Rad, Land, Fluss - Alexandra Schlüter - E-Book

Rad, Land, Fluss E-Book

Alexandra Schlüter

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Beschreibung

Mit dem Fahrrad entlang der Elbe: eine Reiseerzählung von Land und Leuten, Flora und Fauna, Geschichte und Kultur

Sattgrüne Marschwiesen, märchenhafte Auenwälder, idyllische Dörfer – dazwischen der Strom, der fließt und fließt: die Elbe. Und eine Frau auf dem Fahrrad. Ihr Fernweh nach dem eigenen Land und die Sehnsucht nach Naturerlebnis haben Alexandra Schlüter auf den Weg geschickt. Mehrere Wochen lang ist sie im Sommer auf dem Elberadweg unterwegs, 1.000 Kilometer, durch sieben Bundesländer, stromaufwärts von der Mündung in Cuxhaven bis zur deutsch-tschechischen Grenze. Dabei durchquert sie vom Fluss geprägte Landschaften wie die sanften Elbtalauen und das schroffe Elbsandsteingebirge, passiert geschichtsträchtige Orte wie Hamburg, Magdeburg und Dresden, beobachtet Seeadler, Graureiher und nistende Störche. Und sie begegnet den Menschen, die entlang der Elbe leben – in Mecklenburg oder in der Prignitz, im Kehdinger Land oder in der Altmark – und deren Geschichten eng mit dem Fluss verwoben sind.

Eine außergewöhnliche Entdeckungsreise durch die Natur, Kultur und Geschichte Deutschlands.

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Seitenzahl: 313

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Möwen am Zusammenfluss von Havel und Elbe bei Neuwerben.

Alexandra Schlüter

Fotos: Manolo Ty und Alexandra Schlüter

RADLANDFLUSS

Wie ich die E L B Eentlangfuhr und meineHeimat neu entdeckte

Eine Sehnsuchtsreise

PRESTEL

München • London • New York

DE ELV GEIHT

INHALT

Einleitung – Mein Sommer mit der Elbe

1 · Die Kraft der Gezeiten und eine Roseninsel im Strom

Cuxhaven – Otterndorf – Freiburg an der Elbe – Stade – Cranz

2 · Fast eine Stadt am Meer, Backsteintor zur Welt

Hamburg-Blankenese – Wilhelmsburg – Speicherstadt – Vier- und Marschlande

3 · Deichschafe und Farbspiele auf dem Strom

Zollenspieker – Lauenburg – Konau – Mödlich – Lenzen – Cumlosen – Hinzdorf

4 · Storchengeklapper und ein tausendjähriger Dom

Hinzdorf – Havelberg – Arneburg – Tangermünde – Magdeburg

5 · Biberburgen in den Auen und ein Gartenreich

Magdeburg – Schloss Dornburg – Steckby – Dessau – Wörlitz

6 · Silberweiden und ein Handschlag über der Elbe

Wörlitz – Wittenberg – Elster – Torgau – Strehla – Niederlommatzsch

7 · Weinreben und der Klang der Versöhnung

Seußlitz – Nieschütz – Meißen – Radebeul – Moritzburg – Dresden

8 · Versteinerte Riesen und weißer Sand in den Bergen

Dresden-Baselitz – Stadt Wehlen – Krippen – Schmilka – Festung Königstein

Epilog – Ich kann mich nicht trennen

Dömitz – Hitzacker – Damnatz

Die Elbe bei Schnackenburg, frühere Grenze zwischen Ost und West.

EINLEITUNG – MEIN SOMMER MIT DER ELBE

Ich stehe am Elbufer und blicke auf die grauen Fluten. Anders kann man das nicht nennen, was gerade an mir vorbeiströmt. Unbeirrbar, zielstrebig, immer vorwärts, von hier aus braucht die Elbe noch etwa 140 Kilometer bis zur Nordsee. Von diesem Strom geht etwas Archaisches aus, aller Moderne, die im Hamburger Hafen auf ihn wartet, zum Trotz. Kräne, Containerschiffe, Werften, was kümmert es die Elbe! Sie fließt und fließt. Bei Hochwasser müssen die Menschen ihre Autos am Fischmarkt wegfahren, heute noch genauso wie vor 50 Jahren.

Die Wurzeln der alten Bäume sind von Wasser umspült. Die ersten Knospen zeigen sich vorsichtig an den Ästen. Es riecht elbig, das ist mein persönliches Wort für die Mischung aus Schilf, feuchtem Gras, nassem Sand und, ja wirklich, Nordseeluft. Ich steige auf mein Rad, das ich an einen Baum gelehnt hatte, und fahre im niedersächsischen Stove auf den Deich. Das Elbegefühl hat sich längst eingestellt: Immer packt mich die Sehnsucht, wenn ich den Fluss sehe.

Etwas weiter elbaufwärts wiegen sich Schilf und Weiden im Wind, ihre Blätter tanzen und rascheln. Am Strom rauscht es wie am Meer. Das Schilf ist noch beige vom Winter, aber an den Weiden hängen schon die ersten weichen Kätzchen. An den Wildrosen blitzen Hagebutten vom letzten Herbst, dicke weiße Wolken türmen sich am Himmel. Möwen lassen sich von der Thermik tragen, sie scheinen über der Elbe zu schweben, kaum ein Flügelschlag. Haubentaucher, Brand- und Tafelenten schaukeln auf kleinen Wellen, ein Kormoran kämpft sich gegen den Wind voran. Weiter draußen im Fluss haben es sich ein paar Silbermöwen auf einer Sandbank bequem gemacht, die fingerbreit unter Wasser steht. Und über den Wiesen? Singen zwei Lerchen ein Frühlingslied, rüttelt ein Turmfalke und stößt hinab. In einiger Entfernung spazieren zwei Störche, die ersten, die ich in diesem Jahr sehe. Fünf Minuten Elbe und der Kopf ist frei.

Flussmuster im Sand bei Ebbe.

Seit Jahren reift in mir ein Plan. Ich möchte auf dem Elberadweg den Strom entlangfahren, dort aufbrechen, wo er bei Cuxhaven ins Meer mündet. Hunderte Bäche und Flüsse nimmt er auf seinem 1094 Kilometer langen Weg dorthin auf, sie alle bringen ihre eigenen Flussgeschichten mit. Die Havel erzählt, dass es bis zur Ostsee viel kürzer gewesen wäre, die Ilmenau von den einstigen Salztransporten. Die Saale, die SchwarzeElster, in Tschechien die Moldau, es ist auch ihr Wasser, das in der Nordsee sein Ziel erreicht. Flüsse sind Lebensadern für Flora und Fauna, auch für die Menschen, die mit ihnen leben. Die Idee meiner Elbereise packt mich immer mehr. Und eines Tages fahre ich einfach los. Stromaufwärts, weil es heißt, dass der Wind dann öfter von hinten bläst.

Die Autorin, für Wochen auf dem Rad unterwegs.

Salzwiesen und Süßwasserwatt, sattes Marschland und hohe Deiche, ab und zu ein Leuchtturm, der den Schiffen den Weg weist: Die Unterelbe ist von der Kraft der Gezeiten geprägt, auf den Sandbänken in ihrem Mündungstrichter leben Seehunde. Ich raste auf Inseln im Strom und blicke Ozeanriesen hinterher. Dem Zupfen der Deichschafe kann ich stundenlang zuhören.

An der Mittelelbe ist durch den natürlichen Zyklus von Hochwasser und trockeneren Zeiten eine einzigartige Auenlandschaft entstanden, in der Biber ihre Dämme bauen und seltene Vögel wie der Flussregenpfeifer brüten. Der Elberadweg führt durch ein Tier- und Pflanzenparadies, so schön, dass ich es manchmal gar nicht fassen kann.

Am Oberlauf sind Fluss und Landschaft wieder ganz anders. In den Weinbergen ist das Klima mild, Rebstöcke ziehen sich die Steillagen hoch, die Trauben stehen gut. Und dann das Elbsandsteingebirge mit seinen spektakulären Türmen und Tafelbergen, das die Elbe in Jahrmillionen durchbrochen hat. Ich lasse das Rad stehen und wandere in die zerklüftete Felsenwelt. Hier sehe ich den Strom von oben. Das Ziel meiner Reise ist Schmilka, wo die Elbe über die deutsch-tschechische Grenze fließt.

An manchen Tagen ist sie tiefblau. Kopfweiden strecken ihre struppigen Äste in die Höhe, die Wiesen sind sommergrün, Seeadlerland. Der Radweg führt fast immer an beiden Flussseiten entlang, man muss sich für ein Ufer entscheiden, zumindest biszur nächsten Brücke oder Fähre. Meine Angaben im Buch beziehen sich jeweils auf die Richtung, in die die Elbe fließt, das wird bei Flüssen generell so gehandhabt.

Ich lerne meine Flussgefährtin jeden Tag besser kennen, sehe sie freundlich und nach Unwettertagen aufgewühlt. Über weite Strecken fließt sie naturbelassen, einer der wenigen großen mitteleuropäischen Flüsse, der das noch darf.

Kehdinger Land, Altmark und Prignitz, wer hat von diesen ruhigen Landstrichen schon einmal gehört? Mir geht jedes Mal das Herz auf, wenn ich in sie hineinradele. Mein Blick verliert sich in der Weite, bleibt an einzelnen windzerzausten Bäumen hängen, an glänzenden Klecksen, wenn irgendwo Wasser in den Senken steht. Ich folge den Flugbahnen der Vögel, habe viel Raum für Gedanken, lasse mich treiben. Wenn ich an der Elbe sitze, höre ich auf, irgendetwas zu wollen, das ist vielleicht das Erholsamste auf meiner Tour. Von Buhnen und Stränden schaue ich der Strömung hinterher, immer wieder vergesse ich die Zeit. Ich fahre in den Sommer hinein, die Tage sind lang, und abends taucht die Sonne den Strom in Rosa und Orange.

Ich komme durch alte Elbmärchendörfer. Seit Jahrhunderten trotzen ihre reetgedeckten Höfe Wind und Wetter, in Obstgärten werden alte Apfelsorten angebaut. Auf den Wiesen weiden Kühe, auf der Deichkrone fahre ich Richtung Horizont. So einzigartig schön die Landschaft ist, weht manchmal auch ein Hauch von Melancholie. Jahrzehntelang war der Fluss auf fast 100 Kilometern innerdeutsche Grenze.

Grün, Weiß, Blau, Sommerfarben an der Elbe, hier im nördlichen Sachsen.

Wie lebten die Menschen früher an der Elbe? Fürsten residierten in Burgen über dem Strom, Treidler zogen am Ufer schwerbeladene Kähne elbaufwärts. Manchmal habe ich das Gefühl, hinter jeder Flussbiegung ein neues Kapitel unserer Geschichte aufzuschlagen. Neben dem Rhein ist die Elbe der deutsche Fluss. Ich treffe Bauern und Naturschützer, Winzer und Künstler, Elbanwohner aus Ost und West. Ich bin neugierig auf mein Heimatland. Ohne viel zu treten, rolle ich langsam durch die Dörfer. Hinter jeder Tür wohnt eine Geschichte, wo es sich ergibt, frage ich nach und höre zu. Über das Hierbleiben und Fortziehen, über das Zurückkehren oder wie es ist, an der Elbe ein neues Leben zu beginnen. Darüber, wie der Fluss die Gegend und ihre Bewohner geprägt hat und prägt.

Kleine Städte wie Lauenburg, Lenzen und Tangermünde sind zauberhafte Überraschungen. Drei unterschiedliche Großstädte liegen am selben Strom: Hamburg, die stolze Hansestadt, Magdeburg mit seinem tausendjährigen Dom und das barocke Dresden, dort wollte ich immer schon einmal hin. Auch nach Wittenberg, die Lutherstadt, und in die Wörlitzer Parklandschaft, in der die Zeit stehen geblieben ist.

In Deutschland und doch in einer anderen Welt, so erlebe ich meine wochenlange Entdeckungstour. Anfangs muss ich mich etwas einfahren. In der ersten Zeit habe ich Muskelkater, später nur noch nach besonders langen Etappen. Manchmal verfluche ich den Wind, wenn er gehässig in den Radspeichen pfeift. Ich muss auf meine Handgelenke achten, wenn ich sie am Lenker zu lange durchdrücke, tun sie weh. Aber die Tage sind unkompliziert, die Richtung ist klar, an der Elbe entlang, so einfach ist das Leben sonst nie. Nur selten enden meine spontanen Abstecher im Nirgendwo. Ich habe nicht viel darüber nachgedacht, was alles passieren kann. Nur eins möchte ich unbedingt vermeiden, einen Platten. Einen Ersatzschlauch habe ich zwar dabei, aber nicht geübt, ihn einzuziehen. Ich entscheide mich gegen ein Zelt und dafür, in „Bett und Bikes“ und anderen radlerfreundlichen Unterkünften zu übernachten. Meine Ausrüstung passt in zwei Packtaschen, einen Tagesrucksack und eine Lenkertasche.

Warum möchte ich überhaupt los? Ich habe Fernweh nach meinem eigenen Land. Ich möchte nach den Corona-Monaten einfach einmal raus. Mein Sohn wird zu Hause sicher eine Zeit lang die Männerwirtschaft genießen. Keine Mutter, die ihn ans Klavierüben erinnert. Ich bin schon kürzere Strecken mit dem Fahrrad an Flüssen entlanggefahren, es war immer inspirierend und entschleunigend zugleich.

Auch ein wichtiger Punkt: Die Elbe ist der Strom, in dessen Nähe ich wohne. Schon immer frage ich mich, woher kommst du, wo willst du noch hin? Sie verleiht Hamburg, der Stadt, in der ich lange gelebt habe, ihr Gesicht. Nach dem Umzug aufs Land bin ich viele Jahre jeden Morgen über die Elbbrücken zur Arbeit gefahren. Manchmal war der Flusspegel so hoch, dass kein Schiff darunter hindurchgepasst hätte. Ein Kapitän hat es trotzdem einmal versucht, die Brücke war danach lange gesperrt.

Ich reise allein, in meinem eigenen Rhythmus. Ich möchte anhalten, wenn etwas meine Aufmerksamkeit erregt, schnell fahren, wenn mir danach ist. Und ja, ich möchte etwas Neues für mich wagen, auch wenn mir zwischendurch vielleicht einmal mulmig ist: eine weite Reise durchs Elbeland. Natürlich können mich Familie und Freunde zwischendurch besuchen, vorausgesetzt, sie bringen ihr Fahrrad mit.

Wie lange ich unterwegs sein werde? Ich weiß es noch nicht genau. Fünf Wochen vielleicht, zwischen 40 und 60 Kilometer am Tag, in einigen Gegenden möchte ich auch einmal länger bleiben. Und beim nächsten Mal fahre ich auf der anderen Seite stromabwärts zurück.

Wattwandern in der Nordsee vor Cuxhaven.

1 · DIE KRAFT DER GEZEITEN UND EINE ROSENINSEL IM STROM

Cuxhaven Otterndorf Freiburg an der Elbe

Stade Cranz

Meine Radtour an der Elbe beginnt zu Fuß, am Meeresgrund, barfuß im Watt. Der Blick ist weit, und in der Ferne, als wenn sie ganz langsam auf dem Schlick entlanggezogen werden, fahren große Schiffe Richtung Hamburg oder kommen den Strom hinab. Dort geht die Elbe in die Nordsee über, verläuft die Fahrrinne noch 40 Kilometer ins Meer hinaus, verteilen sich ihre Fluten bis nach Helgoland.

Es ist Ebbe. Der Boden federt bei jedem Schritt, ich spüre den Sand unter meinen Füßen. Die Wellen haben ein Riffelmuster zurückgelassen, bevor sie sich ins offene Meer davongemacht haben. Sechs Stunden später werden sie es wieder verwischen. Ein Mädchen lässt einen Drachen steigen, der auch bei wenig Wind vor zarten Federwolken tanzt. Das größte zusammenhängende Watt der Erde ist Nationalpark und Weltnaturerbe der UNESCO, rund 9000 Quadratkilometer groß. Hier strömt die Elbe ins Schleswig-Holsteinische und Niedersächsische Wattenmeer. Auch Hamburg hat seinen Anteil an dem Naturwunder, denn die Insel Neuwerk, zu der man bei Ebbe hinüberwandern kann, gehört zur 120 Kilometer entfernten Hansestadt.

18 Kilometer ist die Elbe an ihrer Mündung breit. Bis heute führen nicht besonders viele Brücken über den Strom. See- und Handelsmächte bestimmten die Geschicke der Küste und der großen Flüsse, die in die Nordsee münden: die Elbe, etwas weiter südlich die Weser und im Norden die Eider, auf der schon die Wikinger einen Wasserweg in die Ostsee suchten. Jahrhundertelang segelten Schiffe die Elbe hinauf und hinab, um ihre Ware unter die Menschen zu bringen. Cuxhaven liegt strategisch günstig, 700 Jahre lang, bis 1937, gehörte es zu Hamburg. Die Stadt ist heute noch ein wichtiger Fischereihafen in Deutschland. Die Fähren nach Helgoland legen hier ab, Offshore-Windparks werden vom Hafen aus mit Material versorgt.

Neuwerk ist von einer Luftspiegelung umhüllt. Ein Containerschiff, das Richtung Elbmündung fährt, schmaucht aus dem Schornstein, es sieht malerisch aus, wie auf einem Kinderbild. Dabei ist Schiffsdiesel alles andere als umweltfreundlich. Bunt stapeln sich Tausende Container an Deck. Nach jahrelangem Streit ist gerade eine weitere Elbvertiefung abgeschlossen worden, damit der Hamburger Hafen gegen Tiefseehäfen wie Rotterdam und Antwerpen wettbewerbsfähig bleibt. 13,50 Meter Tiefgang können die Containerriesen auf der Elbe jetzt unabhängig von den Gezeiten haben, in einem kurzen Zeitfenster bei auflaufendem Wasser sogar 14,50 Meter. Das ist höher als ein Einfamilienhaus.

Im Nationalpark Niedersächsisches Wattenmeer leben mehr als 10 000 Tier- und Pflanzenarten, darunter Wattwürmer, die diese Hügelchen aus Sand hinterlassen.

Ich habe in Cuxhaven-Duhnen eine Wattführung gebucht. Milliarden von Organismen leben im Watt, allein zwölf Millionen Vögel machen hier jedes Jahr Rast. Wir wandern der Flut entgegen, das Meer kommt in den nächsten Stunden zurück. Die Sonne spiegelt sich in Pfützen, in denen glasklares Wasser steht. Im Schlick sind winzige schwarze Löcher zu sehen, Eingänge zu den Röhren der Wattwürmer, die sie ihr ganzes Leben lang bewohnen. Die Fläche schimmert und ist mit spiralförmigen Türmchen gesprenkelt: der verdaute Sand, der übrig bleibt, nachdem der Wurm alle Nährstoffe aus ihm gezogen hat, der sauberste Sand der ganzen Nordsee. Möwen picken nach Muscheln, die sie mitsamt ihrer Schale verschlingen. Ich schaue einer Herzmuschel zu, die sich vorsichtshalber mit ihrem Saugrüssel eingräbt. Nach ein paar Minuten ist sie spurlos verschwunden. Je weiter wir nach draußen kommen, desto kühler und windiger wird es. Ich ziehe meine Jacke an und schließe den Reißverschluss bis zum Kragen. Am Horizont, dort wo vorhin nichts als Schlick zu sehen war, fängt es an zu glitzern. So ganz weiß ich nicht, ob ich meinen Sinnen trauen kann, in der Entfernung fängt die Luft an zu flimmern. Ich blicke durch mein Fernglas, zwischen zwei Frachtern schaukelt wagemutig ein Segelboot. Vielleicht möchte es die Flut nutzen, um die Elbe hinaufzusegeln, das ist einfacher als bei Ebbe, wenn die Nordsee Richtung offenes Meer zerrt.

Die Kraft der Gezeiten ist unvorstellbar. Sie ist der Grund, warum ich meine Elbetour im Watt beginne. Der Tidenhub der Nordsee beträgt hier drei Meter. Er reicht bis hinter Hamburg, 142 Kilometer den Strom hinauf. Und er würde noch weiter reichen, hätte man nicht bei Geesthacht ein Sperrwerk gebaut. Die Gezeiten beeinflussen den Lebensraum an der Unterelbe. Auch am Fluss fallen Strände trocken, im Süßwasserwatt ist dann der Tisch für See- und Watvögel gedeckt. Selbst kleinere Nebenflüsse wie die Oste, Schwinge und Este spüren Ebbe und Flut, ohne Sperrwerke wären sie bei Sturmflut dem Druck der Nordsee schutzlos ausgeliefert.

Das Watt ist von Prielen durchzogen, Gräben, durch die bei Ebbe das Wasser ab- und bei Flut wieder aufläuft, bei Westwind mit atemberaubender Geschwindigkeit. Bei Flut können Rückwege binnen Minuten abgeschnitten werden. Wege im Watt sind deshalb vor Cuxhaven mit Pricken gekennzeichnet, Reisigbüschel, die jedes Jahr im Frühsommer neu gesteckt werden. Sie führen zu Rettungsbaken, das sind geschlossene Körbe auf Masten, in die man im Notfall über eine Leiter gelangt. Dort kann man dann sechs Stunden warten.

Am Ufer werden Signalbälle gehisst, Zeit für die Wattwanderer umzukehren. Da wir mit einer Führung unterwegs sind, können wir noch draußen bleiben. Tatsächlich, der glitzernde Streifen rückt näher, er entpuppt sich als weißer Schaum, den die Nordsee wie einen kilometerlangen Kleidersaum vor sich herschiebt. Der Eindruck ist gewaltig, das Meer kommt zurück, buchstäblich aus dem Nichts. Wir schauen gebannt auf das Naturspektakel, bis die Nordsee unsere Füße umspült. Das Wasser ist erstaunlich warm, denn es läuft schon seit geraumer Zeit über den von der Sonne aufgewärmten Sand. Von rechts füllt sich ein Priel, plötzlich überholt sich die Nordsee selbst. Stetig, aber bei den Windverhältnissen heute nicht besonders eilig, nähert sie sich dem Land. Wir gehen mit ihr mit.

Die Schiffe in der Fahrrinne fahren unbeirrt von West nach Ost, von Ost nach West. Es hat etwas Meditatives, ihnen vom Strand aus hinterherzublicken. Ich stelle mir die immergleiche Frage: Wo kommen sie her? Vielleicht zieht gerade ein Stück Hongkong, Singapur oder Lagos vorbei.

An der Elbmündung in die Nordsee weht es immer.

Ich werde die Unterelbe in Etappen mit dem Rad absolvieren und abends mit dem Zug nach Hause zurückfahren. Anschließend fahre ich dann am Stück von Hamburg bis zur deutsch-tschechischen Grenze. Die nächsten Tage sind so etwas wie eine Generalprobe. Ich war aufgeregt heute Morgen, als um sechs Uhr der Wecker klingelte. Mit einem Kribbeln im Bauch bin ich zum Ausgangspunkt meiner Reise gefahren, voller Vorfreude und Neugier auf mein Land und alles, was die nächsten Wochen bringen werden.

Cuxhaven, das ist Möwengeschrei. In kleinen Seitenstraßen im Hafen holpere ich über Kopfsteinpflaster. Es riecht nach Fisch, in den riesigen Lagerhallen summt die Kühlung. Ich atme den Hafengeruch ein, in den sich Schwaden von Schiffsdiesel mischen. Am Kai sitzt ein Mann und hält seine Angel ins Hafenbecken. Was er fischt, frage ich ihn. „Hering“, antwortet er, „aber die sind schon alle weg um diese Zeit im Jahr.“ Er ruckt mit der Rute etwas nach oben, ich glaube, er findet es einfach schön, hier zu sitzen. Ob ein Fisch beißt oder nicht, ist nicht das Entscheidende.

Immer wieder wurde im Lauf der Zeit der Hafen vergrößert. Über die Kanäle führen Klappbrücken, Schiffe haben in so einer Stadt Vorfahrt. Restaurants bieten Scholle, Rotbarsch, Dorsch oder gleich ein ganzes Fischerfrühstück an. Hinter großen Fenstern arbeitet eine Segelmacherei. In einem Trockendock wartet ein Schiff auf seine Überholung. Die Fischerboote Zwei Gebrüder und Maria Cuxhaven liegen mit aufgewickelten Netzen am Kai. Der Arbeitstag ihrer Besatzung ist längst vorbei. Hoch oben an Deck eines anderen Schiffes unterhalten sich Matrosen. Wie viele Wochen sie wohl auf Hoher See unterwegs sind? Im Norddeutschen Rundfunk gibt es an Heiligabend immer eine Sendung, in der die Angehörigen an Land ihren Lieben auf den Weltmeeren Weihnachtsgrüße über den Äther schicken können. Daran muss ich jetzt denken.

Blick über den Landwehrkanal. Fischerboote, Kühlhallen und sogar Graffiti haben maritime Themen, das ist Cuxhaven.

Vom Aussichtsdeck des ehemaligen Schiffsanlegers Alte Liebe blicke ich beeindruckt auf die Elbe. Dort strömt sie so breit, dass sie auch ein Meer sein könnte. Rote und grüne Bojen kennzeichnen die Fahrrinne. Das Wummern der Schiffsmotoren dröhnt herüber, ich spüre es tief im Bauch. Das ist es, was ich an Häfen so liebe. Schiffe ziehen die Gedanken mit, wecken Träume vom ungebundenen Leben, von Freiheit, Wind und salziger Luft. Vom fernen Horizont und vom Unterwegssein. Nicht zuletzt deshalb hatte ich die Idee zu meiner Reise. Ich werde am Wasser entlangfahren, ein bisschen weite Welt schwebt an der Elbe immer mit.

Ein Lotsenboot braust in den Fluten davon. Vielleicht nimmt es einen Containerriesen in Empfang, um ihn Richtung Hamburg zu geleiten. Ab 90 Metern Länge, bei Tankern ab 60 Metern, ist es Pflicht, einen Lotsen an Bord zu nehmen. Dieser klettert bei Wind und Wellen von seinem schwankenden Boot über eine Leiter auf die um ein Vielfaches größeren Schiffe. Dort berät er den Kapitän. Eine Brüderschaft und eingeschworene Zunft, die sich mit den besonderen Gegebenheiten an der Elbe auskennt. Den Sandbänken, die sich häufig ändern, den Kurven im Flusslauf, der Tide und dem Schifffahrtsverkehr. Die größten Containerschiffe sind bis zu 400 Meter lang, etwa 60 Meter breit und können mehr als 23 000 Container laden. Zwischen Cuxhaven und der Einfahrt in den Nord-Ostsee-Kanal in Brunsbüttel verläuft eine der meistbefahrenen Schifffahrtsstraßen der Welt. Robben, Seehunde und Schweinswale leben in dem ausgedehnten Elbtrichter, der sich zum Meer hin immer weiter öffnet, ein Ästuar, das im geologischen Sinn etwas anderes als ein Delta ist. Etwa 40 000 Schiffe passieren diesen Abschnitt im Jahr. Unsere Jeans ziehen dort vorbei, Waschmaschinen, Handys und Tomaten sind in den Containern verpackt. So viel Ware lässt sich auf diesen Riesen unterbringen, dass die Transportkosten zum Teil nur ein Prozent des Verkaufspreises ausmachen. Der ökologische Rucksack wiegt mal mehr, mal weniger schwer. Auf Höhe der Kugelbake, Cuxhavens Wahrzeichen, endet die Binnenelbe.

Blick vom Aussichtsdeck Alte Liebe an der Elbmündung. Das Containerschiff fährt stromaufwärts Richtung Nord-Ostsee-Kanal oder Hamburg.

Ich lasse die Stadt hinter mir und fahre auf dem Elberadweg am Deich entlang durchs niedersächsische Hadler Land. Ein Storch stakst über eine Wiese, Margeriten blühen. Es riecht nach feuchter Erde, die vor ein paar Tagen gedüngt worden ist, nach sattem Grün. Die Luft ist weich, ich fahre mich ein. Die Marsch ist immer fruchtbar gewesen. Bei unzähligen Überflutungen hat die Elbe ihre Sedimente samt Mineralien dort gelassen. Oft hat sie den Lauf in ihrem Urstromtal geändert, abhängig davon, wann und wo welche Gletscher abgeschmolzen sind und wo sie ihr Geröll hingeschoben haben. Später haben die Bauern jahrhundertelang gegen Hochwasser gekämpft. Immer wieder hat die Elbe zugeschlagen, haben die Marschbewohner alles verloren. Diese Geschichten werden mich den ganzen Strom entlang begleiten. Die Elbe hat nicht nur die Landschaft, sondern das Leben und die Geschichte der Menschen geprägt, die im Mittelalter damit begonnen haben, Deiche zu bauen. Vor Altenbruch steht noch ein Relikt des alten Hadler Seebandsdeichs aus dem 11. Jahrhundert. Wie lange hat es gedauert, bis die Menschen herausgefunden haben, wie ein Deich beschaffen sein sollte, um ein wirksamer Schutz vor den Elbfluten zu sein! Er wurde in Handarbeit aus Klei gebaut, einem feinkörnigen, tonhaltigen Material. Knochenarbeit, an der sich alle Männer beteiligen mussten. Gebaut wurden die Deiche im Sommer; im Winter, wenn Sturmfluten drohten, war das Wetter zu rau. In der hellen Jahreszeit musste aber auch die Feldarbeit erledigt werden. Für die Instandhaltung war das Kirchspiel verantwortlich, die Deichgeschworenen überwachten den Zustand, denn vom Halten der Schutzwälle hingen Leben und Tod ab. Auch heute noch werden sie regelmäßig kontrolliert.

Der Leuchtturm Dicke Berta schickte einst bei Altenbruch sein Leuchtfeuer auf den Strom. Wiesen erstrecken sich bis vor an die Elbe, sie sind durchzogen von Gräben, in denen Wasser steht. Ich lasse den Blick zu dem grauen Band schweifen, das sich irgendwo vor Schleswig-Holstein im diesigen Himmel verliert. Es fängt an zu nieseln. Die Wolken schlucken viel Farbe, aber den Wiesen können sie ihr Grün nicht nehmen. Unzählige Schafe sehen aus wie wollweiße Tupfen. Sie verdichten den Boden und rupfen das Gras kurz. An der gesamten Elbe werden sie zur Deichpflege eingesetzt. Ein Wall aus schwarzen Steinen befestigt das Ufer, gegen das die Wellen der großen Schiffe mit einiger Verzögerung branden. Es klingt wie am Meer. Wie schnell die Elbe draußen in der Fahrrinne fließt! Die Wasseroberfläche sieht dort anders aus als in Landnähe, dunkler, bewegter. Bald setzt Ebbe ein, zusätzlich zur Flussströmung herrscht dann noch ein Sog Richtung See. Die Schiffe wiederum verdrängen so viel Wasser, dass sie ihre eigene Strömung erzeugen. Bei Flut ist es andersherum, und die Elbe fließt in ihrem Mündungsbereich rückwärts. Man kann sich vorstellen, was dann für eine Unterströmung herrscht, denn natürlich drängt der Strom weiter zur Nordsee. Wassermassen, immer, jede Sekunde.

Schafe auf dem Deich im Kehdinger Land.

Die Farbe der Unterelbe ist nicht gefällig, nicht lieblich blau, sondern eher grau. Das liegt an den Sedimenten, die durch die Tide in den Strom getragen werden, nicht an der Wasserqualität. Diese hat sich seit 1990 stetig verbessert. Die Elbe ist heute wieder einer der Flüsse mit den meisten Fischarten in Europa, darunter Finte und Flunder, die ihre Augen an einer Kopfseite trägt. Auch einige Berufsfischer gibt es wieder. Fische, die flussaufwärts geboren werden und zur Nordsee schwimmen, gewöhnen sich im Brackwasser des Elbtrichters an den steigenden Salzgehalt. Einige, wie der kleine Dreistachelige Stichling, können in Salz- und Süßwasser leben.

In Otterndorf ist die Elbe so breit, dass man das andere Ufer nicht sieht.

Bei Otterndorf hängt eine Infotafel mit dem Tidekalender am Weg, Strandkörbe stehen auf den Wiesen. Die Ebbe hat gerade die Flusswattflächen freigegeben. In den Gezeitentümpeln schwimmen winzige Fische, orangefarbene Flechten leuchten auf den Steinen. Die Windräder an Land drehen sich träge, der Fluss hat mein Zeitgefühl längst weggespült. In Otterndorf münden die Medem und der Elbe-Weser-Schifffahrtsweg in die Elbe. Hier stand lange das größte dieselgetriebene Schöpfwerk der Welt. Denn so sehr die Deiche den Dörfern in der Marsch auch Schutz boten, konnten die kleineren Flüsse aus dem Hinterland plötzlich nicht mehr abfließen. Die Höfe im Kehdinger Land wurden schon vorher auf Wurten, künstlichen Hügeln, gebaut, damit sie bei Hochwasser trocken standen, wie kleine Inseln in der Marsch. In den Schöpfwerken wurde und wird noch heute das Wasser in die Elbe gepumpt. Kleine Fachwerkhäuser schmiegen sich an den Deich. Die Besitzer sitzen im Nieselregen auf ihrer Terrasse, einen echten Norddeutschen schreckt diese Art von Sommerwetter nicht.

Ich fahre ein Stück durchs Hinterland und ertappe mich dabei, dass ich es gedanklich „Landesinnere“ nenne, als ob ich mich vom Meer entferne. Auf der Karte sind die Wiesen von einem Netz aus unendlich vielen, feinen blauen Adern durchzogen, den Flethen. Was muss das für eine Arbeit sein, diese Gräben das ganze Jahr offen zu halten. Ich komme durch Bahrdorf, Esch und Belum. „Hallo“, grüße ich in den Dörfern oder „Guten Tag“, später auch „’n Abend“. Die Antwort ist immer „Moin“.

Rote Lichtnelken auf den feuchten Wiesen am Hadelner Kanal, der in Otterndorf in die Elbe mündet.

Zwischen Hadelner und Belumer Außendeich und dem Nordkehdinger Wildvogelreservat mündet die Oste in die Elbe. Wie jeder Nebenfluss hat auch sie ihre eigenen Geschichten zu erzählen: von der Schwebefähre, die sie in Osten, einem Ort stromaufwärts, quert und die Anfang des 20. Jahrhunderts als technisches Wunderwerk galt; selbst große Seeschiffe konnten darunter hindurchfahren, ohne ihren Mast einzuklappen. Von den Marschbewohnern, die bei Land unter mit ihren flachen Kähnen die Kinder in die Schule stakten und sonntags mit ihren Familien in die Kirche.

Bei der großen Sturmflut 1962 hielten viele Deiche nicht, den Menschen reichte es ein für alle Mal. Die Wälle wurden erhöht und die Kehdinger verlegten die Mündung der Oste. Sie bewegten Millionen Tonnen Boden, errichteten ein Sperrwerk mit meterhohen Spundtoren und leiteten anschließend das Flussbett um. Doch wie es aussieht, ist dieses Kapitel noch nicht zu Ende. Durch den Klimawandel steigt der Meeresspiegel, und es ist absehbar, dass in nicht allzu ferner Zukunft die Deiche wieder erhöht werden müssen. Das beträfe die Außen-, aber auch die Binnendeiche, die oft erstaunlich weit vom Elbufer entfernt liegen.

Heute versucht man, einen Kompromiss zwischen Hochwasserschutz, Landwirtschaft und Naturschutz zu finden. Landschaften werden renaturiert, Wiesen und Moore wieder vernässt. Vor dem Außendeich überflutet die Elbe Salzwiesen, die Ostemündung mit ihrem Watt ist streng geschützt, Wildvogelreservate wurden ausgewiesen, ein Vogelparadies. Im Natureum Niederelbe werden die Zusammenhänge erklärt, die die Umgebung prägen. Zwischen Elbe und Watt, Salzwiesen und Vögeln, dem globalen Schiffsverkehr und unserem Leben. Eine Inspiration wie in einer großen Kunstausstellung. Von der Vogelbeobachtungshütte aus, die zum Natureum gehört, sehe ich vorn im Watt Vögel trippeln und picken. Vielleicht sind Uferschnepfen oder Flussuferläufer dabei.

Salzwiesen sind ein besonders artenreicher Lebensraum. Sie bilden den Übergang vom Watt zur Marsch. Nicht alle Pflanzen vertragen gleich viel Salz. Manche speichern es in speziellen Härchen, die absterben, wenn der Salzgehalt zu hoch ist. Andere verdünnen ihn, indem sie besonders viel Wasser aufnehmen. Schlickgrad, Löffelkraut und Strandwegerich, der so ähnlich wie Grünkohl schmecken soll, Stranddreizack und Strand-Milchkraut – sie alle haben nicht nur wundersame Namen, sondern sind kleine Wunder der Natur, die raffiniert an ihre extreme Umgebung angepasst sind.

Reetdachhäuser hinter dem Deich, viele sind renoviert und haben ein neues Dach.

Auf der anderen Seite des Sperrwerks fahre ich vor an den Sommerdeich. Mit meinem Fernglas scanne ich die Wiesen, verharre mit meinem Blick minutenlang an einer Stelle, um Geist und Augen auf den Beobachtungsmodus einzustellen, denn die Vögel sind gut getarnt. Am gegenüberliegenden Osteufer steht ein brauner Vogel mit langem Schnabel im Schlick. Vielleicht eine Bekassine, aber ich weiß es nicht genau. In einer Flutmulde entdecke ich einen Haubentaucher, den erkenne ich gut an dem Federbüschel auf seinem Kopf. Im Orchester der Vögel spielen alle durcheinander. Keiner hält sich an Tonart, Rhythmus oder Takt. Auch die Tonfolgen der einzelnen Vögel klingen nicht immer gleich. Mal sind sie länger, mal kürzer, dann hören sie schlagartig auf. Blaukehlchen und Pfeifente, Schilfrohrsänger und Austernfischer, hier treffen sich Wat- und Wiesenvögel. Sie trillern und tschilpen, pfeifen, keckern, schnattern und schmettern, und ich höre zu. Ich atme tief ein und aus, die ruhigsten Momente bisher auf meiner Tour. Nicht vom Geräuschpegel her, sondern vom Gefühl.

Schilf und Wiesen vor dem Außendeich sind geschützt und können nicht betreten werden, aber hier, vom Treibselräumweg aus, hat man große Chancen, viele Vögel zu sehen. Ja, so heißt der Weg, der außendeichs entlangführt, damit man angeschwemmtes Treibgut abtransportieren kann. Binnendeichs verläuft der Deichverteidigungsweg, sein Name verrät, wozu er dient. Bis zu zehn Meter hoch sind heute die Außendeiche, an ihrer Basis manchmal 120 Meter breit, zur Elbe hin sanfter geneigt als zum Binnenland. Das rot-weiße Leuchtfeuer von Balje, das sich 56 Meter in den grauen Himmel reckt, kommt langsam näher. In der Dunkelheit warnen die Lichtsignale die Schiffer auf der Elbe, die hier eine Kurve macht.

Stände an den Gartenpforten im Kehdinger Land bieten selbstgemachte Marmelade an. Wer etwas kauft, lässt sein Geld in der Vertrauenskasse.

Ich mache Rast auf Gut Hörne. Auf Rasen und Kies stehen filigrane Gartenmöbel, Frösche quaken und ich esse Apfelkuchen mit Schlagsahne. Danach fahre ich auf der kleinen Straße hinter dem Deich weiter. Ich muss mich an das Alleine-unterwegs-Sein erst wieder gewöhnen. An das Alleinsein mit meinen Gedanken, die in jede Richtung schweifen. Daran, dass niemand da ist, um sich zu unterhalten. Auch nicht, um sich zu beraten, welche Abzweigung wohl die richtige ist. Andererseits genieße ich, dass mich nichts ablenkt. Ich achte auf die zerfurchte Rinde der Weiden, die Silhouette des Reihers, der unbeweglich hinter einem Schilfgürtel steht und sich in einem Teich spiegelt.

Ein Reetdachhaus ist schöner als das andere. Sie liegen hinter Heckenrosen und Haselnusssträuchern versteckt. In den Beeten blühen Akeleien, an einer Pforte ist ein Marmeladenstand aufgebaut, mit Sorten wie Holunder, Quitte und Schwarze Johannisbeere aus dem eigenen Garten. Wer etwas mitnimmt, legt sein Geld in die Kasse. In Krummendeich habe ich des Rätsels Lösung. Kann es sein, dass hinter dem Deich die Uhren anders gehen? Und manchmal ganz einfach die Zeit stehen bleibt?

Zum Abend hin zeigt sich noch kurz die Sonne. In Freiburg an der Elbe ranken Rosenstöcke an alten Fachwerkhäusern, schmale Gassen führen zum Hafen. Vorbei an dem kleinen Buchladen, zu dem ein Gartencafé gehört, das Kaffee, Kuchen und neuerdings auch Fischbrötchen im Angebot hat. Was ist das nur für ein süßer Ort! An einem der Häuser ist über der Tür der Pegelstand der Sturmflut vom 16. / 17. Februar 1962 eingezeichnet. Gegenüber liegt eine Bootswerft. Ich fahre noch einmal vor bis zur Elbe. Fünf, sechs Graureiher stehen am Östlichen Sielgraben. Bis auf einen fliegen sie wie in Zeitlupe davon. Abendruh kehrt ein. Die Kopfweiden am Wegrand sind zurückgestutzt, sie sehen aus wie kleine Rabauken, die man gegen ihren Willen zum Friseur geschickt hat. Ein Starenschwarm sucht seinen Schlafbaum für die Nacht. Einige sitzen schon auf der Wetterfahne vom Kirchturm und haben ihre Köpfe unter die Flügel gesteckt.

Freiburg an der Elbe hat alles, was man braucht. Eine Buchhandlung, im Sommer mit Gartencafé, und einen kleinen Hafen.

Am nächsten Morgen hat der Buchladen auf. In Regalen und auf Tischen ist ein literarisches Programm präsentiert, Sprossenfenster und ein Bollerofen sorgen für Wohnzimmeratmosphäre. Sabine Koopmann, die Inhaberin, ist vor sechs Jahren aus Braunschweig nach Freiburg gezogen. Sie ist Elbschwimmerin. Wenn es die Tide erlaubt, steigt sie nach Ladenschluss in den Strom, begleitet von ihrer Hündin Helene. Für die Buchhändlerin hat das etwas Meditatives. Sie ist vorsichtig, schwimmt dort, wo sie noch stehen kann, kennt sich mit der Strömung aus. Warm sei die Elbe, beteuert sie, weich fühle sie sich an, umschmeichle einen sanft. Auch ist sie etwas schlammig von den aufgewirbelten Sedimenten. Wenn sie aus dem Wasser steigt, hat sie einen kleinen braunen Schnurrbart im Gesicht.

Wir sitzen in ihrem Garten und ich höre gespannt zu. Ich habe den Fluss bisher als sehr Respekt einflößend wahrgenommen, ein mächtiger Strom, in dessen Fahrrinne Containerschiffe schwimmen. Plötzlich sehe ich die Elbe mit den Augen von Frau Koopmann, immer noch als großen Strom, aber als einen, dem man sich mit Erfahrung anvertrauen kann. In den man hineinsteigen kann und gestärkt wieder herauskommt. „Was bedeutet die Elbe für Sie?“ – „Ruhe, Sanftheit, Harmonie. Gleichmäßigkeit durch den ewigen Wechsel von Ebbe und Flut.“

Im Sommer kommt jeden Samstagvormittag Anne Bunkus in den Buchladen, um sich mit neuem Lesestoff zu versorgen und im Garten Espresso zu trinken. In der warmen Jahreszeit lebt sie mit ihrem Mann am Wochenende auf einem Segelschiff, das im Hafen von Wischhafen liegt. Unter der Woche arbeitet sie in Hamburg bei einem Schiffsausrüster. Anne Bunkus segelt seit ihrer Kindheit und natürlich ist auch sie passionierte Elbschwimmerin. Segeln auf der Elbe sei anspruchsvoll, eine gewisse Anspannung herrsche immer, sagt sie. Man muss auf die Berufsschifffahrt achten, die Tide im Auge behalten. Die Strömungen sind unberechenbar, es darf einfach niemand über Bord gehen. Respekt ist ein Wort, das in ihren Erzählungen oft fällt. Aber vor allem schwärmt sie von den wunderschönen Inseln, hinter denen man ankern kann. „Was ist die Elbe für Sie?“ – „Energie, Kraft, eine Lebensader, die immer pulsiert, ein ewiger Wechsel durch Ebbe und Flut.“

Ebbe im Hafen von Wischhafen. Die Schiffe liegen bis zur nächsten Flut im Schlick.

Ich frage, ob die großen Sturmfluten von 1962 und 1976 im kollektiven Gedächtnis der Bewohner verankert seien. Ja, einerseits schon. Andererseits sei es manchmal überraschend, wie wenig weit man ins Landesinnere gehen muss, bis die Elbe keine Rolle mehr spielt. Es herrschte schon immer ein großer Unterschied zwischen dem Leben auf der Geest, dem höher gelegenen Land, und dem in der Marsch; vielleicht sogar noch mehr zwischen Bauern und Fischern. Die Fischer waren ärmer, führten ein ganz anderes, viel gefährlicheres Leben. Für sie war die Elbe eng mit der Nordsee verbunden. Hochseefischer liefen einst von Finkenwerder aus und fischten weit draußen auf dem Kontinentalschelf, der Doggerbank. Das war raue Fischerei, viele Seemänner kehrten nicht zurück.

Im Freiburger Hafenpriel herrscht gerade Ebbe. Boote liegen im Schlick und warten, dass das Wasser wiederkommt: ein historisches Helgoländer Börteboot, zehn Meter lang und hochseetauglich, und ein Pfahlewer, so heißen Ewer mit einem Mast. Mit ihnen wurde früher auf der Elbe gefischt, vor allem aber Getreide, Torf, Ziegel und Heu transportiert. Mit ihrem platten Rumpf konnten sie in den flachen Nebenflüssen fahren und lagen bei Niedrigwasser stabil auf dem Grund. Bei Ebbe trocken gefallen sind die kleinen Häfen schon immer, aber der springende Punkt, warum man in den meisten Anrainerorten gegen eine erneute Elbvertiefung war, ist die erhöhte Fließgeschwindigkeit der Elbe und die dadurch zunehmende Verschlickung der Häfen und ihrer Zuflüsse.

Das Leuchtfeuer von Balje am Hörner Außendeich. Der historische Leuchtturm im Hintergrund wurde 1904 gebaut und steht unter Denkmalschutz.

Manche Elbanwohner sind der Meinung, Hamburg hätte sich mit Wilhelmshaven zusammenschließen sollen. Dort gäbe es schließlich schon einen Tiefseehafen, der groß und tief genug für Ozeanriesen ist. Sie meinen, für Hamburg wäre es lediglich eine Frage des Prestiges, auch für die weltgrößten Containerschiffe erreichbar zu bleiben, wirtschaftlich mache das keinen Sinn. Und ökologisch sei es schon gar nicht. Ja, aber, meint die andere Seite, Hamburg müsse wettbewerbsfähig bleiben, der Hafen sei nun einmal das Herz der Stadt, die logistische Anbindung ans Hinterland durch den größten Rangierbahnhof Europas in Maschen unersetzlich für den weiteren Warenfluss.

Besonders gefährdet durch die Vertiefung ist der Schierlings-Wasserfenchel, der nirgendwo sonst auf der Welt vorkommt. Für ihn sollen in der Billwerder Bucht, oberhalb des Hamburger Hafenbeckens, Ausgleichsflächen geschaffen werden. Umweltschützer bezweifeln, dass das reicht. Was auch zu denken gibt, ist die Absurdität des ewigen Schlickausbaggerns und -absaugens. Die Flut bringt den Schlick mit hinein, die Saugboote nehmen ihn auf und transportieren ihn ins Meer hinaus, sechs Stunden später kommt er mit dem nächsten Schwall wieder in die Elbe.

Hamburg kann nun die weltgrößten Schiffe beherbergen, turmhohe Gebilde. Das aber ist den Anrainerländern Schleswig-Holstein und Niedersachsen egal. Sie spüren nur die großen Wellen der Schiffe, die an den Ufern nagen.

Obsthof im Kehdinger Land. Im Gegensatz zur sandigen Geest ist der Boden in der Marsch fruchtbar.

Wenn sich das Gras im Wind wiegt, schimmert es silbern, in den Gräben blühen gelbe Wasserlilien. Der Weg am Deichfuß zieht mich in die Landschaft am Allwördener Außendeich hinein. Ich sauge alles auf, die Weite, die Farben, die Gerüche und Geräusche. Das ist es, warum ich mich auf den Weg gemacht habe. Breite Röhrichtgürtel bieten Tieren Schutz, Baumgruppen strecken ihre Wipfel aus den Wiesen. Weiden, Erlen, Eichen, von diesen dreien weiß ich, dass sie Wasser mögen. Für die Zugvögel liegen die Feuchtwiesen perfekt, um auf der weiten Reise von den arktischen Brutgebieten zu den Winterquartieren in Mitteleuropa oder Afrika einen Zwischenstopp einzulegen. Im Winter rasten hier zwischen 40 000 und 60 000 Nonnengänse. Wiesenvögel wie der Kiebitz und der seltene Kampfläufer brüten im Frühjahr in der Marsch. Auch Küstenvögel finden in den offenen Gebieten ideale Brutplätze: die Küstenseeschwalbe und die vom Aussterben bedrohte Lachseeschwalbe, Sandregenpfeifer und Säbelschnäbler.

Hell- und dunkelgrüne Flächen gehen ineinander über, oben am Himmel die hellen und dunklen Grautöne auch. Wiesenmeer, Wolkenmeer und dazwischen unendlich viel Platz. Auf der anderen Deichseite tauchen die ersten Obsthöfe auf.

In Wischhafen fährt eine Autofähre hinüber nach Glückstadt auf die holsteinische Seite, auf 100 Kilometern die einzige Möglichkeit, die Elbe mit dem Auto zu überqueren. 20 Minuten ist man auf dem Wasser unterwegs. Eine Elbbrücke möchte hier trotzdem fast niemand haben, und auch nicht die A 20, die wie ein Damoklesschwert über der Gegend schwebt. Ich bleibe in Niedersachsen auf der linken Stromseite. Der