seither nicht mehr im Unternehmen aufgetaucht. Vielleicht hatte dieser ja …

„Wir fragen am besten unsere PR-Frau, woher die Lokalfuzzis das wissen können“, fuhr der Alte fort.

„Vielleicht hat die sich verplappert. Wäre ja nicht das erste Mal.“

Als Helen Spieker, die Leiterin der Abteilung für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, die Telefonnummer ihres Chefs auf dem Display ihres vergoldeten Smartphones sah, war sie sofort hellwach. Der Abend in der Cocktailbar war länger und süffiger geworden als geplant, ein Drink war nahtlos in den nächsten übergegangen. An den Rest konnte sie sich nicht erinnern. Sie schob den Mann, der neben ihr am Stehtisch in der Küche stand und sich gerade wieder an ihrem knappen Rock zu schaffen machte, brüsk zur Seite. „Ähm, du, ich glaube, du musst jetzt gehen.“ Wie war sein Name doch gleich? Hatte sie ihn überhaupt je gewusst?

„Kevin heiße ich, schon vergessen?“, zischte der eben noch Namenlose, griff beleidigt nach seiner Jacke und wankte in Richtung Wohnungstür.

„Brings nächse Ma ws von euam Peterjesöff mit, soll ja gut knalln“, brüllte er, und die Tür fiel hinter ihm ins Schloss.

Helen Spieker wurde spontan speiübel. Hatte sie die Kontrolle über sich verloren und Dinge erzählt, die nicht für andere Ohren bestimmt waren? KO-Tropfen vielleicht? „Spieker“, sang sie ins Telefon, „Guten Morgen, Herr Peter, schön Sie zu…“

„Ihre Säuselei können Sie sich sparen, Frau Spieker! Haben Sie schon das Schmierblatt gelesen?“, fuhr er sie an.

Hatte sie nicht, und das war ihr peinlich.

„Ähm, ich …“

„Was treiben Sie eigentlich, wenn Sie nicht im Unternehmen sind?“, unterbrach sie Peter schroff. Wusste er bereits von ihren Eskapaden?

„PR-Leute sind immer im Dienst, Frau Spieker. Vielleicht sehen Sie sich nochmal Ihren Arbeitsvertrag an. Sie lesen jetzt sofort die Zeitung und kommen dann zu mir. Eine Erklärung wäre gut.“

Das Gespräch war beendet.

Hektisch suchte Helen Spieker auf ihrem Smartphone nach der Online-Ausgabe der örtlichen Tageszeitung. Bestürzt las sie den Artikel, in dem wie immer nicht viel stimmte. Aus diesem Grund hatte sie die Lokalpostille schon längst abgehakt, weil selbst die einfachsten Dinge anscheinend eine Überforderung für die selbstherrliche Redaktion waren. Sorgfalt und genaue Recherche waren offenbar Fremdwörter für diese Autodidakten, denen ein guter Text so leicht von der Hand ging wie einem Automechaniker eine Sahnetorte. Sie hatte ihre Karriere im Blick und befasste sich lieber mit der Wirtschaftspresse – und nun das: „Eine neue Rezeptur mit ungewöhnlichen Kräutern. Ein Schnaps mit unbändiger Power im Abgang und ein Muss für jede Kneipe“, wurde eine nicht namentlich genannte Quelle zitiert. In nur einem Monat würde der Verkauf offiziell starten. Woher hatten die das? Die Großkunden der Peter GmbH & Co. KG würden entrüstet sein, diese Information nicht persönlich von ihrem Lieferanten erhalten zu haben, der Vertriebsabteilung standen viele unangenehme Gespräche bevor. Helen Spieker konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wo im Unternehmen eine undichte Stelle existierte. Auf den Bruch der Geheimhaltungsvereinbarung stand eine saftige Geldstrafe. Welcher Trottel setzte da seinen Job aufs Spiel?

Eine halbe Stunde später parkte sie ihren Porsche zwischen Johannes Friemels Maserati und dem E-Bike von Jeremias Peter. Die Führerscheinprüfung hatte der Sohnemann auf Grund seiner Rechts-links-Schwäche selbst in fünf Anläufen nicht bestanden. Löwenrunde, dachte sie. Bevor sie das Esszimmer betrat, nahm sie den Umweg durch die Küche und begrüßte anstandshalber zuerst die Dame des Hauses, der das sichtlich unangenehm war. Spiekers Blick streifte kurz das abstrakte Ensemble an der Deckenleuchte, wurde aber von Frau Peters gelb verklebten Haaren abgelenkt. Sie sagte jetzt besser nichts. Statt einer Begrüßung pfiff Hans Karl Peter sie an: „Wie viel Kaffee müssen wir noch trinken, bis Sie endlich antanzen? Hat Ihr Hobel etwa zu wenig PS?“

Er wies ihr einen Stuhl zu. Zu dem feucht-gelben Fleck auf der linken Schulter ihres grauen Armanikostüms sagte keiner der Männer etwas, aber das Standing der Pressesprecherin war augenblicklich ruiniert. Manchmal reicht Eigelb an der falschen Stelle zur falschen Zeit. Das Treffen verlief ergebnislos, außer den zu erwartenden Schimpftiraden des Alten passierte wenig, und es kam auch sonst niemand zu Wort. Den Sonntag brauchten dann alle Beteiligten zur Erholung. Hans Karl Peter verabredete sich zum Golf mit dem Bürgermeister, Jeremias ging mit seiner Familie Minigolf spielen, und Johannes Friemel verzog sich in die Sauna. Helen Spieker powerte sich im Fitnessstudio aus und gönnte sich eine kosmetische Behandlung. Im Suff hatte dieser Calvin, oder Kevin – wie hieß er doch gleich? – gelallt, sie sähe für ihre fünfundvierzig noch ganz knackig aus. Sie war siebenunddreißig und musste etwas tun. Dringend.

Auftakt

Schon seit sechs Uhr morgens saß Nadine Grosfuß an ihrem Schreibtisch und brütete über einer Excel-Tabelle auf ihrem Computerbildschirm. Als Assistentin der Geschäftsführung hatte Hans Karl Peter ihr die Planung der Feier zum fünfzigsten Firmenjubiläum übertragen. Als er diese Nachricht in einem Meeting mit den Abteilungsleitern verkündete, entgleisten in manchen Gesichtern ganze ICE-Züge. Marketingleiter Björn Paulsen fühlte sich ebenso für die Aufgabe berufen wie Helen Spieker. „Frau Grosfuß wird ein Team zusammenstellen, das dieses wichtige Projekt gemeinsam vorbereiten wird“, beschloss Peter. Die arrogante Grosfuß sollte den anderen also auch noch Weisungen erteilen? Helen Spieker hatte nicht genug Platz im Magen, um all ihren Groll herunterzuschlucken. Björn Paulsen war in Gedanken bereits zurück in Dänemark. Der Personalchef Jobst Anstand hatte ihn erst vor einem Jahr aus dem Norden abgeworben, wo er zu dieser Zeit stellvertretender Marketingchef des größten dänischen Herstellers von Kräuterschnäpsen und ein echter Fang war. Seine ungewöhnlichen Werbekampagnen hatten für Aufsehen gesorgt und seinem Arbeitgeber gigantische Umsatzsprünge eingebracht, und der Konkurrenz Kopfzerbrechen. Ein Werbespot wurde sogar vom Internationalen Marketingverband mit dem Goldenen Händchen belohnt. Hauptdarsteller war ein Stechinsekt: Der Spot zeigte eine Mücke, die in ein Schnapsglas mit dem hochprozentigen Topseller „Äquator“ fällt, sich mit letzter Kraft rettet und auf dem Unterarm eines Priesters auf dem Weg in die Kirche landet. Sie sticht ihn durch die Kutte, worauf der Geistliche – augenblicklich vollständig alkoholisiert – in den Gottesdienst stürzt, auf die Kanzel kriecht und die Predigt seines Lebens hält. Über vorehelichen Sex. Die Gemeinde brüllt „Zugabe“, und beim Abendmahl inhalieren alle den Atem des Priesters und wanken daraufhin laut singend Arm in Arm aus der Kirche, die von da an jeden Sonntag brechend voll ist. Der Werbespot hatte weitreichende Konsequenzen: Die dänische Kirche beschloss auf einer Klausurtagung, sich beim Abendmahl nicht länger auf das Verabreichen von Wein zu beschränken, und der den Priester mimende Laienschauspieler, Carsten Knudsen, bekam einen Vertrag für die Hauptrolle in einem amerikanischen Kinofilm mit dem Titel One drink too many.

Am Tisch neben Nadine Grosfuß saß der Azubi Lukas Neubert, den sie damit betraut hatte, eine Einladungsliste vorzubereiten.

„Mit Titel, Anrede, Vornamen, Namen, Adresse und so weiter“, erklärte sie ihm.

„Wie soll ich die Adressen anordnen?“, erwiderte Neubert schüchtern.

„Nach Schuhgröße, Herr Neubert, nach Schuhgröße!“, ätzte sie.

Bei der Zusammenstellung des Teams hatte sie weitgehend freie Hand bekommen, aber der neue Azubi war bei der obligatorischen Visite der Abteilungen aktuell ihr zugeteilt und musste also eingebunden werden. Es war schon schwer genug, die beleidigte Streberin Spieker und den gekränkten Überflieger Paulsen in die Spur zu bringen, einen Grünschnabel dabei zu haben, überforderte ihre Geduld. Lukas Neubert schaute sie irritiert an.

„Aber, woher soll ich denn die Schuhgröße …?“

„Das war ein Scherz, Neubert, ein Scherz!“, bellte sie und konnte gerade noch die Lautstärke drosseln, als die Tür aufflog und Hans Karl Peter zornesrot vorbei in sein Büro stürmte. Wochenenden taten ihrem Chef nie gut, das wusste Nadine Grosfuß und dachte sich nicht viel dabei. Für heute war wieder ein Meeting des Teams „Goldene Fünfzig“ geplant, der Titel war ihre Idee. Dafür musste noch einiges vorbereitet werden. Neubert sollte Getränke für sieben Personen in den großen Besprechungsraum stellen, und sie genoss es, diese Art von Aufgabe abzugeben und einmal nicht diejenige zu sein, die den Gästen ihres Chefs Getränke und Gebäck vor der Nase drapieren und dabei womöglich auch noch dämliche Kommentare kassieren musste.

„Was trinken die denn so und wo stehen die Drinks?“, fragte der Azubi, froh über eine praktische Aufgabe.

„In der Teeküche hängt ein Zettel für Meetings, da stehen die Getränke pro Person drauf. Gehen Sie bitte auf dem Weg zur Küche noch in der Vertriebsabteilung vorbei und erinnern Herrn Guth an die Besprechung gleich um zehn Uhr. Der vergisst das gern mal.“ Die zwei Wochen in der Vertriebsabteilung hatten Lukas Neubert gut gefallen. Gisbert Guth und seine Truppe waren nicht nur erfolgreich, sondern auch cool. Um sich mit dem Hauptprodukt der Peter GmbH & Co. KG vertraut zu machen, musste er den Drink in seinen fünf verschiedenen Varianten probieren. Das war der beste Tag. Wie er damals nach Hause gekommen war, wusste er nicht mehr.

„Der Frischling, siehe da!“, rief die Vertriebsassistentin Julia Bende, als er in das Empfangszimmer des Vertriebschefs trat. „Hast du Sehnsucht nach uns?“

Bevor Lukas Neubert antworten konnte, stupste ihn etwas am rechten Bein. Er erschrak und blickte nach unten. „Das ist Buschido, unsere gute Seele“, verkündete Julia Bende.

„Montags ist er meistens bei uns und frisst sich erstmal satt.“

Der Hund hatte die Größe eines Terriers, mit dem er optisch aber nichts gemein hatte. Sein schwarz-weiß geflecktes Fell erinnerte mit seinen Locken an ein Schaf, das einem Graffitikünstler bei der Arbeit im Wege gestanden hatte. Freundlich und voller Erwartung blickte Buschido ihn an und wedelte mit dem kurzen Schwanz.

„Er meint, du müsstest ihn streicheln“, sagte Julia Bende.

„Ok.“

Vorsichtig ging Lukas Neubert in die Hocke und strich dem Hund mit der rechten Hand sanft über den Kopf. Schlapp! Eine Hundezunge fuhr ihm über das Gesicht.

„Er mag dich!“, jubelte sie.

Bushido rieb sich genüsslich an Lukas Neuberts Hosenbein.

„Woher hat der Hund seinen Namen?“

Buschido (einige Tage zuvor)

Eines Tages war der Hund einfach da. Woher er kam und wem er gehörte, wusste niemand. Der Gärtner des Unternehmens, Bert Grabowski, drehte gerade seine Abendrunde um die zehn firmeneigenen Gewächshäuser, in denen die geheimen Kräuter für die Entwicklung neuer Getränke angebaut wurden. Die Quittenbäume standen zu Hunderten am anderen Ende der Stadt, ebenfalls streng bewacht. In den Gewächshäusern eins bis sieben wuchsen bekannte Pflanzen wie Schafgarbe, Beifuß, Löwenzahn, Johanniskraut, Spitzwegerich, Ringelblume, Labkraut, Fenchel, Giersch und Anis. Entscheidend für die Ausnahmequalität und den einzigartigen Geschmack des Sausepeter waren jedoch die Gewächse in den Häusern acht und neun, zu denen nur wenige Personen Zutritt hatten: Außer Grabowski waren das lediglich der Entwicklungschef Jonas Mischke, der Leiter des Qualitätswesens Lasse Gudsen und natürlich Hans Karl Peter höchstpersönlich. Für das neue Kultgetränk, an dem die Rühr-Rudis arbeiteten, war eigens das Haus Nummer zehn errichtet worden, in dem exotische Kräuter gezüchtet wurden. Ein ganz besonderes hatte Jonas Mischke illegal aus der Mongolei mitgebracht, wo er mit dem Oberklemmbacher Bogenschützen e.V. einen Lehrgang „Reiter und Bogen“ absolviert hatte. Da er dabei allerdings ständig vom Pferd fiel, hatte man ihm ein Pony zur Verfügung gestellt, das auf Befehl anhielt. So konnte Mischke beruhigt beide Füße absetzen und aus dem Stand schießen, ohne abzusteigen. Das galt immerhin noch als „Schießen vom Pferd“, und er entging dem Gesichtsverlust vor den anderen zehn Vereinsmitgliedern. Das blau blühende Kraut mit dem markant-herben Geruch nach Tundra fand er zufällig, als er wieder einmal aus dem Sattel gefallen und mit dem Gesicht nach unten gelandet war. Es hatte ihn sofort inspiriert. Er trocknete ein Büschel über dem Lagerfeuer, atmete genüsslich den Duft ein und erzählte den anderen am nächsten Morgen mit leuchtenden Augen von den wildesten Träumen. Alle schnupperten, alle träumten. Das Kraut musste mit. Einen Namen hatte es nicht, was es umso geheimnisvoller machte. Es brauchte wenig Wasser und ernährte sich offenbar von Insekten, daher wuchs es nur im Sommer.

Bert Grabowski hörte in der Nähe von Haus neun ein Geräusch, das ihn stutzen ließ – eine Art Fiepen wie von einer rostigen Tür, die sich langsam öffnete. Nur war da nirgends eine Tür. Dem Geräusch folgend, näherte er sich einem Busch, der schon länger hätte gestutzt werden sollen. Stille. Er wollte gerade wieder gehen, als es wieder anfing zu fiepen. Jetzt kam ihm das Geräusch sogar etwas traurig vor. Als er mit der Stabtaschenlampe in den Busch leuchtete, sah er zuerst nur Fell, dann Augen, die ihn scheu ansahen. Angst vor Hunden hatte er nie gehabt. Er kniete sich vorsichtig hin. Als Besitzer zweier Beagle hatte er immer Leckerli in seiner Hosentasche, fand ein paar, hielt sie dem Hund hin und sprach das verängstigte Tier an. „Wie kommst du denn hierher, Kleiner? Hast du kein Zuhause?“ Es dauerte ein paar Minuten, bis der Hund sich traute, die angebotenen Happen anzunehmen. Sie schmeckten ihm, und er wollte mehr. „Du hast Hunger, was?“, fragte Grabowski, der die Not sofort erkannte. Bevor er zur Spätschicht kam, hatte er noch schnell das Nötigste für Zuhause eingekauft, auch Hundefutter. Seine beiden Hunde waren süchtig nach den Pasteten der Marke Schlappi, von denen er eine Vorratspackung im Büro verstaut hatte. „Warte, ich bin gleich zurück.“ Er ging zu dem Blockhaus, in dem sich sein Schreibtisch befand. Dort angekommen, nahm er eine Dose der Sorte „Wild und Lachs“ aus seinem Rucksack, drehte sich um und wäre beinahe über den Hund gestolpert, der ihm auf leisen Pfoten gefolgt war. Hunde wissen instinktiv, wem sie vertrauen können. Die Dose mit dem Fleisch vertilgte der Hund schnell, eine zweite auch. Das angebotene Wasser nahm er ebenfalls gern. So gesättigt legte er sich vor des Gärtners Füße und schlief auf der Stelle ein. Grabowsky kratzte sich am Kopf. Was war nun zu tun, rätselte er? Es war fast dreiundzwanzig Uhr, er konnte zu dieser späten Stunde nicht einfach beim Tierheim anrufen. Dort hätte man eventuell gewusst, ob irgendjemandem ein Hund entlaufen war. Er trug kein Halsband. Einen Chip unter dem Fell konnte man vielleicht finden und auslesen. Das musste aber warten. Er wollte das Tier nicht stören, doch mit nach Hause nehmen konnte er es auch nicht. Vertreiben? Das brachte er nicht übers Herz. Vielleicht lief er ja von allein weg. Bis sechs Uhr morgens würde seine Schicht noch gehen. Neben dem Blockhaus befand sich ein großer Schuppen für die Gartengeräte, dessen Tür immer offenstand. Dort lagen auch einige alte Decken, aus denen Grabowski ein weiches Lager baute, trocken und warm. Eine Schale mit Wasser stellte er dazu. Der Hund schlief so tief, dass er ihn einfach auf den Arm nehmen und in den Schuppen tragen konnte. Da lag er nun in Sicherheit, und Bert Grabowski ging wieder seiner Arbeit nach. Hin und wieder schaute er nach ihm, der Hund schnarchte leise und bewegte sich keinen Millimeter. Der friedliche Anblick stimmte den Gärtner milde – er freute sich, diesem lieben Vierbeiner helfen zu können. Als er seine Schicht beendete, sah er ein letztes Mal in das Holzhaus: friedliche Ruhe. Sein junger Kollege Fabian Kluge löste ihn pünktlich ab und staunte nicht schlecht, als Grabowski ihm erzählte, was passiert war. Er versprach, ein Auge auf den Hund zu haben. Als er später nach ihm sah, war der allerdings verschwunden. Ernsthafte Sorgen machte sich der Gärtner aber nicht, denn der Hund war wohl wieder nach Hause gelaufen. Gut so. Irgendwie hatte der Hund dann aber den Weg durch den Nebeneingang des Hauptgebäudes gefunden. Meistens ließen die Raucher aus Nachlässigkeit die Tür offen, und er hatte die Chance ergriffen. Neugierig stromerte er über den Flur im Erdgeschoss und lief direkt in das erste Büro. Es war niemand da. Er schnüffelte hier und da und fand schließlich auf einem Stuhl in Schnauzenhöhe eine Tüte mit der Aufschrift „Der Bäcker Ihres Vertrauens“. Der Inhalt duftete verlockend. Julia Bende hatte die Angewohnheit, auf dem Weg zur Arbeit beim Bäcker zu halten und ein belegtes Brötchen zu kaufen, das sie dann im Büro aß. Heute gab es Lachs mit Ei. Essen am Arbeitsplatz hatte der Senior zwar per Aushang verboten, aber niemand hielt sich daran. Der Hund schon gar nicht. Als sie zurück in ihr Büro kam, waren von ihrem Brötchen nur Papierfetzen und Krümel auf dem Teppich neben ihrem Schreibtisch geblieben. „Was zum …?“, rief sie, kam aber nicht weiter. Ein leises Winseln ließ sie innehalten. Sie erblickte unter ihrem Schreibtisch zwei schüchterne Augen, die sie schuldbewusst anschauten. Ihr Herz wurde sofort weich.

„Wer bist du denn? Wie bist du hier reingekommen?“

Der Hund erhob sich und kam vorsichtig näher. Von dieser Frau ging offenbar keine Gefahr aus. Und leckeres Futter hatte sie auch.

„Hey, kommt mal alle rüber!“, rief die Vertriebsassistentin in das Großraumbüro nebenan, in dem die fünf Vertriebskollegen saßen, einer war gerade draußen in der Raucherecke.

„Wir haben Besuch.“

Die Truppe freute sich über die willkommene Abwechslung. Keiner kannte das Tier, niemand wusste, ob jemand im Unternehmen neuerdings seinen Hund mit zur Arbeit nahm. Auch das war streng verboten, weil Hans Karl Peter eine Hundehaarallergie hatte. Nun wollte jeder den süßen Fratz streicheln, und der ließ es sich gern gefallen. Als Letzter kam Klaus Wörner mit rauchigem Atem dazu. „Ach, das ist der Hund?“ Die anderen sahen ihn fragend an.

„Garten-Kluge hat mich eben gefragt, ob ich einen gesehen hätte. Der hat draußen im Schuppen gepennt und war dann weg. Grabowski hat ihn gestern Nacht unter einem Busch gefunden, ist wohl abgehauen.“

„Er braucht einen Namen! Wir können ihn doch nicht Hund nennen!“, rief Julia Bende.

Sofort flogen die verschiedensten Vorschläge durch den Raum – man kann Vertrieblern keinen Mangel an Kreativität vorwerfen: Wilhelm Busch, Buschmann, Buschinger, Buschi Obermeyer waren nur einige der Ideen. Vertriebsleiter Gisbert Guth, der die Szene unbemerkt aus dem Hintergrund beobachtetet hatte, verkündete schließlich trocken: „Buschido!“ Und Zack, das war es dann. Der Name war sofort Konsens. Dass Buschido eine Hündin war, bemerkte im Eifer des Gefechts keiner von ihnen. Alle hatten zunächst nur Augen für sein, ihr, süßes Gesicht. Eilig wurde eine Schale mit Wasser organisiert, die Buschido gierig leer schlabberte. Und dann noch eine zweite. Kurz darauf wurde die Hündin unruhig, rannte aus dem Büro und kam nicht wieder. Das war es erstmal mit ihrem Antrittsbesuch. Aber sie war offenbar stubenrein. Am Abend fand Bert Grabowski im Geräteschuppen einen schlafenden Hund, links eine Schale mit frischem Wasser, rechts eine mit Futter darin. Läuft, dachte er zufrieden.

Team Fünfzig(immer noch Montag, 1.8.22)

„Ich müsste mal kurz zu Herrn Guth und ihm was von Frau Grosfuß sagen“, sagte Lukas Neubert, noch immer die rechte Hand auf Buschidos Kopf.

„Du meinst, du MÖCHTEST ihm ETWAS AUSRICHTEN?“, fragte Julia Bende, die eine Ausbildereignungsprüfung hatte. So viel Korrektur an seiner Ausdruckweise musste schon sein.

„Ja, genau“, erwiderte der junge Mann.

„Worum geht es denn, wieder diese Firmenfeier?“

Sie wartete nicht auf die Antwort und ging in Gisbert Guths Büro, um den Besuch anzukündigen. Kurz darauf hörte Lukas Neubert durch die geschlossene Doppeltür aus schwerem Massivholz eine laut schimpfende Männerstimme und Wortfetzen wie „unfassbar dämlich“, „tibetanische Gebirgsziege“ und „Tippse mit tonnenweise Schminke in der Fr…!“ Das letzte Wort wurde von einem lauten Rumms übertönt. War jemand gestürzt? Hochrot kam Julia Bende zurück in ihr Büro.

„Das ist kein guter Moment, er ist beschäftigt“, sagte sie. „Was soll ich ihm ausrichten?“

„Ok. Frau Grosfuß hat gesagt, ich soll ihn an den Termin in einer Stunde erinnern, weil er den immer vergisst“, sagte der Azubi unbedarft.

Julia Bende wusste, wenn sie das so an ihren Chef weitergeben würde, wäre ein unkontrollierbarer Wutausbruch vorprogrammiert. Die Grosfuß und Guth, das ging gar nicht. Spätestens seit der letzten Familienfeier im Erlebnispark Dinoland war das Verhältnis der beiden auf Lebenszeit zerrüttet. Unter den gruppendynamischen Spielchen, die sich die Grosfuß ausgedacht hatte, durfte Reise nach Jerusalem nicht fehlen. Am Ende stürzten Nadine Grosfuß und Carolin Guth gleichzeitig auf den letzten Stuhl zu und mit diesem zu Boden. Unter dem allgemeinen Gelächter – alle hatten schon reichlich getrunken – rappelten die beiden sich auf, und der Blick der Chefassistentin fiel auf die zerknitterte Bluse der Ehefrau des Vertriebsleiters.

„Ihre Bluse ist ja genauso schlecht gebügelt wie die Hemden Ihres Mannes“, raunte sie spitz. „Die Haushälterin von Herrn Peter hat sicher ein paar gute Tipps“, fügte sie an und töckerte auf ihren Pfennigabsätzen zur Bar.

Carolin Guth verließ die Feier noch vor ihrem Mann per Taxi. Das fiel auch Hans Karl Peter auf, der seinen Vertriebschef am Folgetag zur Rede stellte.

„Fühlt Ihre Frau sich in unserem Kreis nicht wohl, Herr Guth?“, wollte er wissen. „Ist sie bessere Gesellschaft gewohnt?“

Das saß. Auf dem Weg zurück in sein Büro musste Guth an Nadine Grosfuß vorbei. Die studierte demonstrativ auf ihrem Bildschirm ein großes und gut sichtbares Foto mit dem Titel „Bügeln für Amotoriker“. Hätte Guth jetzt jemandem seine Gefühle beschreiben sollen, hätten ihm die Worte gefehlt. Seine Frau hatte ihm mit der Scheidung gedroht, sollte er noch einmal das Wort ‚Familienfest‘ erwähnen oder sie zu einem solchen einladen. Bügeln solle er seine Klamotten ab nun gefälligst selbst, schlechter als sie könne er das sicher nicht. Die Grosfuß umzubringen, wäre keine Lösung, aber ganz sicher wohltuend.

Das Planungsteam für die Jubiläumsfeier traf nach und nach ein. Die langen Tische waren im Rechteck angeordnet, an der kurzen Seite vor Kopf thronte Nadine Grosfuß und hatte diverse Stapel mit Listen und Ordnern vor sich liegen. Sie wartete bis exakt zehn Uhr und hakte dann mit bedeutungsvoller Miene die Teilnehmerliste ab: Personalleiter Jobst Anstand, Marketingleiter Björn Paulsen, die Leiterin der Öffentlichkeitsarbeit Helen Spieker, der Betriebsratsvorsitzende Gundolf Krachnitz, der Azubi Lukas Neubert. Alle waren da und nahmen Platz. Links und rechts von ihr blieben jeweils drei Stühle frei. „Dann fehlt ja wie immer nur noch Herr G…“

„Wo der nur wieder bleibt?“, rief Gisbert Guth, der im selben Moment aufreizend lässig durch die Tür kam und sich in den Stuhl neben Helen Spieker warf. Er knuffte sie an und flüsterte: „Wie halten wir das nur ohne Koks aus?“ Spieker kicherte und dachte an den Abend zuvor, von dem sie allerdings nicht mehr viel wusste. Dieser Calvin, oder Kevin, hatte gute Quellen. „Dann können wir ja anfangen. Guten Morgen, Frau Spieker und meine Herren“, eröffnete die Chefassistentin formvollendet das Meeting.

„Ich darf Ihnen von Herrn Peter sagen, dass er bis Ende dieser Woche einen kompletten Plan für die Jubiläumsfeier erwartet, den er sich dann am Wochenende durchlesen wird. Schließlich sind es nur noch knapp zwei Monate.“

Die anderen stöhnten leise in sich hinein. Dann verteilte sie Listen mit Aufgaben für alle. Helen Spieker sollte eine Einladungskarte entwerfen und eine Liste mit möglichen Aktionen und Highlights machen. „Und vergessen Sie dieses Mal nicht wieder die Hüpfburg für die Kleinen“, belehrte sie die Grosfuß. Der Würgereiz wurde fast übermächtig. Der Personalchef sollte eine Liste mit allen Mitarbeitern und Familien bereitstellen. Björn Paulsen sollte einen kleinen Film erstellen, der dann im firmeneignen Intranet gezeigt werden würde – eine herzliche Einladung von Hans Karl Peter persönlich. Gisbert Guth wurde die Einladung der wichtigsten Kunden übertragen, Lukas Neubert sollte gut zuhören. Nur Betriebsratschef Gundolf Krachnitz bekam keine Aufgabe, es war schon viel, wenn er nicht störte. Immerhin darin waren sich alle – unausgesprochen – einig. Dann waren alle Aufgaben verteilt. Niemand wusste, wohin mit dem Ärger über die Unterforderung und die Oberlehrerattitüde von „Big Foot“, wie die anderen im Unternehmen sie verächtlich nannten. Und so griffen alle in einer synchronen Übersprunghandlung gleichzeitig zu den bereitgestellten Getränken und Keksen. Lautes Klappern mit Geschirr, hektisches Rühren mit Löffeln, krachende Kekse in Mündern. Nadine Grosfuß musste warten – was ihr gar nicht passte. Zuerst prustete Gisbert Guth angewidert seinen Kaffee zurück in die Tasse, von wo aus sich die Hälfte der Füllung auf dem Tisch und dem Versacekostüm von Helen Spieker verteilte. Sie sprang auf und griff sich zur Rettung ihres teuren Fummels alle Servietten vom Tisch. Jobst Anstand pulte sich die übelschmeckenden Kekskrümel aus den Zahnlücken und legte sie auf seine Untertasse. Teetrinker Paulsen blickte irritiert in die Runde. Gundolf Krachnitz, der vor einigen Jahren seinen Geschmacksinn verloren hatte, merkte rein gar nichts. Er aß und trank alles.

„Wollen Sie uns vergiften?“, krächzte Gisbert Guth mit rotem Kopf. Nadine Grosfuß war sprachlos. Was war hier los? Sie witterte eine Inszenierung mit dem einzigen Ziel, sie aus der Reserve zu locken, sie vorzuführen.

„Was ist denn, Herr Guth?“, fragte sie ehrlich unschuldig. „Ist ihnen nicht gut?“

„Trinken Sie diese Brühe doch mal selbst!“, polterte der.

Sie schenkte sich eine Tasse Kaffee ein und nahm einen Schluck.

„Schmeckt wunderbar“, freute sie sich.

„Mit Milch!“, befahl Guth.

„Ist das hier eine Verkostung? Ich trinke keine Milch“, entrüstete sie sich. „Können wir jetzt bitte wieder zur Tagesordnung kommen?“

Sie hatte genug von dem Theater. Helen Spieker kam zurück in den Raum, ihr Kleid war nass, voller Flecken und total versaut. Das war schon das zweite in zwei Tagen. „Haben Sie eine tote Kuh gemolken?“, regte sie sich auf. Vielleicht hätte sie der Spieker doch nicht sagen sollen, dass sie montags immer nach Samstagnacht riecht und ihre Röcke für eine Kleinstadt wie Oberklemmbach zu kurz waren, dachte Nadine Grosfuß. Hatte sie ihr das etwa übel genommen? Dann sah sie mit ernstem Blick Lukas Neubert an, der mit den Schultern zuckte. Er hatte, wie gewünscht, die Getränke auf den Tisch gestellt, Wasser und Saft. Den Kaffee hatte er aus der Kantine geholt. Kekse und Milch fand er zunächst nirgends. Dann stieß er auf einen Karton unter der Spüle in der Teeküche, direkt neben dem Geschirrspüler. Hätte er ahnen sollen, dass der Karton samt Inhalt – einer offenen Packung Kekse und einigen angebrochenen Fläschchen Kondensmilch – dort vor zwei Jahren vergessen worden war und in dieser Zeit täglich mindestens drei Mal heiß wurde, wenn der Geschirrspüler lief? Das Meeting war schnell beendet, alle griffen ihre Listen und verließen eilig den Raum. Lukas Neubert trug ein volles Tablett in die Teeküche, wo Gundolf Krachnitz sich gerade einige Kekse in die Hosentaschen stopfte. Er hörte noch, wie auf dem Gang vor der Küche jemand flüsterte. „Die Schnepfe wird doch nur durch Schminke zusammengehalten.“ Er blickte an den Aushang an der Wand mit dem Titel „Unsere Werte“. Ganz oben war zu lesen, dass Lästerei und Mobbing keinen Platz in der Firma hätten. Für welches Unternehmen das galt, stand nirgends.

Der Kick (Dienstag, 2.8.22)

Hans Karl Peter betrat das Büro von Entwicklungsleiter Jonas Mischke, wie immer ohne zu klopfen. Er kam jeden Dienstag, nur wann, das wusste niemand. „Wie weit sind wir?“ Mischke druckte den roten Knopf auf seinem privaten Mobiltelefon. Seine Freundin am anderen Ende hörte nur noch das Knacken, dann das Tuten. So hatte er noch nie ein Telefonat beendet. Sie rief ihn sofort wieder an, er nahm nicht ab. Weggedrückt. Was war da los?

„Sie wissen, dass private Telefonate während der Arbeitszeit verboten sind“, zischte der Alte ihn an. „Sie sind ja ein leuchtendes Vorbild für Ihre Mitarbeiter.“

„Wir haben die Rezepturen der fünf besten Mischungen in den letzten Tagen nochmal optimiert. Bis auf eine schmecken nun alle rund und trendig. Wir haben einen klaren Favoriten“, antwortete Mischke, ohne auf die Zurechtweisung seines Chefs einzugehen. Er wusste, dass er das zu erwartende Wortgefecht nicht würde gewinnen können.

Das neue Getränk des Unternehmens sollte sich deutlich vom bisherigen Topseller Sausepeter abheben und sich bei den Verbrauchern gegen die Konkurrenz durchsetzen. Dafür hatten sie in den neuen Gewächshäusern ganz andere Kräuter angebaut als bisher, streng bewacht und abgeschirmt. Die Quitte sollte auch der Hauptbestandteil des neuen Drinks sein, aber eine neue Kräutermischung würde den entscheidenden Unterschied machen und die Kunden verzücken. Die anderen Hersteller könnten sich daran die Zähne ausbeißen, erst recht die lästigen Chinesen, die einfach die Versuche nicht aufgeben wollten, das Rezept des Sausepeter in ihre Fänge zu bekommen. Monatelang hatten Mischke und sein Team verschiedene Rezepturen getestet, ohne einen Volltreffer zu landen. Die Getränke waren solide, peppig, scharf, süßlich, aber keine Variante haute irgendjemanden vom Hocker. In der letzten Woche dann schmeckten vier der fünf Finalisten auf einmal anders, hatten Charakter, Kick und einen wuchtigen Abgang. Der letzte Eindruck der Testtrinker war so stark, dass sie gleich ein neues Glas wollten. Sie waren auf dem richtigen Weg. An welchen Kräutern das genau lag, wusste Mischke noch nicht, er hatte noch nicht einmal eine Ahnung. Das behielt er aber besser für sich. Der Alte war erstmal zufrieden. „Über Ihre Telefoniererei reden wir noch!“, pampte Hans Karl Peter und verließ das Büro. Die Tür ließ er offen. Wie immer.

Swing (Wochen davor)

Im Unternehmen herrschten strenge Regeln, die von Außenstehenden als mittelalterlich belächelt wurden. Die Mitarbeiter aber ächzten unter der Last der Einschränkungen und Vorschriften. Keine Privattelefonate, kein Duzen, kein Essen am Arbeitsplatz. Die Kleiderordnung schrieb genau vor, was erlaubt war und was nicht: Anzug oder Sakko, Hemd mit Stoffhose für die Herren; Kleider oder Kostüme, keine nackten Schultern für die Damen. Schuhe aus Leder, Knöchel verdeckt bei den Herren. Tattoos mussten unsichtbar sein, und es gab weitere, individualitätsberaubende Beschränkungen. Im Alltag führte das zu allerlei modischen Fehlinterpretationen, Geschmacklosigkeiten von der Stange und anderen Versündigungen an der äußeren Erscheinung. Ein voll tätowierter Auszubildender in der Buchhaltung, Matthias Albrecht, trug unter seinem Anzug einen Rollkragenpulli hoch bis unters Kinn, ließ sich einen Vollbart wachsen, um die Gesichtskunst zu bedecken. Eine schwarze FFP-Maske versteckte den Nasenring, eine Perücke die Malereien auf seiner Glatze und schwarze Einweghandschuhe die Totenköpfe an den Händen. Wenn er auf seine eigenwillige Erscheinung angesprochen wurde, erklärte er diese mit „multiplen Allergien gegen fast alles, was man fühlen, riechen, essen und trinken kann“. Er bekam ein Einzelbüro und „durfte“ sein Essen in der Kantine außerhalb der normalen Zeiten zu sich nehmen. Nach zweieinhalb Jahren kannte er fast niemanden. Nur wenige im Unternehmen wussten von seiner Identität in den sozialen Medien, wo er als „Mat All“ mit einer avantgardistischen Version knallharter Heavy-Metall-Musik Furore machte, die stark vom Punk, Grunge, aber auch von deutschem Schlager beeinflusst war. Die Texte sprachen von Liebe und Romantik, weniger von Blutrausch. Die Musik war immer über der zulässigen Lärmgrenze. Einhundertfünfzigtausend Follower allein auf Finstergram waren eine echte Referenz. Das lenkte den Blick der Musikindustrie auf den jungen Mann und seine Band. Die deutsche Punk-Band Die Roten Rosen und der Schmachtschlagerstar Scheino wollten gern einige der Lieder in ihr Programm aufnehmen. Die Verhandlungen liefen noch. Aber es gab auch Wendungen, die den Menschen Flügel verliehen. Lydia Bremer aus der Personalabteilung fühlte sich am wohlsten in den geblümten Kleidern, die sie in ihrem Swing-Tanzverein trug. Es dauerte nicht lange, bis ihre vier Kolleginnen sie baten, ihnen ein paar Tanzschritte zu zeigen. Sie alle trugen bald Swing-Kleider. Nach drei Wochen tanzte die ganze Abteilung jeden Freitagmorgen in der Frühstückspause den „Peter-Swing“, den sie selbst erfunden hatten. Die Begeisterung in der Kantine, die aus allen Nähten platzte, kannte keine Grenzen. Es wurde gejohlt, gestampft und geklatscht, das Servicepersonal bot Chips und Drinks an, ohne Alkohol. Und weil Hans Karl Peter das Abspielen von Musikgeräten im Unternehmen untersagt hatte, sang und spielte die Firmenband Die Anonymen Alks live auf ihren akustischen Instrumenten. Das Ganze nahm nach und nach den Charakter einer fünfzehnminütigen Pausenshow an, die mit Plakaten an den Schwarzen Brettern angekündigt wurde. Es gab sogar einen Schwarzmarkt für Tickets, denn es passten nicht alle gleichzeitig in den Raum. Von dem eingenommenen Geld kaufte die Gruppe neue Kleider. Nach und nach stießen auch Frauen und Männer anderer Abteilungen zu den „Peter Swingers“ und es entstand an den