Rabenlied - Katharina Erfling - E-Book

Rabenlied E-Book

Katharina Erfling

4,5

Beschreibung

Teil 1 der Raben-Trilogie "Ich bin nicht dein Feind", sagte er schließlich leise. "Wenn du mir vertrauen würdest, könnte ich es dir zeigen." Siandra hat keine Pläne für die Zukunft. An die Zeit nach dem Abitur verschwendet sie keinen Gedanken. Als sie aber von Rotkäppchens General angegriffen wird, der behauptet, sie sei ein Halbblut, beginnt ihr ganzes Weltbild zu wanken. Sie wird gerettet - von Elyano, der von vielen nur Rabe genannt wird und ihr von seiner Welt erzählt. Einer Welt, unerkannt in ihrer eigenen, in der Märchen Wirklichkeit sind. Doch kann sie einem Mann vertrauen, der sie ebenfalls zu jagen geschworen hat?

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Inhaltsverzeichnis

Sieben Raben

Paranoia

Der böse Wolf

Jäger und Gejagter

Meine Welt und deine Welt

Märchen alt wie Stein

Der Feind in Rot

Rotkäppchen und der Wolf

Freund oder Feind?

Wahrheit und Lüge

Aschenputtels Entscheidung

Der Rat der Fürstinnen

Der Ruf des Raben

Elyanos Ziel

Der Fisch und das Meer

Ein Spiegel der Macht

Der Fluch der Geschwister

Ruhe vor dem Sturm

Die Rache der roten Fürstin

Samtene Grausamkeit

Der Gesang der Nachtigall

Eine Zeit zu finden und zu verlieren

Einfach mal Danke sagen

So geht es weiter...

1. Sieben Raben

Es gab viele Dinge, die Siandra mochte. Einen Serienmarathon am Samstagnachmittag beispielsweise. Oder einfach mit Freunden essen zu gehen. Verfolgt zu werden, gehörte jedenfalls nicht dazu.

Ihre Haare waren noch ein wenig feucht, als sie aus dem Schwimmbad ins Freie trat. Hastig zog sie eine Mütze über ihre rotblonden Haare und sah zu ihrer besten Freundin herüber. Becca schien von dem Ganzen nichts mitzubekommen. Gedankenverloren tippte sie auf ihr Handy ein. Aber immerhin hatte sie von all dem schließlich auch nichts bemerkt, als sie wie jeden Donnerstag nach der Schule zum Schwimmen gefahren waren. Und da war es Siandra schon aufgefallen.

Sie seufzte. Vermutlich entwickelte sie langsam aber sicher einen handfesten Verfolgungswahn. Sie schnappte ihr Fahrrad, das sie an eine Laterne gebunden hatte und schob es neben sich her, als sie Becca folgte. Obwohl es durchaus nicht das erste Mal wäre, dass jemand ihr nachstellte, um aus erster Hand etwas über die Pläne ihres Vaters zu erfahren. Ihr Vater nannte sich selbst Gesellschafter und Unternehmer, doch bis heute wusste sie nicht so richtig, was er den ganzen Tag lang trieb. Seit ein paar Jahren verdiente er sein Geld – und das nicht gerade wenig – mit dem Internet, oder besser gesagt mit Videoplattformen. Er kaufte Netzwerke auf, machte sie populär, warb Videokünstler an, um sie mit Verträgen an sich zu binden und verkaufte das Ganze dann gewinnbringend. Eigentlich sollten diese Netzwerke wie Plattenfirmen funktionieren. Vermutlich hatten die Klienten ihres Vaters sich die Unterstützung eines Netzwerks ganz anders vorgestellt.

Der eisig kalte Februarwind peitschte ihr ins Gesicht. Fröstelnd zog Siandra ihre Daunenjacke fester um sich. Selbst hier in Köln reichte ihr der Schnee bis über die Fußknöchel. Die Nässe hatte sich schon nach wenigen Schritten in den Stoff ihrer Jeans gefressen. Doch nicht nur die Aussicht noch den kompletten Abend mit diesen Klamotten herumzulaufen, beunruhigte sie. Sie spürte genau, dass jemand sie verfolgte, auch wenn sie nichts auffälliges sah. Es war wie ein Prickeln im Nacken und ein Gefühl der Enge, das sich in ihrer Brust ausbreitete. Unbewusst beschleunigte sie ihre Schritte.

Um sich von dem Gedanken abzulenken, warf sie einen Seitenblick auf Becca. Es war immer wieder faszinierend zu beobachten, wie ihre beste Freundin es schaffte den Blick unentwegt auf den kleinen Bildschirm zu richten und gleichzeitig nicht zu stolpern. Bei ihrem Glück wäre Siandra sofort gegen die nächste Straßenlaterne gelaufen.

„Mal schauen, was die Bachmanns sagen, wenn ich ihnen eröffne, dass ich bis Mai erst einmal nicht mehr auf Lynn aufpassen kann. Sonst komme ich mit dem Lernen wirklich nicht mehr hinterher.“

Becca sah von ihrem Handy auf und steckte es zurück in die Tasche. „Sie werden dir schon nicht den Kopf abreißen“, sagte sie mitleidig, doch Siandra erkannte den Schalk, der sich hinter ihren Worten versteckte.

Ein halbes Grinsen schlich sich auf Siandras Gesicht. „Bist du sicher? Sie könnten es wie einen Unfall aussehen lassen. Stell dir die Schlagzeile vor. Schülerin tödlich vom Balkon gestürzt. Oder besser: Abiturientin von Kind mit Pfanne erschlagen.“

„Jetzt mach dich nicht lächerlich“, sagte Becca, konnte sich das Lachen jedoch kaum verkneifen.

„Oder sie murksen mich ab und verscharren mich in dem großen Wald hinter ihrem Haus. Niemand wird meine Schreie hören. Keiner wird es je erfahren...“ Ihre Worte verloren sich in einem Flüstern.

„Lass das mit der Psychostimme“, rief Becca lachend. Sie schlug spielerisch nach ihrer Freundin, als sie die Straße überquerten. „Ich würde es ja wohl merken. Und dann würden ich meine detektivistischen...“

„Gibt es das Wort überhaupt? Detektivistisch?“, unterbrach Siandra sie, doch Becca ließ sich nicht beirren.

„Lass mich ausreden. Ich wäre die neue Miss Marple und würde nach dem grausamen Fund der auf übelste entstellten und zerstückelten Leiche meiner besten Freundin...“

„Erspar mir die Einzelheiten.“

„... in Interviews das große Geld machen. Vielleicht schreibe ich auch ein Enthüllungsbuch über dich. Das geheimnisvolle Leben der Siandra Ecker.“

Siandra schmunzelte. „Das sähe dir ähnlich, aus allem Profit zu schlagen.“

„t‘ürlich, t‘ürlich! Selbst ist die Frau.“ Sie deutete eine Verbeugung an.

„Außerdem weißt du doch ganz genau, dass dein Vater sofort eine Suchmannschaft losschicken würde. Notfalls mit Hubschrauber und Hundestaffel.“

Siandra hob die Augenbrauen und atmete geräuschvoll aus. Das würde ihr Vater in der Tat tun, aber nicht aus sentimentalen Gründen. Sie war zu wertvoll um verloren zu gehen. Immerhin hatte er seine ganz eigenen Pläne mit ihr. Sie hatten nie ein sonderlich inniges Verhältnis zueinander gehabt – dazu war ihr Vater nicht geschaffen – aber in den letzten Jahren hatte sich ihre Beziehung noch verschlechtert. Er wollte sie in seine Bahnen lenken, ohne darüber nachzudenken, was Siandra wollen könnte.

Angespannt rieb sie ihre eisigen Hände aneinander. Hätte sie sich doch mal lieber Handschuhe angezogen. „Wie läuft die Partyplanung?“, fragte sie, um sich selbst von dem leidigen Thema abzulenken.

Beccas Grinsen wurde immer breiter. Schon seit Wochen plante sie die Feier zu ihrem achtzehnten Geburtstag und fieberte dem Tag entgegen. „Absolut klasse! Teddy hat gesagt, er sorgt für einen DJ! Es wird einfach nur le-gen-där“, erzählte sie aufgeregt in bester Barney-Stinson-Manier. Sie blieb an der Bushaltestelle stehen und lehnte sich an die Glasscheibe. „Natürlich gibt es Cocktails und eine Tanzfläche. Teddy hat gesagt...“

Dann sah Siandra ihn. Er stand auf der anderen Straßenseite und durchbohrte sie geradezu mit seinem Blick. Lässig lehnte er an einer Mauer, die Daumen in den Bund seiner Hose gehakt. Siandra erwiderte seinen Blick und auf einmal wusste sie, dass er es war, der sie die ganze Zeit beobachtete. Sie konnte ihre Augen nicht von ihm lösen, selbst wenn sie es versucht hätte.

Seinen Oberkörper zierte ein lederner Harnisch und eine sichelförmige Schwertscheide hing an seiner Hüfte. Die Passanten, die an ihm vorbeigingen, beachteten ihn nicht einmal. Hier war man solch bunte Vögel einfach gewohnt, zumal das Lieblingsfest der Kölner mal wieder vor der Tür stand.

Noch immer lag der Blick des Fremden auf ihr und für einen kurzen Augenblick dachte Siandra, Verwunderung in seinen Augen zu sehen. Doch dann verschwand dieser Ausdruck wieder so schnell, dass sie es sich nur eingebildet haben konnte. In einer fahrigen Bewegung strich er über die dunklen Bänder, die um seinen Arm geschlungen waren.

„Siandra, hörst du mir überhaupt zu?“

Hastig wandte sie ihren Blick von dem Fremden ab und sah in Beccas Gesicht, die sie belustigt musterte. „Langer Tag, was?“

„Kannst du laut sagen. Was hast du denn heute noch vor?“, fragte Siandra und ließ ihre Augen wieder über die Straße wandern. Doch der Fremde war verschwunden.

Becca lächelte und band ihre dunklen Korkerzieherlocken mit einem Haargummi zurück. „Ich fahre nachher mit Teddy in die Stadt um nach Deko für die Party gucken“, erzählte sie und hob den Kopf, als der Bus herannahte. Thomas ‚Tedddy‘ Brockmann war Beccas Stiefvater und Zar seines eigenen Modelabels. Und immer schaffte er es, seiner Prinzessin jeden Wunsch von den Augen abzulesen. Siandra mochte ihn. Er war einer dieser Menschen, die man schnell ins Herz schloss und nie wieder loslassen wollte.

„Überleg dir das nochmal mit der Sitzung“, rief Becca ihr noch über die Schulter zu, ehe sie in den Bus stieg.

Siandra winkte ihrer Freundin nach, ehe sie sich auf ihr Fahrrad schwang. Kurz hatte sie überlegt auch mit dem Bus zu fahren, doch die Bachmanns waren mit den öffentlichen Verkehrsmitteln derart schlecht zu erreichen, dass sie lieber auf ihren Drahtesel setzte.

Der Wind zerrte an ihrer Kleidung und zwang sie zu einem langsameren Tempo. Hektisch sah sie auf die Uhr. Sie hatte wieder einmal zu wenig Zeit einkalkuliert. Die Bachmanns würden ihr definitiv den Kopf abreißen.

An einer Kreuzung lenkte sie ihr Fahrrad auf eine kleine bepflanzte Allee zwischen den beiden breiten Straßen. Sie war derart in Gedanken, dass sie den Mann, der ihren Weg kreuzte, zu spät sah. Sie riss den Lenker ihres Fahrrads herum und spürte wie ihr Hinterreifen ins Schlingern kam und unter ihr wegrutschte. Mit einem dumpfen Knall schepperte Metall zu Boden und riss sie mit sich hinab.

„Alles in Ordnung?“, fragte der Mann mit leicht französischem Akzent in der Stimme. Sie schätzte ihn auf um die dreißig. Seine halblangen blonden Haare fielen ihm ins Gesicht, als er sich bückte, um sie von dem Fahrrad zu befreien und ihr aufzuhelfen.

Stöhnend strich Siandra sich über das schmerzende Bein. Das würde wohl einige neue Schrammen geben. Aber sie hatte Glück. Ihr Kopf hatte nichts abbekommen und ihr Fahrrad wirkte auch noch heile. „Das sollte ich wohl besser Sie fragen. Tut mir leid.“

Der Mann lächelte ihr freundlich zu, doch sein Blick hatte etwas wildes an sich, das sie beunruhigte. Ein Hund saß neben ihm. Siandra hatte so einen schon einmal gesehen. Ein entfernter Onkel züchtete diese Rasse. Tschechoslowakischer Wolfshund? Ja, das müsste es gewesen sein. „Das sollten wir lieber abklären lassen. Nicht, dass Sie noch eine Gehirnerschütterung...“ Er wollte nach ihrem Arm greifen, doch Siandra machte einen Schritt zurück und hob ihr Fahrrad auf.

„Mit mir ist alles in Ordnung. Absolut nichts passiert. Machen Sie sich keine Sorgen. Ich habe es ein wenig eilig, tut mir leid.“ Sie hatte sich auf ihr Fahrrad geschwungen und wollte gerade losgefahren, als sich die Hand des Fremden auf den Lenker legte.

Durchdringend sah er sie an. „Sie sollten nicht unvernünftig sein.“

Siandra wollte etwas erwidern, als der Blick des Fremden an ihr vorbei glitt und einen Punkt hinter ihr fixierte. Er runzelte die Stirn und ließ sie einen Moment lang los. Der Hund knurrte neben ihm bedrohlich, doch Siandra erkannte nicht, was die beiden sahen.

Ein kurzer Blick auf die Uhr ließ sie fluchen. Hastig fuhr sie los. „Tut mir leid“, rief sie nochmal über die Schulter zurück. Der Mann machte Anstalten ihr zu folgen, schien es sich dann aber noch einmal zu überlegen. Siandras Augenbrauen zogen sich zusammen, als sie gegen den Wind ankämpfte. Seltsamer Kerl.

Einige Zeit später kam sie am Haus der Bachmanns an. Ihr Fahrrad war doch nicht so unbeschadet davon gekommen, wie erhofft. Der Hinterreifen eierte und schliff alle paar Meter am Rahmen. Doch sie hatte keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen. Sie war so schon zu spät dran.

Siandra schloss ihr Fahrrad am Gartenzaun ab. Als sie durch das kleine Tor trat, stolperte sie um ein Haar über eine rot getigerte Katze. Heute schien sie das Pech wirklich gepachtet zu haben.

Auf der Holzbank vor dem Haus lag eine dicke weiße Decke auf der sich Vogelspuren abzeichneten. Der Schnee unter ihren Füßen knarzte, während sie sich ihren Weg zu der Haustür bahnte. Zum ersten Mal in ihrem Leben wünschte sie sich, doch die hässliche Schneehose angezogen zu haben, die sie von ihrer Mutter zu Weihnachten geschenkt bekommen hatte. Mit fast schon steif gefrorenen Fingern betätigte sie die Klingel.

Ein Wirrwarr aus Stimmen drang gedämpft an ihr Ohr. Erst nach einer schier endlosen Diskussion öffnete sich die Tür. Ein Blondschopf grinste ihr mit einem breiten Zahnlückenlächeln entgegen. Lynns helle Locken waren ganz zerzaust und fielen ihr frech in die Stirn. Eingetrocknete Farbe zeichnete eine Spur über ihr grünes T-Shirt. „Siandra!“

„Joselynn!“, rief Frau Bachmann von innen. „Lass Siandra rein, bevor sie an der Fußmatte festfriert. Du weißt genau, dass wir los wollen!“ Siandra atmete noch einmal tief durch, ehe sie durch die Tür trat. Frau Bachmann richtete gerade die Krawatte ihres Mannes, als Siandra in das große Wohnzimmer kam. Sie warf ihr nur einen vielsagenden Blick zu und eilte an ihr vorbei. Ihre High Heels klackten bei jedem Schritt auf dem hellen Parkett.

Aufmunternd lächelte Herr Bachmann Siandra zu. Er nahm alles immer mit einer unglaublichen Gelassenheit, die sie jedes Mal aufs Neue bewunderte. „Schatz, deine Tasche ist hier“, rief er ihr hinterher.

Ihre Schuhe kündigten ihr Herannahen schon von weitem an. Sie beachtete Siandra kaum, als sie nach ihrer Handtasche griff und in ihrem Inneren nach etwas suchte. „Mach euch ruhig noch etwas zu essen. Und lass Joselynn nicht zu lange wach bleiben. Wir müssen morgen alle früh raus.“ Sie sah noch kurz zu Siandra herüber, ehe sie sich ihren schwarzen Mantel überwarf und durch die Tür rauschte.

„Es wird wohl etwas später werden“, sagte ihr Mann mit dem Anflug eines Augenrollens. Siandra wusste, wie sehr er es hasste, von seiner Frau zu diesen Kunstausstellungen geschleift zu werden. Trotzdem nahm er es mit einer beneidenswerten Gemütsruhe.

Siandra strich sich kurz über den Nacken, als die Tür hinter den beiden ins Schloss fiel. In ihrer Gegenwart fühlte sie sich immer völlig deplatziert und schaffte es kaum einen Ton über die Lippen zu bringen – was ganz und gar nicht ihre Art war. In einer fließenden Bewegung schlüpfte sie aus ihren durchnässten Schuhen und genoss die wohltuende Wärme der Fußbodenheizung. So langsam kam wieder etwas Leben in ihren Körper. Und endlich sprachen auch ihre Beine wieder mit ihr, die sie bereits seit einer geschlagenen halben Stunde schändlich ignorierten.

Dutzende von Gemälden hingen an der Wand und Statuen säumten den Flur, der zu Lynns Zimmer führte. Das Kinderzimmer war ein Traum aus Rosa: Rosafarbener Teppich, blassrosa Tapete, selbst ihre Möbel waren rosa lackiert. Lynn saß auf dem Boden und spielte. Jedenfalls machte es den Anschein. Im nächsten Moment fiel Siandra ihr fragender Blick auf, als das Mädchen aufstand und das Fenster öffnete und wieder schloss.

„Alles in Ordnung?“, fragte Siandra behutsam.

Lynn schien aus ihrer Gedankenwelt aufzuschrecken. Sie sah hinaus, ehe sie sich zu Siandra umdrehte. „Ich habe nach etwas gesucht“, flüsterte sie und ließ sich auf dem Schreibtischstuhl nieder.

„Und? Hast du es gefunden?“, fragte Siandra, doch das Mädchen schüttelte den Kopf. Siandra stützte die Hände auf die Rückenlehne des Schreibtischstuhls. „Was hältst du davon, wenn ich uns etwas zu essen mache? Worauf hast du Lust?“

Grinsend drehte Lynn sich mit dem Stuhl und sprang auf. Einen Moment lang überlegte sie und sah fast so aus, als würde sie über eine bedeutende Entscheidung nachdenken, etwa über einen Friedenspakt oder neue Rettungspakete für verschuldete Staaten. „Spaghetti?“, fragte sie zögerlich.

Siandra nickte lächelnd und machte sich mit ihr zusammen zur Küche auf. Während sie die Zutaten zusammensuchte und Wasser für die Nudeln aufsetzte, saß Lynn auf einem der hohen Hocker und erzählte von ihren Lehrern und dem Jungen, mit dem sie in der Pause gespielt hatte. Auch während sie aßen, lauschte Siandra den Geschichten des Mädchens. Nachdem sie fertig waren, sprang Lynn gleich auf, um nach einem Buch zu suchen, das sie Siandra zeigen wollte.

Siandra stapelte die Teller übereinander und wollte sie in die Spülmaschine stellen, als ihr Blick aus dem Fenster wanderte. Ihr wurde heiß und kalt zugleich, als sie einen Schemen zwischen den Blättern des Baumes entdeckte. Er huschte über den Ast und schien inmitten einer Astgabel zu verweilen. Siandra vergaß einen Moment lang zu atmen. War das etwa ein Mensch zwischen den Zweigen?

Als die Teller mit einem lauten Klirren auf dem Boden zersprangen, wurde Siandra bewusst, dass sie sie losgelassen haben musste. Sie fluchte leise und sah noch einmal hinaus, doch da war nichts. Kein Mensch, nicht einmal eine streunende Katze. Hastig ließ sie die Überreste der Teller im Müll verschwinden und wischte die roten Soßenspritzer mit einem Lappen weg. Erst, als sie sich wieder aufrichtete, beruhigte sich ihre Atmung ein wenig. Noch einmal sah sie aus dem Fenster. Für den Bruchteil einer Sekunde hätte sie schwören können, den Fremden von der Bushaltestelle zwischen den Blättern zu sehen. Schnell schob sie den Gedanken beiseite. Das war nicht möglich. Das ergab alles keinen Sinn. Als sie ihren Blick über den Baum wandern ließ, war da nur ein Rabe, der sich krächzend in die Lüfte erhob.

„Liest du mir etwas vor?“, bat Lynn leise, als Siandra das Zimmer betrat. In eine flauschige Decke gehüllt, sah das Mädchen erwartungsvoll zu ihr auf.

„Was willst du denn hören?“, fragte Siandra lächelnd und ließ sich neben ihr auf das Bett sinken.

„Ein Märchen. So wie beim letzten Mal.“

Ein fröhliches Lächeln zupfte an Siandras Lippen. Als sie das letzte Mal hier gewesen war, hatte sie ihr die Geschichte von Rotkäppchen und dem bösen Wolf erzählt. Lynn liebte die Märchen der Gebrüder Grimm, genau wie sie, als sie in ihrem Alter gewesen war. In den letzten Wochen und Monaten hatten sie unzählige Märchen miteinander entdeckt. Siandra überlegte, welches ihnen fehlen könnte, als ihr eines einfiel, das mit Sicherheit noch nicht an die Reihe gekommen war. „Dann ist heute das Märchen von den Sieben Raben dran.“

Siandra machte eine Pause, damit Lynn sich bequem hinsetzen konnte, ehe sie zu erzählen begann. „Ein Müller hatte einst sieben Söhne, doch keine Tochter, so sehr er es sich auch wünschte. Dann schienen seine Gebete erhört. Ihm wurde eine Tochter geschenkt, aber das Mädchen war klein und schwach und drohte die Nacht nicht zu überleben. Also schickte der Müller seine Söhne mit einem Krug los, um Wasser für eine Nottaufe zu holen.“

„Was ist eine Nottaufe?“, fragte Lynn leise.

„Früher waren die Menschen sehr gläubig. Sie dachten, dass man nicht in den Himmel kam, wenn man nicht getauft war.“

„Ach so“, flüsterte das Mädchen. „Also wollte er, dass seine Tochter in den Himmel kommen darf... aber ist sie auch in den Himmel gegangen?“

„Wart‘s doch ab“, sagte Siandra und zwinkerte ihr zu. „Die Jungen nahmen also den Krug und liefen so schnell ihre Beine sie tragen konnten zur Quelle. Jeder von ihnen wollte der Erste sein und so stritten sie sich darum, wer den Krug nun füllen durfte. Doch sie konnten sich nicht einigen und das Gefäß fiel ins Wasser.“

„Oh nein! Was haben sie dann gemacht?“ Lynns Augen weiteten sich vor Schreck.

„Die Brüder trauten sich nicht mehr nach Hause und ihr Vater dachte, sie hätten beim Spielen die Zeit vergessen. Wütend rief er ‚Ach sollen die Jungen doch alle Raben werden!‘ Kaum hatte er das letzte Wort ausgesprochen, schlug die Tür auf und sieben Raben schossen quer durch das Zimmer. Sie flogen auf und davon. Es waren seine Söhne.“ „Aber es war ein Unfall!“, unterbrach Lynn sie. „Die Jungen können doch nichts dafür. Was geschah dann?“

Siandra lachte auf und strich sich eine Strähne aus dem Gesicht. „Langsam, langsam, alles der Reihe nach. Die Raben flogen hinaus in die weite Welt. Das Mädchen überlebteund wurde bald schon der ganze Stolz ihrer Eltern. Eines Tages jedoch erfuhr sie von den Brüdern und war zu Tode betrübt. Es gab sich selbst die Schuld für ihr Unglück und so machte sich das Schwesterchen auf den Weg, um nach ihren geliebten Brüdern zu suchen.

Es nahm einen Laib Brot für den Hunger, ein Krüglein Wasser für den Durst, ein Stühlchen für die Müdigkeit und ein Ringlein, um sich an seine Eltern zu erinnern. Das Mädchen reiste bis ans Ende der Welt, zu der Sonne, doch die war viel zu heiß und fraß kleine Kinder und zum Mond, doch der war kalt und böse. So lief das Kind zu den Sternen. Die Sterne waren lieb und gut und sie wussten, wo die Brüder waren.“

„Ach ja? Woher wissen sie das?“

„Weil sie vom Himmel aus alles überblicken können.“

Lynn überlegte kurz. „Und wenn sie tagsüber geflogen sind?“ Siandra lächelte. „Auch dann. Weißt du, auch wenn du sie nicht sehen kannst, heißt das nicht, dass sie weg sind.“

„Und wo waren die Brüder?“

„Der Morgenstern zeigte ihnen den Weg zum Glasturm. Dort fand das Mädchen sieben Tellerchen und sieben Becherchen und von jedem Tellerchen nahm es ein Bröckchen und von jedem Becherchen ein Schlückchen. In das letzte Becherchen ließ es den Ring seiner Eltern fallen. Als die Raben hineinkamen, setzten sie sich an den gedeckten Tisch und einer nach dem anderen sprach: ‚Wer hat von meinem Tellerchen gegessen? Wer hat aus meinem Becherchen getrunken?‘“

Lynn lachte. „Das klingt ja fast wie bei Schneewittchen.“

„Das stimmt. Als der Siebte auf den Grund des Bechers sah, fand er dort den Ring der Eltern. Und traurig sprach er: ‚Wäre doch nur unser Schwesterchen hier, wir wären von unserem Zauber erlöst.‘ Als das Schwesterchen das hörte, kam es heraus und all ihre Brüder bekamen ihre menschliche Gestalt zurück. Sie umarmten sich und zogen fröhlich heim.“

„Und sie lebten glücklich bis ans Ende aller Tage?“, fragte Lynn gähnend.

„Bis ans Ende aller Tage“, flüsterte Siandra.

2. Paranoia

Die Nacht verschluckte jedes Geräusch und hüllte Siandra in ein zeitloses Vakuum. Sie war gerne im Dunkeln unterwegs uns genoss die Stille, die sie selbst hier, im sonst so belebten Stadtwald, umgab. Der Schein der Laternen tauchte die verschneiten Gehwege in ein diffuses Licht. Erst hatte sie gezögert, den Weg durch den Park einzuschlagen, doch sie war müde. Es war ein langer Tag und der Pfad durch den beleuchteten Wald war der kürzeste Weg nach Hause. Auch wenn der seltsame Fremde von der Bushaltestelle sie noch immer beunruhigte, konnte sie es sich nicht vorstellen, dass ihr hier etwas passieren sollte. Vor allem, weil ihr immer wieder andere Nachtschwärmer entgegen kamen.

Erschöpft setzte sie einen Fuß vor den anderen. Sie lehnte sich mehr auf ihr Fahrrad, als dass sie es neben sich her schob. Wenn sie daran dachte, dass sie in wenigen Stunden wieder aufstehen musste, wurde ihr ganz anders. Sie seufzte. Eigentlich war sie es ja auch selbst Schuld, also hatte sie keinen Grund sich zu beschweren. Ihre Füße waren wieder einmal zu einem einzigen Eisklumpen erfroren. Sie war froh, wenn sie endlich zu Hause war.

Auch wenn sie sich versuchte selbst zu beruhigen, blieb da ein Rest Nervosität. Trotz der Menschen, die ihr immer wieder entgegen kamen und dem Pfefferspray, das griffbereit in ihrer Handtasche lag – eines der wenigen halbwegs nützlichen Geschenke ihres Vaters – fühlte sie sich beobachtet. Ein ungutes Gefühl, das sich langsam in ihrem ganzen Körper ausbreitete. Doch als sie einen Blick über die Schulter warf, war da nur eine Joggerin mit Hund, die an der Weggabelung links abbog. Die Frau wirkte wie eine Schauspielerin aus einem Bollywood-Film und der Hund ähnelte dem, den sie vor einigen Stunden gesehen hatte.

Siandra zuckte vor Schreck zusammen, als ihr Handy schrill klingelte. Wer rief zu dieser Uhrzeit noch an? Becca mit der nächsten Nervenkrise? Sie stöhnte in Gedanken auf, als sie die Stimme ihrer Mutter am anderen Ende der Leitung hörte. „Hallo, mein Schatz. Ich rufe aus Hamburg an.“

Siandra kniff die Augen zusammen. „Aber du rufst nicht von dort aus hier herüber. Sprich doch bitte etwas leiser.“

„Wo bist du denn? Ich habe dich zuhause gar nicht erreicht.“

Siandra strich sich über den Nacken. Ihre Mutter und ihre Kontrollanrufe. Seit einigen Jahren hatte sich die Beziehung zu ihren Eltern immer weiter verschlechtert und mehr als einmal musste ihre Tante Liza schlichtend eingreifen. Als die Situation an einem Abend eskalierte, bot sie ihr an, in einer ihrer Mietwohnungen unterzukommen – ein Angebot, das Siandra nicht ausgeschlagen hatte. Das war kurz nach ihrem achtzehnten Geburtstag gewesen. Sie hatte eigentlich nichts gegen die Anrufe ihrer Mutter. Ihr Verhältnis war seit ihrem Auszug deutlich besser geworden, so lange ihre Gespräche oberflächlich blieben, aber jetzt war sie nicht zu Smalltalk aufgelegt. „Du weißt doch, dass ich bei den Bachmanns war...“

„So lange? Du hast morgen Schule!“

„Ich weiß. Deshalb versuche ich ja auch so schnell wie möglich nach Hause zu kommen, um noch ein wenig zu schlafen.“ Erneut sah sie hinter sich, doch da war nichts. Nichts, außer dem Gefühl verfolgt zu werden. Als wäre da etwas im Unterholz, das nur darauf wartete, dass sie einen Moment lang unachtsam wurde. Sie versuchte den Gedanken zu vertreiben. Das war doch absurd.

„Du gehst sicher wieder durch diesen fürchterlichen Wald. Du weißt genau, was alles passieren kann. Erst gestern habe ich von diesen Wolfsattacken gelesen. Und das war gar ganz in deiner Nähe!“

„Mir passiert schon nichts, mach dir keine Sorgen“, versuchte Siandra sie zu beruhigen. „Hier sind genug Menschen unterwegs, die mich retten oder zumindest die Polizei rufen können.“

Ihre Mutter stieß einen missbilligenden Laut aus. Ganz überzeugt war sie nicht. „Kommst du morgen nach der Schule kurz bei uns vorbei? Hier liegt noch ein Paket, das du mit zu deiner Schwester nehmen sollst. Den Schlüssel hast du ja noch.“

Siandra atmete geräuschvoll aus. Ach, daher wehte der Wind. Deshalb rief sie so spät an. Damit ihr Vater auch ja nichts davon mitbekam. „Warum bringst du es ihr nicht einfach selbst?“

Einen Moment lang war es am anderen Ende der Leitung still. „Ich habe diese Woche keine Zeit mehr dazu, sonst würde ich es ja machen.“

Siandra wusste, dass das nicht alles war, doch sie hakte nicht weiter nach. Für einen Streit war sie viel zu müde.

„Ich komme morgen kurz vorbei. Sonst noch etwas?“

„Nein, nichts. Wir sehen uns dann am Sonntag. Es bleibt doch dabei, oder?“

Siandra sah nach links und rechts, als sie den Stadtwald verließ und die Straße überquerte. „Wie könnte ich das vergessen. Ich bin fast zuhause. Lass uns ein ander Mal weiter reden.“

„Denk daran, dass dein Vater morgen noch mit dir sprechen wollte. Du weißt schon, Termine absprechen und so.“

Siandra verkniff sich einen Kommentar. Mit einer knappen Verabschiedung legte sie auf und ließ ihr Handy in der Jackentasche verschwinden. Noch einmal atmete sie den Duft des Winters, den Geruch des frisch gefallenen Schnees ein. Eigentlich schaffte es ein solcher Spaziergang immer, sie zu beruhigen. Doch sie wusste, dass sie in dieser Nacht wohl keinen Schlaf finden würde.

„Siandra, hörst du mir überhaupt zu?“

Siandra schreckte aus ihren Gedanken auf, als die Stimme ihrer besten Freundin an ihr Ohr drang. Die Müdigkeit riss an ihren Augenlidern und machte sie ganz verrückt. Selbst die gefühlten vier Liter Dreckwasser, die sie in ihrer Mensa als Kaffee verkauften, schaffte es kaum, sie wach zu halten. Ihre Mundwinkel zuckten leicht. „Also eigentlich sollte ich auch eher Herr Freytag zuhören.“

Sie schielte zu ihrem Lehrer herüber, der halb auf dem Pult saß und einen Artikel aus der Zeitung vorlas, wie er es in jeder Doppelstunde tat. Es ging um die Wölfe, die in Köln aufgetaucht waren und den Angriff auf einige Fußgänger vor einer Woche. Nun schien einer von ihnen in dem Wildgehege im Stadtwald gewütet zu haben. Niemand wusste, woher sie kamen, oder wo sie sich versteckten. Siandra wunderte sich nur, dass sie selbst nichts bemerkt hatte. Sie war immerhin im Stadtwald unterwegs gewesen und ihr Weg führte sie ziemlich nah an das Wildgehege heran. Wieder ein Grund mehr, weshalb ihre Mutter sich darüber pikieren konnte, dass sie durch den dunklen, bösen Wald ging. Doch Siandra glaubte nicht an die Panikmache der Tageszeitungen. Vermutlich war nur einer der vielen Stadthunde durchgedreht und hatte ein wenig gewildert.

„Siandra, das ist nicht witzig. Ich habe hier eine echte Krise!“ Beccas Stimme wurde so schrill, dass Herr Freytag einen Moment lang von seiner Zeitung aufsah und sie mit einem tadelnden Blick bedachte, bevor er weiter las.

„Lass mich raten. Es hat mit deiner Party zu tun?“, fragte Siandra.

Vorwurfsvoll starrte Becca sie an. „Kannst du, oder willst du es nicht verstehen? Es ist wichtig!“

„Es ist doch nur eine Party...“

„Nur eine Party?“, japste Becca empört.

Beschwichtigend hob Siandra die Hände. „Ich habe es ja begriffen. Es ist die eine Party, das Nonplusultra. Vergib mir, dass ich keinen Freudensalto mache, ich habe mir den Rücken verknackst.“

„Siandra!“

„Ist ja okay. Wo liegt das Problem?“

Hastig kramte Becca in ihrer Tasche. Herr Freytag sah nur kurz auf, entschied dann aber scheinbar, dass es die Mühe nicht wert war und las weiter vor.

Siandra zuckte zusammen, als Becca einen rosa Papierstapel auf den Tisch fallen ließ. „Was ist das?“, fragte sie mit hochgezogenen Augenbrauen.

„Die Einladungskarten, was sonst?!“

„Dir ist aber bewusst, dass du keine Hochzeit ausrichtest, sondern...“ Sie stockte seufzend, als sie Beccas schockierten Gesichtsausdruck bemerkte. „Okay, was ist damit?“

Wie ein Fächer wedelte sie mit dem Traum aus Pink vor ihrem Gesicht auf und ab. „Sieh es dir doch mal an! Einfach grauenvoll. Völlig falsch formatiert. Und nicht einmal meinen Namen haben sie richtig geschrieben! Was ist daran denn so schwer?!“

„Dann ruf doch einfach mal da an und stell es richtig...“, sagte Siandra, als sie von der Stimme ihres Lehrers unterbrochen wurde.

„Meine Damen, ich hoffe, ich störe Sie nicht bei Ihrer kleinen Privatparty. Wenn Sie sich dann auf den Unterricht konzentrieren würden? Der Tag ist schon schlimm genug, ohne, dass Sie beide mir auf den Nerven herumtanzen.“

„Hast du dir das mit der Sitzung überlegt?“, fragte Becca leise, als das Auge Saurons sich wieder von ihnen abgewandt hatte.

Schon seit Wochen ließ Becca nicht locker, Siandra davon zu überzeugen, sie auf die Karnevalssitzung zu begleiten. Eigentlich war ihr nicht unbedingt danach. Sie war kein sonderlicher Karnevalsfan, nicht so wie Becca, die am Ende jeder Session, den Anfang der nächsten schon nicht mehr erwarten konnte. Obwohl es sie vermutlich auf andere Gedanken bringen würde. Schon spürte sie Beccas Hundeblick auf sich liegen, den sie bis zur Perfektion beherrschte. „Du wärst mal besser Wackeldackel geworden.“

„Und?“ Becca ließ nicht locker und sah sie erwartungsvoll an. „Kommst du?“

„Ich weiß zwar nicht, weshalb ich es tue, aber ja. Ich komme.“

Beccas plötzlicher Jubel kratzte empfindlich an Siandras Gehör. Tadelnd starrte Herr Freytag zu ihnen herüber, während er mit seiner gleich monotonen Stimme weitersprach. Nicht mehr lange und sie würden mit Sicherheit auf der Abschussliste stehen. Siandra und Becca zogen gleichzeitig die Köpfe ein.

Als sie die Aufgaben der letzten Stunde durchgingen, streifte Siandras Blick ihre Freundin. Sollte sie ihr von dem seltsamen Fremden an der Bushaltestelle erzählen? Sie verdrängte den Gedanken. Becca machte wegen jeder Kleinigkeit einen heillosen Aufstand. Sie würde nicht eher Ruhe geben, bis sie auf jedem ihrer Wege von einem Geleitschutz begleitet wurde. Oder zumindest die Polizei verständigte. Und was sollte sie denen auch schon sagen? Hallo, ich habe einen seltsamen Kerl an der Bushaltestelle gesehen und glaube jetzt, dass er mich verfolgt?

Siandra hob ruckartig den Kopf, als Herr Freytags Stimme sie unsanft aus ihren Gedanken riss. „Ich hoffe, Sie haben Robert Musils Werk gelesen. Wer kann mir etwas dazu sagen? Nur zwei? Das macht mich traurig.“ Langsam ließ er seine strengen Augen über die Klasse schweifen. „Vier? Das erheitert mich. Aber es sind siebenundzwanzig Personen in dieser Klasse, die hoffentlich alle Robert Musils außergewöhnliches Werk gelesen haben.“

Siandra tauschte einen Blick mit ihrer Freundin. Außergewöhnlich stimmte wohl... außergewöhnlich eigenartig.

„Siandra!“ Wieder zuckte sie zusammen, als ihr Lehrer vor ihr stehen blieb und sie mit seinem Blick durchbohrte. „Wir sind aber schreckhaft“, sagte er mit einem halben Lächeln. „Können Sie mir etwas zu unserem Zögling Törleß sagen?“

„Nichts Nettes jedenfalls“, grummelte sie leise.

„Hättest du geschwiegen, wärst du Philosoph geblieben“, sagte er, sichtlich stolz auf seine Dichtung und ging durch die Klasse, auf der Suche nach seinem nächsten Opfer. Ein Wunder, dass es nicht direkt Becca getroffen hatte.

Siandra hörte ihm nicht mehr zu. Ihre Augen schweiften unaufhörlich aus dem Fenster. Die Sonne ließ den Schnee, der auf dem Schulhof lag, wie Kristalle funkeln. Ein Rabe saß in der Krone der Bäume und starrte sie an. Hektisch wandte sie den Blick ab und ihre Atmung beschleunigte sich. Im nächsten Moment rief sie sich selbst zur Ordnung. Jetzt dachte sie auch noch, ein Vogel würde sie bespitzeln? So langsam wurde es aber wirklich lächerlich. Trotzdem war da wieder das Gefühl beobachtet zu werden, ein Gefühl, das sie wie ein warmer Nebel einhüllte.

„Ist alles in Ordnung mit dir?“, fragte Becca neben ihr leise.

„Ja“, kam es unbeteiligt von ihren Lippen. Nein, hallte es in ihrem Kopf wider.

Laut hallte die fröhliche Musik aus den Boxen und malträtierte Siandras Ohren. Ihr Kopf dröhnte, als würden die sieben Zwerge versuchen ein Loch in ihren Frontallappen zu hämmern. Vorsichtig rieb sie sich über ihre Schläfe. Selbst die Schmerztablette, die sie genommen hatte, half reichlich wenig.

Jeder in dem großen Saal schien gute Laune zu haben. Mehr oder weniger verkleidet tanzten und sangen sie ausgelassen oder lauschten dem Bühnenprogramm, das zwischen den Liedern hin und wieder einsetzte. Kurz dachte sie den blonden Mann zu sehen, den sie mit ihrem Fahrrad beinahe umgenietet hatte, doch als sie eine vertraute Stimme hinter sich hörte, verwarf sie den Gedanken.

„Hey Rotkäppchen!“, rief Becca. „Alles in Ordnung?“

Siandra zwang ein Lächeln auf ihre Lippen. Ihr Kopf drohte zwar beinahe zu explodieren und ihre Schuhe waren mindestens zwei Nummern zu klein, doch sie versuchte sich von Beccas Begeisterung anstecken zu lassen. „So lange du nicht von mir verlangst zu singen, ist alles in Ordnung.“

„Komm“, sagte Becca und griff lachend nach ihrem Arm. „Ich will dich ein paar Freunden vorstellen.“ Ohne auf eine Antwort zu warten, zog sie Siandra mit sich mit. Sie zerrte sie quer durch die Menschenmassen, bis sie gefühlt am anderen Ende des riesigen Raumes stehen blieb.

„Leute, das ist Siandra“, sagte Becca. Eine kleine Gruppe lächelte ihnen entgegen. Einer von ihnen schien schon deutlich angeheitert. Der Blonde mit Kilt und Ziegenbart hob sein Glas und grölte Siandra „Rooootkäppchen, wo hast du deinen Woooolf gelassen“ entgegen.

Siandra verkniff sich einen Kommentar und sah zu den anderen. Zwei glitzernde Prinzessinnen musterten sie - freundlich, aber doch leicht argwöhnisch. Ein schwarzhaariger Kerl im Teddy-Kostüm hatte seinen Arm um eine der beiden gelegt. Doch Siandras Blick blieb an dem Mann neben ihnen hängen.

Seine hellblauen Augen musterten sie unbeeindruckt. Siandra runzelte die Stirn, als sie versuchte zu erahnen, was er wohl darstellen wollte. Der schlichte Anzug, den der trug, passte nicht so recht zu seinem restlichen Outfit. Seine mittellangen Haare waren an der einen Seite kurz rasiert und er trug mehrere Piercings in der Unterlippe. Unter den Stoppeln schimmerten dunkle Linien hindurch, die einem Muster gleich hinter seinem Ohr und dann über den Hals nach unten verliefen. Auch unter den hochgekrempelten Ärmeln lugten vereinzelte bunte Tätowierungen hervor. Das war es nicht, was Siandra beunruhigte. Es war etwas in seinem Blick, das sie erschaudern ließ. Sie konnte es nicht beschreiben, doch etwas an ihm, ließ in ihr das dringende Bedürfnis aufkommen, rückwärts zu stolpern und aus dem Raum zu fliehen.

„Das sind Paul, Clara, Tamara, Freddy und Florian“, stellte Becca der Reihe nach vor. Siandra schaffte es kaum, die Augen von dem seltsamen Kerl im Anzug abzuwenden, auch wenn sein Blick ihr tief in Mark und Bein ging. Sie hörte Becca, die wieder von ihrer eigenen Party erzählte, kaum zu. Ihre Augen folgten Florian, als dieser wortlos verschwand.

Becca ließ ihr keine Zeit über ihn nachzudenken. Lachend zog sie ihre Freundin mit sich auf die improvisierte Tanzfläche, als der Komödiant auf der Bühne verstummte und Technomusik aus den Boxen dröhnte. Sofort spürte Siandra, wie ihre Kopfschmerzen wieder stärker wurden und die Bässe in ihrem Inneren widerhallten.

Siandra hielt es drei endlos lange Lieder aus, bevor sie mit ihren Händen ein Time-Out andeutete und verschwand, um sich etwas zu trinken zu organisieren. Sie merkte erst, wie ausgetrocknet ihre Kehle war, als die kalte Cola in ihr herab lief. Wieder strich sie sich über die Schläfe und hielt sich das kühle Glas an die Stirn, doch auch das verschaffte ihr keine Linderung.

Und da war es wieder, so plötzlich, dass sie vor Schreck beinahe das Getränk fallen gelassen hätte. Das Prickeln im Nacken, das warme Gefühl, das sich wie Nebel um ihre Schultern legte. Hektisch sah sie sich um, doch sie konnte nichts entdecken, abgesehen von den karnevalsverrückten Gästen. Wurde sie langsam aber sicher wirklich paranoid?

„Siandra!“ Sie hob den Kopf, als Beccas Stimme an ihr Ohr drang. Die Technomusik war verstummt und die Bühne wieder von lautem Gelächter erfüllt. Ihre Freundin musterte sie besorgt, als sie neben sie trat und ebenfalls etwas zu trinken bestellte. „Ist wirklich alles in Ordnung mit dir?“

Siandra seufzte. Ihr Gefühl sagte ihr, dass sie immer noch beobachtet wurde, aber da war einfach niemand. „Ich habe nur Kopfschmerzen.“ Sie zögerte kurz. „Sag mal, du kennst doch eine Menge Leute. Ist da zufällig einer, der als eine Art Krieger verkleidet ist? Du weißt schon, dunkle Klamotten, Rüstung, seltsam gebogenes Schwert...“

„Nein, sorry, noch nie gesehen. Warum willst du das wissen? Verschossen?“ Sie grinste wissend.

Schnell schüttelte Siandra den Kopf und bereute es sogleich, als die Schmerzen vierfach zurückkehrten. Mitleidig sah Becca sie an, als sie wieder zu den anderen zurückkehrten. Scheinbar hatten sie sich Sitzplätze organisiert. Nur Florian blieb verschwunden.

„Schön, dass du trotzdem gekommen bist“, flüsterte Becca ihr ins Ohr bevor sie sich setzten.

Es war schon ziemlich spät – oder besser gesagt früh – als Siandra sich auf den Heimweg machte. Der Abend war ganz entgegen ihrer Erwartung noch wirklich schön geworden, doch irgendwann hatte die Müdigkeit sie dann doch niedergestreckt. Pauls gelalltes Angebot sie nach Hause zu begleiten hatte sie dankend abgelehnt. Seufzend atmete sie die kalte Luft ein. Der Himmel über ihr schimmerte orange. In dieser Nacht würde es sicherlich noch schneien und Köln weiter im Chaos versinken lassen.

Ein Blick auf die leuchtende Anzeige machte ihr klar, dass es sich nicht lohnte auf einen Bus zu warten. Angeschlagen waren fünfundfünfzig Minuten und der kleine Lauftext darunter höhnte, dass es immer noch zu massiven Verspätungen kam. Da war sie zu Fuß schneller unterwegs. Kurz überlegte sie die Abkürzung durch den Stadtwald zu nehmen, aber um die Uhrzeit war wirklich niemand mehr unterwegs. Ganz lebensmüde war sie dann doch nicht.

Sie fluchte, als sie in den viel zu kleinen Schuhen stolperte und beinahe der Länge nach im Schnee gelandet wäre. Was war sie froh, wenn sie endlich zuhause war und die Schuhe ausziehen konnte. Anfangs hatte sie nicht einmal ein Kostüm anziehen wollen, aber das hatte Becca ihr nicht durchgehen lassen und ihr eines von ihren geliehen. Also war es letztendlich Rotkäppchen geworden. Und sie musste gestehen, abgesehen von den absolut unpassenden Schuhen stand ihr das Kostüm gar nicht mal so schlecht.

Mit langen Schritten überquerte sie die Straße. Um diese Uhrzeit fuhr kaum noch jemand Auto, zumindest nicht in diesem Stadtteil. Es herrschte diese Drei-Uhr-Stille, die einem vorgaukelte, der letzte Mensch auf Erden zu sein.

Es tauchte so plötzlich auf, dass ihr Herz einen Schlag lang aussetzte. Dieses eigenartige Gefühl legte sich glühend heiß um ihre Schultern und ließ sie zurückweichen, als hätte sie sich an der Herdplatte verbrannt. Sie hatte keine Zeit darüber nachzudenken. Etwas glattes schoss an ihrem Kopf vorbei und das wütende Fluchen das folgte, ließ sie herumfahren. Ihre Augen weiteten sich, als sie erkannte, was sie beinahe getroffen hatte. Hektisch schlug ihr Herz gegen ihre Rippen und sie stolperte rückwärts. Ein Schwert?! Was zum...?!

Als sie in das Gesicht ihres Angreifers sah, erschrak sie. Sie kannte ihn! Es war Florian, dieser seltsame Kerl im Anzug, der ihr allein mit seinem Blick eine solche Angst eingejagt hatte. Den Anzug hatte er abgelegt. Seine dunklen Haare waren vom Wind zerzaust und lagen nicht mehr so akkurat am Kopf, wie noch vor wenigen Stunden. Er trug eine lederne Rüstung und hielt das Schwert wie selbstverständlich in der Hand.

Florian war nicht allein. Vier weitere Männer standen hinter ihm, in einer ebenso seltsamen Kampfkleidung. Ein gefährliches Lächeln schlich sich auf Florians Gesicht, als er erneut seine Klinge hob – tödlich echt und keineswegs aus Plastik.

Siandra wartete nicht ab, was dieser Irre vorhatte. Sie drehte sich um und lief los. Hinter sich hörte sie Florian Befehle bellen und die Schritte ihrer Verfolger, doch sie sah nicht zurück. Panik schnürte ihre Kehle zu und trieb ihr Herz zu einem noch schnelleren Takt an. Was waren das für Wahnsinnige?

Der Schnee knarzte unter ihren Füßen. Obwohl sie an der Straße entlang lief, war weit und breit kein Mensch zu sehen, der ihr auch nur ansatzweise helfen konnte. Nicht einmal ein einsames Taxi kam ihr entgegen. Die Verzweiflung griff nach ihr, überzog ihr Herz immer mehr mit Kälte. Sie war nie ein sonderlich gläubiger Mensch gewesen, doch nun betete sie, bloß auf keine Eisplatte zu treten und zu fallen.

Sie lief. Immer schneller führten ihre Schritte sie auf dem engen, nur schwach beleuchteten Fußweg am Waldrand entlang. Noch immer hörte sie ihre Verfolger dicht hinter sich. Sie kamen näher. Ihre Lungen brannten vor Anstrengung. Mit Sicherheit würde sie dieses waghalsige Tempo nicht mehr lange halten können.

Siandra stolperte über eine Unebenheit und verlor den Boden unter den Füßen. Der Aufprall vertrieb alle Luft aus ihren Lungen und ließ sie aufkeuchen. Sie versuchte weg zu robben, als jemand neben sie trat, doch der lachte nur verächtlich und drehte sie mit dem Fuß um. Der Ausdruck in seinen Augen jagte ihr einen kalten Schauer über den ganzen Körper Im schwachen Licht der Straßenlaternen sah sie, wie Florian sein Schwert hob und spürte das kalte Metall an ihrem Schlüsselbein. Ein brennender Schmerz breitete sich auf ihrer Haut aus, als die Klinge einen leichten Schnitt hinterließ. Die Verzweiflung trieb ihr beinahe die Tränen in die Augen. Ihr Herz schlug immer schneller und stärker in ihrer Brust, schien beinahe zu zerspringen. Doch dann spürte sie eine seltsame Wärme, die sie von innen heraus zu beruhigen schien.

„Lass dein Schwert sinken, Florian.“

„Rabe“, zischte Siandras Angreifer. In seiner Stimme schwang Trotz mit, aber genauso auch Wut und Unsicherheit. Seine Klinge verweilte jedoch an der Stelle an ihrer Schulter, wanderte langsam weiter herunter.

„Ich sagte, du sollst deine Waffe sinken lassen!“ Rabes Stimme war so scharf, wie die Schneide von Florians Schwert.

„Hast du den Verstand verloren?! Sie ist ein Halbblut! Es ist unsere Aufgabe, diesem schändlichen Wesen ein Ende zu bereiten. Als Jäger unserer Fürstin...“

„...hast du meinen Befehlen Folge zu leisten, ohne sie zu hinterfragen“, bellte der Fremde von der Bushaltestelle ihm entgegen. Doch Siandra wagte es nicht, den Blick von der Klinge abzuwenden, die noch immer über ihrer Haut schwebte. „Das war keine Bitte, sondern ein Befehl deines Offiziers! Senke. Deine. Klinge!“

Siandra atmete geräuschvoll aus, als der Druck des Schwertes verschwand. Dort, wo die Klinge die Haut eingeschnitten hatte, brannte es leicht. Rabe kniete neben ihr nieder und berührte kurz ihre Schulter, ehe er den Blick wieder zu Florian hob. Siandra musterte ihn aus dem Augenwinkel. Rabe also... Was ein seltsamer Name .

„Verschwindet! Ihr werdet hier nicht mehr gebraucht!“

„Wenn Ariel davon erfährt...“, setzte Florian zornig an.

„Das lass mal meine Sorge sein“, erwiderte Rabe gelassen. „Und jetzt macht euch vom Acker. Ich will euch hier nicht mehr sehen!“

Florian setzte zu protestieren an, doch ein weiterer Blick seines Offiziers brachte ihn zum Schweigen. Seine Augen trafen Siandra noch ein letztes Mal. In ihnen lag ein Versprechen, das ihr eine Heidenangst einjagte.

Die Schritte dieser seltsamen Jäger wurden immer leiser, doch auch als sie ganz schwanden, schaffte Siandra es noch nicht ihren Herzschlag zu beruhigen. Sie runzelte die Stirn, als Rabe ihr auf die Beine half. Seine Augen hatten die Farbe eines aufziehenden Sturmes und musterten sie, doch sie verrieten nicht, was er dachte. Sie hielt die Luft an, als er über die Haut strich, die Florians Klinge verletzt hatte. Ein merkwürdiges Ziehen breitete sich in ihrem Inneren aus und erfüllte sie mit einer Wärme, die sie zurückweichen ließ. „Alles in Ordnung?“

Sie nickte langsam, auch wenn ihr Herz noch immer mit voller Wucht gegen ihren Brustkorb trommelte. „Was war das gerade? Wer waren diese Irren? Und warum hilfst du mir?“, sprudelte es aus ihr heraus.

Rabes Gesicht verfinsterte sich. „Du weißt jetzt schon viel mehr, als gut für dich ist.“ Der melodische Akzent in seiner Stimme nahm seinen Worten einen Teil der Härte. Siandra war sich nicht sicher, ob es irisch oder doch schottisch war. Ihr blieb keine Zeit darüber nachzudenken. Fest schlossen sich Rabes Finger um ihre Schulter. „Komm mit mir. Ich bringe dich in Sicherheit.“

Empört schob sie seine Hand beiseite und starrte ihn entgeistert an. Für den Bruchteil einer Sekunde war sie tatsächlich so naiv gewesen zu glauben, ihr Abend würde endlich in geregelteren Bahnen verlaufen. Scheinbar hatte sie den einen Wahnsinnigen nur gegen einen anderen ausgetauscht. Zu der Fassungslosigkeit und Panik gesellte sich langsam aber sicher Wut. Was glaubte dieser Kerl? Dass sie sich abführen ließ wie ein unmündiges Kind?

Ihr Herz schlug ihr pochend bis zum Hals, als sie nach Rabe trat. Das hatte dieser eigenartige Krieger wohl nicht erwartet. Siandra nutzte den Überraschungsmoment, um sich aus seinem Griff zu winden und das Weite zu suchen.

Hätte ich mich doch mal als etwas anderes verkleidet und bequeme Schuhe angezogen , dachte sie gequält. Aber nein, es musste ja dieses eine Kostüm sein. Hätte ja keiner ahnen können, dass ihr eine nächtliche Verfolgungsjagd bevorstand.

Aus dem Augenwinkel bemerkte sie, dass Rabe zu ihr aufgeschlossen hatte. Obwohl sie schon so schnell wie nur irgendwie möglich lief, joggte er fast schon entspannt neben ihr her. Belustigt hob er die Augenbrauen. „Das ist doch lächerlich“, rief er gegen den Wind an.

Am liebsten hätte sie ihm das selbstgefällige Grinsen von den Lippen gekratzt, aber sie musste sich aufs Atmen konzentrieren. Sie versuchte noch schneller zu laufen. Ihre Beine pochten vor Anstrengung und ihre Lungen schrien um Gnade, doch sie gönnte sich keine Verschnaufpause. Rabe war dicht hinter ihr, das konnte sie genau hören.

Es war nicht mehr weit bis zur nächsten Kreuzung. Diese Straße war normalerweise belebter und mit ein bisschen Glück fuhr ein Polizist Streife. Nicht mehr weit und sie war in Sicherheit... hoffentlich.

Plötzlich wurde sie zurückgerissen. Sie zielte mit dem Ellbogen nach ihrem Verfolger, warf ihren Kopf zurück, um ihn zu treffen, doch er hielt sie unbarmherzig fest. Seine Arme waren wie Schraubstöcke, die jede ihrer Bemühungen sich zu befreien ins Leere verlaufen ließen.

„Verdammt! Ich will dir nichts böses“, presste er hinter geschlossenen Zähnen hervor.

„Warum sollte ich dir das glauben?“, rief Siandra und versuchte mit Händen und Füßen von ihm loszukommen.

„Wenn ich dich jetzt loslasse, versprichst du mir, dass du nicht panisch wegrennst?“

Siandra seufzte. „Meinetwegen.“

Sein Griff lockerte sich, als er sie behutsam zu sich umdrehte. Er verschränkte die Arme vor der Brust und musterte sie ganz unverhohlen.

„Und jetzt?“ Sie versuchte sich die Furcht, die noch immer ein eisernes Band um ihren Brustkorb legte, nicht anmerken zu lassen.

„Ich werde dich in Sicherheit bringen“, sagte Rabe unbeeindruckt und wollte nach ihrer Schulter greifen. Er fasste ins Leere, als Siandra einen Schritt zurück machte.

„Du glaubst doch nicht allen Ernstes, dass ich nach all dem, was gerade passiert ist, noch freiwillig mit dir mitkomme?“ Sie schlang sich den Schal wieder fester um den Hals, der bei der Verfolgungsjagd ein wenig gelitten hatte. „Was du jetzt machst, ist mir ziemlich Latte, aber ich gehe jetzt nach Hause.“

Rabe verschränkte die Arme vor der Brust und musterte sie belustigt. „Auf zu Großmutter?“

Sie warf ihm noch einen bösen Blick zu, ehe sie sich umdrehte. Erst später fragte sie sich, warum er sie plötzlich gehen ließ.

„Zu spät“, krächzte es aus dem Inneren der Wohnung, als Siandra die Haustür ein wenig zu ruppig ins Schloss fallen ließ. „Doofkopp! Doofkopp!“

„Halt den Rand, Jack!“, brummelte sie. Sie ignorierte das Wippen des grauen Papageis, als sie sich auf ihr Bett fallen ließ. Sie bemerkte nicht einmal, dass sie den Fernseher angelassen haben musste und Heidi Klum ihr mit starrem Gesicht verkündete, dass sie heute leider kein Foto für sie hatte. Ihr waren schon einige seltsame Dinge passiert, doch das toppte alles. Vorsichtig berührte sie den Schnitt an ihrem Schlüsselbein. Warum hatte Florian sie angegriffen? Und was hatte dieser Rabe damit zu tun? Die beiden kannten sich, so viel war sicher. Waren sie in der gleichen eigenartigen Rollenspielgruppe? Ohne auf das weitere Gekrähe ihres Vogels zu achten, zog sie eine Tube Salbe aus der Nachttischschublade und strich ein wenig auf die oberflächliche Wunde. Aber waren sie wirklich nur verwirrt oder zugedröhnt? Weder Florian, noch Rabe hatten gewirkt, als hätten sie zu viel Alkohol intus oder irgendetwas eingeworfen. Warum sagte Florian sie sei ein Halbblut? Gehörten die beiden zu irgendeiner abgedrehten Sekte? Sie griff nach ihrem Handy und tippe mit immer noch leicht zitternden Händen eine SMS an Becca. ‘Hatte grad ne psychotische Episode im Park. Ruf mich an, wenn du wach bist’. Dreimal musste sie von Neuem beginnen, weil sie die Tasten nicht richtig traf.

Siandra zuckte zusammen, als es an der Tür klingelte. Ihr Atem raste, als sie aufstand und hinüber ging. Hoffentlich war das nur ein Nachbar, der sich wegen des Lärms beschwerte. Doch dieser Gefallen wurde ihr nicht getan.

„So sieht man sich wieder“, sagte Rabe und lehnte sich lächelnd an den Türrahmen. „Du hast mir vorhin gar nicht die Gelegenheit gegeben, mich vorzustellen. Mein Name ist Elyano.“

Siandra hob die Augenbrauen und versuchte all die Selbstsicherheit aufzufahren, die ihr zu entgleiten drohte. „Kein Wunder. Immerhin warst du viel zu sehr damit beschäftigt, mich zu entführen. Tut mir leid, dir sagen zu müssen, dass das nicht gerade zu meinen Hobbys zählt.“

Theatralisch packte er sich ans Herz. „Siandra, Siandra. Das verstehst du völlig falsch.“ Er löste sich vom Türrahmen. „Darf ich reinkommen?“

„Nein.“

Elyano schmunzelte kurz, wurde aber schlagartig ernst, als sein Blick die Wunde an ihrem Schlüsselbein streifte. „Wir müssen uns unterhalten. Über diesen Angriff, deine Rolle in dem ganzen...“

„Meine Rolle? Was habe ich denn damit zu tun?“, brach es aus ihr heraus, doch Elyano überging es einfach. Er machte einen Schritt vor und hatte schon fast einen Fuß in ihrer Wohnung. Siandra überlegte gerade, wie sie am schnellsten an ihre Messer in der Küche kommen konnte, als Elyano sich kurz durch die dunklen Haare strich.

„Da gibt es etwas, das du wissen musst. Du bist hier nicht sicher.“

Siandra wich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich will damit absolut nichts damit zu tun haben. Bevor ich mich auf dich und deine seltsame Sekte einlasse, bleibe ich lieber in meiner ach so gefährlichen Wohnung. Und wenn ich dich jetzt bitten dürfte, bevor ich die Polizei rufe...“ Sie wollte die Tür schließen, doch Elyano drückte seine Hand dagegen.

„Wir müssen reden“, presste er hinter geschlossenen Zähnen hervor. Siandra sah genau, wie sehr er mit seiner Beherrschung kämpfte.

„Gar nichts müssen wir. Ich kenne dich nicht und deine eigenartige Sekte noch viel weniger. Ich habe mit diesem ganzen Krieger-Halbblut-Mist nichts am Hut und will es ganz bestimmt auch nicht. Und jetzt verschwinde, verdammt nochmal!“

„Alles in Ordnung, Siandra?“ Eine ältere Dame lugte von der Treppe zu ihnen herauf. „Wer ist dein Freund?“

Siandra atmete tief durch, ohne den Blick von Elyano abzuwenden. „Niemand. Er wollte gerade gehen.“ Einen Moment lang befürchtete sie, Elyano würde sich an ihr vorbei drängen, oder anderswie toben. Doch er sah sie noch einmal durchdringend an, ehe er sich umdrehte und ging. Siandra knallte die Tür hinter sich zu. Kraftlos ließ sie sich zu Boden sinken und lauschte Elyanos Schritten im Treppenhaus, die sich langsam entfernten.

3. Der böse Wolf

D as Schrillen ihres Telefons riss Siandra unsanft aus dem Schlaf. Noch etwas benommen rollte sie sich auf dem Bett herum und schmiss reflexartig ihr Kissen nach dem Übeltäter. Doch sie hörte nur metallenes Klirren und ein empörtes Krächzen als das Kissen sein Ziel traf. „Sorry Jack“, murmelte sie und rieb sich über die Augen. Es konnte erst wenige Minuten her sein, seit sie eingeschlafen war. So fühlte es sich zumindest an. In der Nacht hatte sie keinen Schlaf gefunden. Die Gedankenspirale in ihrem Kopf hatte einfach keine Ruhe gegeben und sie immer wieder mit bohrenden Fragen malträtiert. Sie war versucht das Klingeln einfach zu ignorieren, doch ihr Anrufer ließ nicht locker. Wer war denn verdammt nochmal so penetrant um acht Uhr morgens anzurufen?!

Es dauerte eine Weile, bis sie ihr Telefon gefunden hatte. Dem verstörenden Klang folgend, robbte sie durch ihre Wohnung und wunderte sich aufs Neue, wie ihre Sachen auf den wenigen Quadratmetern verschwinden konnten. Aber gab der Anrufer auf? Nein! Noch immer dröhnte das Klingeln in ihren Ohren.

„Guten Morgen, Frau Ecker. Mein Name ist Matthias Stratmann und ich rufe im Auftrag Ihres Vaters an.“

Siandra unterdrückte ein Stöhnen. Unterhaltungen, die so begannen, nahmen häufig kein sonderlich gutes Ende. Was hatte ihr alter Herr denn jetzt schon wieder mit ihr vor? „Egal, was es ist. Kein Interesse.“ Normalerweise war sie bemüht, die ganzen Vertreter, die ihr Vater ihr auf den Hals hetzte, freundlich abzuwimmeln, doch der Schlafentzug beeinträchtigte ihre Nettigkeit und ihr Bett rief so verlockend nach ihr.

„Aber Frau Ecker. Ihr Termin...“

„Welcher Termin?“

Matthias Stratmann schien fast ein wenig erleichtert, dass sie noch in der Leitung war. „Ihr Vater hat mich gebeten, Sie an das Seminar zu erinnern, das er für Sie ausgehandelt hat. Es findet heute Mittag um zwölf im...“

„Richten Sie ihm doch bitte aus, dass ich anderweitig beschäftigt bin. Einen schönen Tag noch“, sagte sie, auch wenn ihr ganz andere Dinge auf den Lippen gelegen hatten, und legte auf. Sie versuchte die Wut, die in ihr aufkam, zu verdrängen. Ihr Vater wollte ihr einen Einstieg in seine Welt ermöglichen. Vielleicht hätte sie sich geschmeichelt fühlen sollen, doch ehrlich gesagt, weckte es eher andere Gefühle in ihr. Sie wusste ja selbst nicht einmal, was sie wollte. Sie wollte nichts von ihrem Vater und sie wollte ihm erst recht nichts schulden müssen.

Erneut setzte das Klingeln ein. Ein Blick auf das Display zeigte ihr, dass es wieder dieser Matthias war, der anrief. Übermotivierter Speichellecker, dachte sie genervt und ließ sich wieder auf das Bett sinken. Sie versuchte das Telefonklingeln zu ignorieren, doch als auch Jack anfing in seinem Käfig Terror zu machen, richtete sie sich wieder auf. „Danke auch, Vogel!“, fauchte sie dem Tier entgegen und erntete nur ein „Wie macht Katze? Wuff.“

Entnervt richtete sie sich auf und schaltete mit der einen Hand die Kaffeemaschine an. Die andere fischte nach der Fernbedienung. Vielleicht konnte der Fernseher die anderen nervigen Geräusche ja ausblenden. Ihr Blick wanderte zum Käfig. Jack – der eigentlich Dr. Jekyll hieß – gehörte ihrer Schwester. Als sie ihn nicht mitnehmen konnte, hatte Siandra ihn zu sich geholt. Und dort schien er sich auch recht wohl zu fühlen. Der graue Vogel wippte mit dem Kopf auf und ab und starrte sie an. „Leben ist schön. Was guckst du?“

Schmunzelnd warf sie ihm ein paar Nüsse in die Schale, über die er sich sofort hermachte und riss mit einem Ruck das Telefonkabel aus der Wand. Sie wollte schon erleichtert aufatmen, als stattdessen ihr Handy anfing zu klingeln. Wieder dieselbe Nummer. Um ein Haar hätte Siandra ihr Handy aus dem Fenster gepffefert, begnügte sich dann aber doch damit es lautlos zu schalten. Gab dieser Kerl denn niemals auf?

Ein beklemmendes Gefühl breitete sich in Siandra aus, als sie auf den Haupteingang des großen Gebäudes zuhielt. Sie widerstand dem Drang auf der Stelle kehrt zu machen und zu fliehen. Immerhin kam sie freiwillig hierher. Sie wollte ihre Schwester besuchen. Doch jedes Mal brachen hier diese ganzen Gefühle, die sie immer so gut verdrängt hatte, wieder hervor.

Siandra brauchte nicht an der Rezeption nachzufragen. Sie kannte den Weg ganz genau. In den letzten Monaten war sie oft hier zu Gast gewesen. Hin und wieder begegnete ihr das ein oder andere freundliche Gesicht. Sie nickte ihnen zu, war aber froh nicht in ein Gespräch verwickelt zu werden. Sie wollte nicht über ihre Schwester sprechen. Sie wollte einfach nur zu ihr.

Eine Tasche baumelte an ihrem Handgelenk. In ihrem Inneren befand sich das Paket, das sie bei ihren Eltern abgeholt hatte, ebenso wie zwei Fotoalben und ein Buch. Ihre Schwester hatte gebeten, sie ihr zu bringen, auch wenn sie nie der Mensch für sentimentale Augenblicke gewesen war. Sie hatte es immer gehasst, selbst fotografiert zu werden und nannte es stets eine Zeitverschwendung, Momente festhalten zu wollen.

Gedankenverloren trat Siandra in den Aufzug und beobachtete die Zahlen, die sich im Inneren der Anzeige abwechselten. Sie seufzte, als der Aufzug mit einem leisen Pling stehen blieb und sich die Tür öffnete. Das mulmige Gefühl in ihrem Bauch verstärkte sich noch, als sie hinaus trat. Doch dann stieß sie gegen etwas – oder besser gesagt gegen jemanden. Sie verlor das Gleichgewicht und wäre fast gestürzt, hätte dieser Jemand sie nicht am Arm festgehalten. Leider ließ sie dabei die Tasche fallen und die Fotoalben landeten mit einem lauten Klatschen auf dem Boden. Sie wollte sie wieder aufheben, doch der Jemand kam ihr zuvor. Als er sich aufrichtete und ihr die Tasche reichte, wich sie unbewusst einen Schritt zurück. Es war der Mann mit dem Hund, den sie schon einmal fast umgenietet hatte. Was machte er denn hier?

„Die Welt ist klein, was?“, fragte er lächelnd und hakte die Daumen in den Bund seiner Hose. „Ich hoffe, du bist beim letzten Mal noch gut nach Hause gekommen. Was machst du eigentlich hier? Du hattest doch wohl keinen weiteren Unfall?“

Siandra versuchte sich zu beruhigen. Immerhin schien der Mann nicht so irre zu sein, wie sie anfangs dachte. Doch ganz konnte sie dieses Gefühl nicht abschütteln. Es war, als würde es sich mit Klauen an ihr festhalten. „Nein, nein, keine Sorge. Ich besuche nur jemanden. Und Sie? Was führt Sie hierher?“

Er zwinkerte ihr zu. „Sag ruhig du, sonst fühle ich mich noch älter, als ich ohnehin schon bin. Meine Verlobte erwartet unser erstes Kind“, sagte er und strich sich nervös eine Strähne aus dem Gesicht.

Ein ehrliches Lächeln trat auf ihre Züge. „Herzlichen Glückwunsch.“

Er erwiderte ihr Lächeln. „Danke. Ich lasse dich dann mal weiter zu deiner Bekannten und ich sollte mich langsam auch auf den Weg zurück machen. Wer weiß, vielleicht ja bis bald.“ Mit den Worten zwinkerte er ihr nochmal zu und verschwand im Aufzug.

Bis zum Zimmer ihrer Schwester hatte Siandra es nicht mehr weit. Als sie vor der dunklen Tür stand, spürte sie, wie ihre Hände zitterten. Sie freute sich ihre Schwester zu besuchen, doch jedes Mal war da auch noch Anspannung und Furcht, die sich unter dieses Gefühl mischten. Sie atmete noch einmal tief durch und trat ein.

„Hallo Sia.“ Ihre Schwester lag in dem Bett am Fenster und richtete sich ein Stück weit auf, als Siandra näher kam.

Mit einem Lächeln auf den Lippen ließ sie sich auf dem Bettrand nieder und stellte die Tasche auf den Stuhl, der neben dem kleinen Nachttisch stand, ehe sie ihre Schwester begrüßte. Vero hatte ihre dunklen Haare zu einem lockeren Zopf zusammengebunden und einige Strähnen fielen ihr in die Stirn. Ihre Augenbraue hob sich, als sie Siandra musterte. „Ist alles in Ordnung mit dir? Du siehst schlecht aus.“

Siandra zwang sich zu einem Lächeln. „Ich sehe immer noch besser aus als du.“

„Das kann ich mir kaum vorstellen.“ Vero lachte, doch ihr Lachen ging in ein Husten über. Angestrengt trank sie einen Schluck Wasser, ehe sie sich zurück in die weichen Kissen fallen ließ. „Also was ist los? Jetzt mal Tacheles.“

„Ach so das Übliche. Lernstress, unser Vater mit seinen Plänen...“

„Hat er dir wieder einen Vertreter auf den Hals gehetzt?“, fragte Vero mitleidig.

Siandra grinste diebisch und überkreuzte ihre Beine. „Heute Morgen hat mich ein höflicher junger Mann aus dem Bett geklingelt.“

Veros Blick wurde wachsam. „Ich hoffe du warst nett.“

„Ich bin doch immer nett.“

„Wer‘s glaubt.“

Siandra seufzte. „Ich habe nur manchmal die Hoffnung, dass er es endlich einsieht.“

„Wer? Vater?“

„Nein, der Kentucky-Fried-Chicken-Kerl. Natürlich unser Vater.“

Siandra strich kurz über ihren Nacken und ließ ihren Blick aus dem Fenster schweifen. Ausnahmsweise jagten die Halluzinationen keinen Herzinfarkt durch ihren Körper und sie fühlte sich auch nicht verfolgt wie in den letzten Tagen. Dieses Gefühl war so penetrant gewesen, dass sie sich fast schon daran gewöhnt hatte. Siandra runzelte die Stirn. Das war doch lächerlich.

„Du weißt, Vater wird niemals aufgeben“, sagte Vero leise. „Wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hat, hört er nicht eher auf, bis er sein Ziel erreicht. Er hat nur noch dich.“

„Das ist Unsinn und das weißt du auch. Er hat auch dich.“